Inhaltsverzeichnis
Biographische Hintergründe
Editionsgeschichte
Apollinisch – dionysisches Prinzip
Das Übermensch – Konstrukt
Wille zur Macht
Ewige Wiederkehr des Gleichen
Der Tod Gottes
Nietzsche und die Religionen
Glossar
F r i e d r i c h - W i l h e l m - N i e t z s c h e
* 15. 10. 1844 Röcken bei Lützen, † 25. 8. 1900 Weimar
Nietzsches Philosophie ist wie Sprengstoff, kontrolliert und bewusst eingesetzt, kann man „Berge versetzen“, missbräuchlich verwendet, wirkt seine Kraft zerstörend.
So gilt es zu beachten: Wer sich auf das gefährliche Gelände Nietzsches begibt, muss entsprechend gewappnet sein!
Hierbei ist nicht nur zwingend seine Biographie, sondern auch (oder vielleicht ganz besonders) die Editionsgeschichte in Betracht zu ziehen.
Heutzutage ist es leicht, sich eine tabellarische Auflistung aller vermeintlich wichtigen Daten aus dem Leben von Friedrich Wilhelm Nietzsche über die freien Medien zu beschaffen. Doch leider hilft dies nur wenig, seine Gedanken und Philosophie zu verstehen. Hingegen ist der biographische Hintergrund der einzelnen Lebensdaten von entscheidender Bedeutung. Als Sohn eines Gemeindepfarrers beginnt er ein Studium der Theologie, um der für ihn vorgesehenen Rolle eines Pastors gerecht zu werden.
Bereits nach einem Jahr bricht er dieses ab und beginnt klassische Philologie zu studieren. Das erklärt die Verwendung von Wörtern entgegen unserem Sprachverständnis in ihrer eigentlichen Bedeutung. Im „Zarathustra“ prägt er den Satz „Jesus ist ein Idiot“; im Gegensatz zum Umgangssprachlichen verwendet Nietzsche hier das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung, in der ein „Idiot“ ein Kulturloser ist.
Direkt nach Abschluss des Studiums bekommt er mit 24 Jahren, ohne Promotion und ohne Habilitation, eine Professur in Basel. Als er dann noch die Bekanntschaft von Richard Wagner macht und dessen Protege wird, ist der Grundstein für die Problematik seiner ersten Schaffensperiode gelegt.
Diese äußert sich insofern, als dass er zu Selbstüberschätzung neigt und infiziert ist von den nationalistisch – antisemitischen Ideologien Wagners sowie den Personen aus dessen Umgebung.
Eine Erklärung dafür ist leicht gefunden, wenn man die Umstände seiner Berufung auf den Baseler Lehrstuhl bedenkt und die Tatsache mit einbezieht, dass sein Freund und Idol Richard Wagner damals in etwa so verehrt wurde wie (man verzeihe mir den Vergleich) irgendein „Superstar“ heute.
Doch diese Konstellation hielt nicht lange, und hier beginnt die zweite seiner Schaffensphasen. Nietzsche entfernte sich immer weiter von R. Wagner; auch auf Grund von dessen radikalen Ideologien. Zum offenen Bruch zwischen den beiden kam es, als Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches“ begann, gegen das Christentum und dessen „Sklavenmoral“ zu agitieren.
Im Gegensatz zu den meisten Philosophen verpackte Nietzsche seine Philosophie zu großen Teilen in nicht zusammenhängende Texte, indem er die literarische Form des Aphorismus dafür wählte.
Er zeichnete sich aber auch als Verfasser von philosophischen Dichtungen aus. In „Also sprach Zarathustra“ berichtet er z.B. vom Tod Gottes, der Wiederkunft allen Gleichens oder dem Übermenschen in einer Sprache, die der der Bibel entlehnt ist.
Wenige Jahre nach der Fertigstellung des „Zarathustra“ beginnt der geistige Zusammenbruch, der die dritte und letzte Phase im Leben Nietzsches charakterisiert. Er unterschreibt seine Briefe nur noch mit „der Gekreuzigte“ oder „Dionysos“ und verbringt die letzten Jahre in völliger geistiger Umnachtung im Hause seiner Schwester Elisabeth Förster – Nietzsche.
Es gilt heute als erwiesen, dass die Ursache für seine Schizophrenie eine syphilitische Infektion war.
Die Editionsgeschichte Nietzsches ist eine Geschichte der Verfälschungen und beispiellos. Seine Schwester Elisabeth begann relativ schnell nach dem geistigen Zusammenbruch ihres Bruders, alle Schriften Friedrichs (inklusive Korrespondenz) zusammenzutragen. Das in Wahrheit gespaltene, teilweise sogar feindselige Verhältnis zwischen Bruder und Schwester wurde von ihr glorifiziert. Sie erreichte das, indem sie alle Briefe, in denen Nietzsche sie beschimpfte, vernichtete und einfach bei Briefen mit „positivem“ Inhalt, die eigentlich an ganz andere Personen adressiert waren, den Briefkopf wegbrannte und behauptete, er wäre an sie gerichtet gewesen. Eine weitere, noch dreistere Methode war, dass sie Briefe gänzlich erfand und daraufhin erklärte, dass dies die Abschrift eines Briefes ihres Bruders an sie sei, aber das Original verschwunden wäre.
Diese Verfälschungen sind noch harmlos im Vergleich zu denen, die sie an den Werken Nietzsches vornahm.
Elisabeth Förster – Nietzsche, deren Mann ebenfalls aus den antisemitischen Kreisen um Richard Wagner entstammte, war selbst eine glühende, unbelehrbare Antisemitin und Nationalistin. Dieses Denken veranlasste sie, die Schriften ihres Bruders insoweit zu verändern, dass es später den Nationalsozialisten ein Leichtes war, ihre Ideologie auf der Philosophie Nietzsches pseudowissenschaftlich zu begründen. (→ Wille zur Macht )
Das Ganze gipfelte in der Edition des Buches „Der Wille zur Macht“, das in seiner Gesamtheit nicht der Feder Nietzsches entstammt. Förster – Nietzsche nahm dabei die Hilfe von Peter Gast, einem Freund Nietzsches, in Anspruch. Er war der Einzige, dem es gelang, die Handschrift Friedrichs zu entziffern.
Das alles soll keineswegs darüber hinweg täuschen, dass die Philosophie Nietzsches oftmals radikal und elitär ist, doch wenn man sich mit ihr auseinandersetzt, muss man eben beachten, dass Nietzsche Philologe war, aus welcher Zeit die Schriften stammen, und ob sie letztendlich so von ihm überhaupt verfasst wurden.
A p o l l i n i s c h - D i o n y s i s c h e s P r i n z i p
Als Nietzsche kurz nach der Berufung zum Professor seine Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ veröffentlichte, ist die Aufregung unter seinen Kollegen groß. Denn es ist nicht gerade das, was man von einem klassischen Altphilologen erwartet hätte.
Der Inhalt ist philosophisch, und es stört die Tatsache, dass Nietzsche in diesem Buch einem Künstler der damaligen Gegenwart geradezu huldigt.
Es ist Richard Wagner, dem er das Buch widmet und dessen Musik er direkt in seine philosophischen Thesen einbezieht.
Am interessantesten ist wohl das apollinisch-dionysische Prinzip, welches uns schon in den ersten Zeilen dieser Schrift nahe gebracht wird:
Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, daß die Fortentwickelung der Kunst an die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist:
in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. […]
Tragödienschrift KSA 1,1
Nietzsche verehrte die „griechische Heiterkeit“ der Antike und deren Theater, in dem nur Tragödien gespielt wurden. Für ihn war es die „beste, stärkste, tapferste Zeit“.
Er verwendet daher auch die Begriffe apollinisch und dionysisch. Diese sind zurückzuführen auf die griechischen Götter Apollo und Dionysos.
Apollo ist der Gott der Weisheit und des Maßes, Dionysos dagegen der Gott des Weines, des Rausches und der Fruchtbarkeit.
Also ein Gegensatz zwischen dem harmonisch Ausgeglichenen und dem berauschend Maßlosen.
Was meint Nietzsche damit? Nun, zum einen waren die Menschen schon immer fasziniert vom rauschend Maßlosem, vom - D i o n y s i s c h e n.
Doch der Rausch endet oft in der Tragödie und im Untergang des Subjekts. Dem wirkt (nicht nur in der Kunst) etwas Maßvolles, etwas – A p o l l i n s c h e s – entgegen und sichert damit das Fortbestehen des Seins.
Nietzsche legt die Priorität auf das Dionysische („Habt Mut wieder tragische Menschen zu sein.“). In der Musik Richard Wagners glaubt er die Vereinigung der beiden natürlichen Kunsttriebe zu sehen.
Zugegeben, Wagners Musik hat zuweilen eine berauschende Wirkung, und er selbst war auf jeden Fall maßlos in seinen Ansprüchen. Doch hatte Wagner eher einen negativen Einfluss auf den jungen Nietzsche, so dass die Schriften seiner ersten Schaffensperiode eher kritisch zu betrachten sind. Das apollinisch – dionysische Prinzip stellt meines Erachtens die bedeutendste Theorie des jungen Nietzsche dar.
Die geniale Verarbeitung des Themas finden wir in Thomas Manns „Tod in Venedig“, der dort den Untergang eines anfangs maßvollen Mannes beschreibt, weil dieser dem dionysischen Treiben um Lust und Rausch verfällt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
W i e e n t s t e h t K u n s t ? Die Lust der Erscheinung, der Schmerz der Erscheinung – das A p o l l i n i s c h e und das D i o n y s i s c h e , die sich immer gegenseitig zur Existenz reizen.
Nachlass 1870/71 KSA 7, 1999
D a s Ü b e r m e n s c h - K o n s t r u k t
Der Begriff des Übermenschen ist keine Schöpfung Nietzsches, denn er taucht schon bei Goethe auf:
Als Faust, enttäuscht von den irdenen Wissenschaften, versucht, mittels Magie über sein menschliches Selbst hinauszuwachsen, beschwört er den Erdgeist.
Er faßt das Buch und spricht das Zeichen des Geistes geheimnißvoll aus. Es zuckt eine röthliche Flamme, der Geist erscheint in der Flamme.
Geist: Wer ruft mir?
Faust: a b g e w e n d e t.
Schreckliches Gesicht!
Geist: Du hast mich mächtig angezogen,
An meiner Sphäre lang gesogen,
Und nun ---
Faust: Weh! ich ertrag' dich nicht!
Geist: Du flehst erathmend mich zu schauen,
Meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehn;
Mich neigt dein mächtig Seelenflehn,
Da bin ich! --- Welch erbärmlich Grauen
Faßt Übermenschen dich! Wo ist der Seele Ruf?
Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf,
Und trug und hegte, die mit Freudebeben
Erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben?
[…]
Goethe - Faust I
Doch der Begriff ist bei Goethe Ironie und bei Nietzsche ein komplexer Gedanke, der seine Vollendung in „Also sprach Zarathustra“ findet.
„Ich lehre euch den Übermenschen . Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?“
Als die Nationalsozialisten sich später anmaßten, ihre pseudowissenschaftliche Rassentheorie vom Untermenschen auf die Grundlage von Nietzsches Philosophie zu stellen, war dieser schon tot und konnte sich der Vergewaltigung nicht mehr erwehren.
Nietzsches Übermensch ist keinesfalls ein Herrenmensch, sondern ein geistiges Ideal, das die Überwindung des Menschen verkörpert, der bislang entweder im Jenseits oder im Diesseits seine Ziele sah und so im „Übermenschlichem“ stecken blieb.
Laut Nietzsche ist der Übermensch die Vollendung des Wesens, dessen Entwicklung beim Tier begonnen und sich über den Menschen fortgesetzt hatte. Es ist der „höchste Mensch“, der keine Götter mehr benötigt, um sich die Natur zu erklären und keine Angst hat vor den Kräften, die da wirklich herrschen.
Die Götter des griechischen Philosophen Epikur sind das Vergleichsbild, und in dessen Ruhe spiegelt sich etwas von der Unerschütterlichkeit seiner Götter wider.
Doch es bleibt noch einmal festzuhalten, dass das Ideal vom Übermenschen zwar die Ruhe und Unerschütterlichkeit der griechischen Götter beinhaltet, aber keinen neuen Gott darstellt.
Nietzsche richtet sich mit dieser Philosophie ausdrücklich gegen alles Metaphysische und Transzendente.
D e r W i l l e z u r M a c h t
„Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle immer nur Wille zur Macht.“ (KSA 10,187)
Der „Wille zur Macht“ wurde zum Titel eines lange verfolgten Buchprojektes Nietzsches, das er selbst aber nie systematisierte. Dennoch editierte seine Schwester Elisabeth Förster – Nietzsche Texte aus dem Nachlass zu einem Buch und gab dieses sogar als sein Hauptwerk heraus. Sie maßte sich nicht nur eine Zusammenstellung der Texte an, sondern fälschte auch die Texte selbst. So strich sie zum Beispiel Passagen, in denen Nietzsche den letzten deutschen Kaiser Wilhelm II. offen diffamierte.
Macht ist eigentlich ein politischer Begriff, doch Nietzsche war nie ein politischer Mensch, und er beteiligte sich auch nicht an politischen Aktionen wie Marx oder Wagner. Er denkt aus einer Position, in der persönliche Macht keine Rolle spielt bzw. sogar abgelehnt wird.
„Herrschen? Meinen Typus Andern aufnöthigen? Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler Anderer?“
„Seht mir doch diese Überflüssigen! Reichthümer erwerben sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und zuletzt das Brecheisen der Macht, viel Geld, - diese Unvermögenden!“
Bezieht man hier wieder die Tatsache ein, dass Nietzsche primär Philologe war, und analysiert man das Wort „Macht“ losgelöst vom deutschen Sprachverständnis, so wird der psychologische Hintergrund des „Willen zur Macht“ deutlich.
Denn sowohl im Lateinischen (potentia) als auch im Englischen (power) ist der Begriff der „Macht“ gleichbedeutend mit Kraft und Stärke.
Der Grundtenor dieser Formulierung ist laut Nietzsche der, dass alles Lebende nach immer mehr Macht strebt und dass dies der Grund für Existenz und Fortentwicklung ist.
Aber genau diese Theorie benutzten die Dilettanten um Adolf Hitler so, dass es ihnen möglich war, ihre Perversionen mit Hilfe Nietzsches zu legitimieren. Die entscheidende Rolle hierbei spielte Nietzsches Schwester Elisabeth, die sich den Nazis anbiederte, die Schriften ihres Bruders fälschte und Hitler sogar das Heiligste des toten Bruders, seinen Spazierstock, schenkte.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Nietzsche-Archiv in Weimar von den sowjetischen Truppen versiegelt. Deshalb war es lange Zeit nicht möglich, viele Fälschungen als solche zu entlarven.
E w i g e W i e d e r k e h r d e s G l e i c h e n
Eine identische Wiederkehr der Naturereignisse lehrten schon die Stoiker im antiken Griechenland. Sie prophezeiten den Untergang der Welt, aus deren Asche sich eine Neue erheben würde. Zu vergleichen ist dies mit verbrannten Waldflächen, wo binnen weniger Tage neues Leben entsteht und nach mehreren Jahren nichts mehr an die Zerstörung erinnert. Eine ähnliche Theorie, die behauptet, dass politische Zyklen in sechs Stadien von Königtum über Tyrannei, Aristokratie, Oligarchie, Demokratie und nochmaliger Oligarchie, wieder zur Monarchie führt, hat in der Antike der Historiker Polybios vorgelegt.
Auch Karl Marx ist der Meinung, dass einem Krieg der wirtschaftlichen Aufschwung folgt, dieser nach seinem Maximum wieder abfällt und die entstehende wirtschaftliche Not wiederum einen Krieg verursacht. Doch Nietzsches Gedanke bezieht sich hauptsächlich auf eine Welt, die nach dem „Tod Gottes“ und dem damit symbolisierten Verlust des religiösen Glaubens ihren kollektiven Halt verloren hat.
Der Glaube an die Wiederkehr aller Dinge soll nach Nietzsche den Einsturz aller bisherigen Gewissheiten der Religion, zum Beispiel der Unsterblichkeit der Seele, ersetzen. Mit der Akzeptanz dieser Theorie verliert aber auch die christliche Weissagung von der Einzigartigkeit jedes Individuums ihre Glaubwürdigkeit, – eine für die meisten Menschen unvorstellbare Relativierung ihrer Existenz. Denn wer akzeptiert schon gern, dass er nur ein immer wiederkehrender Bestandteil des Ganzen ist.
D a s g r ößt e S c h w e r g e w i c h t. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und alles in derselben Reihe und Folge - und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr
des Daseins wird immer wieder umgedreht - und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!« - Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete; Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: „du bist ein Gott und nie
hörte ich Göttlicheres! „ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei allem und jedem: „willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?“ würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müßtest
du dir selber und dem Leben gut werden, um nach nichts
mehr zu verlangen als nach dieser letzten ewigen
Bestätigung und Besiegelung? –
KSA 3, 570
D e r T o d G o t t e s
Der Ausspruch „Gott ist todt!“ ist das wohl am häufigsten mit dem Philosophen assoziierte Zitat.
Es ist bereits in der Aphorismensammlung „Die Fröhliche Wissenschaft“ zu finden, doch ausführlich thematisiert er diesen Gedanken in „Also sprach Zarathustra“.
Nietzsche propagiert damit die Überwindung Gottes als moralische Instanz, Regent und Richter der Welt.
„ Aber er [Gott] - musste sterben: er sah mit Augen, welche Alles sahn, - er sah des Menschen Tiefen und Gründe, alle seine verhehlte Schmach und Hässlichkeit. […] Er sah immer mich: an einem solchen Zeugen wollte ich Rache haben - oder selber nicht leben. Der Gott, der Alles sah, auch den Menschen: dieser Gott musste sterben! Der Mensch erträgt es nicht, dass solch ein Zeuge lebt.''
(Also sprach Zarathustra - KSA 4, 131)
Der Mörder Gottes ist im ersten der drei Motive, die Nietzsche für den Tod Gottes anbringt, ein hässlicher Mensch, dessen Hässlichkeit sich allerdings nicht auf sein Äußeres bezieht. Sein Tun und Handeln entstellt ihn, und „tot“ steht hier für überwunden. Die Menschen haben ihren Glauben verloren, und somit ist dies eine Selbstanklage der Menschheit. Sie haben Gott überwunden, weil es einfacher ist, den Glauben und damit auch dessen moralische Gebote abzulegen, als sie zu befolgen. Danach muss man sich nicht mehr vor einer „göttlichen Instanz“ rechtfertigen“.
In der zweiten Version vom Tod Gottes trifft Zarathustra auf den nun arbeitslosen Papst, der ihm erklärt, dass ein alt und welk gewordener Gott an seinem übermäßigen Mitleid erstickt ist.
Nietzsche verpackt hier in seiner drastischen Metaphorik den Standpunkt, dass übermäßiges Mitleid hinderlich wäre.
Nietzsche kritisierte so die Tatsache, dass viele vermeintlich selbstlose Taten (aus Mitleid), einen eigentlich doch sehr egoistischen Hintergrund haben.
Zum Verständnis hilft wieder ein Blick auf die Biographie des Denkers. – So war ganz Naumburg begeistert über das Engagement von Elisabeth Förster – Nietzsche, die scheinbar aufopfernd und selbstlos ihren kranken Bruder pflegte. Doch in Wahrheit nutzte sie die wachsende Bekanntheit ihres bereits wahnsinnigen Bruders, um sich mit seinem Ruhm Macht zu verschaffen.
Zu besonderen Anlässen führte sie den an einen Rollstuhl gefesselten und in seinem Wahn gefangenen Nietzsche der Öffentlichkeit vor.
Auch eine Anekdote um den Bau des Wintergartens im Hause Nietzsche erklärt ironischerweise seinen Standpunkt.
Nietzsches Mutter hatte den Bau mit der Begründung angeregt, dass ihr kranker Sohn nicht mehr aus dem Haus müsse, um Sonne und Luft genießen zu können. Doch den wahren Grund vertraute sie ihrem Tagebuch an. Sie schämte sich ihres kranken Sohnes, der gezeichnet vom syphilitischen Wahn auch zuweilen schrie, wenn sie im Rollstuhl durch die Stadt fuhren.
Der tolle Mensch . – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ – Da dort gerade Viele von Denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. […] Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, - ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! […]
( Die fröhliche Wissenschaft , KSA 3, 127)
Dies ist die dritte Variante vom Tod Gottes, in der ein toller Mensch herausschreit, dass wir alle Gott unter unseren Messern haben verbluten lassen. Nietzsche bezieht sich hier zum Beispiel auf den Verlust von Moral und Ethik bei den unzähligen kriegerischen Auseinandersetzungen des Menschengeschlechts.
Er stellt in diesem Aphorismus einen Bezug zu Diogenes von Sinope (400 v. Chr.) her. Der wurde dadurch bekannt, dass er am helllichten Tag über einen Markt lief - mit einer Laterne in der Hand. Auf die kritische Frage, was er da treibe, antwortete er: „Ich suche Menschen!“
Nietzsche ersetzt hier den Menschen durch Gott, um wie Diogenes zu provozieren und um einen Bezug zu den antiken Griechen herzustellen.
N i e t z s c h e u n d d i e R e l i g i o n e n
Friedrich Nietzsche entsprang, wie die meisten Religionskritiker, einer Familie, die sehr stark im Glauben verwurzelt war. Denn nicht nur sein Vater, sondern auch sein Großvater waren protestantische Pastoren gewesen, und so kann man annehmen, dass seine Konfirmandenstunden auch etwas länger gedauert haben müssen als bei vielen anderen seiner Zeitgenossen.
In der Zeit seiner Konfirmation scheint er deshalb auch noch voller protestantischer Inbrunst gewesen zu sein. 1865 findet sich sogar in seinen Aufzeichnungen ein Vermerk, dass er seiner Mutter und seiner Schwester einen Vergleich zwischen den „Vergnügungen der Welt“ und „den Forderungen des ursprünglichen Christentums“ aufstellte. Er bezeichnete „das Jetzige“ [Christentum], „als verschwommen und süßlich“.
Der Bruch mit der christlichen Religion war ein Prozess, der sich im Verlauf seines Lebens formierte und der schließlich 1887 mit der vehementen finalen Abrechnung im „Antichrist“ endete. Nietzsche war nicht prinzipiell gegen Religion, der „buddhistischen Friedensbewegung“ zum Beispiel brachte er viel Sympathie entgegen („Der Buddhismus verspricht nicht, sondern hält, das Christentum verspricht alles, hält nichts).
Sein Standpunkt dem Judentum gegenüber ist umstritten, denn in seiner Jugend teilte er den Antisemitismus der damaligen Zeit, und später stellte er dagegen fest, dass „die Antisemiterei allen feinen Geschmack, auch bei Zungen, die von Anfang an nicht belegt sind, vernichtet“.
Die Religion war für ihn eine Art „Furcht und Schreckgefühl“ vor sich selbst, die Ausgeburt eines Zweifels an der Einheit des Menschen, die eine Lebensbejahung trotz Krankheit, Gebrechlichkeit, Misserfolg oder Tod ermöglichte. Des Weiteren teilte er die von Marx getroffene Definition, Religion sei das „Opium des Volks“.
Aber hauptsächlich richtete sich seine Religionskritik gegen das Christentum. In Nietzsches Schriften wimmelt es von Angriffen gegen die christliche Religion, und doch zeugen diese aber auch von einer beständigen Auseinandersetzung mit ihr. Christentum war für ihn der Glaube „an ein geschichtliches Ereignis oder eine geschichtliche Person“, „eine wirkliche Feigheit vor allen Mächten, die sonst herrschen“.
Außerdem verurteilt er die fast staatliche Organisation der Kirche, die „Kriege führt, verurteilt, foltert, schwört und hasst“. Er bezeichnet das „Ressentiment“ als Wurzel des Christentums, und damit habe es „die tatkräftigen Europäer nach Möglichkeit in ihrem Aufschwung gehemmt“.
Und dennoch unterschreibt er mit beginnender geistiger Umnachtung, hervorgerufen durch eine syphilitische Schizophrenie, seine Briefe nur noch mit „der Gekreuzigte“.
Das Gesamtwerk Nietzsches ist umfassend und doch sticht ein Werk in der Auseinandersetzung mit dem Christentum hervor „Also sprach Zarathustra (ein Buch für Alle und Keinen)“. Was vor allem den Zarathustra von den anderen Werken unterscheidet, ist seine Form. Vorher hatte Nietzsche seine Philosophie durch Aphorismensammlungen vermittelt, während dieses Werk ein dichterisches ist, ein Werk, das sowohl lyrische, dramatische als auch epische Züge trägt.
Mit dieser Mischung nimmt „Also sprach Zarathustra“ eine Sonderstellung ein, nicht nur gegenüber den bisherigen Werken Nietzsches, sondern auch gegenüber den meisten Dichtungen anderer Schriftsteller.
Ein Buch, in dem sich eine ähnliche Mischung findet, ist die Bibel. Der „Zarathustra“ ist ein Gegenbild der Heiligen Schrift, eine Verzerrung derselben. Nietzsche befasst sich in diesem Werk besonders mit der Frage nach der Existenz Gottes als dem Ursprung alles Seins.
Als Folge distanziert er sich vom „Geist der Schwere“, dem Pessimismus, den er im Großen und Ganzen mit dem Christentum gleichsetzt und erklärt den Gott [der Christen] für tot. Die enge Verbindung zwischen dem Zarathustra und der Bibel wird auch in Bezug auf die Sprache deutlich. Wichtig ist hier die Parallelität von Aussagen im Zarathustra und konkreten Bibelstellen und Situationsbeschreibungen der Bibel.
Die Metaphorik des Werkes steht in Beziehung zur biblischen Metaphorik. Im Werk kommen eine Reihe konkreter Bibelstellen vor. In den meisten Fällen können wir nicht von einer wörtlichen Wiedergabe sprechen, sondern von einer Umkehrung. Es dreht sich oft um Persiflagen, mit denen Nietzsche mit Hilfe der Verfremdung die biblischen Aussagen verspottet.
Also handelt es sich hauptsächlich um Antithesen zu Formulierungen der Bibel, die in dieser Weise direkt mit der Bibel verknüpft sind. Genauso zielbewusst wie die Anknüpfung an konkrete Bibelstellen ist die Verwendung sprachlicher Bilder.
Die Verwendung biblisch klingender Sprache und biblischer Metaphern hat ein klares Ziel: Mit den Parallelen zu den Bibelstellen wollte Nietzsche zentrale Elemente der christlichen Lehre angreifen. Mit der Metaphorik greift er die Sprache seiner Gegenwart an, die vom christlichen Gottesglauben stark beeinflusst ist.
Der „Mörder Gottes“ oder „Nihilist“ erscheint so ungewollt als Prophet einer neuen Möglichkeit des Christentums, welche die Kirche - oft genug aus Furcht vor ihren unbequemen Folgen -vorgezogen hat zu verbergen. Indem Nietzsche die Hauptgefahr der „theologischen Lüge“ in ihrer Wurzel aufdeckt, zwingt er die Christen zur Wahrhaftigkeit.
In diesem Sinne fragt Karl Barth: „Ist Nietzsche überhaupt der Gegner des Christentums, als der er erscheint? Muss er nicht vielmehr für einen das christliche Evangelium unglücklich Liebenden gehalten werden, der zum Widerentdecker des ursprünglichen Christentums geworden ist?
Oder bleibt sein letztes Wort der Atheismus Schopenhauers, der Welt und Mensch von einer radikalen Diesseitigkeit her begreift? War er ein froher Botschafter, ein Religionsstifter, der die Menschheit erlösen wollte von der Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens, die nach dem Zusammenbruch aller verbindlichen religiösen, ethischen und ästhetischen Überzeugungen um sich griff, indem er einen neuen Sinn verhieß: „eine Heiligung des Lebens trotz der heillosen Vermischung des Großen und Furchtbaren - ein dionysisches Menschentum, das die Tragik des Lebens gläubig bejaht und“ „eine Art Vergöttlichung des Leibes“ bringt.
Oder war er nur eine Art „Desperado, der mit seinem Versuch einer Neugründung der Moral und der Stiftung einer neuen Religion scheiterte?"
Nein, denn kein Theologe kommt heute an Nietzsche vorbei. Ohne Nietzsches Kritik an der Verflachung und Erschlaffung des Christentums im 19.Jahrhundert hätte es wahrscheinlich die dialektische Theologie und die damit verbundene Abkehr vom Kulturprotestantismus nicht gegeben. Von unerhörter Aktualität ist sein Aufruf, der Erde treu zu bleiben, der an die Verantwortung der Christen für die so lange vernachlässigte Schöpfung erinnert.
Aber auch der Gedanke der „Fernstenliebe“, den Nietzsche der Nächstenliebe gegenüberstellt, ist unter ökologischen Aspekten und dem Gesichtspunkt der Verantwortung gegenüber Kindern und Enkeln, den Armen und Unterdrückten der übrigen Welt, heute erst richtig brisant geworden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
- Arbeit zitieren
- Markus Seibt (Autor:in), 2005, Nietzsche - Eine erste kleine Einführung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109352