Walter Grode
DIE NEUEN HERREN DER SCHÖPFUNG
Gentechnik und Gesundheit
(Erschienen im Oktober und November 2003 in: DIE ZEIT, Nr. 43 und 48)
Die existentiellen Ängste behinderter Menschen vor der Präimplantationsdiagnostik (PID), wie vor der modernen Gentechnologie überhaupt, sind in der Tat kaum durch Argumente und erst recht nicht mit Daten zu widerlegen. Dennoch möchte ich aus eigener Erfahrung - ich sitze seit mehr als 20 Jahren im Rollstuhl - dem Autor (Wolfgang van den Daele "Zeugung auf Probe", ZEIT, Nr. 41) nahezu uneingeschränkt zustimmen. Die gesellschaftliche Akzeptanz von behinderten Menschen wird durch die ethisch durchaus Herausbildung einer >Eugenik von unten< keineswegs tangiert. Eher scheint mir paradoxerweise gerade das Gegenteil der Fall zu sein.
Wenn nämlich heute immer mehr Menschen die individuellen Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnostik und vielleicht schon morgen die der "Zeugung auf Probe" für sich in Anspruch nehmen, so wissen sie doch nur zu gut, dass allenfalls zehn Prozent aller Behinderungen genetisch bedingt und von diesen nur ein Teil vorgeburtlich diagnostisierbar ist. Alle übrigen Behinderungen aber sind Ausdruck und Kristallisationskern unseres ganz normalen Lebensrisikos am Anfang, in der Mitte und am Schluß.
Gegen diese Lebensrisiken haben sich die traditionellen stakeholder schon früh und unter Kämpfen kollektive Absicherungen geschaffen, die einer sehr schmalen Schicht von wirklich Mächtigen ein Dorn im Auge waren. Heute propagieren nicht nur die traditionellen shareholder, sondern vor allem auch jene, die zu ihnen gehören möchten, mit Vehemenz den Abbau dieser Sicherungs- und Selbstschutzsysteme, die sie, völlig zutreffend, als Behinderung der Verwertungsinteressen ihres Kapitals anprangern: Alle soziale, rechtlichen und natürlichen Behinderungen, so ihre Devise, und alle mehr oder weniger unvollkommenen und unwilligen Menschen, die der maximalen Kapitalausnutzung entgegenstehen, in für sie inakzeptabel. Diese neoliberale Grundhaltung - und nicht so sehr die ethisch fragwürdige gentechnologische Entwicklung - scheint mir der eigentliche Kern des Akzeptanzproblems zu sein, dem sich behinderte Menschen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sehen. Doch zuglich liegt darin auch der Beginn einer produktiven Verarbeitung Denn wer kann selbst als leitender Angestellter sicher sein, dass er nicht morgen schon zu den Überflüssigen zählt?
>Auf der (gesellschaftlichen) Intensivstation<
Kein Politiker traut sich zu sagen, dass die derzeitige Hochleistungsmedizin nicht mehr finanziert werden kann. Diese Medizin ist das Ergebnis eines fragwürdigen Fortschritts und mehr noch: Jede Art von Vorsorge und Heilung erzeugt schließlich eine immer görßer werdende Anzahl von Menschen, die in immer höherem Alter erst recht medikamentöser Zuwendung bedürftig sind. Medizinisches Handeln, das ethisch voll gerechtfertigt und für den Einzelfall vertretbar erscheint, verstößt zugleich gegen ein anderes, höheres Prinzip, nach welchem die Lebenszeit des Menschen begrenzt ist und das Hinausschieben dieser Grenzen nicht beliebig fortgesetzt werden kann, bei Strafe des Zusammenbruchs der Gesellschaft.
Wenn wir uns aber ernsthaft diesem tragischen Widerspruch nähern wollen, so durfen vor unserem inneren Auge, so meine ich, nicht nur medizinische Extremsituationen und Intensivmedizin auftauchen. Denn gesellschaftlich gesehen geht es kaum um diese Ausnahmesituationen, sondern um unsere völlig überzogenen Forderungen an die Gesundheit im ganz normalen Alltag.
Was ist, fragte kürzlich der Wissenschaftsjournalist Reinhard Lassek, in einem Essay über Gesundheit als Religion, wenn unsere wesentlichen Beschäftigungen nur noch auf Erhalt und Steigerung unserer Fitness ausgerichtet sind? Dann müßten wir erkennen, dass wir in einer absurden Zeit leben, die ausgerechnet etwas so Zerbrechliches wie Gesundheit zum allerhchsten Gut erklärt.
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in Walter Grodes Artikel "DIE NEUEN HERREN DER SCHÖPFUNG"?
Der Artikel diskutiert die ethischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Gentechnik, insbesondere im Hinblick auf behinderte Menschen und die Pränataldiagnostik. Grode argumentiert, dass die Akzeptanz behinderter Menschen nicht durch die "Eugenik von unten" gefährdet wird, sondern vielmehr durch eine neoliberal geprägte Gesellschaft, die auf maximale Kapitalausnutzung und Effizienz ausgerichtet ist.
Welche Bedenken äußert Grode bezüglich der Präimplantationsdiagnostik (PID)?
Grode erkennt die Ängste behinderter Menschen vor der PID an, argumentiert aber, dass ein Großteil aller Behinderungen nicht genetisch bedingt und daher nicht durch PID vermeidbar ist. Er betont, dass diese Behinderungen Ausdruck des normalen Lebensrisikos sind.
Was kritisiert Grode an der modernen Hochleistungsmedizin?
Grode kritisiert die zunehmende Fokussierung auf Hochleistungsmedizin, die seiner Meinung nach nicht unbegrenzt finanzierbar ist und eine wachsende Zahl von Menschen erzeugt, die im Alter medikamentöser Zuwendung bedürfen. Er argumentiert, dass das Hinausschieben der Lebensgrenzen nicht beliebig fortgesetzt werden kann, ohne die Gesellschaft zu gefährden.
Was versteht Grode unter "Gesundheit als Religion"?
Grode bezieht sich auf einen Essay von Reinhard Lassek, der Gesundheit als Religion kritisiert. Er hinterfragt, ob es sinnvoll ist, Gesundheit zum höchsten Gut zu erklären, wenn unsere wesentlichen Beschäftigungen nur noch auf Erhalt und Steigerung unserer Fitness ausgerichtet sind.
Wie sieht Grode die Rolle von Behinderung und Krankheit in der Gesellschaft?
Grode betont, dass Behinderung und Krankheit nicht einfach wegzutherapierende Größen sind, sondern ein wichtiger Teil des Lebens. Er argumentiert, dass die Gesellschaft lernen muss, mit Krankheit und Altersschwäche zusammenzuleben, anstatt alles durch Hochleistungsmedizin zu behandeln.
Welchen Bezug hat Grode zu dem Thema?
Grode gibt an, seit über 20 Jahren im Rollstuhl zu sitzen, was ihm eine persönliche Perspektive auf die diskutierten Themen gibt.
- Arbeit zitieren
- Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 2002, Die neuen Herren der Schöpfung. Gentechnik und Gesundheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109371