Walter Grode
BEHINDERTE MENSCHEN UND DAS PRINZIP DES 11. SEPTEMBER
Erschienen (ohne Lit.) in: kobinet-nachrichten (Kooperation Behinderter im Internet, Kassel) vom 12..09.02
Im Vergleich zur Un-Kultur des Erst- und Gegenschlags der islamistischen Terroristen und des derzeitigen amerikanischen Präsidenten, sind behinderte Menschen geradezu prototypische Vertreter einer humanen Gegenkultur. Denn ihr tagtägliches Leben ist von der Erfahrung geprägt, dass Zivilisation und Selbstzivilisation, weder an Raum und Zeit gebundene - und gegenüber anderen nicht abschließbare offene Prozesse sind. (Grode 2002) Zudem haben sie vielen sogenannten Politikern der Stärke die Erfahrung voraus, dass Humanität viel leichter über den produktiven Umgang (und vermeintlichen Umweg) mit der eigenen Schwäche in die Welt zu bringen ist, als mit dem Hau-drauf-Prinzip.
Das ist übrigens auch eine der wichtigsten Grunderfahrungen der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte. Denn seit 1945 waren wir Europäer, auf unterschiedlichen Wegen dabei, die Lektion zu lernen, dass die Stabilität einer demokratischen Gesellschaft sich auch von dem Entsetzen nährt, das ihrer Errichtung vorausgeht. Das ist keineswegs selbstverständlich: Ohne Vorsatz, als sei es das zynische Gesetz des Fortschritts, vergessen moderne Gesellschaften - und speziell die USA - den fürchterlichen Preis, den frühere Generationen für ein Minimum an sozialer Gleichheit zahlen mussten, bis ihr Kampf die Wirklichkeit der Freiheit erkennen ließ. Nach Auffassung des japanischen Philosophen Kenichi Mishima ist es sogar einzig das Gedenken an unsere kollektiven Untaten, das uns zu zivilisieren vermag. (Grode 1998b)
Behinderte Menschen spielten was dieses Entsetzen angeht, eine besonders tragische Rolle: So waren sie in Polen die ersten, die dem deutschen Programm der Modernisierung durch Destruktion zum Opfer fielen (Grode 1992a). Ein Unternehmen, das dann im Reich als Euthanasieprogramm fortgesetzt wurde, mit dem Ziel den deutsche Volkskörper von sogenannten Ballastexistenzen zu befreien, um ihn für den Krieg der Herrenmenschen fit zu machen. (Grode 1991a, 1991b, 1992b)
Nicht nur deshalb werden behinderte Menschen heute, auch wenn sie objektiv Gewinner sind, von ihrer Umwelt vor allem als ExpertInnen für den Umgang mit Leid- und Verlusterfahrungen wahrgenommen. Zwar wissen diejenigen die sie näher kennen, dass dies (so) keineswegs der Fall ist; aber gegenüber fast allen übrigen können sie sich auf den Kopf stellen, ohne sie vom Gegenteil zu überzegen. Deshalb meine ich, dass wir behinderten Menschen gesellschaftlich betrachtet, unsere Strategie verändern sollten: Wir sollten dieses leid- und verlustdurchtränkte Vorurteil - das ja per Definition in den Vokabeln Behinderung oder auch handicapped steckt - dadurch unterlaufen, indem wir dazu stehen, dass wir selbstverständlich ExpertInnen für Verlust- und Leidenserfahrungen sind!
Doch nicht etwa (nur) Sachverständige für das eigene Leiden. Das würde genau dem Klischee entsprechen, das die Bevölkerungsmehrheit von uns behinderten Menschen hat. Außerdem würden wir es uns damit ziemlich leicht machen. Denn das eigene Leiden lässt sich trefflich vermarkten und instrumentalisieren. Übrigens nicht nur in nachmittäglichen Talkshows, in den Bildern des 11. September 2001 oder im Umgang mit dem Holocaust; sondern - ich brauche wohl niemanden darauf hinzuweisen - auch im ganz kleinkarierten Alltag.
Was Humanität in die Welt bringt, ist nicht die permanente Erinnerung an eigene Verluste und eigenen Schmerz und schon gar nicht, die Un-Kultur des Erst- und Gegenschlags. Bloße Erinnerung an eigenes Leid führt nur zu oft zum genauen Gegenteil - im schlimmsten Fall zur Legitimation von blutigen Kriegen, wie in Jugoslawien oder im Nahen Osten.
Was einzig Humanität in die Welt bringt und zugleich gesellschaftlich verbindet und zivilisiert, ist die Erinnerung an fremde Qualen. Insbesondere an diejenigen, die den stumm Leidenden zugefügt werden (Grode 1998a) Den Ureinwohnern Nord- und Südamerikas zum Beispiel, der gequälten Kreatur in den europaweiten Viehtransporten oder den weltweit geschundenenen Wäldern.
Literatur:
Grode, Walter (1991a): Unmenschliche Herrenmenschen. Deutscher Überfall auf die Sowjetunion vor 50 Jahren. In: >Lutherische Monatshefte<, Heft 6 / http://www.wissen24.de/vorschau/16359.html
Grode, Walter (1991b): Modernisierung und Destruktion. Regionale Diffenzierungen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik im besetzten Polen. In: Wolfgang Schneider (Hg.), >Vernichtungspolitik<. Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg / http://www.wissen24.de/vorschau/16362.html
Grode, Walter (1992a): Euthanasie und Modernisierung 1939 bis 1945. Deutsche "Euthanasie"-Politik in Polen während des Zweiten Weltkriegs,. In: >Psychologie & Gesellschaftskritik< 62, Heft 2 / http://www.wissen24.de/vorschau/16617.html
Grode, W. (1992b): Deutsche Okkupationspolitik in der Sowjetunion. Rassenideologische Destruktion und "traditionelle" Herrschaftskonzepte auf dem Höhepunkt faschistischer Vernichtungspolitik. In: >Das Argument< 191 / http://www.wissen24.de/vorschau/16364.html
Grode, W. (1998a): Leidenserinnerung als universelle Ressource des Humanen. In: >Politische Vieteljahresschrift<, Heft 2 / http://www.wissen24.de/vorschau/16361.html
Grode, W. (1998b).: Das Opfer ist Gott am Kreuz. Freund-Feind-Denken oder Eingedenken fremden Leid? In: >Die Zeichen der Zeit / Lutherische Monatshefte<, Heft 9 / demnächst in: http://www.wissen24.de
Häufig gestellte Fragen zu "BEHINDERTE MENSCHEN UND DAS PRINZIP DES 11. SEPTEMBER"
Worum geht es in dem Text von Walter Grode?
Der Text "BEHINDERTE MENSCHEN UND DAS PRINZIP DES 11. SEPTEMBER" von Walter Grode vergleicht die Un-Kultur von Erst- und Gegenschlag (bezogen auf islamistischen Terrorismus und die Politik des damaligen amerikanischen Präsidenten) mit den Erfahrungen behinderter Menschen. Grode argumentiert, dass behinderte Menschen aufgrund ihrer täglichen Erfahrungen mit Zivilisation und Selbstzivilisation, die offene und nicht abschließbare Prozesse sind, prototypische Vertreter einer humanen Gegenkultur darstellen. Er betont, dass Humanität oft leichter durch den Umgang mit der eigenen Schwäche erreicht werden kann, als durch aggressive Prinzipien.
Welche Rolle spielten behinderte Menschen im Kontext der deutschen Geschichte?
Der Text hebt hervor, dass behinderte Menschen eine besonders tragische Rolle in der deutschen Geschichte spielten. Sie waren die ersten Opfer des deutschen Programms der Modernisierung durch Destruktion in Polen und wurden im Reich im Rahmen des Euthanasieprogramms ermordet, um den "Volkskörper" von sogenannten "Ballastexistenzen" zu befreien.
Wie werden behinderte Menschen von der Gesellschaft wahrgenommen?
Obwohl behinderte Menschen objektiv Gewinner sein mögen, werden sie oft als ExpertInnen für den Umgang mit Leid- und Verlusterfahrungen wahrgenommen. Grode schlägt vor, dass behinderte Menschen diese Wahrnehmung annehmen und nutzen sollten, um auf ihre Expertise hinzuweisen.
Was bringt Humanität in die Welt?
Laut Grode bringt nicht die Erinnerung an eigenes Leiden oder die Un-Kultur des Erst- und Gegenschlags Humanität in die Welt, sondern die Erinnerung an fremde Qualen, insbesondere an das Leiden derer, die stumm leiden.
Welche weiteren Themen werden in dem Text angesprochen?
Der Text berührt Themen wie die deutsche und europäische Nachkriegsgeschichte, die Bedeutung des Gedenkens an kollektive Untaten, die Rolle von Leid und Verlust in der Gesellschaft, sowie die Gefahren der Instrumentalisierung von Leiden. Er kritisiert auch die Un-Kultur des Erst- und Gegenschlags und plädiert für eine humanere Herangehensweise basierend auf dem Umgang mit Schwäche und dem Gedenken an fremdes Leid.
Welche Literatur wird im Text zitiert?
Der Text zitiert mehrere Werke von Walter Grode aus den Jahren 1991 bis 2002, die sich mit Themen wie Nationalsozialismus, Vernichtungspolitik, Euthanasie, Leidenserinnerung und dem Verhältnis von Medizin und Kultur auseinandersetzen.
- Arbeit zitieren
- Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 2002, Behinderte Menschen und das Prinzip des 11. September, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109374