Narrenweisheit


Hausarbeit, 2003

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALT

0.0 Einleitung

1.0 Narren im Allgemeinen
1.1 Dichtung und Wahrheit

2.0 Der Narr und das Mystische
2.1 Der Narr im Tarot
2.2 Vanitas und Zen
2.3 Heilige Narren

3.0 Über Sinn und Aufgabe des Narren
3.1 Hofnarren

4.0 ..und Heute?

Literatur

0.0 Einleitung

Lang, lang ist’s her – da stolzierten und prunkten am Hof des fürstlichen Herrn die Edelmänner und Edelfrauen, die Halbedelleute, die Viertel...,die Achtel..., und alle, alle taten so, als ob -, und sie wurden für ihr devotes Schweigen und heuchlerisches Verneigen vor den Kaprizen ihres allerdurchlauchtigsten Gönners fürstlich belohnt: sie erhielten Dekorationen und Ehrenstellen, Dotationen und Sinekuren, daß es so eine Art hatte.

Nur einer war da, der gab sich so, wie er wirklich war, der Arme, und bekam für die Wahrheiten, die er seinem Brotgeber und der Hofgesellschaft sagte, sagen mußte ...Prügel: der Hofnarr.

Und heute? Jeder von uns möchte gerne ein kleiner, wenn auch nur ein winzig kleiner Serenissimus sein, möchte gern ein bißchen mit dem Autoschlüssel klingeln. „Hoppla! Jetzt komm ich.“ – Ja, wir haben, wie Serenissimus, unsere herr-lichen Launen und Wünsche; wir freuen uns, wie Serenissimus, über die Lobhudeleien der dienstbeflissenen Menge; wir kaufen, wie Serenissimus, mit Hilfe des Geldes die „Achtung“ und die „Ehrerbietung“ der lieben Mit- und Umwelt, die vor der Majestät des Geldes schamhaft so tut, als ob – ( und dabei ihre lukrativen Geschäfte macht). Denn wir sind ja – wie heißt doch gleich in der so köstlichen Sprache der Tam-tam-Reklame? – wir sind der „Kunde König“, wir sind die kompakte Majorität, wir sind das souveräne Volk, dem man Reverenz zu erweisen hat.

Eines jedoch können wir – anders als Serenissimus – nicht gut vertragen: daß man uns die Wahrheit sagt. Sie bereitet uns Mißvergnügen, sie stört unsere satte Behaglichkeit, sie bringt unser zur Schau getragenes Gleichgewicht ins Wanken. –

Serenissimus besaß immerhin seinen Hofnarren, dem er erlaubte, ihm (für Prügel) die Wahrheit zu sagen. Wollen wir in der Beziehung hinter ihm zurückstehen, nachdem wir uns seine fürstlichen Ambitionen zum Vorbild genommen haben? Nein? – Nun gut, Ihr Damen und Herren, dann gestattet, daß i c h Euch die Wahrheit sage – trotz der zu erwartenden Prügel.

Schlagt nur zu![1]

Hat der Narr wirklich die Wahrheit gesagt? Ist dies nicht immer Aufgabe der Weisen? Wer ist weise? Ist Wahrheit angenehm? Kann Wahrheit nicht auch Kritik sein? Macht Humor Kritik erträglicher? Wie weit ist Kritik von Beratung entfernt? Und, wurden alle Narren dafür geschlagen? Gibt es heutzutage noch Narren? Und wenn ja, wie sehen sie und ihr schelmisch’ Tun aus?

Dies ist ein Teil der Fragen, die sich mir auftaten als ich begann, mich mit dem Narren und seiner „geheimen“ Rolle als Belehrer oder, im höfischen Sinne, als Berater zu beschäftigen. Bei der Suche nach geeignetem Textmaterial stieß ich auf viele wissenschaftliche und auch andere Bücher, Theaterstücke und sogar den ein oder anderen Film, der mit der Narrenthematik in Zusammenhang steht. Die Oben angesprochenen Fragen ließen sich aber nicht direkt beantworten.

Die „Narrenforschung“ kann sich zwar einiger Standardwerke rühmen[2], diese decken jedoch nicht das äußerst weite Feld der Thematik ab. Dies ist zum Teil bedingt durch die teils sehr unterschiedlichen Bereiche wie z.B. religiöse und mystische Ansätze, historische und biographische Berichte, Schelmenliteratur und andere Verwandtschaften des Narren. Besonders interessant erschien mir die selbstkritische, mit einem Schuß Ironie angereicherte Literatur der Betrachtung von Wissenschaft[3].

Zwar gab es immer wieder Kapitel, die sich mit der Thematik des weisen, kritischen und warnenden Narren beschäftigten, diese waren aber nicht so aufschlußreich was meine Fragestellung angeht, wie ich erhofft hatte. Trotz intensiver Recherche gelang es mir nicht, eine Arbeit zu finden, die meine Fragen explizit beantwortet hätte. Die vorliegende Arbeit ist nun ein Versuch die vielen verstreuten Puzzelstücke zu sammeln und zu einem möglichst erkennbaren Bild zusammen zu fügen. Eine wirklich gründliche Forschung in diesem Bereich würde den Rahmen einer Hausarbeit sprengen und eher in eine Diplom- oder Magisterarbeit passen.

1.0 Narren im Allgemeinen

Was macht einen Narren aus? Nun, es gibt verschieden Arten von Narren, die zwar alle die Bezeichnung Narr zu Recht tragen, sich jedoch teilweise sehr voneinander unterscheiden. Einige werden im Anschluß an die folgende kleine, nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Übersicht im Gesamttext noch näher erläutert.

- Da wäre zum einen der „heilige Narr“. Ein meist zutiefst religiöser Mensch, der durch seine stark von der Norm abweichenden Ansichten, sein Verhalten und die daraus folgenden Handlungempfehlungen hinsichtlich korrektem Verhalten zur Erlangung des Welt- und Seelenfriedens auffällt. Der heilige Narr hat aber nicht das Alleinrecht auf Verbindung zur Mystik gepachtet.
- Der gemeine Volks- und Schalksnarr wird in der deutschsprachigen Literatur am besten von Till Eulenspiegel[4] repräsentiert. Er dürfte der wohl geläufigste Stereotyp eines Narren im deutschen Sprachraum sein.
- Bleibt man beim Literarischen, so seien noch die Narrenfiguren in Theaterstücken, Romanen und Filmen zu erwähnen. Diese können in allen denk- und ausdenkbaren Formen Gestalt annehmen.
- Den Legionen von Fastnachts- und Karnevalsnarren haben wahrscheinlich viele, zumindest als Kind, schon einmal angehört. Sie nehmen eine ganz spezielle Sparte in der Narrentradition ein, die eher im Bereich des Volksbrauchtums anzusiedeln ist, und sich heutzutage vielerorts auf den Massenkonsum von Alkohol und „Kostümen von der Stange“ beschränkt. Eine Nähe zu den „Sünder-Narren“ aus Brandts „Narrenschiff“ [5] fällt hier unweigerlich ins Auge Diese Arten von Narren werden hier nicht behandelt.
- Ebenso ergeht es den natürlichen Narren - den Verrückten, Schwachsinnigen, „Arglosen“[6], Hanswürsten und Tolpatschen. Diese gehen eng zusammen mit den Zwergen und Mißgestalteten, die oft an Höfen „gehalten“ wurden. Dieses teils äußerst unschöne Kapitel der Narrengeschichte wird in jeder einschlägigen Narrenliteratur behandelt und ist ebenfalls nicht Thema dieses Textes.
- Zu beinahe guter Letzt die eigentlichen Helden dieses Textes, die Hofnarren. Diese setzten sich aus vielen der anderen Narrenarten zusammen. Da gab es Verrückte, Weise, Dumme und sogar Adelige sollen sich um Narrenämter beworben haben.
- Nach alter Narrentradition des Spiegelvorhaltens seien nun der wehrte Leser, der Verfasser und alle Anderen, an der Reihe. Wer ist wirklich frei von zeitweise närrischem, sonderbaren oder gar verrücktem Verhalten? Wer hat nicht schon einmal an irgend etwas wenigstens einen kleinen Narren gefressen?

1.1 Dichtung und Wahrheit

In seiner Arbeit „Der Hofnarr zwischen Mythos und Realität“ schreibt Jochen Skibbe[7] meines Erachtens zu Recht: „Eine vollständige Abhandlung der Hofnarrengeschichte ist beim derzeitigen Stand der Quellenuntersuchungen wohl noch nicht möglich.“[8]. Dies bezieht sich hier zwar nur auf die „Prominenz der Gaukler“[9], gilt aber auch für deren Oben erwähnte Verwandtschaft. In beinahe jeder Literatur stößt man auf den Hinweis, daß gerade in den Anfängen der Narrengeschichte oft die Authentizität der Figuren und der Geschehnisse angezweifelt werden. Daher ist es auch sehr schwer, zwischen Mythos und historischer Realität zu unterscheiden. Die einzigen zuverläßigen aber wenig aussagekräftigen Quellen sind die Rechnungsbücher der jeweiligen Höfe (soweit erhalten). In diesen trifft man häufig auf teils nicht zu knapp bemessene Ausgaben für den Spaßmacher der gerade regierenden Damen und Herren. Es ist hier aber nicht wichtig, welcher Narr genau diesen Streich ausgeheckt oder jene Weisheit verbreitet hat. Viel mehr geht es um die Idee der Narren figur und deren didaktische Bedeutung.

2.0 Der Narr und das Mystische

Was ist die Narrenidee? Was steht hinter ihr?

Um diese Fragen beantworten zu können, ist ein kleiner Ausflug in den Bereich der Mystik vonnöten. Ausgangspunkt ist die Bedeutung des Narren im Tarot. Der Weg führt über den leeren Geist in der japanischen Zen-Kunst zu den „heiligen Narren“ des nahen Ostens und endet im europäischen Mittelalter. Es geht dabei um die Eigenschaften und die sich daraus erschließende Aufgabe des Narren, an universale Gesetze zu erinnern, die für alle Menschen gleich sind. Da es offenbar in der menschlichen Natur liegt, diese ständig zu „vergessen“ oder gar absichtlich außer Acht zu lassen, bedarf es eines Spiegels, um den Menschen immer wieder darauf hinzuweisen. Neben dem Spiegel gibt es noch ein weiteres „Werkzeug“ des Narren. Die Vanitasidee[10]. Die philosophische Idee der Leere ist in verschiedenen Kulturkreisen ein wichtiger Bestandteil von mystischem, philosophischem und religiösem Gedankengut. Sie beschreibt eine Unvoreingenommenheit oder Reinheit des Geistes, der wie ein Spiegel in der Lage ist, alles ihm gezeigte wertfrei zu reflektieren. Durch die Fähigkeit alles aufzunehmen, ist der Narr in der Lage, als Mittler zwischen verschiedenen Wirklichkeitsebenen zu agieren[11].

Sehr auffällig ist auch das immer wieder auftretende Bild von scheinbar unvereinbaren, sich aber trotzdem ergänzenden Gegensätzen. Ein Phänomen, das in mystischen und religiösen Ansätzen ausgiebig behandelt wird.

2.1 Der Narr im Tarot

Das Tarotkartenspiel[12] ist ein sehr altes Spiel ungeklärter Herkunft. Es fand auch bei europäischen Fürsten und Königen Beachtung[13]. Die Narrenkarte hat bis heute in anderen Kartenspielen als Joker überlebt, den man für alles einsetzen kann. Die vielfältigen Möglichkeiten des Narren im Spiel werden auch im Schachspiel deutlich. Im französischen Schach heißen die Läufer heue noch immer „les fous“[14]. Durch seine ungewöhnliche quere Zugrichtung ist er schon manchem gegnerischen König und dessen Dame „in die Quere gekommen“.

Im Tarot gehört der Narr zu den Charakteren. Dieser Teil besteht aus 22 Karten, wobei der Narr die Null und die Zweiundzwanzig zugleich ist. Er symbolisiert so Anfang und Ende eines endlosen dynamischen Zyklus’, ist Werden und Vergehen zugleich. Ihm werden im Sinne des Oben angesprochenen Dualismus scheinbar unvereinbarer Gegensätze positive wie negative Auflösung von Strukturen und Zwängen zugeordnet. Selbstloser Idealismus, grenzenlose Phantasien, Vorurteilslosigkeit und staunende Offenheit werden als seine positiven Eigenschaften angesehen. Tagträumerei, Infantilität und Verantwortungslosigkeit bilden die negativen Eigenschaften[15]. Als ihn begleitende Mythen wird u.a. Parzival Aufgezählt, „der >>Reine Thor<<, der im Narrengewand auszog und am Ende seiner langen Suche zum Gralskönig wurde.“[16]. Der Verbindung von Narr und gesellschaftlichen Tabus wie Sexualität, Aggressivität, Neugier und anderen sog. Ur-Instinkten begegnet man sowohl in der Mystik, als auch im Narrenbild des frühen Mittelalters. Durch seine Verbundenheit mit dem Abnormalen schafft sich der Narr ein distanziertes Verhältnis zur Welt, das es ihm ermöglicht, eine andere Perspektive einzunehmen. Ein Phänomen, dem man später u.a. in Form des Seiltanzes begegnen wird.

In Bezug auf die Vanitas-Idee stellt Aichmayr in „7.2. Der Narr als Symbol der Vielfalt und Gesamtheit“[17] einen interessanten und plausiblen Zusammenhang her: „Als ’’Symbol für Leere und Offenheit, aber zur gleichen Zeit auch für Fülle’’ [...] deutet Montano die im Waite-Tarot dem Narren zugeordnete Farbe ’’weiß’’. Einerseits bedeute diese Farbe ’’Unschuld und Reinheit’’[...], andererseits offenbare sich anhand der Zerlegung des Lichtes in die sieben Spektralfarben die der Farbe ’’innewohnende Symbolik für Gesamtheit und Vielfalt.[...]“[18].

In der Archetypenzuordnung des Narren bei Frey und Banzhaf wird er als „die Zahl 0 als Symbol ursprünglicher Ganzheit oder des Paradoxons, daß Nichts etwas ist.“[19] dargestellt. Dies und die ihm zugeschriebene Absichtslosigkeit erinnern stark an die Lehren ostasiatischer Mystiker und Zen-Meister.

2.2 Vanitas und Zen

Vollkommene Leere des Geistes ist für einen Schüler der an den Zen-Buddhismus angelehnten traditionelle Künsten Japans die höchste erreichbare Stufe der Erleuchtung. Dies wird besonders beim Betrachten der Kampfkunst Aikido[20] deutlich. In „Zen and Aikido“ beschreibt Meister Shimizu die Verbindung von Zen mit der Kampfkunst Aikido. Demnach besteht Aikido aus vier grundlegenden Elementen, wovon eines „Mu“, die Leere, ist[21]. Ziel ist es, den Geist zu leeren, um wie ein Spiegel alles zu reflektieren, was sich diesem entgegenstellt. Hat man eine bestimmte Absicht oder Erwartung, so ist der Geist nicht rein und gibt dem Gegner etwas, auf das dieser seinen Angriff lenken kann. Auf einer höheren Abstraktionsebene verlieren die Kampftechniken mehr und mehr an Bedeutung. Die Beherrschung von Geist und Bewußtsein rückt hier in den Vordergrund. Der Geist soll leer und offen für Neues sein, um die Energie des Universums aufnehmen zu können. Dadurch stellt der Übende die ursprüngliche Harmonie zwischen sich und dem Kosmos wieder her[22]. Dieser Zustand vollkommener Leere des Geistes ist einer der letzten großen Schritte auf dem Weg der Erkenntnis. Kamata drückt es folgendermaßen aus: „The spirit of Zen is the state of no-mind (mushin).“[23] ; „The state of enlightenment in Zen lies in a free state of mind. [...], in both Zen and Aikido, the ultimate goal is the state of no-mind.“[24]. Im Vergleich mit dem Narren des Tarot wird sogar der Bezug zu philosophischen Ansätzen europäischer Weisheiten sichtbar: „Auf der Ebene des Bewußtseins verkörpert der Narr das Staunen, mit dem nach Platon alle Erkenntnis beginnt. Der Narr steht am Beginn, am Nichts; sein gesamtes Selbst ist von Kosmischen Erfahrungen durchdrungen, die Rationale Basis der materiellen Welt mit ihren funktionalen Handlungsabläufen fehlt. [...] Zwar ist die Weisheit des Narren Sinnbild Höchster Reife, aber das heißt noch lange nicht, daß jeder Narr ein Weiser ist. Er steht am Anfang einer Reise, die ihn am Ende wieder zu sich selber führt, aber im Verlauf dieser Reise muß er die Wirklichkeit erfahren und erwachsen werden, um am Ende des Weges wieder zu den Quellen seiner Kindheit zurückkehren zu können. Auch wenn wir instinktiv erahnen, daß das Ziel in der Quelle selber liegt, gibt es keine Abkürzungen, die uns die mühevollen Umwege ersparen würden.“[25]. Im Aikido und im Zen gibt es auch keine Abkürzung zur Erleuchtung. Sie wird durch jahrelanges stetes Üben erlangt. Ein sehr verbreiteter Ratschlag der Aikidomeister an ihre Schüler[26] lautet in etwa: „Wenn Du die Formen alle richtig kannst, mußt Du sie wieder vergessen, um wahres Aikido zu machen!“

In seinem Buch „Narren, Drachentöter und andere Helden“[27] vergleicht W. Kettler die paradoxen Handlungsweisen und Denkmuster der heiligen Narren mit den Lehrmethoden asiatischer Zen-Meister. Diese gaben ihren Schülern unlösbar scheinende Rätsel (Koans) auf, die sogar von ihrer Art teilweise an die Sprüche der Narren erinnern. Kettler schreibt hierzu: „Was sollen diese Koans? Es könnte in unserem Kontext gesagt werden, es sind literarische Figuren der Narrheit, in denen die Zen-Meister ihren Schülern zeigen, daß nicht allein die intellektuelle Durchdringung eines Problems, der Wahrheit, der Selbsterkenntnis die Lösung bringen kann, wir müssen mit all unseren Kräften , mit dem gesamten Bereich unserer rationalen und emotionalen Anlagen uns auf den Weg machen.“[28].

Dies entspricht einem zur Zeit immer mehr aufkommenden Trend in der Erziehungswissenschaft, ganzheitliche Lehr- und Lernmethoden in die Fachdiskussion aufzunehmen.

2.3 Heilige Narren

Der König, seine Exzellenz von Gottes Gnaden, in anderen Kulturen auch ‚Sohn des Himmels’ genannt, hatte zweifellos eine gute Verbindung zum Göttlichen. Ein einfacher Sterblicher dagegen hatte sich sein ganzes Leben damit abzuringen, möglichst tugendhaft und gottesfürchtig zu sein (was ja nun nicht immer ganz einfach ist!). Hier hat der Narr wieder eine Vermittlerrolle inne. Besonders im islamischen Kulturraum galten Verrückte, Toren und (natürliche) Narren als in einer besonderen Verbindung mit Gott Stehende. Sie waren mit einer anderen Wahrnehmung gesegnet, die ihnen eine Weltansicht möglich machte, die „normalen“ Menschen nicht möglich war.

Eine sehr schönes und bekanntes Beispiel ist der weise Narr Buhlul. Dieser war ein religiöser Weiser, der zur Zeit Harun-al-Rashids (ca. 780 n. Chr.) in Basra, Bagdad und seinem Heimatort Kufa lebte. Buhlul ist immer wieder Figur in lustigen aber auch moralisch belehrenden Volksgeschichten und Erzählungen, was ihn zum festen Bestandteil der arabisch-islamischen Kultur macht. „Buhlul wird [...] im Laufe der Jahrhunderte von einem ursprünglich recht derben Narren, der primär durch seine furchtlose und krasse Art der Belehrung hervortritt, [...] zu einem Vorbild an Gottesfurcht und mystisch orientierter Anklage der Weltlichkeit“[29]. Abgesehen von Buhluls stark ausgeprägter Religiosität und seiner Verrücktheit, käme der Vergleich mit dem europäischen Schelm Till Eulenspiegel in den Sinn. Auch dieser ist keine ganz klar zu erfassende historische Narrengestalt, die aber ihren festen Platz in den Köpfen des einfachen und des nicht-einfachen Volkes einnimmt. Ebenso ist nicht immer sicher welche Geschichten über ihn nun erfunden oder wahr oder beides zugleich sind.

Viel Begegnungen Buhluls mit Gelehrten und Herrschern enden damit, daß diese Buhlul um Rat bitten oder anerkennen müssen, daß ein verrückter Alter weiser ist als sie[30]. Besonders in Volksmärchen des schiitischen Einflußbereiches tritt er als kluger Berater auf[31].

Ähnliche, bei weitem aber nicht so verrückte Gestalten findet man in Hodscha Nasreddin[32] und Abu Nuwas[33].

In Europa fielen derartige Menschen unter den Begriff des „heiligen Narren“. Auch hier wurde Schwachsinnigen, Verrückten und Arglosen eine besondere Verbindung zu Gott nachgesagt. Sogar Jesus Christus wird in die Reihe der Narren aufgenommen, da seine Ansichten und Handlungen von seinen Zeitgenossen meist als verrückt und unsinnig angesehen wurden. Ebenso die Menschen, die seine Lehren befolgten[34]. In seinem ersten Brief an die Korinther bringt Paulus sehr schön zum Ausdruck, wie es um Göttlichkeit, Weisheit und Torheit bestellt ist: „Wenn einer unter Euch glaubt, weise zu sein, so werde er (erst) ein Tor um (wirklich) weise zu werden, denn die göttliche Torheit ist weiser als die Menschen.“[35]. Ein ebenso bekannter weiser Narr war der heilige Franziskus von Assisi. Er entsagte aller Weltlichkeit und fristete trotz des Reichtums seiner Eltern freiwillig ein Leben in Armut und Demut.

„Die heiligen Narren stellen die Konventionen der üblichen Moral auf die Probe, stellen sie auf den Kopf und zeigen so ihre Brüchigkeit. Durch ihr Verhalten zeigen die Narren, daß Tugend oft nur Schutzwall ist, hinter der sich der Ängstliche verkriecht; Moral oft nicht die freie Entscheidung eines Vitalen, sondern das duckmäuserische Annehmen von Ordnungen ist, um vor anderen als ein anderer zu gelten, als man ist.“[36].

3.0 Über Sinn und Aufgabe des Narren

„Vierzeiler, die dem Hanswurst unterwegs eingefallen sind und die er sich aufgeschrieben.

Meinung muß auf Meinung platzen,

Sonst sinkt die Welt verdummt in Schlaf,

Wenn sie nur dasselbe schwatzen,

Gehn Mensch an Mensch wie Schaf an Schaf“[37]

Dieser kleine Vierzeiler beschreibt recht anschaulich, was den Narren zu seinem Tun treibt. Er bringt Dynamik und Entwicklung in das Leben der „Normalen“. Sein Antrieb ist dabei nicht Eigennutz, wenngleich auch einige reale Figuren der Zunft in der Historie das Gegenteil bewiesen. Hier soll jedoch mehr vom idealtypischen Narren die Rede sein. Dieser ist eine Art „Sicherung im System Gesellschaft“, der auf Mißstände hinweist und diese offen zur Sprache bringt. Hier wird wieder die Verbindung von Narrheit und Göttlichkeit deutlich, da der Narr die Untugenden der Menschen sieht und anprangert, die sie nach ihrem Tod sowieso vor Gott verantworten müssen.

Der Ursprung der Narren ist nicht genau festzulegen, reicht aber weit in die Geschichte zurück. Narren finden sich z.B. schon im biblischen Ägypten[38], in der griechischen Antike[39] und im römischen Reich[40]. In der christlichen Gesellschaft beginnt der Narr als solcher seine Karriere erstmals nachweisbar in Psalm 52. Hier heißt es: „Dixit insipiens in corde suo: non est deus.“ – „Der Tor sprach in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott.“[41]. Der häufigste Illustrationstypus in den D-Initialen ist die Darstellung König Salomons mit einem Narren.

W. Mezger gibt in „Hofnarren im Mittelalter/Vom tieferen Sinn eines seltsamen Amtes“[42] einen guten Einblick in die Bedeutung der Narrenfigur des Mittelalters. Übereinstimmend mit anderen Narrenstudien werden hier Narr und König als Typus und Antitypus gesehen, „wobei der Antitypus nach Friedrich Ohly stets das Neue, Zukunftsweisende repräsentiert und den früheren Typus mit seinen Unzulänglichkeiten gewissermaßen überwindet“[43]. Dieses Bild erscheint ebenfalls in Shakespeares „King Lear“, in dem sich der Narr am Ende als einsamer Weiser in einer Welt voller Toren wiederfindet[44].

Der Narr ist das verkehrte Ebenbild des Königs[45]. Er trägt anstatt der Krone, Symbol von Macht und Weisheit, eine Eselsohrenkappe. Anstatt des königlichen Zepters hat er eine Marotte. Dieser „Narrenstab“ ist meist mit einem Narrengesicht verziert, was die Selbstbezogenheit des Narren zum Ausdruck bringen soll. Es könnte aber auch als steter Anreiz zur Selbstreflexion des Narren stehen. Oftmals gab es auch anstatt des Gesichtes eine leere Schweinsblase oder eine gläserne Kugel. Diese standen als Symbol der Leere und Nichtigkeit irdischen Glanzes im Sinne der Vanitasidee.

Der Narr verkörperte somit die Erinnerung an die Vergänglichkeit des Menschen, was ihn besonders im Spätmittelalter mit der Figur des Todes verband. Zu dieser Zeit galt der Narr als „Symbol für menschliche Unzulänglichkeit, Sündhaftigkeit und Verblendung schlechthin“[46]. Dies wurde Thema zahlreicher Illustrationen und Hauptsujet philosophischer Klage. Zu besonderem Ruhm gelangte hier das „Narrenschiff“ von Sebastian Brant[47]. Der Narr wird als Sündenbock für alle schändlichen, amoralischen Vergehen und die Untugendhaftigkeit seiner Zeitgenossen geopfert, was wieder zu einem Vergleich mit Jesus Christus als heiligem Narren führt. Eine besonders interessante Erscheinung ist die Transformation Evas zur Mutter aller Narren. Ein sehr geläufiges Motiv mit Namen wie >>la nef des folles de Eve<<[48] zeigt Eva mit Adam in einem Boot, das von zwei Narren gerudert wird. Von einem in der Mitte des Bootes wachsenden Baumes der Erkenntnis bietet eine Schlange Eva und Adam den Apfel an. Der Narr wird hier zum Träger der Erbsünde[49].

Geht man von der Symbolik des Apfels als Frucht vom Baum der Erkenntnis aus, so ist der Narr nicht der Überbringer des Schlechten, sondern der Wahrheit und Selbsterkenntnis.

Ein weiterer „Zuständigkeitsbereich“ des Narren war die Bedeutungsgleichheit mit dem Tod, ein teilweise heute noch angstbesetztes Tabuthema. Das den Tod symbolisierende Skelett wurde oft in Illustrationen mit einem Narrengewand bekleidet dargestellt. Auch hier ist es wieder Aufgabe des Narren als Mahner zu fungieren und an die Nichtigkeit Irdischer Existenz vor Gott zu erinnern. Sehr deutlich wird die Gleichstellung von Tod und Narr in zwei spätmittelalterlichen Kupferstichen. Der frühere zeigt einen Narren, der von Hinten anschleichend einer schönen Dame Blumen darreicht. Das zweite Blatt, ein Jahr später, zeigt das selbe Motiv mit ein paar schwerwiegenden Veränderungen. Im Narrengewand steckt ein Totenschädel, welcher der jungen Dame eine Sanduhr reicht. Über der Szene befindet sich die Inschrift: „Omnem in homine venustatem mors abolet“ – „Die ganze irdische Schönheit des Menschen macht der Tod vergehen“[50]. Tod und Narr stehen hier einheitlich für die Vanitas. Dazu zitiert Mezger Michel Foucault: „Das Ersetzen des Todesthemas durch das des Wahnsinns bedeutet keinen Bruch, sondern eine Torsion innerhalb der gleichen ängstlichen Unruhe. Noch immer geht es um die Frage der Nichtigkeit der Existenz.“[51]

Ebenso deutlich sagt es die Darstellung eines Narren mit dem Wappenschild Wattenwyl (in der Schweiz) und einem vollen Geldbeutel in der Rechten und einem Sandglas in der Linken. Die Inschrift „Ich wartt der zitt“[52] deutet wieder auf die Vergänglichkeit irdischen Glanzes[53].

Eine weitere wichtige Symbolik liegt im Seiltanz des Narren. Dieser ist häufiger in der Schelmenliteratur zu finden[54]. Durch seine „Unwissenheit“ um Anstand und Welt nimmt der Narr eine Aussenseiterposition zur Gesellschaft ein. Diese ermöglicht es ihm, dieselbe von einem objektiven Standpunkt aus zu beobachten. Dies verschafft ihm das, wenn auch auf wackeligen Beinen stehende und von dem Humor der Kritisierten abhängige „Recht“, „legal“ Kritik zu üben.

Till Eulenspiegel geht hier als glänzendes Beispiel voran. In mehreren Episoden übt er sich im Seiltanz, wird von seiner Mutter dafür gescholten und sogar bei einer Bachüberquerung abgeschnitten. Eulenspiegel setzt seine Versuche jedoch fort. In Episode IV tanzt Till auf einem Seil. Unter ihm prügeln sich die Dorfbewohner um ihre von ihm zusammengebundenen Schuhe. Aichmayr interpretiert dies folgendermaßen: „Die erhöhte Position, von der aus er den Mißstand der Gemeinschaftszersetzung aufgrund von Konkurrenzstreben und Suche nach persönlichem Vorteil aufzeigt, läßt ihn als Mittler zwischen zwei Wirklichkeitsebenen erscheinen.“[55] Ist Objektivität nicht auch ein wichtiger Aspekt von Wissenschaft? In „Ratlose Politiker – hilflose Berater“[56] beklagt. Mielke, daß die Rolle der Wissenschaft in der Politik als Kritischer Begleiter aufgrund finanzieller Abhängigkeit zum Zuträger der Auftraggeber zu werden droht[57]. Dadurch schwächt sie ihre eigene Position[58]. H-J. Luhmann ergänzt: „’Wahrheit wird durch ’Exzellenz’ abgelöst.“[59]

3.1 Hofnarren

Der Narr entwickelte sich im Laufe der Zeit vom verrückten Weisen über den Gaukler und Possenreißer zum Liebling der Herrschenden. Dies ging so weit, daß man um 1500 in Frankreich den Narren aus der Staatskasse Bezahlte und ihn als „Fou du Roi en titre d’office“ verbeamtete. Dieser Titel wurde lustigerweise an einem ersten April(!) im Jahre 1744 durch die Entlassung des Lustigen Tischrats Pöllnitz zu Grabe getragen[60].

Neben der Belustigung des Hofes war es die ideologische Aufgabe des Narren, dem König vor Augen zu halten, daß dessen Macht, Glorie und Reichtum vor Gott nichtig sind und es auch für einen König nur ein kleiner Schritt zur Narrheit ist. Mit anderen Worten: der Narr hatte den König immer wieder auf den Teppich zu bringen! Das erforderte die ständige Anwesenheit des Narren in der Gegenwart „seines“ Königs. Nur dieser wurde vom Narren als Autorität anerkannt. Die Intimität im Verhältnis zwischen Narr und König ging sogar so weit, daß der Narr den König duzen und ihn mit Kosenamen versehen durfte. Oft wurde er sogar als Vetter oder Brüderchen angesprochen[61]. Der Narr war dazu befugt nahezu jedes Tabu zu brechen und jede Person zur Zielscheibe seiner Späße und Sticheleien zu machen. Niemand war hiervon ausgeschlossen. Daß er sich damit natürlich keine Freunde machte, dürfte wohl jeder Narr des öfteren zu spüren bekommen haben. Im Ernstfalle konnte er sich aber in der Regel auf die Protektion durch seinen König verlassen. Dazu gibt es eine sehr nette Anekdote. Sie handelt von Triboulet, Hofnarr bei Ludwig XII. und Franz I. von Frankreich.

Als ein erboster Höfling Triboulet mit Mord droht, wendet er sich an den König. Dieser verspricht ihm, bei seiner Ritterehre, den Höfling aufzuhängen, sollte dieser die Drohung wahr machen und Triboulet töten. Darauf bittet der Narr, dies doch bitte eine Stunde vor seiner Ermordung zu tun, da es ihm sonst nichts mehr nütze[62].

Sehr schön deutlich wird hier auch die Fertigkeit des Narren, die eigentliche Dummheit und blinde Ehrbezogenheit des Königs mit Witz darzustellen. Was bedeutet einem Ehrlosen mehr, ein ehrenvoller Tod oder das Leben?

Der Narr konnte zwar aufgrund seiner Außenseiterrolle die Gesellschaft und deren Individuen nach Lust und Laune kritisieren, durfte dies aber nicht in den gesellschaftlichen Formen tun. Die Art und Weise der Kritik mußte sich von der normalen deutlich unterscheiden und in Humor und Witz gekleidet daherkommen.

Ein sehr berühmter Narr, zugleich auch Krieger und Diplomat, war Chicot, Hofnarr bei Heinrich IV, König von Frankreich. Dieser verhaftete in einer Schlacht den Grafen deChaligny und brachte ihn vor seinen König. Als der Graf erkannte, daß er von einem Narren gefangen genommen wurde, entwand er diesem seinen Degen und versetzte ihm einen Schlag auf den Kopf. Zwei Wochen darauf starb Chicot. Die Todesursache wird aber zum Teil auch seiner unangemessenen Trinksucht[63] zugeschrieben, die sich in diesem Falle wohl nicht so gut auf die Genesung des Verletzten auswirkte[64].

Chicot ist ein glänzendes Beispiel für die Tüchtigkeit einiger Kollegen, die ihren König nicht nur mit Späßen und derben Zoten erfreuten, sondern ihm auch anderweitig zur Seite standen. Es gibt sehr viele Berichte und Geschichten, in denen der Narr als weiser Warner auftritt[65]. Als Beispiel hierfür sei folgende Anekdote zum Besten gegeben:

Im 14. Jahrhundert plante Herzog Leopold I. von Österreich einen Feldzug in die benachbarte Schweiz. Sein Narr Hans Kuony kommentierte die Kriegsvorbereitungen mit der Bemerkung, daß sich die Heerführer zwar Gedanken um das Hineinkommen ins Feindesland, nicht aber um das Wiederhinauskommen machen würden. Nach seiner Niederlage am Morgartenpaß und einem erheblichen Verlust an Soldaten beim fluchtartigen Rückzug, hielt der Herzog seinen Narren in Großen Ehren[66].

Hier wird deutlich, daß viele der Narren keine wirklich Verrückten waren. Ein paar kluge Zeitgenossen hatten erkannt, daß man sich mit etwas Verstand und Witz unter der Tarnung der Narrenkappe ein gutes Einkommen sichern und außerdem zu Rang und Namen kommen konnte[67]. Eine sehr genaue und gut lesbare Zusammenfassung solcher Charaktere liegt von J. Skibbe vor[68]. Es sei noch zu sagen, daß das Amt des Narren nicht unbedingt nur Männern vorbehalten war. Eine wahrlich glänzende Gestalt war die Närrin Mathurine, königliche Hofnärrin mehrerer französischer Herrscher in Folge. Wie viele andere geschickte Angehörige ihrer Zunft war auch sie eine Informationsschnittstelle zwischen Hof und Volk. Durch ihre Besuche in allerlei Schänken und Wirtshäusern der Stadt erfuhr sie was im Volk vor sich ging und konnte so ihrem König aus erster Hand berichten. Umgekehrt versorgte sie das Volk wiederum mit kleinen Pamphleten und satirischen Schriften aus dem Geschehen bei Hofe. Diese machtvolle Position konnte von keiner anderen Person in dieser Art und Weise ausgefüllt werden, als von einem Narren.

Mit der Aufklärung und der Machtmonopolisierung des Absolutismus beginnt auch der Untergang des höfischen Narrentums. Die Mächtigen wollen sich nicht länger von einem moralischen Possenreißer auf die Finger schauen lassen. Erst recht nicht, wenn dieser die Angewohnheit hat die Wahrheit über ihre unlauteren Geschäfte ans Licht zu bringen.

Damit Verfällt die Gesellschaft nicht gleich in eine Zeit der stummen Massen, wie man an der kurz darauf folgenden Revolution merken konnte. Doch auch die Revolution hätte einen kritischen Beobachter mit dem Recht seine Stimme ungestraft erheben zu können nötig gehabt.

Der erste Schritt zur Weisheit ist, einzusehen, daß man unwissend ist – eine alte Geschichte, aber der erste Schritt zur Narrenweisheit ist, einzusehen, daß auch die anderen unwissend sind. Der zweite führt zu dem Gebot: lege das Wams der Einbildung rasch wieder ab, wenn dir vor Freude warm darüber wird, daß auch die anderen unwissend sind, damit dich friert in der Leere deiner Erkenntnis. Wer ist aber nicht unwissend? Sieh dich um und schöpfe Weisheit aus der Erfahrung anderer, und durch ihre Fehler verbessere die eigenen. Höre alles an und glaube wenig, die Lüge ist nicht nur unterhaltsamer als die Wahrheit, sie ist oft auch wahrscheinlicher, denn der Mensch ist ein prahlerisches Wesen, das gern auf Stelzen umhergeht, Flügel aus Pappe und Goldpapier trägt oder mit einem blechernen Schwert klappert, um auf der Bühne des Lebens einen Riesen, einen Engel oder einen Helden zu spielen.

Hast du schon solche Leute gesehen, Hanswurst?

Oh ja! Überall laufen sie herum, aber nur der Narr sieht die Stelzen und Flitter, nur der Narr hört das Blech klappern, und keinem gefällt sein Los, so bunt sie es treiben, aber mit sich selbst sind sie zufrieden[69].

4.0 ...und Heute?

Wie ist es heute um Narren bestellt? Würde den heutigen Herrschern auch etwas Narrentum gut tun?

Daß es einigen großen Staatsmännern nicht an Humor und der Fähigkeit diesen zur rechten Zeit einzusetzen mangelt, beweist die äußerst kurzweilige Lektüre des Büchleins „Humor in der Politik“[70]. Ebenso interessant und erfreulich zugleich ist Alexander Koseninas „Der gelehrte Narr“[71]. Hier wird die Wissenschaft und die die Selbige Betreibenden, mit einem zynischen Blick unter die Lupe genommen. In beiden Büchern kommt sehr schön zum Ausdruck, wie man mit Humor Mißstände und unangenehme Wahrheiten zutage fördern kann. Dies dürfte zumindest bei einigen betroffenen Zeitgenossen aber nicht immer auf Zuspruch stoßen. Die Fähigkeit über sich selbst und vor allem die eigenen Fehler lachen zu können, ist ein nicht zu unterschätzendes Gut, das nicht jedem in die Wiege gelegt wurde. In einem Seminar zum Thema Qualitätsmanagement[72] erzählte der Dozent eine Anekdote, die gut mit dem mittelalterlichen „Wink-mit-dem-Zaunpfahl“ der Narren mithalten kann.

Zur Wahrung der Diskretion und zur Belustigung des Lesers wird diese hier als kleiner Schwank nacherzählt:

Hof: Ein international führendes Industrieunternehmen

Narr: Leitender Qualitätsmanager

Humorloser Höfling: Dessen direkter Vorgesetzter

Im Rahmen einer internen Präsentation vor versammeltem Hofe (400 Personen, darunter wichtige Berater, Offiziere und Höflinge aller Couleur (VIP’s)), stellt der Narr anhand eines Phantasiesauriers, dem „Infosaurus“, das Dilemma des Informationsflusses bei Hofe dar. Geschmückt mit ein paar kleinen Sticheleien macht der Narr deutlich, daß die Fehlerquelle im Bereich der Höflinge (Mittlerer Führungskreis) liegt. Am Ende der Geschichte legt sich der Infosaurus selbst lahm und setzt sich, anstatt einem an seinem Schwanzende knabbernden Parasitsaurier den Garaus zu machen, auf den eigenen Hintern.

Das Nachspiel ist ebenfalls klassisch. Der Höfling schnaubt vor Wut, geht dem Narr an den Kragen, dieser bekommt Redeverbot. Er hat es sicher unter anderem auch seiner Protektion von „ganz Oben“ zu verdanken, nicht mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt zu werden. Ansonsten aber hat er gut Lachen, da er doch auch nur die Wahrheit gesagt hat.

Und da er nicht gestorben ist, ist er noch immer Qualitätsmanager bei Hofe.

Es bleibt zunächst offen, ob Fritz Maywald dies bezwecken wollte, als er in seinem Buch „Der Narr und das Management“[73] dazu rät einen „Hofnarren zu engagieren.

„Mein Rat an alle Manager und >>Unternehmensherrscher<<: Halten Sie sich einen Hofnarren, eines jener seltenen mutigen Wesen, das mit Ihnen auch über unangenehme Dinge spricht, eines jener seltenen Wesen, das Sie für jeden Un-Sinn einsetzen können. Nennen Sie ihn nicht Hofnarr, sondern vielleicht Joker oder noch besser Veränderungsmanager. Aber vorsichtig müssen Sie schon sein: dieser Hofnarr weiß mehr als Sie selbst über Ihr Unternehmen, dieser Hofnarr kennt die wirklichen Probleme.

Immer schon hatten die Narren am Sockel des Throns gesessen. Deshalb sahen sie auch als erste, wenn er zu wackeln anfing. S. J. Lec“[74]

Literatur

Aichmayr, Michael Josef, Der Symbolgehalt der Eulenspiegel-Figur im Kontext der europäischen Narren- und Schelmenliteratur. Göppingen: Kümmerle 1991.

Amelunxen, Clemens, Zur Rechtsgeschichte der Hofnarren. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1991.

Brenduich, Rolf, Enzyklopädie des Märchens, Band 6. 1990.

.Frey, C. F. (Akron) & Banzhaf, Hajo, Der Crowley-Tarot. München: Heinrich Hugendubel 1996.

Harris, Leon, Humor in der Politik. Boppard am Rhein: Harald Boldt 1972.

Kamata, Shigeo & Shimizu, Kenji, Zen and Aikido. USA, 1992.

Kosenina, Alexander, Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen: Wallstein 2003.

Lever, Maurice, Zepter und Schellenkappe. Frankfurt a.M.: Fischer 1992.

Marzolph, Ulrich, Der weise Narr Buhlul. Wiesbaden: Kommissionsverlag Franz Steiner GmbH 1983.

Maywald, Fritz, Der Narr und das Management. München: Gerling Akademie 2001 (2. Aufl.)

Mezger, Werner, Hofnarren im Mittelalter. Vom tieferen Sinn eines seltsamen Amtes. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1981.

Olsen, Hans, Narren-Brevier. Hamburg: Hans-Christians 1964.

Petrat, Gerhard, Die letzten Narren und Zwerge bei Hofe: Reflexionen zu Herrschaft und Moral in der frühen Neuzeit. Bochum. Winkler 1998.

Rohde, Markus (u.a.), Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Opladen: Westdeutscher Verlag, Heft 3 Sept. 1999

Skibbe, Jochen, Der Hofnarr zwischen Mythos und Realität. Hausarbeit zur Erlangung des Grades M. A.,1997, einzusehen bei der FU-Berliln.

v. Gleichen-Rußwurm, Alexander, Narrenweisheit. Leipzig: Dürr & Weber 1920.

[...]


[1] Hans Olsen 1964: Narren-Brevier, S. 8/9.

[2] C.F. Flögel: Geschichte der Hofnarren, Liegnitz und Leipzig: 1789. A. F. Nick: Die Hof- und Volksnarren, Stuttgart: 1873. M.Lever: Zepter und Schellenkappe, Frankfurt a. M.: Fischer, 1992.

[3] Alexander Kosenina 2003, Der gelehrte Narr: Gelehrtensatire seit der Aufklärung, Göttingen: Wallstein.

[4] Hierzu: Aichmayr 1997.

[5] Vgl. Skibbe 1997, S. 14.

[6] Lever 1992, S. 20.

[7] Jochen Skibbe 1997: Der Honarr zwischen Mythos und Relität, einzusehen bei der FU-Berlin.

[8] Skibbe 1997, S. 5.

[9] Amelunxen 1991, S. 7.

[10] Erläuterung der Vanitsidee s. weiter Unten. Zudem vgl. Mezger 1981, S. 35 ff., „Der Hofnarr als lebender Hinweis auf die Vanitas“.

[11] Vgl. Aichmayr 1991, S 193 ff., „Der Narr als Mittler zwischen den Wirklichkeitsebenen“.

[12] Zum Tarot vgl. z.B.: A.Douglas: Geschichte und Ursprung des Tarot, München, 1996.

[13] Lever 1992, S. 55.

[14] Mezger 1981, S. 11.

[15] Vgl. Frey & Banzhaf 1996, S. 7 ff. und S. 22 ff.

[16] Frey & Banzhaf 1996, S. 25.

[17] Aichmayr 1991, S. 201

[18] Aichmayr 1991, S. 201.

[19] Frey & Bazhaf 1996, S. 25.

[20] Vgl. Kamata & Shimizu 1992, Dolin, Alexander, Kempo. Die Kunst des Kampfes. Berlin: Sportverlag 1988.

[21] Kamata & Shimizu 1992, S. 36.

[22] Vgl. z.B., Kamata & Shimizu 1992, S. 57 ff., Kap. 3: The Philosophy of Nothingness.

[23] Kamata & Shimizu 1992, S. 22.

[24] Kamata & Shimizu 1992, S. 102.

[25] Frey & Banzhaf , S. 24.

[26] Natürlich gab und gibt es auch Schülerinnen, Närrinnen etc. Im Folgenden wird nur die männliche Schreibweise verwendet. Zu weiblichen Narren s. weiter Unten.

[27] Kettler 1976.

[28] Kettler 1976, S. 24.

[29] Marzolph 1983, S. 2-3.

[30] Vgl. Marzolph 1983, S. 27-71.

[31] Vgl. Marzolph 1983, S. 20.

[32] H.N. in „Enzyklopädie des Märchens“, Band 6, Rolf Brenduich (Hsg.) 1990 S. 1130 ff.

H.N. wird in einer Badeanstalt von einem Herrscher nach dessen Wert gefragt und schätzt diesen auf die Kaufsumme des Handtuchs das sich der Herrscher um die Hüfte gebunden hat.

[33] A.N. in „Lexikon der arabischen Welt“, Stephan und Nandy Ronart, 1972, Zürich & München: Artemisverlag S. 58-59 und „Enzyklopädie des Märchens“, Band 1, Kurt Ranke (Hsg.), 1977, XXXXXXX S. 44 ff.

[34] Vgl. Kettler 1983, S. 18 und Lever 1992, S. 18.

[35] Lever 1992, S. 20.

[36] Kettler 1976, S. 18/19.

[37] Alexander von Gleichen-Rußwurm, 1920, S. 11.

[38] Vgl. Mezger, 1981, S. 9.

[39] Vgl. Lever 1992, S. 88.

[40] Vgl. Mezger, 1981S. 38 und Aichmayr, S. 189/190.

[41] Vgl. Mezger, 1981,S. 15.

[42] Mezger 1981.

[43] Mezger 1981, S. 16.

[44] Mezger 1981, S. 23.

[45] Eine vollständigere Auflistung der Entsprechungen von Narren- und Königskleidung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, ist aber u.a. zu finden in Mezger 1981

[46] Mezger 1981, S. 24.

[47] Vgl. Mezger 1981, Lever 1992, Aichmayr 1991.

[48] Mezger 1981, S. 26.

[49] Vgl. Mezger 1981, S. 24 ff.

[50] Vgl. Mezger 1981, S. 29 ff.

[51] M. Foucault zitiert in Mezger 1981, S. 32.

[52] Mezger 1981, S. 32.

[53] Weitere Bildquellen finden sich in W. Mezger, Bemerkungen zum mittelalterlichen Narrentum, Tübingen: 1980.

[54] Vgl. Aichmayr 1991, S. 197 ff.

[55] Aichmayr 1991, S. 198.

[56] Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, Heft 3 Sept. 1999.

[57] Vgl. Mielke in: Rohde (u.a.) 1999, S. 40.

[58] Vgl. Mielke in: Rohde (u.a.) 1999, S. 48.

[59] Vgl. H-J. Luhmann in: Rohde (u.a.) 1999, S. 52

[60] G.Petrat 1998, S. 167/169.

[61] Vgl. u.a. Skibbe 1997, S 10.

[62] Vgl. Amelunxen 1991, S. 22.

[63] Wie man jeder historischen Narrenliteratur entnehmen kann, eine in der Zunft anscheinend weit verbreitete Berufskrankheit.

[64] Vgl. u.a. Skibbe 1997 und Lever, 1992

[65] Vgl. u.a. Aichmayr 1991, Lever 1992, Mezger 1981, Skibbe 1997.

[66] Vgl. Mezger 1981, S. 49 ff.

[67] Ein Phänomen das heute in seiner Umkehrung wieder in Mode gekommen zu sein scheint. Manch Berater zieht seinem „Kunden-König“ mit quacksalberischen Ratschlägen einen guten Batzen aus dem Säckel.

[68] Skibbe 1997.

[69] Olsen 1964, S. 12 ff.

[70] Leon Harris 1972.

[71] Kosenina 2003

[72] FU-Berlin, Sommersemester 2003, HS 12229, „Qualitätsmanagement durch selbstgesteuertes Lernen am Beispiel eines Industrieunternehmens“, Dozent: Friedbert Crusius.

[73] Maywald 2001, verbindet Change-Management mit der Narrenidee.

[74] Maywald 2001, S. 57/58.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Narrenweisheit
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Der Mensch in seiner Geschichte unter den Bedingungen von Globalisierung und Individualisierung
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
19
Katalognummer
V109603
ISBN (eBook)
9783640077823
Dateigröße
384 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Narrenweisheit, Mensch, Geschichte, Bedingungen, Globalisierung, Individualisierung
Arbeit zitieren
Finn Hummel (Autor:in), 2003, Narrenweisheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109603

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