Nikolas Lenau - Die Schilflieder


Seminararbeit, 2005

18 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung

2 Lenau und Charlotte Gmelin
2.1 Die Anfänger der Liebe
2.2 Lenaus Leiden an der Liebe

3 Die Naturmetaphorik in Lenaus Dichtung 4

4 Die Schilflieder
4.1 Analyse
4.1.1 Der Aufbau
4.1.2 Metrik, Reim und Form
4.1.3 Frage nach dem lyrischen Ich
4.2 Interpretation – Die Verarbeitung der Gefühle
4.2.1 1. Schilflied
4.2.2 2. Schilflied
4.2.3 3. Schilflied
4.2.4 4. Schilflied
4.2.5 5. Schilflied

5 Résumé

1 Einleitung

Nikolaus Lenau hat mit seinen Schilfliedern einen Zyklus geschaffen, der mit Recht zu den schönsten Liebesdichtungen gezählt werden kann. Wohl aus diesem Grund lassen sich zahlreiche Vertonungen dieses Zyklus finden. Berühmte Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy setzten die wohlklingenden Gedichte in Musik.

Die Lieder entstanden wohl Anfang bis Mitte Januar des Jahres 1832, da sie am 15. Januar zum ersten Mal in einem Brief Lenaus an seinen Freund Karl Mayer auftauchten.

Tief beeindruckt hielt Mayer seine Gedanken zu den Liedern schriftlich fest: „War es Schmerz, Liebe, Naturgefühl, was sie ausklingen? Sie waren mir eine Musik, in der diese alle zu bezauberndem Wohlklang in einander fließen!“[1]

Trotz, oder gerade wegen der Schönheit dieses Zyklus machten sich Lenaus Freunde große Sorgen um die Gemütsverfassung des Dichters, dessen Dichtung große Trauer, Mutlosigkeit und Resignation ausdrückte.

Da die Schilflieder zur Lotte-Dichtung zählen, die etwa die Jahre 1831 bis 1833 umfasst, ist es nötig die Beziehung Lenaus zu Lotte ein wenig näher zu betrachten, um so die Problematik der Schilflieder besser verstehen zu können.

2 Lenau und Charlotte Gmelin

Die Anfänge der Liebe

Im August 1831 kam Lenau nach Stuttgart und wohnte dort bei Gustav und Sophie Schwab.

Vor allem mit Gustav pflegte der Dichter eine enge Freundschaft. Diesem hatte er seine Einführung in verschiedene Dichterzirkel und die Veröffentlichung einiger seiner Gedichte im Morgenblatt für gebildete Stände zu verdanken. Auch Lenaus Vertrag mit Cotta kam durch Gustav zustande, da dieser mit dem Verleger befreundet war.[2]

Bei einem Spaziergang mit seinen Gastgebern lernte Lenau am 22. August schließlich Charlotte Gmelin kennen.[3] Während anfangs die Freundschaft zwischen ihm und der Nichte der Schwabs eher platonischer Natur war, kam es bei ihrem dritten Zusammentreffen im Hause Gustavs zu einer ersten Annäherung. Aus der anfänglichen Zuneigung des Dichters zu dem Mädchen wurde bald eine starke Liebe, was Sophie mit großem Wohlwollen beobachtete. In der Hoffnung, der Dichter würde in die Familie einheiraten, organisierte sie wiederholte Treffen zwischen den beiden Liebenden.

Lenaus Leiden an der Liebe

Als Liebesbeziehung konnte die Verbindung zwischen Lenau und Charlotte jedoch nicht bezeichnet werden. An Lenaus aufrichtiger Liebe bestand kein Zweifel, dennoch sah er sich sowohl finanziell, als auch emotional nicht dazu in der Lage, um die Geliebte zu werben.

Lenaus Bindungsängste resultierten wohl vor allem aus der unglücklichen Beziehung mit Berta Hauer, seiner ersten Freundin aus Wien.

Ein weiterer Grund dafür, warum er Lotte auf Distanz hielt, war seine geplante Amerikareise. Er strebte auf dem anderen Kontinent eine Professur an und wollte dafür in Würzburg oder Heidelberg schnellstmöglich einen Doktortitel erwerben.

Lenau entschied sich letztlich für ein Studium in Heidelberg.

Dort angekommen stand der Dichter bereits in regem Briefkontakt zu seinen Freunden. Er schrieb vor allem an die Schwabs, Schurz und Mayer. In seinen Briefen schilderte er immer wieder, wie schwer ihm der Verzicht auf Charlotte zu schaffen machte, zeigte aber dennoch Entschlossenheit, Lotte weiterhin auf Distanz zu halten. Wieder und wieder zählte er die Gründe für seine Entsagung auf, wobei immer an erster Stelle stand, dass „er [...] in seinem Innern glücklicher werden“ müsse, „um Lotte glücklich zu machen“.[4]

Lenaus Innere Zerrissenheit steigerte sich mit der Zeit immer mehr. So träumte er des Nachts, seine Geliebte würde ihn verlassen und obwohl er meinte, er müsse sterben, ließ er sie doch gehen. Dies schilderte er Karl Mayer in einem Brief, der mit den Worten „aber mein Innerstes Wesen ist Trauer, und meine Liebe schmerzliches Entsagen“[5] endete.

Gustav und Sophie Schwab sahen, wie nicht nur Lenau sondern auch Lotte litt, woraufhin sie der Meinung waren, Lenau sollte ihre Nichte nicht mehr sehen, solange er es mit der Werbung um sie nicht ernst meinte. Die Situation eskalierte schließlich soweit, dass Gustav Lenau am Neujahrstag 1832 der „Liebelei“[6] beschuldigte.

Als der Dichter am 22. Mai 1832 nach Amerika auswanderte, schien er seine Gedanken an einen endgültigen Verzicht auf Lotte überwunden zu haben. Er hatte vor, ihr seine Liebe zu gestehen, sobald er wieder in Deutschland war.

Der Amerikaaufenthalt änderte nichts an Lenaus Zuneigung, doch sah er Charlotte nach seiner Rückkehr im Jahre 1833 nicht mehr wieder.

Für das Ende des Jahres 1833 wird auch das Ende der Lotte-Dichtungen angesetzt.

3 Die Naturmetaphorik in Lenaus Dichtung

Bevor man sich der Betrachtung von Lenaus Liebes- und Naturlyrik widmet, sollte man sich zunächst mit seiner neuartigen Bildersprache befassen.

Der Dichter beschäftigte sich ausgiebig mit den Theorien Hegels, Spinozas und Schellings.

Lenau kann fast schon als Eklektiker bezeichnet werden, da er aus dem Studium einzelner Naturtheorien eine innovative und einzigartige Vorstellung von der Beziehung zwischen Mensch und Natur entwickelte.

Während die Dichter der Romantik eine Parallele zwischen dem Menschen und einer „korrespondierenden Erscheinung aus der Natur“[7] zogen, oder Naturerscheinungen einfach aneinander reihten, bilden bei Lenau Mensch und Natur eine untrennbare Einheit. So entsteht die Vorstellung einer Leidensgenossenschaft, die die subjektive Empfindung des Menschen in den Naturerscheinungen zu objektivem Schmerz werden lässt.

Diese besondere Naturmetaphorik findet sich selbstverständlich auch in den Schilfliedern. Die Natur spielt hier eine zentrale Rolle und hilft dem Dichter seinen Schmerz zu überwinden und den Verzicht auf Lotte erträglicher zu machen.

4 Die Schilflieder

Analyse

Der Aufbau

Die Schilflieder umfassen fünf Gedichte, die aber nicht einzeln mit Titeln versehen, sondern lediglich von eins bis fünf durchnummeriert sind. Das zweite Schilflied hebt sich durch seine zweistrophige Form von den übrigen Gedichten des Zyklus ab, welche aus jeweils drei Strophen bestehen. Die Gemeinsamkeit der fünf Lieder besteht in den vier Versen, die jede ihrer Strophen umfasst.

Metrik, Reim und Form

Der Rhythmus der Schilflieder ist durchgehend trochäisch. Während es sich bei Lied vier um dreifüßige Trochäen und ausschließlich männliche Kadenzen handelt, haben die Trochäen in den anderen vier Gedichten vier Hebungen, wobei sich männliche und weibliche Kadenzen abwechseln. Daher rührt die bedrohliche Stimmung in Schilflied 4 und der ruhige Ton in den übrigen Liedern

Der gesamte Zyklus ist im Kreuzreim (abab) verfasst, wobei Lenau ausschließlich reine Reime verwendet.

Aus Rhythmus und Reim ergibt sich, dass der Dichter für seinen Zyklus die Volksliedstrophe gewählt hat, eine Form, die für Lenaus Dichtung typisch ist.

Die Frage nach dem lyrischen Ich

Die Frage nach dem lyrischen Ich beantwortet sich vor dem Hintergrund des Lotteerlebnisses eigentlich von selbst. Bei den Schilfliedern ist wohl mit Recht anzunehmen, dass es sich bei dem lyrischen Ich um den Dichter selbst handelt, der hier seine persönlichen Gefühle, Schmerzen und Ängste zum Ausdruck bringt.

Interpretation – Die Verarbeitung der Gefühle

1. Schilflied

1.

Drüben geht die Sonne scheiden,[8]

Und der müde Tag entschlief;

5 Niederhangen hier die Weiden

In den Teich, so still, so tief.

Und ich muß mein Liebstes meiden!

Quill, o Thräne, quill hervor!

Traurig säuseln hier die Weiden,

10 Und im Winde bebt das Rohr.

In mein stilles, tiefes Leiden

Strahlst du, Ferne! süß und mild,

Wie durch Binsen hier und Weiden

Strahlt des Abendsternes Bild.

Der Dichter führt mit diesem ersten Schilflied das Thema des Zyklus ein. Es geht um den Abschied von der Geliebten. Eine Trennung, die nicht nur vorübergehend, sondern endgültig ist.

Durch das Eingangswort „drüben“ (V.3) wird die Position des lyrischen Ich, das sich am diesseitigen Ufer befindet, klar vom Geschehen am jenseitigen Ufer getrennt. In Vers sechs wird die Entfernung des anderen Ufers noch stärker hervorgehoben, indem auf die Tiefe des Wassers hingewiesen wird, das hier als trennendes Element fungiert.

Durch die Beschreibung des Sonnenuntergangs in Vers drei wird eine melancholische Stimmung aufgebaut, die das ganze erste Lied hindurch aufrecht erhalten wird.

Die Sonne ist hier wohl eine Metapher für die Geliebte. Mit ihrem Untergang „entschlief“ (V.4) der Tag. Hier liegt ganz eindeutig ein Euphemismus vor, da den Wörtern „scheiden“ (V.3) und entschlafen eine Todeskonnotation anhaftet. Für Lenau ist die Trennung von Charlotte endgültig. Der „müde“ (V.4) Tag weicht nicht nur der Nacht, er stirbt; und mit ihm das Licht der Sonne und die Hoffnung.

Sah das Ich bisher nach oben, senkt es ab Vers fünf seinen Blick. Hier wird Lenaus Konzept der Leidensgenossenschaft der Natur zum ersten Mal sichtbar. Die Weiden lassen genauso die Köpfe hängen, wie das lyrische Ich selbst. Momente dieser Objektivierung des subjektiven Schmerzes durch die Natur finden sich im ersten Lied immer wieder. So ist das Wasser des Teichs genau so „still“ und „tief“ (V.6) wie das „Leiden“ (V.11) des Ich. In Vers neun sind es wiederum die Weiden, die „traurig säuseln“ und in Vers zehn „bebt das Rohr“, genauso wie der Liebende innerlich bebt.

In der zweiten Strophe zeigt sich besonders gut, dass Lenau in den Schilfliedern seinen eigenen Liebesschmerz verarbeitet hat. Das lyrische Ich will die Geliebte nicht „meiden (V.7), sondern es „muß“. Der Schmerz, den das lyrische Ich empfindet, resultiert also aus der starken Liebe, auf die er sich aus finanziellen, karrieretechnischen und vor allem emotionalen Gründen einfach nicht einlassen kann.

Durch die melancholische Grundstimmung des ersten Liedes wird die Resignation des lyrischen Ich ausgedrückt, wobei diese in der dritten Strophe für kurze Zeit durchbrochen wird. Mit dem Aufgehen des Abendsternes scheint noch einmal ein Hoffnungsschimmer durch die trüben Gedanken des Liebenden zu brechen. Der dunkle Teich wird zum „Medium der subjektiven Erinnerung“[9]. „Des Abendsternes Bild“ (V.14) wird als Lichtreflex in ihm sichtbar.

Aus der Realität ist die Geliebte zwar verschwunden, da der Tag unwiederbringlich der Nacht gewichen ist, doch bleibt sie in der Erinnerung noch erhalten. Durch das Bild des Sternes wird eine transzendentale Ebene geöffnet, in der die Liebste noch existent ist.

Durch die Tatsache, dass das lyrische Ich jedoch nicht den Abendstern selbst, sondern lediglich sein Abbild im Wasser sieht, wird abermals die große Entfernung zu der Geliebten klargemacht, wodurch fraglich ist, ob das Ich hier tatsächlich so etwas wie Hoffnung empfindet.

2. Schilflied

15 2.

Trübe wird’s, die Wolken jagen,

Und der Regen niederbricht,

Und die lauten Winde klagen:

„Teich, wo ist dein Sternenlicht?“

20 Suchen den erloschnen Schimmer

Tief im aufgewühlten See.

Deine Liebe lächelt nimmer

Nieder in mein tiefes Weh!

Das zweite Lied ist zugleich das kürzeste im Zyklus. Es umfasst lediglich zwei Strophen. Gerade aber durch seine Kürze gewinnt es an Eindringlichkeit.

Das lyrische Ich befindet sich immer noch an derselben Stelle wie im ersten Lied. Der Sternenhimmel wird nun von Wolken überdeckt und das Bild des Abendsternes ist nicht mehr zu sehen. Die Distanz zur Geliebten ist in diesem zweiten Lied am stärksten spürbar. „Die Wolken“ (V.16), „der Regen“ (V.17) „und die lauten Winde“ (V.18) haben das Bild Lottes ausgelöscht, wobei diese drei Naturerscheinungen als „die drei Gesichter des Dichters“[10] gesehen werden können. Die Wolken symbolisieren wohl Lenaus unstetes Leben, der Regen seine Tränen und die Winde seine Unbeständigkeit und Ruhelosigkeit.

Durch diese Eigenschaften hat der Dichter Charlotte verloren und zwar endgültig, sollte er sich nicht ändern.

Schon im ersten Lied wird klar, dass das lyrische Ich in enger Verbindung zu dem Teich steht, da dieser das Leiden des Ich teilt. Hier wird nun dieses Seelenband zwischen den beiden noch stärker spürbar. Wie der Teich sein Sternenlicht, hat das lyrische Ich das Bild seiner Geliebten verloren und sucht in seiner „aufgewühlten See(le)“ (V. 21) nach dem „erloschenen Schimmer“ (V.20). Hier hat Lenau meiner Meinung nach das Wort „Teich“, das er sonst benutzt, ganz bewusst durch den „See“ ersetzt, weil letzterer aufgrund seiner Orthographie wesentlich deutlicher die Verbundenheit des Menschen mit der Natur zeigt. Die Verbundenheit der Seele des Ich mit dem See.

Die Winde suchen nicht etwa nach dem strahlenden Bild des Sternes, sondern nach seinem „erloschenen Schimmer“. Die Distanz zur Geliebten steigert sich also in diesem Moment nochmals, da die Erinnerung an die Frauengestalt „weit in die Vergangenheit zurückverlegt“[11] wird.

Durch die Dynamik der Natur in diesem zweiten Lied verschwindet die Melancholie und somit das Gefühl der Resignation. Das lyrische Ich ist verzweifelt und aufgebracht. Die Hoffnung ist völlig einer pessimistischen Weltsicht gewichen. Das „Weh“ (V.23) des Dichters ist mittlerweile so tief, dass das Lächeln der Geliebten ihn „nimmer“ (V.22) erreichen kann.

3. Schilflied

3.

Auf geheimem Waldespfade

Schleich’ ich gern im Abendschein

An das öde Schilfgestade,

Mädchen und gedenke dein!

Wenn sich dann der Busch verdüstert,

Rauscht das Rohr geheimnißvoll,

Und es klaget und es flüstert,

Daß ich weinen, weinen soll

Und ich mein’, ich höre wehen

Leise deiner Stimme Klang,

35 Und im Weiher untergehen

Deinen lieblichen Gesang.

In diesem Lied hat sich die aufgewühlte Natur wieder beruhigt, und Lenau beschreibt fast eine Idylle. Mit Wörtern wie „Schleich’“ (V.26), „flüstert“ (V. 31) oder „Leise“ (V.34) wird eine absolut zerbrechlich wirkende Stille erzeugt. Beim Lesen dieses dritten Schilfliedes möchte man fast den Atem anhalten, um die vorherrschende Ruhe nicht zu stören. Der Leser wird sich wohl dabei ertappen, wie er versucht, ebenfalls der Geliebten „Stimme Klang“ (V.34) vernehmen zu können.

Von Strophe zu Strophe scheint sich die Natur zu verdunkeln, bis schließlich in der dritten Strophe die visuelle Wahrnehmung völlig hinter die akustische zurückgetreten ist.

Schon ab der Mitte der zweiten Strophe existiert die sichtbare Welt nicht mehr. Der Spazierende verlässt sich nur mehr auf sein Gehör.

Nun, da der Tag mit seinem hellen Licht entschwunden ist, kann das lyrische Ich seine Geliebte wieder wahrnehmen. Der Moment, in dem der Imaginationsvorgang einsetzt, wird mit den Worten, „ Und ich mein, ich höre wehen...“ (V.33), beschrieben, wobei die Wahrnehmung seiner Liebsten auch hier wieder durch das Mitempfinden der Natur ausgelöst wird, da der Wind im „Rohr“ (V.30) die Stimme der Frau erst erzeugt.

Die Vollkommenheit der Geliebten erfährt am Ende der dritten Strophe nochmals eine Steigerung. Indem sie eins wird mit dem Wasser des „Weihers“ (V.35), ist nicht mehr lediglich von der Stimme der Liebsten die Rede, sondern von deren „lieblichen Gesang“ (V.36).

Durch das dritte Schilflied eröffnet sich dem lyrischen Ich eine neue Möglichkeit, seinen Schmerz zu bewältigen. Von Beginn des Liedes an wendet es sich mit seinen Worten direkt an seine Liebste. Ihre Anwesenheit ist daher in diesem Lied am stärksten spürbar. Durch diese direkte Anrede erfährt das lyrische Ich Einblick in eine transzendentale Welt, in der eine Kommunikation mit der Geliebten in gewisser Weise noch möglich ist.

Der Leser merkt, dass Lenau während des gesamten Zyklus versucht, seinen Schmerz zu überwinden oder ihn zumindest erträglich zu machen. Das dritte Schilflied ist das erste, bei dem man das Gefühl hat, dass der Dichter sich langsam mit seiner Situation abfinden kann.

4. Schilflied

4.

Sonnenuntergang;

Schwarze Wolken zieh’n,

40 O wie schwül und bang

Alle Winde flieh’n!

Durch den Himmel wild

Jagen Blitze, bleich;

Ihr vergänglich Bild

45 Wandelt durch den Teich.

Wie gewitterklar

Mein’ ich dich zu seh’n,

Und dein langes Haar

Frei im Sturme weh’n!

Im vierten Gedicht der Schilflieder erfährt die Naturbewegung und somit die Bewegung der Dichterseele einen Höhepunkt. Der gleichmäßige, liedhafte Rhythmus der vorherigen Lieder trägt nun einen fast impressionistischen Charakter.

Beschrieben wird, wie im Eingangsgedicht, wiederum die Landschaft um den Weiher herum. Das Bild des friedlichen Weihers im Wald ist jedoch einem bedrohlichen, fast beängstigenden Bild gewichen. Gleichzeitig mit dem „Sonnenuntergang“ in Vers 38 verdunkelt sich der Himmel, „Schwarze Wolken“ (V.39) ziehen auf.

Die Winde, die dem lyrischen Ich im dritten Lied noch die Stimme der Geliebten nahe brachten, „flieh’n“ (V.41) nun vor den hereinbrechenden, entfesselten Naturgewalten. Alle Geräusche sind mit dem Entschwinden der Winde völlig verklungen. Alles scheint für kurze Zeit den Atem anzuhalten, auf die bevorstehende Entladung wartend.

Endlich wird in Vers 43 diese Spannung aufgelöst, und Blitze durchneiden die „schwüle“ (V.40) Luft.

Das Enjambement im Übergang von Vers 42 zu Vers 43 lässt den gesamten Himmelsraum zu einem einzigen, großen, hell-erleuchteten Ganzen werden. Die Dynamisierung wird an dieser Stelle „universal“[12].

Was nun folgt, ist wiederum wie im ersten Gedicht der Schilflieder: Das lyrische Ich senkt sein Haupt. Blickte es zuvor zum Himmel empor, sind seine Augen nun auf das Wasser des Teichs gerichtet, in dem für kurze Zeit das „ vergänglich Bild“ (V.44) seiner Geliebten zu sehen ist. Hier spürt man die „Vanitasgewissheit“[13] des Dichters. Genauso vergänglich wie diese Naturerscheinung war das kurze Glück, welches Lenau in der Liebe zu Lotte fand. Hier ist allerdings nichts von der tiefen Trauer zu spüren, die noch im Eingangsgedicht die Gefühle des Ich bestimmt. Die entfesselten Elemente stehen hier für das Innere des Dichters, wo ein Sturm losgebrochen ist. Anstatt am Verlust der Liebsten zu leiden, empfindet das lyrische Ich eher Wut darüber. Die innere Einstellung des Dichters hat sich also verändert.

Während der Himmel in rasanter Bewegung ist, „Wandelt“ (V.45) das Bild der Geliebten durch den Teich. Das Wasser war und bleibt somit ein „Element der Ruhe“[14], während der Himmel mit seinen zuckenden Blitzen die innere Aufgewühltheit und Zerrissenheit des Dichters symbolisiert. Aus diesem offensichtlichen Gegensatz heraus wird also die Geliebte für das lyrische Ich sichtbar. Im grellen Licht der Blitze ist sie für den Dichter ganz deutlich zu sehen.

Hier zeichnet Lenau jedoch nicht das liebliche und zerbrechliche Bild der Liebsten, wie er es in den vorangegangenen Liedern getan hat, ihre Erscheinung ist wild und ungebändigt wie das Gewitter selbst.

Durch die Wortwahl in der dritten Strophe erscheint uns Lotte hier wie die berühmte Sirene.

An dieser Stelle wird dem lyrischen Ich wohl klar, dass die Beziehung zu seiner Liebsten von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

Meiner Meinung nach steht die Sirene hier aber nicht nur für die Geliebte speziell, sondern für die Frauen im Allgemeinen. Der Dichter versucht sich wohl auch mit dem Gedanken daran zu trösten, dass es vielen anderen Männern genauso geht wie ihm, da die Sirene, der Inbegriff des Weiblichen, schon viele Männer vor ihm ins Verderben gestürzt hat und wohl auch nach ihm noch viele weitere ins Verderben stürzen wird.

Gleichzeitig wird aber durch den Vergleich der Geliebten mit dieser Sagengestalt klar, dass die Leiden des lyrischen Ich nie ganz verklingen werden, „da sie einer unerfüllbaren Leidenschaft entspringen“[15].

5. Schilflied

50 5.

Auf dem Teich, dem regungslosen,

Weilt des Mondes holder Glanz,

Flechtend seine bleichen Rosen

In des Schilfes grünen Kranz.

55 Hirsche wandeln dort am Hügel,

Blicken in die Nacht empor;

Manchmal regt sich das Geflügel

Träumerisch im tiefen Rohr.

Weinend muß mein Blick sich senken;

60 Durch die tiefste Seele geht

Mir ein süßes Deingedenken,

Wie ein stilles Nachtgebet!

Im fünften und letzten Gedicht der Schilflieder hat sich die Natur wieder beruhigt. Während Lenau in den ersten beiden Strophen die Natur beschreibt, folgt in der dritten Strophe eine „Darstellung seelischen Erlebens“[16].

Die Naturschilderung gleicht derjenigen des Eingangsgedichts. Alles scheint friedlich und still, und auch hier wird wie im ersten Lied auf die Endgültigkeit der Trennung hingewiesen. Der Mond, der „seine bleichen Rosen in des Schilfes grünen Kranz“ (V.53/54) flechtet, erinnert an jemanden, der einen Totenkranz fertigt. Die „bleichen Rosen“ in Vers 53 deuten hierbei auf die erloschene Liebe hin. Die Szene ist wie ein stilles Abschiednehmen des lyrischen Ich von der Geliebten.

Hier zeigt sich nun der Unterschied zum ersten Lied: Das lyrische Ich versinkt nicht mehr in seinem stillen und tiefen Leiden, vielmehr schöpft es neuen Lebensmut. Erkennbar ist dies vor allem in der zweiten Strophe, in der Lenau die am Hügel wandelnden Hirsche beschreibt. In der österreichischen Literatur symbolisiert dieses Tier „das instinktive, freie Leben, die unbändige Kraft der Natur“[17].

Wie in allen Gedichten der Schilflieder finden sich auch hier wieder die Parallelen zwischen dem Menschen und der Natur. Beschrieben wird eine friedliche, fast idyllische Landschaft, deren Mittelpunkt der regungslose Teich (V. 51) ist. Genauso ruhig und still wie das Wasser ist auch das Gemüt des Dichters. Das schlimme Unwetter aus Lied vier ist vorüber und die Wogen haben sich geglättet. Zurückgeblieben ist eine vollkommen glatte Oberfläche, in der sich „des Mondes holder Glanz“ (V.52) spiegelt, wobei dieser an die holde Gestalt der Geliebten erinnert. Die Liebste ist nun nicht mehr die schicksalhafte Sirene des vorangegangenen Liedes. Der Gedanke an sie ruft keine Verzweiflung mehr im lyrischen Ich wach.

Es besteht kein Zweifel daran, dass sie auch weiterhin tief in der Seele des Dichter verankert ist (V.60), doch wird sie nun klar von der realen Welt getrennt. Während das lyrische ich in Vers 59 „weinend“ seinen Blick senkt, wird ihm klar, dass der Gedanke an die Liebste nicht mehr schmerzlich, sondern süß (V.61) ist. Sie erscheint wie eine Art göttliches Wesen, das über den Liebenden wacht. Sie wird nun endgültig zu einem transzendentalen Wesen. Auf diese Weise ist es dem Dichter möglich, seinen Schmerz in den Griff zu bekommen. Der Gedanke an den Vollkommenen Verlust der Geliebten ist ihm unerträglich; indem sie aber auf einer anderen Ebene noch existent ist, kann der Dichter die Realität ohne sie bewältigen.

5 Résumé

Die Schilflieder waren für Lenau wohl ein Mittel zum Zweck. Der Zyklus half ihm dabei seine Gefühle niederzuschreiben, und sie auf diese Weise zu verarbeiten.

Ganz deutlich erkennt man in den einzelnen Liedern verschiedene Phasen der Trauer: Das erste Lied spiegelt den unbändigen Schmerz des Dichters über den Verlust der Geliebten wider. Ihn quält ein „stilles, tiefes Leiden“ (V.11). Große Resignation und Müdigkeit sprechen aus den Versen dieses Gedichts.

Im zweiten Schilflied weichen die Gefühle der tiefen Trauer einem Gefühl der Panik. Das lyrische Ich hat nun realisiert, dass es seine Geliebte unwiederbringlich verloren hat.

Auf diese Szene folgt im dritten Lied eine Art Selbstreflexion. Der Dichter ist mit sich und seinen Gefühlen allein und horcht in sein Inneres. Die Verzweiflung verfliegt, als das Ich merkt, dass die Liebste in seinem Inneren noch existiert und dort auch nicht entschwinden wird.

Bevor es im letzten Gedicht des Zyklus zu einer Aussöhnung mit seinen Gefühlen kommt, braust das Gemüt des Dichters im vierten Schilflied nochmals auf. Hier handelt es sich wohl schlicht und ergreifend um Wut. Wie das Gewitter die schwüle Luft reinigt, reinigt der Innere Sturm die Seele des Dichters. Nur auf diese Weise kann es im letzten Lied zur inneren Harmonie kommen.

Die Phasen, die das lyrische Ich während des Zyklus durchläuft, sind also tiefe Trauer und Schmerz, Panik und Verzweiflung, Selbstreflexion, Wut und schließlich die Aussöhnung mit seinen Gefühlen.

Schritt für Schritt, oder Lied für Lied erfolgt hier also die Verarbeitung des Schmerzes.

Wichtig in den Schilfliedern ist auch die Unterscheidung von Diesseits und Jenseits, von realer und transzendentaler Welt.

Der Dichter spielt mit den Blickrichtungen des lyrischen Ich. Immer wenn es die Geliebte erblickt, oder vernimmt, hat es seinen Blick zum Weiher gesenkt. Die Wasseroberfläche gibt verzerrt das Spiegelbild der Liebsten wieder oder lässt ihre Stimme erklingen. Das Wasser fungiert sozusagen als trennendes Element zwischen den Liebenden. Ähnlich wie in dem Lied über die zwei Königskinder können die beiden nicht zueinander gelangen.

Das Wasser ist das Spiegelbild der Seele des Dichters. Während sich der Dichter einerseits selbst im Weg steht und gerade wegen seiner Selbst nicht mit Lotte zusammen sein kann, ist die Geliebte auf der anderen Seite gerade in der Seele und den Gedanken Lenaus für immer vorhanden.

Der Weiher öffnet also eine transzendentale Ebene, die die Liebste zwar von der realen Welt trennt, aber in der sie, wie ein göttliches Wesen, unsterblich ist.

Quellenverzeichnis

Primärliteratur:

Lenau, Nikolaus: Schilflieder. In: Werke und Briefe Bd. 1, Hrsg. Herbert Zeman und Michael Ritter in Zusammenarbeit mit Wolfgang Neuber und Xavier Vicat. Deuticke, Klett-Cotta, Wien 1995.

Sekundärliteratur:

- Abraham, Ulrike: „Stumm rang die Nacht mit dem letzten Sonnenstrahle“: die Naturmetaphorik Nikolaus Lenaus. Haag und Herchen, Frankfurt/Main 2000.
- Bischoff, Heinrich: Nikolaus Lenaus Lyrik, ihre Geschichte, Chronologie und Textkritik. In: Geschichte der lyrischen Gedichte von N. Lenau Bd. 1. Weldmannsche Buchhandlung, Berlin 1920.
- Hammer, Jean-Pierre: Nikolaus Lenau – Dichter und Rebell. Mit dem Essay Lenau, Beethoven und Joseph der Zweite. Berenkamp, o.O. 1993.
- Heinecke, Gudrun: Nikolaus Lenau heute gelesen. Braunmüller, Wien 2000.
- Hirschenauer, Rupert und Weber, Albrecht: Wege zum Gedicht. Schnell und Steiner, München und Zürich, 7. erweiterte Auflage 1968.
- Ritter, Michael: Zeit des Herbstes – Nikolaus Lenau. Biographie. Deuticke, Wien-Frankfurt/Main 2002.
- Turóczi-Trostler, Josef: Lenau. In: Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft Bd. 12, Hrsg. Prof. Dr. Werner Krauss und Prof. Dr. Hans Mayer. Rütten & Loening, Berlin 1961.

[...]


[1] Bischoff, Heinrich: Nikolaus Lenaus Lyrik, ihre Geschichte, Chronologie und Textkritik. In: Geschichte der lyrischen Gedichte von N. Lenau Bd. 1. Weldmannsche Buchhandlung, Berlin 1920. S. 232

[2] Heinecke, Gudrun: Nikolaus Lenau heute gelesen. Braunmüller, Wien 2000. S. 6

[3] Angaben über die Beziehung zu Lotte aus: - Bischoff, S. 202ff - Bischoff, S. 202ff - Ritter, Michael: Zeit des Herbstes - Nikolaus Lenau. Biographie. Deuticke, Wien – Frankfurt/Main 2002. S. 90ff

[4] Bischoff, S. 206

[5] Ritter, S. 92

[6] Bischoff, S. 220

[7] Turóczi-Trostler, Josef: Lenau. In: Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft Bd. 12, Hrsg. Prof. Dr. Werner Krauss und Prof. Dr. Hans Mayer. Rütten & Loening, Berlin 1961. S. 67

[8] Text aus: Lenau, Nikolaus: Schilflieder. In: Werke und Briefe Bd. 1, Hrsg. Herbert Zeman und Michael Ritter in Zusammenarbeit mit Wolfgang Neuber und Xavier Vicat. Deuticke, Klett-Cotta, Wien 1995. S. 41-43

[9] Abraham, Ulrike: „Stumm rang die Nacht mit dem letzten Sonnenstrahle“: die Naturmetaphorik Nikolaus Lenaus. Haag und Herchen, Frankfurt/Main 2000. S. 127

[10] Hammer, Jean-Pierre: Nikolaus Lenau – Dichter und Rebell. Mit dem Essay Lenau, Beethoven und Joseph der Zweite. Berenkamp, o.O. 1993. S. 36

[11] Abraham, S. 130

[12] Abraham, S. 134

[13] Abraham, S. 134

[14] Hammer, S. 38

[15] Hammer, S. 39

[16] Hirschenauer, Rupert und Weber, Albrecht: Wege zum Gedicht. Schnell und Steiner, München und Zürich, 7. erweiterte Auflage 1968. S. 228

[17] Hammer, S. 41

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Nikolas Lenau - Die Schilflieder
Veranstaltung
Proseminar
Note
1
Autor
Jahr
2005
Seiten
18
Katalognummer
V109742
ISBN (eBook)
9783640079209
Dateigröße
397 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nikolas, Lenau, Schilflieder, Proseminar
Arbeit zitieren
Nina Schmidt (Autor:in), 2005, Nikolas Lenau - Die Schilflieder, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109742

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