Diamanda Galás' "Plague Mass": Eine Analyse von Stimme und Emotion
Was ist der Gegenstand dieser Arbeit?
Diese Arbeit analysiert Diamanda Galás' Werk "Plague Mass" (1990/91) unter besonderer Berücksichtigung der Gesangstechnik, der emotionalen Wirkung und der traditionellen Wurzeln in der griechischen Totenklage (Moirologia). Sie untersucht, wie Galás Stimme als Vehikel von Emotionen einsetzt und traditionelle Gesangsideale (Belcanto) transzendiert. Die Fragmentierung der Stimme und die Darstellung multipler Rollen werden ebenso behandelt wie der politische und soziale Kontext des Werkes.
Welche Fragestellungen werden behandelt?
Die zentrale Frage ist, wie Galás Stimme in der "Plague Mass" Emotionen transportiert und welche Rolle die traditionellen Elemente spielen. Weitere Fragen betreffen die Beziehung zwischen Stimmklang und Emotion, die Fragmentierung von Stimme und Subjekt, sowie der Bezug zu der griechischen Totenklage (Moirologia) und deren politische Funktion.
Wie wird die Beziehung zwischen Stimmklang und Emotion dargestellt?
Die Arbeit beleuchtet die Theorie der "nonverbalen Signalkommunikation" über den Stimmklang, die über den traditionellen Belcanto hinausgeht und verschiedene Phonationstypen (nach Weber-Lucks und Jürgens) mit ihren emotionalen Bedeutungen einbezieht. Dabei wird der Stimmklang nicht nur als Ausdruck eines emotionalen Zustandes, sondern auch als Gestaltungsmittel der Komposition betrachtet. Galás' Fähigkeit, Emotionen gezielt beim Publikum hervorzurufen, wird hervorgehoben.
Welche Rolle spielt die Fragmentierung der Stimme?
Im Gegensatz zum traditionellen Gesangsideal, das Einheitlichkeit anstrebt, setzt Galás die Fragmentierung der Stimme als künstlerisches Mittel ein. Die Analyse des Stücks "I Wake up and I see the Face of the Devil" verdeutlicht, wie verschiedene Stimmlagen und Artikulationen unterschiedliche Rollen und Subjekte repräsentieren und einen Eindruck von Zersplitterung erzeugen.
Wie wird die Verbindung zur griechischen Totenklage (Moirologia) hergestellt?
Die Arbeit zeigt die Parallelen zwischen Galás' Werk und der traditionellen griechischen Totenklage (Moirologia). Es wird hervorgehoben, dass die Moirologia nicht nur Trauer ausdrückt, sondern auch eine politische Funktion besitzt: die Erinnerung an die Notwendigkeit von Rache wachzuhalten. Diese politische Dimension findet sich in Galás’ Werk wieder, da sie sich mit tabuisierten Themen wie AIDS, Genozid und psychischen Krankheiten auseinandersetzt.
Welche Schlussfolgerungen zieht die Arbeit?
Die Arbeit zeigt, wie Diamanda Galás durch die innovative Verwendung ihrer Stimme und den Bezug zu traditionellen Klageformen ein politisches Statement setzt und Emotionen beim Publikum erzeugt. Die "Plague Mass" ist kein bloßer Ausdruck persönlicher Emotionen, sondern eine bewusst gestaltete und politisch motivierte künstlerische Aussage. Die Authentizität ihres Schaffens durch persönliche Betroffenheit wird als ein Faktor für ihre Popularität genannt.
Welche Literatur und Quellen werden verwendet?
Die Arbeit bezieht sich auf verschiedene akademische Texte (Weber-Lucks, Pope/Leonardi, Penman) und Interviews mit Diamanda Galás. Die "Plague Mass" CD wird als diskographische Quelle genannt.
Für wen ist diese Arbeit gedacht?
Diese Arbeit richtet sich an Wissenschaftler und Studenten, die sich mit Gesangstechnik, Performancekunst, musikalischer Semiotik, Gender Studies und der kulturellen und politischen Bedeutung von Musik auseinandersetzen. Sie ist für akademische Zwecke gedacht und analysiert die Themen strukturiert und professionell.
Inhalt
Einleitung
Fragestellungen
Aufbau der Arbeit
Gesangstechnik und Emotion
Stimmklang als Vehikel von Emotion
Emotion als gestaltetes Element
Stimme und Rolle(n)
Traditionelle Wurzeln: moirologia – griechische Totenklage
Die Totenklage als Forderung nach Rache
Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
Diskographische Angaben
Einleitung
Viele aufregende Entwicklungen hat es in den letzten zwanzig Jahren im Bereich Stimme und Gesang gegeben, viele davon m.E. in der sogenannten „U-Musik“ jenseits des Mainstreams. Für diese Arbeit erschien es der Autorin geraten, nur eine Künstlerin zu bearbeiten, dafür aber eine, deren Schaffen als beispielhaft für neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Stimme gelten kann.
Diamanda Galás ist eine solche Künstlerin. Ihre Performances und ihre CD-Einspielungen sprechen über die Grenzen von „U“- und „E“-Musik hinweg ein großes Publikum an. Nicht nur Performances gehören mittlerweile zu ihrem Repertoire, sondern auch nur vom Klavier begleitete Recitals, Werke, in denen nur die unbegleitete Stimme zu hören ist, Songs mit Band-Begleitung oder Songs, in denen sie sich der Möglichkeiten der elektronischen Musik bedient.
Das Bemerkenswerte an ihrer Arbeit ist, daß sie Grenzbereiche nicht nur des Singens, sondern der Stimme überhaupt einsetzt, und das in einer Kompromißlosigkeit, die neu ist. „Gesang“ zu isolieren, wird schwierig, da das gesamte Spektrum von Singen, Sprechen und Schreien mit fließenden Übergängen eingesetzt wird.
Mit diesen Mitteln geht Diamanda Galás in ihren neueren Veröffentlichungen wesentlich zurückhaltender um. In einem ihrer bekanntesten, aber nicht mehr ganz neuen Werke sind diese gesangstechnischen und ästhetischen Besonderheiten m.E. in augenfälliger Weise zu finden: in der „Plague Mass“, 1990 uraufgeführt, 1991 auf CD erschienen.
Thema der „Plague Mass“ ist AIDS und die gesellschaftliche Stimmungslage, die sich an diese Krankheit anknüpfte. Um 1990 galt AIDS noch nicht als Problem, das alle Gruppen der Gesellschaft betraf, sondern als ‚Schwulenkrankheit’. Repressive Strömungen profitierten von der Angst vor AIDS, das von religiös-konservativ orientierten Menschen als ‚Strafe Gottes’ (unter anderem) für Sexualität außerhalb des monogamen heterosexuellen Modells dargestellt wurde.
Diamanda Galás richtet sich in der „Plague Mass“ gegen diese Mentalität; sie solidarisiert sich mit von AIDS Betroffenen und spricht sich gegen eine Mentalität aus, die Bevormundung und Isolation nicht nur von HIV-positiven Menschen, sondern auch von sogenannten ‚Risikogruppen’ – namentlich Homosexuellen und Heroinabhängigen - förderte.
Fragestellung en
Verschiedene Aspekte von ‚Stimme’ in der „Plague Mass“ sollen in dieser Arbeit beleuchtet werden. Zentral sind dabei zwei Aspekte: zum einen die Stimme als Vehikel von Emotion und zum anderen die traditionellen Wurzeln, an die Diamanda Galás anknüpft. Mit beidem verknüpft ist der Subjektcharakter der Stimme. Kontrastiert werden soll Galás’ Gebrauch der Stimme mit dem traditionellen Ideal des belcanto, das als Klangideal der Singstimme immer noch großen Einfluß besitzt.
Aufbau der Arbeit
Im zweiten Abschnitt steht die Emotionalität der „Plague Mass“ im Zentrum. Es soll erläutert werden, wie der Stimmklang bereits ein Träger von Emotion sein kann, ohne daß sprachliche Vermittlung oder andere musikalische Signifikanten hinzutreten müssen. Emotion wird aber nicht nur durch den Stimmklang übertragen, sie ist zugleich Material der künstlerischen Gestaltung.
Der dritte Abschnitt befaßt sich mit der Fragmentierung von Stimme und Subjekt. Denn die Stimme der „Plague Mass“ ist nicht eigentlich eine Stimme, sondern ein disparates Ensemble von sehr unterschiedlichen Stimmen, die unterschiedlichen Subjekten zu gehören scheinen.
Der vierte und letzte Abschnitt soll sich einer Tradition widmen, auf die Diamanda Galás zurückgreift: moirología, die griechische Totenklage. Nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Momente dieser Klagetradition werden in der „Plague Mass“ übernommen.
Gesangstechnik und Emotion
Die Plague Mass ist ein hochgradig emotionales, polarisierendes Werk. Emotional aufgeladen sind zwar bereits die Texte; kommuniziert wird Emotion in der „Plague Mass“ jedoch zu einem wesentlichen Teil auf einer anderen Ebene als der sprachlich vermittelten: der Ebene des Stimmklangs.
Stimmklang als Vehikel von Emotion
Wie Theda Weber-Lucks darlegt, kann über den Stimmklang eine ‚nonverbale Signalkommunikation’ stattfinden. Voraussetzung dafür ist allerdings ein Abschied vom traditionellen Klangideal des abendländischen Kunstgesangs: Unter Gesang wurde bis ins 20. Jh. belcanto -Technik verstanden. Diese Gesangstechnik bzw. ihr Klangideal ist „auf den emotionalen Phonationstyp der ‚Liebe’ reduziert (tiefe Kehlkopfstellung, erweiterte Ansatzräume sowie optimale Balance von Atemdruck und Kehlkopffunktion). [...] Dieses Ideal ist bis heute von nahezu uneingeschränkter Gültigkeit.“[1] (Zur Erklärung der „Phonationstypen“ siehe S. 6)
Was bedeutet es für den Ausdruckswert dieses Phonationstyps, wenn nur dieser Typ benutzt wird? Es ist zu vermuten, daß der Stimmklang ohne Kontrast zu anderen Phonationstypen an Ausdruckskraft verliert und möglicherweise nicht mehr als ausdruckstragender Parameter wahrgenommen wird. Das würde bedeuten, daß andere Parameter der Musik Ausdrucksarbeit übernehmen müssen, die ansonsten vom Stimmklang mitgetragen werden könnte.
Die Ausschlüsse, die dieses Klangideal des abendländischen Kunstgesangs nach sich zieht, fallen erst auf, wenn „wir eine Stimme hören, die auch die anderen emotionalen Ausdrucksqualitäten einfließen läßt“[2].
Wie aber kann die Funktion des Stimmklangs als Vehikel von Emotion erklärt werden? Der Klang der menschlichen Stimme ist nach Weber-Lucks Ergebnis einer Kette: Emotionaler Zustand bedingt Muskeltonus bedingt Spannungs- -und Schwingungszustand des gesamten Systems bedingt Stimmklang. Über diese Kette beeinflußt der Gefühlszustand Tonhöhenverlauf, Rhythmus und Exaktheit der Artikulationsbewegung.[3]
Seit den 60er Jahren haben Fonagy et al. bestätigt, daß jede Emotion ihr eigenes „Bewegungsbild“ hat. „Emotionsabhängige Einstellungen des Stimmlippenprofils“ sind „vorbewußte expressive Gesten“ („preconscious expressive gestures“[4] ). Unterschieden werden diese „Bewegungsbilder“ anhand akustisch-physikalischer und physiologischer Kriterien (Phonationsfrequenz, Amplitude(nspitzen) und –variation, Formantenprofil, Obertonspektrum, Atemdruck und Kehlkopfmuskelaktivität).[5]
In eine ähnliche Richtung zielt Uwe Jürgens’[6] Theorie der „emotionalen Phonationstypen“. Jeder dieser Phonationstypen hat ein bestimmtes Bewegungsprofil. Unterschieden sind diese Typen entlang von drei Achsen: Bruststimme/Kopfstimme, gepreßt/nicht gepreßt, große/geringe Lautstärke.
Emotionale Phonationstypen sind biologisch determiniert. Untersuchungen von emotionalen, nicht-verbalen Lautäußerungen bei Affen und Menschen ergaben nach Jürgens, daß die „emotionalen Phonationstypen“ „genetisch festgelegte Bedeutungsstrukturen“ sind. Sie sind daher transkulturell gleich und mit den gleichen Bedeutungen besetzt.[7]
Die „Ausdruckskette“ von Emotion über Körperzustand zu Klangbild ist keine Einbahnstraße. Vielmehr kann der Sänger/die Sängerin einen bestimmten emotionalen Zustand auch in sich erzeugen, indem er/sie einen bestimmten Klang produziert. Dieses Verfahren wurde nach Mirka Yemendzakis z.B. im antiken griechischen Theater angewendet:
„Das heißt, wo im Text am Beginn der Rede lediglich ein scheinbar bedeutungsloses Kürzel steht [...], hatte in den Aufführungen der Antike einer von über hundert verschiedenen Schreien seinen Platz. Mit ihm wurde ... auf ein uraltes Körperwissen zurückgegriffen. Mit dessen Hilfe konnten die Darsteller ihren Körper beeinflussen, ihn reinigen/’leer machen’, stimulieren oder ‚stimmen’ und in einen anderen, der Rolle entsprechenden Gemüts- und Körperzustand überführen. Dabei erwiesen die empirischen Untersuchungen von Yemendzakis, daß die körpereigenen Schwingungen, die durch den (nicht gepreßten) Schrei ausgelöst werden, maßgeblich für die Veränderung des psycho-physischen Zustandes verantwortlich sind.“[8]
Ziel dieser Transformation ist eine Intonation und damit ein Vortrag, der der Rolle und ihrer Emotion entspricht.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Ilse Middendorf. Sie entdeckte die sog. „Vokalatemräume“, die beim Üben emotionale und körperliche Wirkungen entfalten. Jeder Vokal hat einen bestimmten „Atembewegungsraum“ im Körper, „dem eine konkrete, stimulierende oder gar heilende Wirkung beigemessen werden kann.“[9] Die „Vokalatemräume“ werden nicht erst durch das konkrete Tun, sondern bereits durch die Vorstellung („mentales Konzept“) angesprochen.
Diese Wirkung bereits über die Vorstellung ist eine mögliche Erklärung, warum der Stimmklang eine so schwer abzuwehrende emotionale Wirkungsmacht hat: Unter der Voraussetzung, daß das Zuhören Vorstellungen auslöst, welche Bewegung es erfordert, einen solchen Klang zu erzeugen und bereits diese Vorstellungen die Wirkungen der jeweiligen ‚Vokalatemräume’ entfalten, ermöglicht das eine Übertragung von Emotionen bzw. psychophysischen Spannungszuständen von der Sängerin/dem Sänger auf die Zuhörer.
Emotion als gestaltetes Element
Nun wirkt die Arbeit von Diamanda Galás oft sehr „aus dem Bauch heraus“, spontan und unreguliert. Dieser Eindruck trügt jedoch spätestens, wenn es um ihre Arbeit in den neunziger Jahren geht.
Wie sie in einem Interview darlegt, will sie ihre Zuhörer „auf eine emotionale Reise mitnehmen.“ Sie spricht davon, daß sie die emotionalen Kräfte kontrolliert, vorantreibt und in bestimmte Richtungen lenkt:
“What I do is commandeer and control these emotional forces and propel them in different directions in order to take the audience on an emotional voyage.”[10]
Nicht vordergründige Provokation ist also das Ziel: Emotionen sollen beim Publikum gezielt evoziert werden. Es geht ihr nicht (nur) darum, ihren eigenen Emotionen einen Ausdruck zu verleihen, sondern ganz bewußt die Emotionen des Publikums anzusprechen, zu steuern und zu gestalten.
Emotion, so läßt sich daraus ableiten, ist kein „Nebenprodukt“ der künstlerischen Gestaltung, sie wird nicht dem Zufall überlassen, sondern wird zu einem primären Material der Komposition und sehr bewußt gestaltet.
Stimme und Rolle(n)
Diamanda Galás wird häufig als Diva apostrophiert. Rebecca A. Pope und Susan J. Leonardi setzen sie in Kontrast zur „bourgeoisen“ Diva; ein Punkt, der die beiden Diven-Bilder unterscheidet, ist ihre Konstitution als Subjekt. Die Stimme der herkömmlichen Diva ist eine Stimme, die einem einheitlichen, ungeteilten und autonomen Subjekt Ausdruck verleiht:
„In the bourgeois tradition of the diva narrative, the diva’s voice is often figured... as a manifestation of – of the expressive vehicle for – a unique, unified, autonomous selfhood.“[11]
Im Gegensatz dazu steht bei Galás die bewußte Fragmentierung und Verfremdung der Stimme, auch mit elektronischen Mitteln:
„Galas... deliberately alienates her voice from her-/it-self; she distorts and multiplies her voice electronically, a fitting strategy for works that, like Wild Women, Plague Mass, and Vena Cava, assume a divided, fragmented, multiple human subject.”[12]
Aber schon die Stimme an sich erscheint als ein disparates Nebeneinander unterschiedlichster Stimmen. Ist im traditionellen Gesang das Ziel, möglichst wenig Brüche zwischen den Registern und einen möglichst einheitlichen Klang unabhängig von der Tonhöhe zu erzielen und gelten der Bruch und das Umschlagen als etwas zu Vermeidendes, so scheint es, daß Galás diese Erscheinungen ganz bewußt sucht und einsetzt.
Die Fragmentierung der „solo”-Stimme in verschiedene Rollen soll an einem Beispiel gezeigt werden. „I Wake up and I see the Face of the Devil“ ist das Stück, in dem diese Fragmentierung am deutlichsten zu hören ist. Die Stimme verkörpert nicht mehr ein Individuum, sondern mehrere Rollen in rascher Folge. Durch rasche, übergangslose Wechsel von kontrastierenden Stimm-/Tonlagen mit korrespondierenden emotionalen Lagen entsteht ein Eindruck der Zersplitterung. Da der Text nur gelegentlich sinnvollen Zusammenhang zwischen den Dialogrollen stiftet, bisweilen gar nicht verständlich ist und manche Passagen, die einer Rolle zuzuordnen wären, so kurz sind, daß von einer Sinnstiftung über den Text kaum ausgegangen werden kann, sei angenommen, daß vor allem Klang und Artikulation der Stimmen dazu dienen, die ‚Rollen’ jeweils zu charakterisieren und voneinander abzugrenzen. Es soll im folgenden versucht werden, diese Stimmen bzw. Rollen näher zu beischreiben; diese Beschreibung beruht auf einer reinen Höranalyse.
Identifizieren lassen sich am Anfang eine ‚Erzählerstimme’ und zwei ‚Dialogstimmen’. Die Erzählerstimme ist nicht neutral, sondern berichtet aus der Perspektive einer der beiden Dialogstimmen. Sie verschwindet nach den ersten beiden Sätzen des Dialogs.
Beide ‚Dialogstimmen’ sind jedoch nicht stabil und verändern sich nicht allmählich, sondern fallen sprunghaft, inkohärent und scheinbar unmotiviert von einer Lage in eine andere. Daher könnte das Stück auch als Folge von zusammenhanglosen Dialog- oder gar nur Sprachfetzen gehört werden.
Hört man es als Dialog, so könnten die Stimmen jeweils einem ‚unterlegenen’ und einem ‚überlegenen’ Subjekt zugeschrieben werden. Diese Zuordnung erfolgte am ehesten anhand des Sinngehalts des (verständlichen) Textes; ob sie ohne Verständnis des Textes, nur anhand der Stimmklänge, genauso getroffen würde, ist offen.
Im folgenden werden zu jeder ‚Rolle’ eine Charakterisierung des Stimmklangs und der emotionalen Qualität gegeben; als Orientierung wurden jeweils Zeitposition (im Track) und die Textstelle des ersten Auftretens angegeben:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Es fällt auf, daß die ‚unterlegene’ Stimme sich tendenziell immer weiter von sozial akzeptierten und intelligiblen Äußerungsformen entfernt und sich hin zum Exaltierten, Extremen, Unartikulierten bewegt, vom Sprechen zum Schrei bis zum Verlust der Sprachfähigkeit.
Die ‚überlegene’ Stimme zeigt eine entgegengesetzte Tendenz und bewegt sich auf einen sehr kontrollierten, zurückgehaltenen Tonfall hin; insgesamt erscheint ihre Dynamik nicht so auffallend wie die der ‚unterlegenen’ Stimme.
Traditionelle Wurzeln: moirologia – griechische Totenklage
Diamanda Galás verbindet die emotionale Intensität ihrer Arbeit mit ihrem griechischen Erbe. Sie stellt sich in die Tradition der griechischen Totenklage, der moirología.
Diese Tradition reicht zurück bis in die Antike. Sie wird nur von Frauen ausgeführt und ist eine der wenigen Gelegenheiten, zu denen Frauen sich traditionell in der griechischen Öffentlichkeit sehen und hören lassen dürfen.[13] Lebendig ist moirología vor allem noch in Mani, der Region um Sparta, woher unter anderem Vorfahren von Diamanda Galás stammen.[14]
Diese Klage wird von Galás weniger als eine Darstellung des Todes charakterisiert denn als ein Sprechen bzw. Singen zu den Toten:
“The dirge singers, the women from Sparta, where my people are from, would sing to the dead person rather than about the crucifixion of Christ as a representation of that person’s death.”[15]
Moirología ist oft antiphonal strukturiert, und die Partien stehen in antithetischer Beziehung. In manchen Fällen dient diese Struktur der Konstruktion eines Dialoges zwischen den Stimmen der Lebenden und der Toten[16] ; ein Dialog, der medialen Charakter oder den Charakter von Besessenheit annehmen kann:
“...and they go to this place, and they try to absorb the spirit of the dead, speaking to the dead, when they leave their bodies there’s a medium for the dead before the death bird comes...”[17]
Die Klage ist verbunden mit im wahrsten Sinn des Wortes „außer sich sein”, extremen Gefühlszuständen und –äußerungen: „Often the women pull their hair, beat their breasts, and rent their clothing as they sing, cry, and wail.”[18]
Die Totenklage als Forderung nach Rache
Die Totenklage hat eine politische Funktion: Sie dient dazu, die Erinnerung an die Notwendigkeit von Rache aufrechtzuerhalten, vor allem, wenn Menschen durch Kriege oder Blutfehden umgekommen sind. Das Handeln bleibt dabei Angelegenheit der Männer, die Klage, die das Bewußtsein wachhält, wird jedoch ausschließlich von Frauen ausgeführt[19]. Klage wird so zum politischen Diskurs, zur Handlungsaufforderung: „In other words, Maniot women transformed lamentation into political discourse and grief into political action.”[20]
Nahe liegt damit auch, daß die Absicht von moirología der des Requiems entgegengesetzt zu sein scheint: Wie aus dem Sprechen zu den Toten folgt, denkt moirología die Toten nicht als in Frieden ruhend, verloren und abwesend. Um es mit Diamanda Galás zu formulieren:
„A requiem Mass helps to pacify the living so they can feel the dead are resting in peace... the dead from this disease [AIDS, A.K.], I don’t think of them as resting in peace.”[21]
Polemisch formuliert, wäre demnach die Absicht des Requiems: Die Toten sollen in Frieden ruhen, damit die Lebenden mit dem Verlust der Toten abschließen und sich wieder ihrem gewöhnlichen Leben, dem „business as usual“ zuwenden können, in dem die Trauer um/das Gedenken an die Toten vielleicht noch vorhanden ist, aber keinen störenden Fremdkörper mehr darstellt. Zugleich könnte vermutet werden, daß das Requiem eine politisch beschwichtigende Funktion ausübt, indem es die Toten als friedlich, ungestört und nicht störend abbildet und die Lebenden auf ein positives Jenseits vertröstet.
Die Position von moirología verweigert dieses Abschließen. Die Toten ruhen nicht in Frieden, sie haben noch etwas zu sagen und die Lebenden sind aufgefordert, im Namen der Toten etwas zu tun: nämlich Rache zu nehmen.
Auch in der „Plague Mass“ werden die Toten nicht als in Frieden ruhend gedacht. So heißt es im Text des Eingangsstücks etwa:
„We, who have gone before, do not rest in peace.
We, who have died, shall never rest in peace.”[22]
Neben der Aufforderung zur Rache für die Toten übernimmt die PM von moirología antiphonale Strukturen (siehe z.B. das besprochene „I wake up and I see the Face of the Devil“). Die Verkörperung von vielen verschiedenen Stimmen, gezeigt ebenfalls an „I wake up...“, gemahnt an den bisweilen medialen Charakter der moirología.
Zusammenfassung und Ausblick
Im zweiten Abschnitt wurde erläutert, wie Emotion auf der Ebene des Stimmklangs kommuniziert wird. Die Beschränkung der traditionellen belcanto -Ästhetik auf einen Phonationstypus wird im Schaffen von Diamanda Galás aufgehoben; die Stimme kann so auf der Ebene des Stimmklangs Ausdruck transportieren.
Diese Signifikation beruht auf einem Kausalverhältnis: Der Stimmklang ist via Muskeltonus und psycho-physischem Spannungszustand Resultat des emotionalen Zustandes. Weber-Lucks führt zwei Theorien an, die diesen Prozeß in festen Zeichen kategorisierten: Fonagys These der „Bewegungsbilder“ und Jürgens’ „emotionale Phonationstypen“. Wichtig erscheint vor allem Jürgens’ These, daß die Phonationstypen biologisch determiniert und somit transkulturell verständlich sind.
Daß die „Ausdruckskette“ Emotion – psycho-physischer Spannungszustand – Stimmklang keine Einbahnstraße ist, wurde anhand der Arbeit von Mirka Yemendzakis und von Ilse Middendorf gezeigt. Letztere bietet mit dem Hinweis, daß die „Vokalatemräume“ bereits über das „mentale Konzept“ – also die Vorstellung – angesprochen werden, auch eine mögliche Erklärung für die schwer abzuwehrende emotionale Wirkung der Stimme.
Schließlich wurde erläutert, daß Diamanda Galás die Emotionen des Publikums bewußt gestalten will, in ihren Worten: das Publikum auf eine emotionale Reise mitnehmen will.
Im dritten Abschnitt wurde erörtert, daß Galás’ im Gegensatz zum traditionellen Bild der Diva ihre Stimme bewußt aufsplittert, verfremdet und fragmentiert, oft unter Zuhilfenahme von elektronischen Mitteln. Dadurch gelingt es ihr, mehrere Subjekte in einem Dialog zu verkörpern. Am Beispiel von „I Wake up..:“ wurde demonstriert, daß diese Subjekte maßgeblich durch Klang und Artikulation der Stimme markiert sind. Dabei wurde eine antithetische Relation und eine gegensätzliche Dynamik zwischen zwei Stimmen (oder Gruppen von Stimmen) festgestellt.
Im letzten Abschnitt wurde Galás’ Anknüpfen an die Tradition der moirología beleuchtet. Moirología wurde charakterisiert als eine Klagetradition, die mehr zu den Toten als über sie spricht, die durch Antiphon-Strukturen geprägt ist, die manchmal den Charakter eines Dialoges zwischen Lebenden und Toten annehmen und bisweilen sogar medialen Charakter, und als eine Tradition, die manchmal nach Rache verlangt.
Die Berufung auf die Tradition der moirología ist nicht beliebig, sondern motiviert von einem politischen Engagement, das in einer modernen Form dieser Klagen einen künstlerischen Ausdruck findet. Wohl damit ist zu erklären, daß Diamada Galás tabuisierte oder zumindest sehr unerfreuliche Themen in den Mittelpunkt ihrer Performances und Songzyklen stellt: psychische Krankheit, Gefängnisse, die Todesstrafe, Genozid und – als lange Zeit prominentestes Thema ihrer Arbeit – AIDS.
Galás ist eine erfolgreiche Künstlerin, und das liegt m.E. nicht nur daran, daß sie eine kulturelle Ersatzfunktion für den tabuisierten Schrei ausübt, wie Weber-Lucks meint[23]. Galás ist politisch stark engagiert; sie vertritt offstage vehement dieselben Forderungen, die sie in ihrer künstlerischen Arbeit stellt. Von vielen Fragen, die sie künstlerisch bearbeitet, ist sie oder ihre Familie selbst betroffen. Möglicherweise ist es genau diese persönliche Involviertheit, die ihrem Schaffen eine besondere Authentizität verleiht.
Ungeachtet der Frage der Authentizität ist wohl gerade die politische Motivation ihrer Arbeit etwas, das ihr Popularität einbringt. Die hysterischen Schreie der Plague Mass sind nicht für vordergründige Provokation gedacht, sondern motiviert von Beweggründen, die über die Performance hinausreichen.
Die „Plague Mass“ ist eines von Galás bekanntesten Werken – eines, zu dem es bereits eine (wenn auch überschaubare) wissenschaftliche Literatur und eine Menge an Kritiken, Interviews etc. gibt. Insofern ließe sich auch schon einiges zur Rezeption(sgeschichte) der „Plague Mass“ sagen; da diese nicht direkt mit der Stimme zu tun hat, wurde sie hier nicht berücksichtigt. Es könnte jedoch für andere Arbeiten interessant sein, der Frage nachzuspüren, wie die Stimme in der „Plague Mass“ gehört wurde und wird.
Literatur
Penman, Ian, Matters of Life & Death, in: The Wire 190/191 (New Year 2000), gefunden im Internet am 23.2.2004 unter http://www.diamandagalas.com/press/thewire1299.htm
Pope, Rebecca A. und Leonardi, Susan J.: Divas and Disease, Mourning and Militancy: Diamanda Galas's Operatic Plague Mass, in: Dellamora, Richard und Fischlin, Daniel (Hg.): The Work of Opera: Genre, Nationhood and Sexual Difference, New York (Columbia University Press) 1997, S. 315-333.
Weber-Lucks, Theda, Vokale Performancekunst, in: Positionen Beiträge zur Neuen Musik 40 (1999) S. 28-32
Diskographische Angaben
Diamanda Galás: Plague Mass (Mute 1991)
[...]
[1] Weber-Lucks, Theda, Vokale Performancekunst, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik 40 (1999) S. 28-32; hier: S. 28
[2] ebd.
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] siehe ebd.
[6] Uwe Jürgens: Affenlaute..., in: Horst Gundemann (Hg): Die Ausdruckswelt der Stimme, Heidelberg 1998, S. 31-39, zit. nach Weber-Lucks(1999), S. 29
[7] Weber-Lucks(1999), S. 29
[8] ebd.
[9] ebd.
[10] Holden, Stephan: Diamanda Galás, in: N.Y. Times, 19.7.1985, zit. nach: Pope, Rebecca A. und Leonardi, Susan J.: Divas and Disease, Mourning and Militancy: Diamanda Galas's Operatic Plague Mass, in: Dellamora, Richard und Fischlin, Daniel (Hg.): The Work of Opera: Genre, Nationhood and Sexual Difference, New York (Columbia University Press) 1997, S. 315-333.
[11] Pope/Leonardi (1997), S. 328
[12] ebd.
[13] vgl. Ian Penman, Matters of Life & Death, in: The Wire 190/191 (Neujahr 2000), ohne Seitenzahlen: “...women who were otherwise not allowed to be seen (except behind long black veils) or heard, not allowed to do anything except work or serve.”
[14] vgl. Penman (2000), ohne Seitenzahlen
[15] siehe ebd.
[16] Pope/Leonardi (1997), S.319
[17] Penman (2000), ohne Seitenzahlen
[18] Pope/Leonardi (1997), S. 319
[19] Margaret Alexiou, The Ritual Lament in Greek Tradition, Cambridge (Cambridge University Press) 1974, S. 22; siehe Pope/Leonardi (1997), S. 321
[20] siehe Pope/Leonardi (1997), S. 321
[21] Polkow, Dennis: “Beating the Devil, Galas Tries to Face Reality of AIDS in her ‚Plague Mass’”, in: Chicago Tribune, 3. April 1991, zit. nach: Pope/Leonardi (1997), S. 322
[22] Text der Plague Mass, hier: auf der CD bei 11’19’’
[23] vgl. Weber-Lucks (1999), S. 32
- Arbeit zitieren
- Anne Camilla Kutzner (Autor:in), 2005, Stimme und Gesang in aktueller Musik am Beispiel von Diamanda Galás' "Plague Mass", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110040