1. Das Stück
1.1 Der Autor
Werner Schwab wurde am 4.2.1958 in Graz geboren. Von 1978 bis 1982 studierte er Bildhauerei an der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Bruno Gironcoli. Zwischen 1981 und 1989 lebte Schwab zurückgezogen auf einem abgelegenen Bauernhof in der Südsteiermark und widmete sich neben diversen Tätigkeiten zum Gelderwerb dem Schreiben von Prosatexten, sowie der Herstellung von Skulpturen, bevorzugterweise aus organischen, der Verwesung preisgegebenen Materialien. Als Dramatiker trat Schwab erstmals im Jahre 1990 in Erscheinung, mit der Uraufführung seines ersten Stückes „Die Präsidentinnen“ am Künstlerhaus Wien. 1991 wurde sein Stück „Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos“ unter der Regie von Christian Stückl an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. Diese Inszenierung, die auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, verschaffte Schwabs dramatischer Kunst schlagartig die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit. Ein regelrechter Schwab-Boom erfasste die gesamte deutschsprachige Theaterlandschaft und der äußerst produktive Autor versorgte die Bühnen mit immer neuen Texten. Bei seinem Tod am 1.1. 1994 hinterließ Schwab sechzehn abendfüllende Stücke.
1.2 Formale Struktur
Auffällig am formalen Aufbau der „Präsidentinnen“ ist die Verschränkung gewisser dreiteiliger Strukturen auf verschiedenen Ebenen. Den drei Protagonistinnen entspricht die Aufteilung des Stückes in drei Szenen; und so wie die Figur der Mariedl sich von ihren Kolleginnen Grete und Erna abhebt, so hebt sich auch die dritte Szene von den zwei vorhergehenden ebenso deutlich ab. Der Versuch einer Deutung dieser Dreierfiguren wird später in dieser Arbeit noch erfolgen.
Innerhalb der drei Szenen ist ein dramaturgischer Verlauf feststellbar, der von einem relativ realistischen Ausgangspunkt immer mehr in imaginär-surreale Gefilde hineinführt, bis schließlich in der dritten Szene die Grenze zwischen der sogenannten Realität und dem Imaginären sich vollständig aufgelöst hat, wie weiter unten noch genauer zu besprechen sein wird.
1.3 Die Handlung
Das Personal der „Präsidentinnen“ besteht, wie bereits angedeutet, aus den drei Putzfrauen Erna, Grete und Mariedl. Erna und Grete sind bereits in Pension, Mariedl dagegen ist um einiges jünger als die beiden anderen und dementsprechend noch berufstätig. Obgleich nur Mariedl im Stück ganz klar als Toilettenfrau gekennzeichnet ist, entnehme ich dem Titel des Stückes, dass es sich bei allen dreien um solche handelt, da doch eine hervorstechende Eigenschaft der Toilettenfrau darin besteht, vor der Toilette bei einem Teller mit Kleingeld zu sitzen, also gewissermaßen zu präsidieren. Aber dies nur nebenbei.
Die drei Frauen haben sich nun in Ernas grotesker Wohnküche[1] eingefunden, um gemeinsam der Fernsehübertragung einer Papstmesse beizuwohnen. Nach der Übertragung unterhalten sie sich über verschiedene Themen des Alltags, wie etwa über die Grenze zwischen rechtmäßiger und übertriebener Sparsamkeit, über den Leberkäse des Metzgermeisters Karl Wottila, (eine Figur, die sowohl vom Namen, als auch von seiner angedeuteten Biographie her als Karikatur des Papstes angelegt ist), sowie über ihre missratenen Kinder: Herrmann, Ernas Sohn, ist Alkoholiker und weigert sich zum großen Verdruss seiner Mutter, einen „Verkehr“ aufzunehmen[2] und Erna also die ersehnten Enkelkinder zu schenken. Gretes Tochter Hannelore, die als Kind von ihrem Vater regelmäßig sexuell missbraucht worden ist, ist mittlerweile nach Australien ausgewandert und hat jeden Kontakt zu ihrer Mutter, die den Missbrauch damals stillschweigend geduldet hat, abgebrochen. Beide, Grete und Erna, sind heute geschieden.
Die Figur der Mariedl hebt sich schon in der ersten Szene von den beiden anderen auf gewisse Weise ab. Sie wirkt in ihrer Naivität fast ein bisschen geistig zurückgeblieben und scheint auch von ihren beiden Freundinnen nicht ganz ernst genommen zu werden.
Im Laufe des Gesprächs geraten Grete und Erna in Streit. Erna wirft Grete vor, nur auf das Sexuelle fixiert zu sein, Grete beschimpft Erna daraufhin als „zugenähte Klosterschwester“, Erna daraufhin Grete als „hitlerische Nazihur“[3] etc. Es kommt zu Handgreiflichkeiten zwischen den beiden. Nach längerem Ringen gelingt es Mariedl schließlich, den Streit zu schlichten und bei einem Glas Wein versöhnen sich Grete und Erna wieder.
Die zweite Szene schließt direkt an die erste an. Ich zitiere die Regieanweisung zur zweiten Szene:
Wieder Ernas Wohnküche. Die Einrichtung ist zwar noch dieselbe, aber der Raum hebt irgendwie ab. Er ist als soziales Merkmal undeutlicher geworden, hat festlichen Charakter, gewissermaßen Jahrmarkt-atmosphäre angenommen. [...] Man sitzt bequem und nippt vom Wein.[4]
Bereits diese Regieanweisung macht deutlich, dass das Stück nunmehr vom (Pseudo-)Realismus des Sozialdramas abrückt und mehr ins Imaginäre, Undeutliche gleitet. Dementsprechend findet in der zweiten Szene auch keine eigentliche Kommunikation zwischen den drei Figuren mehr statt. Vielmehr beginnen sie, sich in ihrer Vorstellung ein Volksfest auszumalen und beschreiben nun abwechselnd ihre diesbezüglichen Phantasien, die jedoch zunächst seltsam privat und voneinander abgekoppelt erscheinen.
So imaginiert Grete einen feschen jungen Musikanten namens Freddy, der sich stante pede in sie verliebt, ihr beim Tanzen sogleich den „Zeigefinger in den Hintern“ steckt, um ihr daraufhin einen „rechtschaffenen Heiratsantrag“ zu machen[5]. Die etwas prüdere Erna stellt sich vor, auf diesem Fest dem frommen Metzgermeister Wottila zu begegnen, der ihr dann bei einer Tasse Milchkaffee ebenfalls einen Heiratsantrag macht, wenngleich aus etwas pragmatischeren Beweggründen heraus, als dies bei Freddy und Grete der Fall ist: Der Metzgermeister hätte dann nämlich eine Frau, die ihm im Geschäft hilft, und Erna selbst hätte im Handumdrehen den Aufstieg von der Putzfrau zur Unternehmerin geschafft.
Mariedls Traum ist von den dreien der absurdeste: Sie stellt sich vor, alle Toiletten des Volksfestes seien verstopft. In höchster Aufregung ruft man Mariedl zu Hilfe, von der weithin bekannt ist, dass sie auch ohne Gummihandschuhe in den verstopften Abort hinuntergreift. Und indem sie dieses tut, stellt sich heraus, dass der örtliche Pfarrer in jedem Abort ein Geschenk für Mariedl versteckt hat: Eine Büchse Gulasch, eine Flasche Bier und zuletzt ein Parfümfläschchen, welches sie kurzerhand austrinkt.
Bis zu diesem Punkt haben sich die Phantasien der drei Frauen jeweils immer weiter ins (für sie) märchenhaft Schöne gesteigert. Doch nun geht Mariedls Phantasie mit ihr durch und in ihrer Vorstellung gerät das bisher als so schön geträumte Fest außer Kontrolle: Hannelore kommt aus Australien zurück, schlägt ihrer Mutter ins Gesicht und weist sie ins Irrenhaus ein. Freddy erkennt plötzlich Gretes Hässlichkeit und wendet sich angeekelt von ihr ab. Herrmann betritt ebenso plötzlich den Festplatz und schlägt die Köpfe seiner Mutter Erna und des Metzgermeisters Wottila solange gegeneinander „bis das Blut spritzt und die Seelen auswandern“.[6] Sich selbst sieht Mariedl indes als Heilige: Die Exkremente, mit denen sie über und über bedeckt ist, verwandeln sich in Goldstaub und sie schwebt, allem Irdischen entrückt, über dem in ein blutiges Chaos verwandelten Festplatz.
Nachdem Mariedl auf diese Weise Gretes und Ernas Wunschträume zerstört hat, schneiden diese ihr kurzerhand mit dem Küchenmesser die Kehle durch. Dieser ebenso plötzliche, wie kaltblütig und ruhig begangene Mord an Mariedl beendet die zweite Szene.
Die dritte Szene markiert, wie bereits angedeutet, den vollständigen Bruch in der Dramaturgie des Stückes: Auf der Bühne ist ein kleiner, dreckiger Theatersaal inklusive Publikum aufgebaut, wobei das dargestellte Publikum mit dem Rücken zum echten Publikum sitzt. Sodann betreten die „Original Hinterlader Seelentröster“ die Bühne auf der Bühne. Der Name stellt eine offenkundige Anlehnung an in der volkstümlichen Musik übliche Bandnamen, wie „Zillertaler Schürzenjäger“ oder „Wildecker Herzbuben“, dar. Diese „Seelentröster“ singen nun ein Lied, dessen absurder Text darin besteht, dass der Herrgott Strophe für Strophe mit einem anderen profanen Gegenstand verglichen wird: Vom Autobus über die Melkmaschine bis hin zum Schnellkochtopf.
Nach Absingen des Liedes verlassen die Musikanten die Bühne auf der Bühne und „drei junge, hübsche Frauen“[7] beginnen das Stück „Die Präsidentinnen“ zu spielen, was vom dargestellten Publikum durch Lachen und Szenenapplaus honoriert wird. Die sozusagen wahren Präsidentinnen Erna, Grete und (die offensichtlich wiederauferstandene) Mariedl, die sich im Publikum befinden, stehen nach kurzer Zeit entsetzt auf und verlassen in höchster Erregung den Theatersaal.
1.4 Die Sprache
Sein besonderer Umgang mit der Sprache ist das, was Werner Schwab vor allem berühmt gemacht hat. Wortneuschöpfungen durch Verwendung falscher bzw. ungewöhnlicher Präfixe und die Verfremdung der Grammatik, unter anderem durch die Anlehnung an den österreichischen Dialekt, erzeugen eine Kunstsprache, die einen ganz eigenen Sog entwickelt. Was die Erzeugung einer eigenen Sprache durch die Vermischung von Hochsprache und Dialekt betrifft, hat Schwab natürlich durchaus Vorläufer, vor allem Ödön von Horváth und späterhin Autoren wie etwa Franz Xaver Kroetz. Dennoch wurde Schwabs Sprachgebrauch immer als absolut eigentümlich und unverwechselbar empfunden. Was diesen, gern als typisch Schwabisch apostrophierten Sprachgebrauch angeht, muss allerdings bemerkt werden, dass dieser Stil in „Die Präsidentinnen“, als Schwabs erstem Stück, noch am wenigsten stark entwickelt war. In den späteren Stücken hat Schwab diese ihm eigene Methodik der Sprachverzerrung noch zu viel groteskeren Blüten fortgetrieben.
1.5 Kernthemen
Die Hauptthemen des Stückes sind die Scheiße, das Exkrement auf der einen Seite, und die Religion, der christliche Glaube auf der anderen. Es geht darum, wie drei Klofrauen, deren Lebensinhalt in der Beseitigung des niedrigsten und ekelhaftesten Schmutzes besteht und deren Existenzen nichts als gescheitert und erbärmlich sind, wie solche Menschen also sich in imaginäre gedankliche Welten flüchten, um ihrer sinnlosen Existenz den Anschein der Sinnhaftigkeit zu verleihen. Und die christliche Religion ist natürlich das Parade-Phantasma, in das man sich in einer solchen Situation flüchten mag – zumal in einem durch und durch katholischen Land wie Österreich – richtet sich doch die Botschaft des Evangeliums gerade an die sozial Unterprivilegierten.[8]
Es geht also in dem Stück vor allem um die Flucht des Menschen aus einer schmutzigen, unerträglichen Wirklichkeit in eine schöne, geträumte Vorstellungswelt. Dass das Theater ebenso ein solches Weltfluchtsvehikel ist, thematisiert Schwab in der dritten Szene. Nicht umsonst sind es die Seelentröster, die in diesem Theater im Theater auftreten. Doch dies nur nebenbei. Die Aufgespanntheit zwischen den extremen Polen Fäkalien und Schmutz einerseits und christliche Heilsversprechung andererseits, zeigt sich am deutlichsten und interessantesten an der Figur der Mariedl, die ja am wenigsten Ekel vor der Fäkalienwirklichkeit hat und gleichzeitig am stärksten die christlichen Moral- und Wertvorstellungen verinnerlicht hat. Im folgenden Verlauf der Arbeit wird zu untersuchen sein, auf welche verschiedenen Weisen Schwab das Problem des Katholizismus in den „Präsidentinnen“ thematisiert und welche Bedeutung unter diesem Aspekt der Figur der Mariedl zukommt.