Die Figur der Marja Bolkonskaja aus Tolstojs Roman "Vojna i mir"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

36 Seiten, Note: Unbenotet


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Eine Vorstellung der Figur

2. Die Hauptzüge ihres Wesens
2.1. Religion
2.2. Selbstlosigkeit und Selbstverachtung
2.3. Liebe und Nächstenliebe

3. Ihr Verhältnis zu anderen Personen
3.1. Verhältnis zum Vater Fürst Bolkonski
3.2. Verhältnis zu Fürst Andrej
3.3. Verhältnis zu Nikolenka
3.4. Verhältnis zu Pierre
3.5. Verhältnis zu Natascha
3.6. Verhältnis zu Nikolai

4. Die Wandlung

5. Quellenangabe

1.Eine Vorstellung der Figur

Die Prinzessin Marja Bolkonskaja ist wohl eine der tiefgründigsten Figuren aus Tolstojs Romanepos „Vojna i mir“. Während der Handlung erlebt sie eine ungeheure Veränderung, die der Leser zu Anfang kaum für möglich hält. In ihrem Herzen jedoch bleibt sie dieselbe, und das tiefste, stärkste Verlangen ihrer Seele, das Streben nach vollkommener Nächstenliebe und moralischer Vollkommenheit, begleitet sie von Anfang bis Ende.

Der Leser erfährt von Prinzessin Marja nur indirekt durch die Beschreibung ihres Vaters, der „mit seiner Tochter“[1] auf seinem Gut Lyssyje Gory lebt – das ist vorerst alles, was man über Marja weiß, denn auch in der bisherigen Handlung des Romanepos hat niemand von ihr ge-sprochen. Obwohl als zukünftige Erbin eines gewaltigen Vermögens durchaus eine glänzen-de Partie, ist sie, wohl auch durch die abgeschottete Lebensweise ihres Vaters, in der Gesell-schaft praktisch nicht existent und hat aller Wahrscheinlichkeit nach das väterliche Gut nie oder nur selten verlassen. Jene, die sich aber später im Text über Marja äußern, u.a. Natascha, Nikolai und Julie Karagina, die ihren „regard si doux, si calme et si pénétrant“[2] bewundert, sprechen ausnahmslos lobend von ihr. Diese Menschen kennen die Prinzessin und wissen ihr Wesen zu schätzen. Einstweilen aber, bevor sich die Freundschaft zu Natascha und die Be-ziehung zu Nikolai entwickelt, fungiert nur der Erzähler als Marjas Fürsprecher, der ihre in-neren Werte wieder und wieder beschreibt.

Ihren ersten Auftritt hat Prinzessin Marja im Winter 1805/1806 in einer der Mathematik-stunden, die ihr Vater ihr immer noch täglich gibt, obwohl sie bereits 20 Jahre alt ist. Schon die ersten Minuten dieses Zusammentreffens von Vater und Tochter sind charakteristisch für die Beziehung der beiden und für ihre Persönlichkeiten. Bereits vor dem Eintreten in das Ar-beitszimmer des alten Fürsten betet Marja, „daß das tägliche Zusammensein mit dem Fürsten glücklich verlaufen möge“[3], und bereits darin äußert sich sowohl ihre tiefe Religiosität als auch ihre Angst vor dem Vater, der ihren Tagesablauf minutiös plant und sogar ihre Post kon-trolliert: zwei Briefe von Julie Karagina, Marjas Brieffreundin aus Moskau, lasse er noch durch, „den dritten lese ich.“[4]. Schließlich könnten die beiden Mädchen einander ja „zuviel Albernheiten“[5] schreiben.

Die Mathematikstunde ist ein einziges Desaster. Prinzessin Marja ist vor Angst gelähmt, und „diese Angst hindert(…) sie, den Ausführungen des Vaters zu folgen“[6], und eben darum kann sie die Erwartungen des Fürsten nicht erfüllen. Für Schülerin wie für Lehrer muss dies frus-trierend sein, zudem der Fürst kein geduldiger Lehrer ist und seine Tochter anschreit: „Ach, wie dumm!“[7]. Marja scheitert aus Angst vor dem Scheitern, und dem Erzähler zufolge wie-derholt sich dieses Martyrium Tag für Tag[8]. Gleichzeitig jedoch verdeutlicht dieser erste Auftritt nicht nur den Jähzorn des Fürsten gegenüber seiner Tochter, sondern auch die Zunei-gung, die der ruppige alte Herr im Grunde seines Herzens für sie hegt: er sieht sie „mit einem strengen und doch aufmerksam-zärtlichen Blick“[9] an und streichelt nach seinem Ausbruch ihre Wange.

Nachdem der Leser in dieser Mathematikstunde die äußeren Umstände von Prinzessin Marjas Leben erfahren hat, erhält er in ihrem Brief an Julie Karagina einen Einblick in ihr Innen-leben, denn in diesem Brief äußern sich deutlich die Hauptzüge ihres Wesens, auf die ich in späteren Teilen noch genauer eingehen werde.

Bereits hier zeigt sich Marjas Neigung, ihre eigenen Sorgen und Nöte herunterzuspielen und gleichzeitig ihr großes Herz, wenn es um den Schmerz anderer geht, beispielsweise um die Zwangsaushebung von Rekruten aus benachbarten Bauerndörfern. „Il fallait voir l’état dans lequel se trouvaient les mères, les femmes, les enfants“[10], schreibt sie an Julie, nachdem sie kurz vorher jede Art von Selbstmitleid zurückgewiesen hat: „si j’osais me plaindre“[11]. Sie ver-weist auf den Glauben als ihre Kraftquelle, denn „si nous n’avious pas la religion pour nous consoler, la vie serait bien triste“[12].

Ganz im Sinne dieses christlichen Glaubens erklärt Marja Julie ihre Auffassung, „que l’amour chrétien, l’amour du prochaìn (…) est plus mêritoire, plus doux et plus bien“[13] im Vergleich zur Liebe zu einem jungen Mann. Fleischliche, irdische Liebe lehnt die Prinzessin nicht ab, wenigstens nicht bei anderen, denn in dieser Hinsicht sei sie nur zu sich selbst streng[14]. Was eine mögliche Heirat angeht, äußert Marja recht distanziert, die Ehe sei eine „institution divine à laquelle il faut se conformer“[15].

Der gesamte Brief vermittelt den Eindruck einer gutherzigen, geistig regen Christin, die ein Leben in Selbstkasteiung führt – was ja im wesentlichen zutrifft, wie sich in meinen weiteren Ausführungen zeigen wird.

Während bei anderen Figuren wie Helène Besuchowa immer wieder das Äußere beschrieben wird, ist der Fokus bei Prinzessin Marja eindeutig nach innen gerichtet. Ihr geistiges Leben, ihre Gefühle und Gedankengänge werden detailliert beschrieben, wohingegen im Bezug auf ihr Aussehen nur zwei Charakteristika immer wieder genannt werden: ihr hässliches Gesicht und ihre Augen. Wiederholt wird Marja als „unschön“[16] bezeichnet, ihr Gesicht trage einen „bekümmerten, eingeschüchterten Ausdruck, der sie nur selten verließ und der ihr unschönes und kränkliches Gesicht noch unschöner machte“[17]. Auch die Menschen um Marja herum neh-men an ihr stets nur das reizlose Äußere wahr. „Sie ist hässlich und plump,“[18] erklärt ihr Vater, und wenn Mademoiselle Bourienne und Fürst Andrejs Ehefrau, die kleine Fürstin, Bolkons-kaja Marja aus Anlass des Besuchs von Fürst Wassili Kuragin und seinem Sohn Anatol herauszuputzen suchen, so doch immer in dem Bewusstsein, Marja sei ja „so hässlich, daß keine von beiden auch nur auf den Gedanken kommen konnte, ihre eigene Erscheinung könne etwa von der Prinzessin in den Schatten gestellt werden“[19]. Diese Hässlichkeit wird ihr so oft vorgehalten, dass Marja sie völlig verinnerlich hat: obwohl sie einen „schwächlichen Kör-per“[20] hat, wird immer wieder erwähnt, sie gehe „schweren Schrittes“[21]. Wie kann ein mager-er Mensch schwere Schritte haben? Dies ist doch nur dann der Fall, wenn sich dieser Mensch im eigenen Körper nicht zu Hause fühlt, was auf Marja vollkommen zutrifft.

Prinzessin Marjas Schönheit liegt nicht im Äußerlichen, sondern in ihrem Streben nach innerer Vollkommenheit, in ihrer Nächstenliebe und ihrem großen Herzen, denn wenn sie nicht an sich selbst denkt und ihre innere Schönheit nach außen dringt, bemerkt der Betrachter zuerst die „großen, tiefen und leuchtenden Augen der Prinzessin, von denen manchmal ganze Strahlenbündel eines warmen Lichtes auszugehen (scheinen), diese Augen (sind) so schön, daß sie trotz der sonstigen Reizlosigkeit des Gesichts oft anziehender wirkten als alle Schönheit“[22].

2. Die Hauptzüge ihres Wesens

2.1. Religion

Trost und Kraft, ihr Los zu ertragen, findet Prinzessin Marja in der Religion. Sie betet häufig und ist der Meinung, „die Religion allein kann uns vor der Verzweiflung bewahren“[23], der Glauben spielt eine zentrale Rolle in ihrem Leben. Das Streben nach einem gottgefälligen Leben ist einer der Hauptzüge in Marjas Charakter. Sie fordert keine Gerechtigkeit für sich, sondern bleibt dem Bibelwort treu und hält lieber auch die andere Wange hin, denn „was hieß denn überhaupt Gerechtigkeit?“[24]. Stattdessen folgt sie ganz dem Weg Jesu und seinem „Gesetz der Liebe und Selbstaufopferung“[25], wie sie selbst sagt. Sie hat einen heimlichen Traum, der sie immer wieder erbaut, und das ist der Traum, „die staubige Landstraße dahin-(zu)wandern und ohne Haß, ohne irdische Liebe, ohne Wünsche (…) endlich dort hin-wandern, wo es keinen Kummer (…) gab, sondern ewige Freude“[26], also zu pilgern. Sie besitzt sogar schon ein Pilgergewand, betrachtet es oft und überlässt sich, „ohne jedoch zu einem Entschluß kommen zu können, dem Gedanken, ob die Zeit nicht schon reif sei zur Ausfüh-rung ihres Vorsatzes“[27]. Was sie davon abhält, ist ihre tiefe Liebe zu ihrem Vater und ihrem kleinen Neffen Nikolai, die sie beide nicht alleinlassen will.

Die Idee, auf die Gotteswanderschaft zu gehen, hat Marja von den Gottesleuten, besitzlosen Pilgern, die von Heiligtum zu Heiligtum wandern und beten. Die Prinzessin nimmt häufig solche Wanderer auf und unterhält sich mit ihnen, und wie Andrej zu Pierre sagt, ist dies „nämlich das einzige, worin Marja (ihrem Vater) nicht gehorcht: Er befiehlt immer wieder, diese Pilger wieder wegzujagen, und sie nimmt sie immer wieder auf“[28]. Diese Gespräche er-bauen sie, da ihre gesamte Familie ihren Glauben ablehnt oder sicher darüber lustig macht. Beispielsweise spottet Andrej, nachdem die Pilgerin Pelagejuschka von einem Büßer erzählt hat, der all seine Orden der Madonna opferte, die Muttergottes habe eben Generalsrang[29]. Be-zeichnend ist auch das Verhalten des Vaters, der Mademoiselle Bourienne „in Gegenwart der Prinzessin Marja (fragt), wie sie die russischen Popen und Heiligenbilder fände, und (…) dann über dieses Thema zu witzeln“[30] begann.

Trotzdem glaubt Prinzessin Marja fest an die Vorsehung Gottes, „ohne dessen Willen kein Haar vom Haupte des Menschen fällt“[31]. Auch in dunklen Stunden tröstet sie dieser Gedanke, denn in ihrem Brief an Julie nach dem Tod der kleinen Fürstin philosophiert sie, „in welchem Sinne dieser Tod nur ein Ausdruck der unendlichen Güte unseres Schöpfers“[32] sei und sucht die guten Seiten zu sehen: Lisa Bolkonskaja sei vielleicht zu sanft und gut gewesen, um den Pflichten einer Mutter gerecht werden zu können.

In der Festigkeit ihres Glaubens, der sie während ihres leidvollen Lebens und aller Schicksals-schläge und Verluste nicht verlässt, ihrem Streben „nach dem Unendlichen, Ewigen und Voll-kommenen“[33], ihrem klaglosen Erdulden von Schmerz und ihrer umfassenden Liebe, auf die ich später noch zu sprechen komme, wäre Prinzessin Marja die vollkommene Christin, die ihre Existenz einzig in den Dienst des Herrn gestellt hat, denn sie liebt ihren Nächsten – nicht aber sich selbst. Wie ich später noch ausführen werde, verachtet sich Prinzessin Marja zu-tiefst, meist wegen jener durchaus menschlichen Schwächen, die einem wahrhaft heiligen Le-ben im Wege stehen. Somit erfüllt sie die christliche Grundmaxime „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ nicht.

2.2. Selbstlosigkeit und Selbstverachtung

Prinzessin Marja ist eine Figur, der jeglicher Egoismus fehlt. Sie ist stets bereit, ihre eigenen Interessen und Gefühle bedingungslos denen anderer unterzuordnen und sich selbst zurückzustellen.

Als Anatol Kuragin auf Freiersfüßen nach Lyssyje Gory kommt, bietet sich Marja die Chance, ihr einsames, leidvolles Leben unter einem despotischen Vater zurückzulassen, und trotz anfänglicher Skepsis ist sie völlig von Anatols Schönheit und Auftreten eingenommen. Als ihr aber klar wird, dass ihr Vater einer Heirat, wenn auch unter Protest, zustimmen würde, jedoch „ein Leben ohne (sie) für Fürst Nikolai Andrejitsch einfach undenkbar“[34] ist, nimmt sie sofort von ihren Plänen und Wünschen Abstand und lehnt Kuragins Antrag ab. Dann ertappt sie ihren Freier quasi in flagranti mit Mademoiselle Bourienne, und trotz der Enttäuschung, die sie fühlen muss, setzt sie sofort alles daran, Anatol mit der Französin zusammenzubringen und redet sich noch ein, sie werde „so glücklich sein, wenn (Mademoiselle Bourienne) seine Frau wird“[35].

Ihre Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft ist umso beeindruckender, da sie ein alles andere als glückliches Leben führt. Abgeschottet auf dem väterlichen Gut, hat Marja nur wenige zwischenmenschliche Kontakte. Ihre einzigen Gesellschafter sind Mademoiselle Bourienne, die ihr eher lästig ist und neben der sie sich hässlich und plump fühlt, und die kleine Fürstin, die nur zeitweise bei ihnen wohnt und mit der sie nicht viel verbindet. Daneben bleibt nur die innige Brieffreundschaft zu ihrer Jugendfreundin Julie Karagina. Dass diese auf Entfernung so enge Freundschaft jedoch keiner Realität standhält, zeigt sich, als die Bolkonskis nach Moskau kommen. Die beiden jungen Frauen könnten sich jederzeit sehen, doch geht ihnen bald der Gesprächsstoff aus, und es zeigt sich, dass sie recht wenig gemein haben. Dazu kommt, dass ihr Vater jegliche Wut, jede Frustration, die er fühlt, an seiner Tochter auslässt.

Und dennoch leugnet diese ihr Leid selbst gegenüber dem geliebten Bruder: „Ich? – Ich? – Ich soll es nicht leicht haben?“[36], fragt sie und versucht ihm weiszumachen, sie „lebe ja so zufrieden und glücklich mit (dem Vater)“[37]. Nicht zuletzt durch die Beschreibungen des Erzählers erfährt der Leser, dass Marjas Leben teilweise einer Hölle gleicht, und doch lehnt sie Selbstmitleid und Mitleid durch andere ab. Wie ein Opferlamm erträgt sie alles, was ihr angetan wird, mit dem Stolz eines Märtyrers, „einer Art von Stolz auf die von ihr gebrachten Opfer“[38], und vor dem Tod des Vaters scheint sie in ihrer Selbstaufgabe auch ganz glücklich zu sein. Sie sieht ihre göttliche Bestimmung darin, nicht durch irdische Liebe, sondern „auf andere Weise glücklich zu werden, durch Liebe und Selbstverleugnung“[39].

Man muss jedoch sagen, dass in der vergeistigten Welt der Marja Bolkonskaja, in der Einsamkeit des Gutes Lyssyje Gory, vieles weniger kompliziert ist als beispielsweise in der Stadt oder in größeren Familien, in der „realen Welt“. Hier gibt es keine Tätigkeit, die ihre Aufmerksamkeit fordert, keine komplexen zwischenmenschlichen Beziehungen außer der zum Vater, und wo nicht aktiv gehandelt wird, kann es auch keine moralischen Konflikte geben. Hier kann sie ihre Maxime leben: „Ihre Sache war leiden und lieben, und das tat sie“[40]. So gesehen, lebt Marja trotz des Leides, das sie erduldet, behütet und weltfremd. Daher zeigt sich die wahre Kraft ihres Charakters meiner Meinung nach weniger in den ausführlichen Charakterstudien und religiösen Betrachtungen ihrer Jahre auf dem väterlichen Gut, sondern mehr in der von Tätigkeit geprägten Zeit nach dem Tod des alten Fürsten, in ihrem Leben als Verwalterin ihres eigenen Vermögens und, später, als Mutter und Ehefrau.

Während Marja in ihrer Selbstlosigkeit nie das Wort für sich erhebt oder sich gegen die Vorwürfe ihres Vaters verteidigt, wird sie aktiv, wenn es um andere geht, denn mit dem Schmerz anderer kann sie wesentlich leichter umgehen als mit ihrem eigenen. Sie wäre bereit gewesen, bei ihrem Vater, dem sie sonst nie zu widersprechen wagt, für Andrejs Hochzeit mit Natascha einzutreten, eine eigene Heirat aber lehnt sie aus Rücksicht auf den alten Fürsten ab. Genauso war sie entschlossen, „was es mich auch kosten mag“[41], Anatol mit Mademoiselle Bourienne zusammenzubringen – dass er ihr Freier sein sollte, zählte in diesem Moment nicht. Ebenso überrascht ihr Verhalten, als der Vater von der Nachricht, sein Sohn sei vermisst, tief getroffen wird: „Sie vergaß alle Furcht vor dem Vater (…) und schlang die Arme um seinen (…) Nacken“[42]. Wenn es darum geht, anderen zu helfen, zeigen sich Marjas Stärke und Mut, auf diesem Feld fühlt sie sich wohl. Denn obwohl sie oft schwer mit den Füßen auftritt, kommt sie auf einmal „mit unhörbaren Schritten zum Bettchen“[43], als Fürst Andrej gerührt über sein gerade genesenes Kind wacht. Bei Tolstoj spielen Gesten und Körperhaltung eine wesentliche Rolle zur Beschreibung von Personen, und in diesen plötzlich so leisen Schritten zeigt sich eine seltsame Art von Selbstbewusstsein, von Vertrautheit mit dem eigenen Körper – immer wenn es darum geht, anderen zu helfen, und dazu ist Prinzessin Marja stets bereit.

Wenn es jedoch um sie selbst geht, ist Marja von ungeheurer Strenge. Sie verachtet sich für jede menschliche Schwäche und empfindet „tiefen Abscheu vor sich selbst“[44] für jeden Moment des Zorns – ja selbst als sie nicht auf Pilgerschaft geht, weil sie ihren schutzbedürftigen Neffen und ihren geliebten Vater nicht verlassen will, empfindet sie „ihre Sündhaftigkeit“[45]. Für einen sterblichen Menschen ist es unmöglich, die seelische Vollkommenheit zu erreichen, nach der Marja strebt, ohne sich Kompromisse oder Momente der Schwäche zu gestatten. Als sie einmal berechtigte Wut auf ihren Vater empfindet, schilt sie sich sofort selbst dafür: „Er ist alt und schwach, und ich unterstehe mich über ihn zu Gericht zu sitzen!“[46].

Diese Selbstdisziplin ist nur ein Teil des Selbsthasses, den Marja hegt. Dass dieser Hass nicht von ungefähr kommt, beginnt der Leser zu ahnen, wenn der alte Fürst in Gegenwart der Prinzessin die kleine Fürstin anfährt, Marja brauche sich nicht erst zu verunstalten, sie sei auch so schon hässlich genug[47]. Anscheinend wird ihr diese Verachtung gegen die eigene Person schon seit langer Zeit eingeredet, denn auch als der Vater tot ist, bleiben diese Gedankenmuster lebendig. Als Marja in Woronesh die Vermutung hat, ihre Tante und die Gouverneurin könnten trotz ihrer Trauer Heiratspläne für sie haben, sagt sie sich sofort, „nur sie in ihrer Schlechtigkeit könne anderen solche Gedanken zutrauen“[48].

Selbst in der Ehe, als Marja doch ein völlig neues Leben begonnen hat, kann sie sich der Selbstzweifel nicht erwehren. Dies zeigt sich am deutlichsten am Vortag von Nikolais Namenstag. Aus einem ihr unbekannten Grund ist er schlechter Laune, und sofort ist sie der Überzeugung, der Anlass seiner Verstimmung zu sein, obwohl kein Grund zu dieser Vermutung vorliegt. In jede seiner Handlungen interpretiert sie eine Anklage gegen sich selbst hinein. „Sie hat(…) aus dem Ton seiner Antwort herausgehört, daß er etwas gegen sie hatte und das Gespräch abzubrechen wünschte“[49]. Dass er erklärt, nicht wütend zu sein, bestätigt die Prinzessin, jetzt Gräfin Marja, nur in ihrem Glauben, denn in seinen Worten liegt für sie „die Antwort: Ja, ich bin böse und will es nur nicht sagen“[50]. Und so geht es weiter, bis Marja zu der Schlussfolgerung kommt, dass sie ihm zuwider sei[51]. Es stellt sich schließlich heraus, dass ihr Mann nicht auf sie wütend war, und doch zeigt gerade diese Episode, wie tief der Selbsthass in Marjas Seele verwurzelt ist, dass sie sich selbst nach so langer Zeit nicht von ihm befreien kann.

2.3. Liebe und Nächstenliebe

Einen ersten Eindruck von Marjas Auffassungen zum Thema Liebe erhält der Leser in ihrem Brief an Julie Karagina. Sie sei in dieser Hinsicht gegen sich selbst streng, schreibt Marja, verstehe jedoch bei anderen solche Gefühle. Diese Gedanken sind typisch für die Prinzessin, die stets bereit ist, anderen ganz im christlichen Vergebungsgedanken alles zu verzeihen, sich selbst und ihren eigenen Schwächen und Empfindungen gegenüber jedoch eine beinahe unmenschliche Strenge übt. Sie erlaubt sich keine Liebe außer der Nächstenliebe, mehr noch, sie empfindet irdische Liebe als Sünde. Als sie sich zu Anatol hingezogen fühlt und sogar von einer Familie zu träumen beginnt, versucht sie sofort, diese „Einflüsterungen des Teufels“[52] zu unterdrücken.

Dennoch ist Marja auch eine normale junge Frau in der Hinsicht, dass sie romantische Sehnsüchte hat und, trotzdem sie diese zurückdrängt, von Liebe träumt. Deutlich wird dies während der Zeit ihres Umgangs mit Anatol Kuragin, als eben jene Wünsche stärker in den Vordergrund treten und der Leser aus Marjas eigenen Gedanken erfährt, dass tausend Träume von ihrem künftigen Familienleben in ihrer Phantasie auftauchten und sie sich vorstellt, wie ihr eigenes Kind einmal an ihrer Brust ruhen soll[53]. So sehr sie sich dafür verachtet, es ist doch nur menschlich, dass „ihr eigentlicher, heimlichster und stärkster Sehnsuchtstraum (…) doch die irdische Liebe“[54] ist.

Durch ihr abgeschottetes Leben und ihren seltenen Kontakt zu Menschen außer der Dienerschaft und ihrer näheren Familie bleibt Marja viel Zeit zum Denken und Beten, daher ist es kein Wunder, dass sie ausgesprochen vergeistigt ist und ihr „die Kurzsichtigkeit der Menschen, die hier nach (…) irdischem Glück suchten und die sich um des Phantoms dieses unmöglichen und nur in Sünde verstrickenden Glücks willen abplagten, litten, kämpften“[55] unbegreiflich erscheint. In ihrer Weltferne lässt sie keine Hoffnung auf irdisches Glück zu, sondern setzt all ihre Hoffnungen in das Leben nach dem Tod, das der christliche Glaube verspricht. Aus diesem Grund verdrängt sie jeden Gedanken an Liebe und erklärt auch, selbst die Ehe, nach der sie sich insgeheim doch sehnt, sei „institution divine à laquelle il faut se conformer“[56] und sucht darin keine Selbstverwirklichung oder Glück, sondern lediglich die bestmögliche Erfüllung der „les devoirs d’épouse et de mére“[57].

Ein Grund dafür, warum sie ihre Sehnsucht nach Liebe nicht offen zugibt, sondern sie auch vor sich selbst kaum eingesteht, dürfte in ihrer Selbstverachtung zu suchen sein. Als Anatol wieder Träume und Wünsche nach Glück in ihr erweckt, ruft sie sich sofort die angebliche Unmöglichkeit dieser Träume ins Gedächtnis: „Aber nein, das kann ja gar nicht sein: Ich bin ja viel zu häßlich“[58]. Neben diesen Selbstzweifel und ihrer Vergeistigung dürfte auch Angst eine Rolle in ihrer Ablehnung von Liebe spielen. Schließlich hat Marja außer ihrem Vater und, zeitweise, ihrem Bruder keinerlei Kontakte zu Männern und somit überhaupt keine Erfahrung im Verhalten zwischen den beiden Geschlechtern, zudem ihre Mutter offenbar auch nicht mehr am Leben ist oder zumindest nicht bei der Familie lebt, denn sie wird nie auch nur erwähnt, sodass sie auch am Verhältnis der Eltern nichts für sich ableiten kann.

Daher ist es klar, dass sie im Bezug auf irdische, gerade körperliche Liebe Angst und Verunsicherung empfindet und sich an die Männer in ihrer Umgebung klammert, an den Vater und den Bruder. Wenn sie sich einen Mann vorstellt, so denkt sie an „ein starkes, ihr überlegenes Wesen von unbegreiflicher Anziehungskraft“[59], und als dann zum ersten Mal ein potenzieller Freier, ein Mann ihrer Altersgruppe und Gesellschaftsschicht, vor ihr steht, der nicht zur Familie gehört und noch dazu von großer Anziehungskraft ist, wird sie fast geblendet von seiner Fremdartigkeit: „ihn selbst konnte die Prinzessin nicht sehen: Sie sah nur etwas Großes, Strahlendes und Schönes“[60]. Marja ist sich, zumindest anfangs, dieser Verwirrung bewusst und „fühlte sich in ihrer eigenen Würde gekränkt durch die Erregung, in welche die Ankunft des angekündigten Freiers sie versetzte“[61], sodass sie aus Stolz vorerst alle Avancen ablehnt, bis auch sie Anatols Charme erliegt.

Normalerweise ist die Prinzessin mit einer ausgezeichneten Beobachtungsgabe gesegnet, man könnte sogar sagen, nichts Menschliches sei ihr fremd. Diese Gabe kommt von ihrer Liebe zu den Menschen, sie interessiert sich für sie und erkennt darum viel von dem, was in ihnen vorgeht: beispielsweise erkennt sie auf den ersten Blick die Wandlung, die nach Andrejs Verwundung in Natascha vorgegangen ist. Diese Beobachtungsgabe versagt jedoch in den Momenten, in denen sie sich nach Glück sehnt und bereit ist, dafür alles zu übersehen. Wie sonst ist es zu erklären, dass Marjas zwar auf Anhieb Anatols Charakter und seine Art Frauen gegenüber erkennt, und ihm betont ihr Desinteresse zu verstehen gibt, später aber doch schwach wird, bis er ihr „gut, tapfer, entschlossen, männlich und großmütig“[62] erscheint und sie ernsthaft an eine Verbindung zwischen ihnen zu glauben beginnt? Wie sonst kann sie nicht erkennen, dass Mademoiselle Bourienne sie betrügt und unverhohlen mit Anatol flirtet, und später dennoch an „die reine Zärtlichkeit und Anhänglichkeit (…), die sie für mich hegt“[63], glauben? Dies ist auch ein Ausdruck ihrer Nächstenliebe, ihrer Bereitschaft, stets nur das Beste von den Personen um sich zu denken und „sich in jeden Menschen hinein-(zu)versetzen“[64], die in so krassem Gegensatz zu ihrem Selbsthass steht. So glaubt sie sofort „voller Mitleid und zärtlicher Liebe“[65] Mademoiselle Bouriennes Tränen, obwohl sie nicht lange vorher Andrej noch erklärt hatte, die Bourienne sei ihr „nicht nur entbehrlich, sondern sogar lästig“[66], und ist fest von ihrer Unschuld überzeugt, denn sie liebe Anatol ja so leidenschaftlich und bereue so bitter[67].

Doch auch eine Prinzessin Marja ist nur menschlich, auch sie kann nicht „das Unmögliche (…) vollbringen, das heißt, in diesem irdischen Leben (…) alle ihre Nächsten so zu lieben, wie Christus die Menschen liebte“[68], so sehr sie auch danach strebt. Auch in ihrem Herzen gibt es Abneigungen gegen einzelne Menschen, wie z.B. gegen Sonja, gegen die sie eine heftige Eifersucht hegt: sie gibt sich „alle Mühe, sie liebzuhaben; dennoch brachte sie es nicht fertig, entdeckte vielmehr in ihrer Seele oft genug Gefühle der Mißgunst, die sie nicht überwinden konnte, gegen Sonja“[69]. Obwohl sie danach strebt und ein von Herzen guter Mensch ist, ist Prinzessin Marja weder eine Heilige noch perfekt, aber gerade das macht sie nur realistischer, glaubhafter, greifbarer.

3. Ihr Verhältnis zu anderen Personen

3.1. Verhältnis zum Vater Fürst Bolkonski

Die Beziehung zwischen Vater und Tochter Bolkonski ist geprägt von tiefer Demut und aufrichtiger Liebe auf Seiten Marjas und cholerischem Despotismus, seelischer Grausamkeit und dennoch vorhandener Zuneigung auf Seiten des alten Fürsten.

Für Prinzessin Marja ist ihr Vater das Maß aller Dinge, namentlich weil er ihr einziger Umgang ist, und alles, „was (er) tat, nahm sie mit kritikloser Ehrfurcht auf.“[70] Wie der alte Fürst hingegen seine Tochter behandelt, ist das genaue Gegenteil einer normalen Vater-Tochter-Beziehung. Er quält und tyrannisiert sie, hält ihr ihre Hässlichkeit vor[71] und verspottet gnadenlos die wenigen Freuden, die Marja hat, wenn er in ihrer Gegenwart über „die russischen Popen und Heiligenbilder“[72] zu witzeln beginnt oder ihre Brieffreundin Julie nach dem Titel eines sentimentalen Briefromans von Rousseau abfällig „Hèloïse“[73] nennt.

Schon der Ablauf der Mathematikstunde, die tiefe Demut der Prinzessin vor ihrem Vater, dem sie sogar anbietet, ihre Briefe zu lesen und ihre abgrundtiefe Selbstverachtung zeigen, welcher Art das tagtägliche Zusammenleben der beiden ist. Es hat den Anschein, als wisse der Fürst die Liebe und Aufopferung seiner Tochter nicht im geringsten zu schätzen, im Gegenteil, er macht sie für alles verantwortlich und behauptet, sie würde ihn in den Tod treiben, wobei wohl eher das Gegenteil der Fall ist. Besonders deutlich wird dies, als Marja aus Liebe zu ihrem Vater eine Heirat mit Anatol Kuragin ablehnt, da sie ihren armen Vater nicht allein lassen will. Wie dankt es ihr der Fürst? Als die Bolkonskis nach Moskau gehen, begeht Marja den Fehler, den Arzt ihres Vaters an dessen Namenstag zu ihm zu lassen, obwohl er nicht auf der Namensliste steht. Auf einmal wirft der cholerische Alte seine Tochter aus dem Haus und erklärt, sie sei an allem Schuld und „er habe keine Minute Ruhe, ja, er werde nicht einmal in Ruhe sterben können, solange sie im Hause sei“[74].

Dass ein Leben unter einem solchen Vater die Hölle sein muss, kann man sich wohl denken. Besonders schlimm werden die Demütigungen des Fürsten gegen seine Tochter, als Andrej Natascha heiraten will und für ein Jahr ins Ausland geht. Man glaubt dem Erzähler sofort, wenn er berichtet, des Fürsten „grundlosen Wutausbrüche gingen jetzt größtenteils auf Prin-zessin Marja nieder: Es war, als suche er mit Vorbedacht nach ihren wunden Punkten, um sie seelisch mit der größten Grausamkeit quälen zu können“[75].

Es ist eine Angewohnheit des Menschen, seine Wut, Trauer und Frustration gerade an denen auszulassen, die es am wenigsten verdienen, an den Schwächsten, die sich nicht wehren können. Aus diesem Blickwinkel ist die Art, wie der Fürst Marja behandelt, nicht entschuldbar, aber erklärbar, zumal er an Marjas Charakter selbst kaum Grund zu Bean-standung finden könnte. Dennoch muss es einen Ausgangspunkt für Fürst Bolkonskis zur Schau getragene Abneigung gegen seine Tochter geben. Der Erzähler erwähnt, dass das Geschlecht der Bolkonskis von kaiserlichem Geblüt sei. Ist vielleicht ein Grund für das Verhalten des Fürsten darin zu suchen, dass Marja, im Gegensatz zu Andrej, dieser hohen Ab-stammung nicht gerecht wird? Sie ist nicht schön oder gewandt, dafür introvertiert und keine Gesellschaftsperson. Für diese These spräche die „betonte Liebenswürdigkeit im Umgang mit Mademoiselle Bourienne“[76], die, vor allem nach dem Bekanntwerden von Andrejs Heiratsplänen, beim alten Fürsten zu beobachten ist. Die Französin ist es, von der er sich vorlesen lässt, sie lässt er auch an Tagen schlechter Laune zu sich und behandelt sie ganz so, wie ein Vater seine Tochter behandeln sollte. Seine Favorisierung der Bourienne zielt häufig nur darauf ab, Prinzessin Marja zu verletzen, indem er ihr die Freundlichkeit gewährt, die eigentlich Marja zusteht, und seiner Tochter am Beispiel der Französin vorführt, wie sie sein sollte. Dabei sind die Unterschiede zwischen den zwei jungen Frauen deutlich erkennbar. Ist der Fürst schlechter Stimmung, kann Marja dies einfach nicht gewandt überspielen, „sie brachte es nicht fertig und litt darunter am schwersten“[77]. Mademoiselle Bourienne hingegen versteht eine gespannte Situation durch Smalltalk zu entschärfen, sie „machte lebhaft Kon-versation“[78], während sich zwischen Marja und Natascha bei deren erstem Besuch im Hause Bolkonski eine heftige Abneigung zu entwickeln beginnt.

Ein möglicher weiterer Grund für die Art des Fürsten bleibt im Dunkeln. Andrejs und Marjas Mutter, die Fürstin Bolkonskaja, wird nie erwähnt und tritt nie auf – weshalb? Ist sie tot, und sieht der Fürst in Marja das Abbild seiner Frau? Oder hat sie die Familie verlassen, sodass die Tochter den Zorn des alten Bolkonski auf seine Gattin erdulden muss? Beide Versionen werden durch das völlige Verschweigen ihrer Existenz gestützt, weder die eine noch die andere kann jedoch auf irgendeine Art und Weise erhärtet werden.

Und doch, trotz der seelischen Qualen, die der alte Bolkonski seiner Tochter absichtlich bereitet, kann sich der Leser des Eindrucks nicht erwehren, dass der Alte sie in Wahrheit eben doch liebt. Es sind nur wenige Szenen, die diesen Eindruck schaffen und verstärken.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Unterricht für Frauen höherer Schichten, der über französische Konversation und Musik hinausging, unüblich. Der Fürst jedoch schätzt Verstand und Tätigkeit, und um eben „diese beiden Haupttugenden bei ihr zu entwickeln“[79] gibt er persönlich seiner Tochter Unterricht in der Mathematik, sogar mit einem eigenhändig geschrieben Geometrieheft, schließlich will er nicht, dass sie wird „wie unsere dummen jun-gen Edelfräulein“[80]. Solche Mühen, dazu die auch für ihn frustrierenden Mathematikstunden, würde er doch nie auf sich nehmen, wenn er seine Tochter wirklich verachtete und vera-bscheute.

Der Fürst ist kein Mensch liebevoller Worte oder Gesten, er ist ein Mensch der Tätigkeit, und nur in solcher äußert sich seine Zuneigung. Die wenigsten Väter hätten zu jener Zeit, in der Eheschließungen aus finanziellen oder gesellschaftlichen Gründen an der Tagesordnung waren, den Grundsatz vertreten, „daß jedes Mädchen das Recht hat, ihre Wahl selbst zu treffen“[81] und einen Freier anzunehmen oder abzulehnen. Der Erzähler macht diesen Eindruck noch expliziter, indem er die Gefühle des Fürsten folgendermaßen wiedergibt: „Obwohl es den Anschein haben konnte, als halte er recht wenig von seiner Tochter, war ein Leben ohne Prinzessin Marja für Fürst Nikolai Andrejitsch einfach undenkbar“[82].

Marja, mit der ihr eigenen Beobachtungsgabe und ihrem großen Herzen, weiß dies. Sie kennt ihren Vater gut genug, um selbst die in seiner unwirschen Art verborgenen Zeichen der Zuneigung zu bemerken. Als sie sich weigert, trotz Kriegsgefahr abzureisen und ihren Vater allein in Lyssyje Gory zurückzulassen, reagiert der alte Fürst scheinbar gleichgültig und barsch, aber schon allein die Tatsache, dass er sie nicht mit Gewalt wegschaffen lässt, ist für Marja „Beweis dafür, daß er sich im tiefsten Grunde seines Herzens über ihr Bleiben freute“[83].

Ja, die Prinzessin liebt ihren Vater und weiß, dass er sie ebenfalls liebt. Gleich einem Kind vergibt sie ihm ohne Zögern alles, was er ihr antut und wendet dabei das Wissen um seine Liebe gegen sich selbst, gibt sich alle Schuld an den schwierigen Verhältnissen. Anstatt ihm zu zürnen, weil er sie aus einem nichtigen Grund rauswirft und lautstark erklärt, sie müssten auseinander gehen[84], äußert sie im Gespräch mit Pierre, wie schwer es sei, „wenn man einen nahe stehenden Menschen liebt und fühlen muß, daß man nichts (…) für ihn tun kann, als sich um ihn zu grämen, weil man weiß, daß man es doch nicht ändern kann“[85].

Wie groß muss ein Herz sein, dass selbst für den, der es tief verletzt, noch solches Mitleid zu empfinden vermag? Wie stark muss Marjas Liebe sein, dass sie es schafft, solche Demü-tigungen zu erdulden und dennoch zu sagen, „daß er sie liebte, dessen war sie trotz allem gewiß“[86] ?

Ein Wandel in diesem schwierigen Verhältnis von Vater und Tochter ist erst zu beobachten, als sich am Fürsten Bolkonski erste Alterserscheinungen bemerkbar machen, als er greis zu werden beginnt. Prinzessin Marja hat dies längst bemerkt und bleibt wohl darum an der Seite ihres Vaters, als dieser sie auf Grund des näher rückenden Krieges wegschicken will. Sie ahnt Schlimmes und nimmt sich in dieser Situation „die Freiheit, ihm zum ersten Mal in ihrem Leben nicht zu gehorchen“[87].

Auch in anderen Aspekten wandelt sich nun das Verhältnis von Vater und Tochter, vielleicht weil Marja das Gefühl hat, ihren Vater beschützen zu müssen –wie bereits festgestellt, ist Marja immer dann am stärksten, wenn andere sie brauchen. Bisher war ihre Beziehung zum Vater von Demut und Distanz geprägt, die sie nicht zu überwinden wagte. Nachdem nun der alte Fürst den Schlaganfall erlitten hat und bettlägerig ist, bleibt sie stets an seiner Seite, „Tag und Nacht beobachtet(…) sie ihn, fast ohne zu schlafen“[88].

Trotz ihrer Liebe kann sie jedoch jene Gedanken nicht unterdrücken, die wohl jeden Menschen beim Anblick eines nahe stehenden Sterbenden überkommen, die Gedanken daran, wie es weitergehen soll. Für Marja beinhalten diese Gedanken noch mehr, sie beinhalten die Hoffnung auf „ein freies Leben ohne die ständige Furcht vor dem Vater“[89], und als ihr dieser Gedanke einmal gekommen ist, lässt er sich nicht mehr verdrängen, sondern wogt „unablässig wie eine teuflische Versuchung durch ihre Phantasie“[90]. Es ist verständlich, dass sie über sich selbst erschrickt, dass sie „Abscheu vor sich selbst“[91] empfindet, und doch ist es auch ver-ständlich, dass sie solche Gedanken hegt, nach allem, was sie hat durchmachen müssen.

Fürst Bolkonski ist durch den Schlaganfall schwach und milde geworden, und erst auf dem Sterbebett sagt er seiner Tochter, was er für sie empfindet. Obwohl es zynisch scheinen muss, dass er damit bis buchstäblich zu seinem letzten Atemzug gewartet hat, scheint es ihm doch so wichtig gewesen zu sein, dass er ihr seine Gefühle unbedingt noch mitteilen muss, mit der Ehrlichkeit, die man nur in einem schicksalhaften Moment aufbringt, in dem man nichts mehr zu verlieren hat. Nach all dem Undank, der Verachtung und der Grausamkeit, die man dem Alten unterstellen könnte, ist es eine Art von Belohnung für das Erdulden und Vergeben, wenn er zu seiner Tochter spricht: „Danke dir… meine gute Tochter…, mein Liebling…, für alles, für alles…, verzeihe mir…, danke…, verzeihe mir…, danke!“[92]

3.2. Verhältnis zu Fürst Andrej

Die Geschwister Bolkonski mögen sich in Auftreten und Aussehen stark unterscheiden und verkörpern auch verschiedene Prinzipien (Marja das Geistige, Andrej die Tätigkeit), sind sich aber im Grunde ihres Herzens doch ähnlich. Beide sind sehr tiefsinnige, vergeistigte und teilweise verschlossene Menschen, die viel, oft zu viel nachdenken, und nach hohen Idealen streben. Andrej sucht nach Ruhm, nach Selbstverwirklichung in einem aktiven Leben, Marja will sich moralisch und seelisch vervollkommnen und trägt das Ideal der Nächstenliebe in sich. Bei beiden drückt sich die rege innere Arbeit in ihrem Blick aus. Oft wird Marjas leuchtender, seelenvoller Blick beschrieben, und auch Andrejs „schöne Augen leuchte(…)n in einem ungewöhnlich klugen und gütigen Licht“[93].

Aus diesem Grund, dieser tiefgründigen Ähnlichkeit, stehen sich die Geschwister trotz allem sehr nah. Für Marja ist Andrej der „Mensch, den sie am meisten liebt(…)“[94], er ist ihr „Andrjuscha“[95], ihr Spielgefährte aus Kindertagen, den sie kennt wie niemand sonst, und nur sie sieht, wie schlecht es ihm nach dem Krieg und dem Tod seiner Frau geht: „Die anderen merken das nicht, aber ich sehe es“[96], sagt sie. Marja ist es auch, die ihm gelegentlich mora-lisch ins Gewissen redet und die kleine Fürstin verteidigt, man müsse Nachsicht mit ihren kleinen Schwächen haben[97]. Und oft nimmt Andrej ihre Ratschläge an, vielleicht auch, weil es angesichts seines erhabenen Auftretens sonst niemand wagt, konstruktive Kritik zu üben. Marja bringt Andrej sogar dazu, ein Heiligenbildchen mit in den Krieg zu nehmen, ihr zu-liebe, und trotzdem er von Religion wenig hält, ist Andrej „gerührt“[98] und nimmt es an.

Obwohl der Leser manches Mal den Eindruck hat, dass Andrej auf seine Schwester herabsehe (man beachte sein Verhalten gegenüber den Gottesleuten, die er bei ihr antrifft[99] ), so trügt die-ser Schein. Er erwidert ihre schwesterliche Liebe, nennt sie nach seiner Rückkehr aus Auster-litz zärtlich „liebste Mascha“[100] und der Brief, in dem er ihr von seiner Verlobung berichtetet, „atmet(…) zärtliche Freundschaft und volles Vertrauen zu seiner Schwester“[101].

Sie ist neben Pierre einer der wenigen Menschen, mit denen Andrej aufrichtige, offene Ge-spräche führen kann, ihr gesteht er auch sein eigenes Unglück: „wenn du wissen willst, ob ich glücklich bin: nein!“[102]. Am stärksten für die Qualität ihres Verhältnisses steht Marjas Ver-trauen zu ihrem Bruder, dem gegenüber sie auch negative Gefühle nicht verbirgt und nur ihm offen erklärt, Mademoiselle Bourienne sei ihr nicht nur entbehrlich, sondern sogar lästig[103].

Mehrfach betont sie ihre Verehrung ihm gegenüber. An Julie schreibt sie, er sei „gut, zärtlich, ein goldenes Herz, wie ich kein zweites kenne“[104]. Da dieser Brief werbend wirken soll und Marja beim Schreiben an eine mögliche Verbindung zwischen Andrej und Julie denkt, könn-te man diese Aussage kritisch betrachte, hätte die Prinzessin nicht bereits vor seiner Abreise zur Schlacht von Austerlitz ähnliche Worte gesprochen, ihn gebeten, gut und großmütig zu sein, wie er es immer gewesen sei[105].

Aber trotz oder gerade wegen dieser Liebe unter den Geschwistern ist Marja ihm gegenüber schwach wie beim Vater und hat ihm nichts entgegenzusetzen. Als der kleine Fürst, Andrejs Sohn, erkrankt ist, weiß Marja sehr genau, dass Schlaf besser für das Kind ist als jede Me-dizin, und tritt dennoch nicht entschlossen auf, als Andrej den Kleinen wecken will, um ihm Tropfen einzuflößen – trotz dieses Wissens bringt sie nichts heraus als „Wie du willst… wir-klich, ich glaube… Aber wie du willst“[106]. Nichtsdestotrotz ist Marja eine liebende Schwester, die natürlich zutiefst besorgt ist, als die Nachricht, ihr Bruder sei im Krieg verwundet worden, sie erreicht, und sofort an seine Seite eilt. Die Angst um Andrej bedrückt die Prinzessin der-art, „daß ihre Begleitung beim Anblick ihres erschöpften und verzweifelten Gesichts fest davon überzeugt war, sie würde (…) erkranken“[107].

Wie bereits erwähnt, besitzt Marja eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe, die auch nicht versagt, als sie ihren im Sterben liegenden Bruder wieder sieht, und ihr sofort die schreckliche Wahrheit zeigt. Auf Anhieb begreift sie mit Entsetzen, dass seine „Worte, der Ton seiner Stimme, besonders aber sein Blick (…) allem Irdischen entfremdet (war), und das wirkte bei einem noch lebenden Menschen grauenvoll“[108]. Sie weiß, dass sie den zweiten ihr wichtigen Menschen, ihren einzigen noch lebenden Blutsverwandten, ihren Bruder, verlieren wird, sie „wusste, er würde ihr jetzt leise und zärtliche Worte sagen wie der Vater, bevor er starb, und sie würde das nicht ertragen können“[109].

Die Liebe zu ihrem Bruder bleibt aber über den Tod hinaus bestehen und geht so tief, dass Marja, um das Gedenken an ihn zu ehren, zuerst Einwände hat, als Natascha und Pierre sich verlieben, und diesen bittet, mit einem Geständnis zu warten.

3.3. Verhältnis zu Nikolenka

Den kleinen Fürsten Nikolai, ihren „kleinen Engel“[110] liebt Marja abgöttisch, er ist in den Jah-ren vor dem Tod des Vaters eine ihrer wenigen Freuden. Da die kleine Fürstin bei der Geburt stirbt, übernimmt Marja Patenstelle an dem Kind und „ersetzt(…) dem kleinen Neffen die Mutter, so gut sie es vermochte“[111]. Statt seine Pflege der Amme zu überlassen, wie es in jenen Tagen üblich war, wacht sie nächtelang am Bett ihres Lieblings, als dieser krank ist. Sie ist es auch, die ihm Unterricht gibt.

Während sie in jungen Jahren auf dem väterlichen Gut den Jungen zum Zentrum ihrer Liebe macht, muss sie im Erwachsenenalter, nun selbst Frau und Mutter, erkennen, dass ihre Ge-fühle für den Neffen doch nicht mit denen für ihre eigenen Kinder konkurrieren können und „sich bekümmert eingestehen, daß ihrem Gefühl für Nikolenka etwas fehlte“[112]. Es bedrückt sie, ihm keine Mutter sein zu können, zumal sie „manchmal große Angst um ihn“[113] hat, wie sie ihrem Mann gegenüber eingesteht. Diese Angst und das schlechte Gewissen, das sie quält, werden noch verstärkt durch Nikolenkas Situation. Er lebt auf Lyssyje Gory bei der jungen Familie Rostow, ist aber doch nicht richtig zu Hause und „hat niemand“[114], wie Marja for-muliert, wohingegen alle anderen ihre Kinder oder engere Angehörige haben. Sie gibt sich Mühe, ihre Liebe zu gleichen Teilen an Nikolenka und ihre Kinder, ja, an alle Menschen zu verteilen, aber das ist schlicht unmöglich.

3.4. Verhältnis zu Pierre

Bevor Pierre nach Frankreich ging, scheint er mehrfach zu Gast auf Lyssyje Gory gewesen zu sein, denn Marja erinnert sich seiner als einen Freund aus Kindertagen, über den sie sagt: „Il me paraissait toujours avoir un coeur excellent“[115]. Sie ist auch die einzige, die mit der ihr ei-genen Beobachtungsgabe die negativen Seiten seines gigantischen Erbes erkennt, während alle Welt Pierre noch beneidet und umschwärmt. „Si jeunne et accablé de cette richesse, que de tentations n’aurat-il pas à subir!“[116], bedauert sie ihn.

Von den Hauptfiguren ist Pierre der einzige, der Marjas tiefe Frömmigkeit, ihre rege geistige Arbeit und ihr Streben nach moralischer Vollkommenheit teilt und nach Gott sucht, wenn auch auf anderen Wegen, denn weder Andrej noch ihr Vater, weder Natascha noch Nikolai, die ja alle engen Kontakt mit der Prinzessin haben, beschäftigen sich mit Glauben, ja, machen sich teilweise (im Falle ihrer nächsten Angehörigen) auch noch darüber lustig. Obwohl auch Pierre hinterfragt und die Geschichte der Pilgerin Pelagejuschka als Lüge deklariert, so lauscht er ihren Ausführungen doch „aufmerksam und ernsthaft“[117] – kurz, Pierre respektiert Marjas Glauben, obwohl er ihn nicht in allen Aspekten teilt.

Für Marja muss dies ein ungewöhnliches Gefühl sein, und so ist es nicht verwunderlich, das sie ihm im Bezug auf ihr Seelenleben mehr vertraut als jedem anderen, zumindest bevor sie Nataschas Freundschaft und Nikolais Liebe gewinnt. Nur ihm gegenüber gesteht sie ein, wie qualvoll das Verhalten ihres Vaters ist, nur ihm gegenüber verliert sie derart die Fassung, in Tränen auszubrechen und auszurufen: „Ach, mein Gott, Graf, in manchen Augenblicken wäre ich imstande, den ersten besten zu heiraten“[118], wenn sie nur den Grausamkeiten des Fürsten entkommen könnte. Sie glaubt, dass Pierre sie verstehen und weder verurteilen noch aus-lachen würde, möchte ihm alles erzählen, das „Herz würde mir leichter werden, er würde mir sicher raten können“[119].

Auch er scheint ihre Gesellschaft zu schätzen, denn er sucht sie direkt nach seiner Befreiung aus der Gefangenschaft auf und lässt sich von ihr aus Andrejs letzter Zeit erzählen. Durch seine Fragen bringt er Marja dazu, „allmählich auf Einzelheiten ein(zu)gehen, die sie für sich allein niemals in ihre Erinnerung zurückgerufen hätte“[120], nur ihm berichtet sie von den tief greifenden Erkenntnissen, die sie an Andrejs Sterbelager gewonnen hat. Sie sieht in seinen Er-zählungen von der Kriegsgefangenschaft „seine große Herzensgüte“[121], denn wie Pierre sie ver-steht, versteht sie auch ihn. So erkennt sie sofort, welche Gefühle er für Natascha hegt, und sieht als erste, trotz des scheinbar ungleichen Paares, „die Möglichkeit einer Liebe zwischen Natascha und Pierre, die beide glücklich machen würde“[122].

Prinzessin Marja ist eine Figur, die die Leben der mit ihr agierenden Personen beeinflusst. Bei Pierre wird dies besonders deutlich, denn ohne seine Bekanntschaft mit Marja wäre es wohl nie, oder wenn, dann erst viel später, zu seiner Ehe mit Natascha gekommen.

3.5. Verhältnis zu Natascha

Prinzessin Marjas Verhältnis zu Natascha gehört zu den zwiespältigsten in Tolstojs Romanepos. Will man es beschreiben, muss unterschieden werden zwischen dem Verhältnis der beiden Frauen vor dem Tod des Fürsten Bolkonski und danach.

In Beziehung zu Natascha tritt Marja, als Gerüchte über eine Verlobung mit ihrem Bruder in der höheren Gesellschaft die Runde machen und Julia Karagina ihr davon berichtet. In ihrem Brief an die Freundin bezieht Marja deutlich Position: „Ich halte es nicht für möglich, daß er sie zur Frau wählen könnte, und muß offen sagen, daß ich es auch nicht wünschen würde“[123]. Da sie Heiratspläne für ihren Bruder und Julie hegt, passt ihr Natascha natürlich überhaupt nicht, zumal sie recht wenig über das Mädchen weiß, denn selbst Pierre antwortet auf ihre Frage nur, Natascha sei nicht wirklich klug, aber reizend[124].

Trotz ihrer bereits von vorneherein spürbaren Abneigung gegen Natascha ist Prinzessin Marja doch fair genug, ihr als der Frau, die ihr Bruder liebt, eine Chance zu geben, und schmiedet Pläne, „wie sie sich gleich nach der Ankunft der Rostows ihrer angehenden Schwägerin nähern und sich Mühe geben wollte, den alten Fürsten an Natascha zu gewöhnen“[125].

Dennoch sind die Unterschiede in Charakter, Auftreten und Bildung der beiden jungen Frauen so groß, dass eine Freundschaft fast unmöglich ist – Natascha ist lebhaft, leichtlebig, schön, beliebt und erhält nur Gesangs- und Französisch-Unterricht, während Prinzessin Marja still, scheu, hässlich, doch dafür belesen und durch ihren Vater gebildet ist.

So ist es nur verständlich, dass Marja die Jüngere „unwillkürlich um ihre Schönheit, ihre Jugend und ihr Glück beneidet(…)“[126], ist Natascha doch alles, was Marja nie war und nicht ist. Weiterhin ist die Prinzessin nach Aussage des Erzählers „in ihrer großen Liebe zu ihrem Bru-der nicht frei von Eifersucht“[127], sie sieht also in Natascha sofort die Konkurrenz im Vertrauen und der Zuneigung ihres Bruders. Das Verhältnis zur kleinen Fürstin hingegen war stets von Anhänglichkeit geprägt, denn schließlich war die Kälte, das distanzierte Verhalten des Fürsten Andrej gegen seine Frau offenbar. Es mag sein, dass Marjas Entschuldigungsbrief nach jenem unglücklichen Zusammentreffen weniger die Versöhnung mit Natascha als Person zum Ziel hatte, als vielmehr die Versöhnung mit der Verlobten ihres verehrten Bruders.

Natascha hingegen ist bereits durch den großen Namen Bolkonski eingeschüchtert, und das unhöfliche Verhalten des alten Fürsten trägt auch nicht dazu bei, ihr Wohlbefinden im Hause ihres Verlobten zu steigern, zumal Marja, schüchtern wie sie ist und von den eben genannten Gefühlen geplagt, ihr „hässlich, heuchlerisch und kalt“[128] erscheint.

Man kann sagen, dass beide an dem missglückten ersten Zusammentreffen und dem daraus resultierenden schlechten Verhältnis sowohl eine Teilschuld tragen, als auch unschuldig sind. Natascha ist schließlich zwar bezaubernd, versteht sich aber nicht auf die Kunst des höflichen Smalltalks. Kein Wunder also, dass sie ihre Unsicherheit hinter Arroganz und Kälte versteckt, und kein Wunder, dass sie Marja dadurch oberflächlich und unhöflich erscheint und sie eben-so reagieren lässt. Dazu kommt noch die störende Anwesenheit Mademoiselle Bouriennes, die ihnen ein klärendes Gespräch unmöglich macht, und je länger sie gezwungen sind, in dieser für beide unbehaglichen Lage zu verharren, „ohne auszusprechen, was sie auf dem Herzen hatten, um so übel wollender wurden die Gedanken, die sie beide gegeneinander hegten“[129].

Alles jedoch ändert sich, als Prinzessin Marja voller Angst und Sorge ans Krankenlager ihres im Krieg verwundeten Bruders eilt und dort wieder auf Natascha trifft. Sie erkennt auf den ersten Blick, welche Wandlung in Natascha vorgegangen ist, erkennt auf ihrem Gesicht den „Ausdruck der Liebe, der unbegrenzten Liebe zu ihm, zu ihr, zu allem, was dem geliebten Menschen nahestand, (…) der Ausdruck des Leidens für andere und des glühenden Ver-langens, sich selbst ganz aufzuopfern, um ihnen zu helfen“[130], erkennt, dass ihr in Natascha eine Leidensgefährtin gegeben wurde, die dasselbe Leid und die selbe Angst um Andrej teilt. Was bisher zwischen den jungen Frauen vorgefallen war, ist nun irrelevant, Marja läuft zu Natascha und weint an ihrer Schulter, denn sie spürt, dass Natascha sie versteht, ihr ähnlich geworden ist in diesem Gefühl der Liebe, und mitnichten mehr das leichtfertige, sorglose, oberflächliche Kind, dass sie bei ihrer letzten Begegnung war.

Es ist kaum zu glauben, wie grundlegend sich die Beziehung zwischen Natascha und Prinzessin Marja geändert hat, von welcher Anhänglichkeit und tiefen Zuneigung sie jetzt ge-prägt ist. Das gemeinsam Durchlebte an Andrejs Sterbebett hat sie zusammengeschweißt, und nach seinem Tod finden sie nur ineinander Trost, denn nur „wenn sie zu zweit waren, gab es nichts verletzendes, nichts, das weh tat“[131]. Aber geteilter Schmerz bildet nicht zwangsläufig eine solch tiefe Freundschaft, wie sie zwischen Natascha und Marja entsteht, die sich ständig küssen, zärtliche Worte wechseln und so viel Zeit miteinander verbringen. Dazu braucht es mehr, eine gewisse Ähnlichkeit, die schon bei ihrer ersten Begegnung vorhanden gewesen sein mag, aber damals nicht zum Tragen kam.

Vielleicht sind es aber auch gerade die gravierenden Unterschiede in den Lebensauf-fassungen, die sie zueinander hinziehen. Denn gerade deswegen lernen sie sehr viel von-einander, erhalten Einblicke in ihnen bis dahin unbekannte Welten, oder, wie der Erzähler sagt: „Sie (Natascha) dachte nicht daran, nun gleichfalls ein Leben in Demut und Selbstver-leugnung zu führen, (…) aber sie lernte jetzt auch diese ihr bisher unverständlichen Tugenden verstehen und lieben. Und für Prinzessin Marja erschloß sich (…) ebenfalls eine Seite des Le-bens, der sie bisher verständnislos gegenübergestanden hatte: der Glaube an das Leben und die Freude am Leben“.[132] Vielleicht sind es diese Eindrücke, die es ermöglichen, dass Natascha eine Zuneigung zu Pierres regem geistigem Leben entwickelt, und Marja sich zu Nikolai, wie Natascha durch und durch Rostow, hingezogen fühlt.

Diese Freundschaft begleitet die beiden Frauen weiterhin durch ihr Leben und bleibt bestehen, auch als sie verheiratet sind, obwohl sie in den späteren Jahren weit weniger leidenschaftlich ist, als zu Beginn.

3.6. Verhältnis zu Nikolai

Bereits im Zuge von Marjas erstem Auftreten im Romanepos wird eine Verbindung zwischen ihr und Nikolai Rostow hergestellt, als Julie Karagina Marja von ihrer Zuneigung zu ihm be-richtet. Dies geschieht so beiläufig, man könnte fast vergessen, dass Marja jemals etwas von dem jungen Mann gehört hat, und ich denke, dass der Autor dies beabsichtigt hat.

Dennoch muss man bedenken, was Marja bereits über Nikolai weiß, als sie sich begegnen und sie seinen Namen erfährt – nämlich nur positives! Julie schwärmt in ihrem Brief von der „noblesse“[133], die er besitze, „Il a surtout taut de franchise et de coeur“[134].

Bei ihrer ersten persönlichen Begegnung 1812 muss Nikolai Marja als der Retter in der Not erscheinen, da die Bauern sich gegen sie auflehnen und ihr trotz des nahenden Krieges die Abreise aus Bogutscharowo verweigern. Sein erster Eindruck von ihr ist unleugbar positiv, es verschlägt ihm schier die Sprache, „was für eine Sanftmut, was für ein Adel in ihren Zügen“[135] zu lesen ist, er sieht vom ersten Moment an nur die unbestreitbare innere Schönheit der Prin-zessin.

Ein Schlüsselmoment ist dabei meiner Meinung nach seine Begrüßung Marjas: er „ver-beugt(…) sich mit einer solchen Ehrfurcht, wie man sie bei Damen kaiserlichen Blutes an den Tag legt“.[136] Wie bereits festgestellt, ist die Familie Bolkonski von kaiserlichem Geblüt, aber Marja hat nie dem Bild einer Tochter von höchstem Adel entsprochen, wurde auch nie als sol-che behandelt, nicht von den Personen in ihrer Umgebung und am allerwenigsten von ihrem Vater – ihre Abstammung mag kaiserlich sein, ihr Auftreten, ihr Aussehen waren es nie. Was muss es nun für sie bedeuten, dass Nikolai diesen Adel trotzdem an ihr erkennt und sie dem-entsprechend behandelt? Was muss es bedeuten, dass er ihr als erster Mann aufrichtig ehr-furchtsvoll gegenübertritt? Was muss es bedeuten, dass dieser attraktive junge Mann, über den sie bereits viel Gutes gehört hat, ihr „durch die Ehrerbietigkeit seines Tones zeig(t), dass er es zwar für ein Glück (hält), ihre Bekanntschaft zu machen, aber den Umstand, daß er sie zufällig in dieser unglücklichen Lage getroffen hatte, nicht zu einer weiteren Annäherung nutzen“[137] will?

Ist es denn ein Wunder, dass sofort Gedanken und Gefühle der Liebe in dieser armen, leidge-prüften jungen Frau auftauchen, dass seine „guten, ehrlichen Augen, in denen Tränen gestan-den, als sie (…) von ihrem Verlust gesprochen hatte“[138] es schaffen, ihr den Lebenswillen zu-rückzubringen? Und dass dies der Fall ist, daran besteht für mich kein Zweifel.

Vor dieser schicksalhaften Begegnung mangelt es ihr an dem Durchsetzungsvermögen und der Kraft, den Bauern gegenüber als die Herrin aufzutreten, als die allein diese sie respek-tieren würden. Nachdem Nikolai ihr jedoch die Abreise ermöglicht hat, überrascht sie ihre Be-gleiter mit ihrem Tatendrang und ihrer kraftvollen Entschlossenheit, mit der sie alle Schwie-rigkeiten auf der Reise überwindet. Selbst Mademoiselle Bourienne bemerkt diese Wandlung und sieht, dass Prinzessin Marja oft lächelnd aus dem Fenster blickt.

In ihrem Glauben an Vorsehung und göttliche Fügung erscheint es der Prinzessin wie Schick-sal, dass ausgerechnet Nikolai nach Bogutscharowo kommt, ausgerechnet in dem Moment, als sie Hilfe benötigt, und dass ausgerechnet seine Schwester die Verlobung mit Fürst Andrej löste.

Und dennoch bleibt sie bei ihrem alten Verhaltensmuster, sich jegliches Glück zu versagen und sich sofort in eine angebliche Hoffnungslosigkeit zu flüchten, um den Komplikationen einer wirklichen romantischen Beziehung und der „Sünde“, etwas außer Nächstenliebe zu empfinden, aus dem Weg zu gehen. „So beschämend sie es auch empfand“, gibt der Erzähler ihre Gedanken wider, „sich eingestehen zu müssen, daß sie diesem Mann eine Liebe entge-genbrachte, die er vielleicht nie erwidern würde, war ihr doch der Gedanke ein Trost, daß nie jemand etwas davon erfahren würde und daß sie ja keine Schuld damit auf sich lade, wenn sie bis an ihr Lebensende, ohne je davon zu sprechen, den Menschen liebte, den sie als ersten und zugleich letzten Mann liebgewonnen hatte“[139]. Deutlicher kann es kaum ausgedrückt werden, dass Prinzessin Marja erneut vor dem wahren Leben flüchtet, aus eben jenen Gründen, die ich bereits in den Kapiteln „Liebe und Nächstenliebe“ und „Selbstlosigkeit und Selbstver-achtung“ erläutert habe.

Wie schon so oft, findet sie Frieden in ihrer Selbstverleugnung, redet sich ein, im Verzicht glücklich zu sein – aus Selbstschutz, denn unerfüllte Wünsche und Sehnsüchte sind wesent-lich einfacher zu ertragen, wenn man sie sich bewusst verweigert und sich einredet, aus eige-nem Willen zu leiden. So kann Marja nach ihrer Begegnung mit Nikolai „in tiefster Seele doch im Frieden mit sich selbst (sein), und dieses Gefühl rührt(…) daher, daß sie ihre (…) Hoffnung auf ein persönliches Glück bewusst zum Schweigen gebracht hat(…)“[140].

Das funktioniert aber nur so lange, wie sie Nikolai nicht sehen muss – als sie im Herbst 1812 nach Woronesh kommt, wo auch er ist, stürzt sie das in tiefe Verwirrung. Sie befürchtet, sich bei einer Begegnung durch ihre Verlegenheit zu verraten und weiß nicht, mit welchem Ver-halten sie ihm gegenübertreten soll.

Als sie sich jedoch von Angesicht zu Angesicht sehen, sind all diese Fragen nicht mehr wich-tig, denn unterbewusst handelt Marja genau richtig, „richtet(…) sich mit vollkommener Wür-de und Grazie auf, reicht(…) ihm ihre feine und zarte Hand“[141]. Der Leser kann nur staunen, dass dies dieselbe unschöne, plumpe Marja Bolkonskaja ist, die schweren Schrittes ging und wegen ihrer verunglückten Toilette von ihrem Vater vor den Gästen gedemütigt wurde.

Nikolai Rostow ist es, der sie so verwandelt, der sie aufblühen lässt. Sie wird für ihn schön, denn nur er erkennt auf Anhieb ihre innere Überlegenheit, erkennt, dass sie „etwas voll-kommen anderes, etwas Besseres war“[142]. Woher Nikolai auf einmal diese scharfe Beobach-tungsgabe nimmt, bleibt ein Rätsel, aber es ist auch zweirangig: unter seinem Blick wird Prin-zessin Marjas innere Schönheit nach außen projeziert, all „ihre innere, immer über sich selbst hinausstrebende Arbeit, ihr Leiden, ihr Ringen nach dem Guten (…) – all das leuchtete jetzt in diesen glänzenden Augen“[143].

Da ist auch nicht die übliche Verlegenheit gegenüber dem anderen, die frisch Verliebte oft kennzeichnet, im Gegenteil: Nikolai fühlt sich völlig frei, wenn er bei ihr ist, handelt spontan, und ihr geht es ähnlich, denn sie liebt zum ersten und zugleich letzten Mal und ist glücklich, denn sie weiß, ihre Gefühle werden erwidert[144].

Vom ersten Augenblick an hat ihr Verhältnis etwas ganz besonderes, nicht zu erklärendes, aber der Leser erhält den Eindruck: diese beiden sind einfach für einander bestimmt, dies ist Schicksal.

Dennoch werden, weil Marja in Trauer ist, keine weiteren Schritte unternommen, ihre Wege trennen sich, und als sie sich in Moskau nach dem Krieg wieder sehen, ist nichts mehr wie vorher. Nikolai ist durch die ererbte Verschuldung seiner Familie und die schwere Verant-wortung für seine Mutter, die auf ihm lastet, bitter und einzelgängerisch geworden, und diese Gefühle zeigt er auch gegen Prinzessin Marja, als sie unter dem Vorwand, die alte Gräfin se-hen zu wollen, im Hause Rostow vorspricht.

In ihrer nicht im Geringsten abgeschwächten Liebe zu ihm hatte sie auf ein freudiges Will-kommen gehofft – wie hart muss da der Schlag sein, wenn ihr Geliebter ihr mit „Kälte, Starr-heit und Stolz“ gegenübertritt und sie so rasch wie möglich hinauskomplimentiert? Der Leser kann sein Verhalten schon nachvollziehen – er ist jetzt arm, sie die reiche Erbin, und jede weitere Annäherung könnte als Streben nach finanziellem Vorteil gedeutet werden. Marja er-kennt diese Zusammenhänge wohl, aber für sie ist seine Kälte unerträglich: erneut drohen alle ihre Hoffnung, sich zu zerschlagen. Er hatte ihr zum ersten Mal den Glauben an die Zukunft gegeben, und er zerstört ihn wieder, auch wenn es ihm selbst wehtut.

Ihr Leben lang hat Marja ihr Leiden und ihren Schmerz vehement geleugnet, sich nie gewehrt, nie um ihr Glück gekämpft, aber sie erkennt offenbar, dass sie nach Nikolai nie wieder lieben oder glücklich werden wird. Ob sie bewusst den Entschluss fasst, das Glück nicht einfach wieder entschlüpfen zu lassen, oder ob sie nur aus einer unterbewussten Eingebung so han-delt, ist nicht klar. Klar ist jedoch, dass sie, als Nikolai nach seinem Höflichkeitsbesuch bei ihr Anstalten macht, zu gehen und damit ihre Beziehung für immer abzubrechen, zum ersten Mal in ihrem Leben zugibt, zu leiden: „‚Aus irgendeinem Grunde wollen Sie mir Ihre Freund-schaft von früher wieder entziehen. Und das tut mir weh.’ Tränen standen ihr in den Augen. ‚Ich habe so wenig Glück im Leben gehabt, daß mich jeder Verlust hart treffen muß…“[145]. Zum allerersten Mal gesteht sie ein, dass etwas sie verletzt, und erst dies bricht das Eis zwischen den beiden Liebenden: sie blicken sich an, „und was so fern und unmöglich gewesen, das war jetzt plötzlich nah, möglich und notwendig“[146]. Wenn man bis jetzt nicht erkannt hätte, wie tief und außergewöhnlich die Beziehung zwischen Prinzessin Marja und Graf Nikolai ist, so sieht man es spätestens jetzt, denn nur das Glück an seiner Seite ist ihr soviel wert, dass sie aktiv versucht, es zu halten.

Im Herbst 1814 heiraten die Beiden, und während ihrer Ehe werden die Unterschiede zwi-schen ihnen offenbar. Nikolai geht völlig in seiner Arbeit auf, aber Marja hat keinerlei „Sinn für die Freuden und Sorgen, die ihm aus dieser ihr fremden und weit abliegenden Welt er-wuchsen“[147], denn ihre Arbeit ist nach innen gerichtet, ist geistiger Natur, während Nikolai ak-tiv tätig sein will. Er hingegen bewundert zwar „die ihm selbst wenig zugängliche Welt geho-bener Sittlichkeit (…), in der seine Frau lebte“[148], versteht sie aber nicht wirklich.

Dennoch führen die beiden eine äußerst harmonische Ehe, auch wenn sie ab und zu „plötzlich ein Gefühl der Entfremdung und Feindschaft“[149] überkommen kann. Denn so groß die Unter-schiede zwischen ihnen sein mögen, stehen sich die Eheleute nicht kontrastiv, sondern einan-der ergänzend gegenüber. Marja vertritt die geistige Welt, während Nikolai der irdischen zu-getan ist, und sie brauchen einander, um komplett zu sein, gerade weil sie für unterschiedliche Prin-zipien stehen. Er fühlt eine „beständige, zärtliche und stolze Liebe zur Gräfin Marja“[150] und entdeckt „täglich (…) neue Schätze des Herzens an ihr“[151], sie empfindet „eine demütige, zärtliche Liebe“[152] zu ihrem Gatten und liebt seine „starke, opferbereite Seele“[153], die sie bereits in Moskau erwähnt.

Nikolais Hochachtung für Marja ermöglicht, dass sie positiv auf ihn einwirkt, denn er denkt über ihre Ansichten nach. Als er einen seiner Bauern wegen dessen Verhalten geschlagen hat, bricht sie in Tränen aus. Dies lässt ihn nachdenken: „Sind das so Gefühlsduseleien, Weiber-kram, oder hat sie doch recht?“[154]. Wenn er auch sonst nicht zulässt, dass sie sich in seine Ge-schäfte einmischt oder Partei für seine Bauern ergreift, so bringt sie ihn zum Nachdenken über seine Handlungen und dazu, sich bessern zu wollen.

Das Verhältnis der beiden ist derart innig, dass Marja, wie früher bei ihrem Vater, an Klei-nigkeiten im Verhalten ihres Gatten dessen Laune erraten kann: allein die Art, wie er die Ser-viette vom Tisch nimmt[155], vermag ihr Auskunft über seine Stimmung zu geben. Diese Kennt-nis bringt sie jedoch oft dazu, jede seiner negativen Empfindungen auf sich selbst zu bezieh-en, wie ich es ausführlich im Kapitel „Selbstlosigkeit und Selbstverachtung“ dargelegt habe.

Der Gedanke, ihr Mann könnte aus irgendeinem Grund wütend auf sie sein, ist Gräfin Marja unerträglich, sie fühlt sich „unglücklich und verlassen (…), als könntest du mich gar nicht lie-ben, weil ich doch so häßlich bin... schon immer…“[156]. Eine Erklärung dafür könnte darin lie-gen, dass Nikolai in vielem ihrem verstorbenen Vater ähnlich ist. Wie Fürst Bolkonski ist auch Graf Rostow fleißig und aktiv, lebt abgeschieden und hat eine Abneigung gegen Gesell-schaften, die sich vor allem am Vorabend seines Namenstags äußert. So mag sich Marja durch seine Kälte und seinen Zorn an das Zusammenleben mit ihrem Vater und die Jahre der Demü-tigung erinnert fühlen, denn trotz ihres neuen Lebens spürt die junge Gräfin noch immer die Spuren der Vergangenheit.

4. Die Wandlung

Wie bereits zu Anfang erwähnt, geht mit Prinzessin Marja im Verlauf des Romanepos eine ungeheure Verwandlung vor sich.

Ausgangspunkt dieser tief greifenden Veränderung in ihrem Wesen ist der Tod ihres Vaters, als sie zum ersten Mal gezwungen ist, sich der „realen Welt“ zu stellen und sich selbst ein Le-ben zu schaffen. Natürlich ist sie zuerst stark verunsichert, denn diese neue, ihr noch unbe-kannte „Welt des Erdenlebens, der Freiheit und Tätigkeit (…) (ist) im Gegensatz stehend zu jener Welt des Geistigen, in der sie bis jetzt eingeschlossen war“[157]. Sich dieser Heraus-forderung zu stellen, fällt ihr doppelt schwer, da sie immer noch in tiefer Trauer um ihren Vater ist und Träume und Pläne für die Zukunft, so nötig sie auch sein mögen, als Belei-digung seines Andenkens empfindet und sich selbst dafür verachtet.

Anfangs schafft sie es nicht, die Kraft für diesen Neubeginn aus sich selbst zu schöpfen, denn Prinzessin Marja kann zwar stets für andere stark sein, aber nur schwer für sich selbst. Als Mademoiselle Bourienne ihr nahe legt, einen französischen General um Schutz zu bitten, er-wacht zum ersten Mal in Marja das Bewusstsein ihres Erbes und ihrer Abstammung, und der Gedanke, sie als Tochter und Schwester der Fürsten Bolkonski solle sich unter die Protektion der Franzosen begeben, erfüllt sie mit einem „Gefühl des Zorns und Stolzes (…), das ihr bis-her fremd gewesen war“[158]. Obwohl ihr eigenes Schicksal ihr „ganz einerlei“[159] ist, glaubt sie, das Erbe ihres Vaters würdig vertreten zu müssen, und nun erwacht in ihr der Wille zu leben „mit neuer, ihr fremder Kraft und nahm(…) von ihr Besitz“[160] – wieder braucht sie das Gefühl, für andere zu kämpfen, um stark zu sein.

Dennoch ist dies die Geburtsstunde der „neuen“ Marja. Aus Unsicherheit heraus und weil sie lediglich „eine dunkle Vorstellung“[161] von der Verwaltung und den Abläufen des väterlichen Gutes hat, scheitert sie in ihrem Bemühen, den Bauern zu helfen, wird falsch verstanden und schließlich nicht ernst genommen.

Diese mangelnde Erfahrung hält sie jedoch nicht davon ab, zu lernen und selbstständig zu werden. Nachdem Nikolai ihr die Abreise aus Lyssyje Gory ermöglicht hat, eilt sie an Andrejs Krankenbett und legt während dieser Reise zur Überraschung ihrer Begleiter eine bisher un-gekannte Energie und Tatkraft an den Tag, lässt sich von keinerlei Schwierigkeiten ab-schrecken[162] – alles, um zu ihrem Bruder zu gelangen und ihm seinen Sohn zu bringen.

Nach Fürst Andrejs Tod droht Marja gemeinsam mit Natascha in ihrem Schmerz zu ver-sinken, wird aber „infolge ihrer Stellung als alleinige selbstständige Herrin ihres Geschicks und als Vormund und Erzieherin ihres Neffen vom Leben selbst aus jener Welt der Trauer ge-rissen“[163]. Es sind die äußeren Notwendigkeiten, welche die Prinzessin zwingen, innerhalb we-niger Wochen selbstständig und aktiv zu werden.

Auch wird sie offener und selbstbewusster – als Mutter nimmt sie die Erziehung ihrer Kinder selbsttätig in die Hand, führt Tagebuch über Erziehungsgrundsätze und ist augenscheinlich recht erfolgreich dabei, denn Nikolai billigt die Einfälle seiner Frau nicht nur, er ist geradezu „entzückt“[164] davon.

Es scheint also, dass sich die Figur der Prinzessin Marja Bolkonskaja von Grund auf geändert hat. Aber ist das wirklich der Fall? Hat sie ihr vergangenes Ich wirklich hinter sich gelassen, wenn der Zorn ihres Mannes sie sofort daran denken lässt, er könne sie nicht lieben, „weil ich doch so häßlich bin… schon immer“[165] ?

Den deutlichsten Beweis dafür, dass sie im Grunde ihres Herzens dieselbe geblieben ist, fin-det man beim Blick auf die Hauptzüge ihres Charakters. Am Anfang hatte ich diese in drei Kapiteln behandelt, und stets lag unter allem, unter ihrer Frömmigkeit, ihrer Selbstlosigkeit und Liebe, eine Grundströmung – das Streben nach innerer Vervollkommnung, nach sittlicher und moralischer Perfektion. Es ist wahr, Marja wird in den Jahren ihrer Ehe kaum beim Beten gezeigt, sie ist völlig in Beschlag genommen von ihrer Familie und glücklich damit: „Nie, nie hätte ich geglaubt, daß ich so glücklich sein könnte“[166]. Der Erzähler beschreibt, was sie tut, aber nur selten, was sie denkt, von der regen geistigen Arbeit ihrer frühen Jahre ist wenig zu spüren, und für das irdische Glück, nach dem sie sich so lange Jahre sehnte, hat sie das über-irdische Glück, das Leben einer Heiligen, nachdem sie strebt, aufgegeben. Nirgendwo zeigt sich das besser als in folgenden Worten: „Ihr Gesicht strahlte von einem seligen Lächeln, aber gleichzeitig seufzte sie auf, und aus ihrem tiefen Blick sprach ein stiller Kummer, als gebe es außer dem Glück, das sie empfand, noch ein anderes, in diesem Leben unerreichbares Glück, an das sie in diesem Augenblick unwillkürlich denken musste“[167].

Hätte sich Marja Bedürfnislosigkeit und Verzicht zum Zwecke eines gottgefälligen Lebens nur eingeredet, um ihr Leid zu ertragen, so würde sie keinen Gedanken mehr daran ver-schwenden, nun, da alle ihre Träume in Erfüllung gegangen sind. Dennoch denkt sie an ihr Streben nach Heiligkeit und empfindet leise Trauer darüber, sie nicht erreichen zu können.

Wem dies nicht Beweis genug dafür ist, dass sich an der stärksten Triebfeder ihrer Seele nichts geändert hat, der blicke auf ihren Versuch, „das Unmögliche zu vollbringen, das heißt, in diesem irdischen Leben ihren Mann und ihre Kinder und Nikolenka und alle ihre Nächsten so zu lieben, wie Christus die Menschen liebte“[168].

Marja Bolkonskaja, später Rostowa, ist ein Mensch, der nie zur Ruhe kommt. Sie strebt und ringt um Perfektion, darum, sich stetig selbst zu verbessern, und dieser Drang ihres Herzens bleibt erhalten von Jugendjahren bis zur Zeit ihrer Ehe. Allen oberflächlichen Veränderungen zum Trotz bleibt Marja – immer Marja.

5. Quellenangabe

Tolstoi, Lev: Krieg und Frieden. Paul List Verlag, Leipzig 1977, Bände 1-4

[...]


[1] Lew Tolstoi: Krieg und Frieden. Paul List Verlag Leipzig 1977, Band 1, Seite 137

[2] Ebd. 1/142 „so sanften, so ruhigen und so tief eindringenden Blick"

[3] Ebd. 1/138

[4] Ebd. 1/140

[5] Ebd. 1/140.

[6] Ebd. 1/140

[7] Ebd. 1/140

[8] Ebd. 1/140

[9] Ebd. 1/140

[10] Ebd. 1/147„Sie hätten nur hören sollen, wie sie alle weinten, Mütter, die Frauen, die Kinder“

[11] Ebd. 1/145 „wenn ich es überhaupt wagte, mich zu beklagen“

[12] Ebd. 1/145„wenn wir nicht den Trost der Religion hätten, wäre unser Leben wohl sehr traurig“

[13] Ebd. 1/145 „als sei die christliche Liebe, die Liebe zum Nächsten (…) verdienstvoller, süßer und schöner“

[14] Ebd. 1/145

[15] Ebd. 1/146„göttliche Einrichtung, der wir uns zu fügen haben“

[16] u.a. Ebd. 1/141

[17] Ebd. 1/141

[18] Ebd. 1/361

[19] Ebd. 1/353

[20] Ebd. 1/142

[21] Ebd. 1/145

[22] Ebd. 1/142

[23] Ebd. 2/331

[24] Ebd. 2/330

[25] Ebd. 2/330

[26] Ebd. 2/339

[27] Ebd. 2/339

[28] Ebd. 1/169

[29] Ebd. 2/172

[30] Ebd. 2/330

[31] Ebd. 1/357

[32] Ebd. 2/332

[33] Ebd. 4/406

[34] Ebd. 1/361

[35] Ebd. 1/376

[36] Ebd. 1/163

[37] Ebd. 1/163

[38] Ebd. 2/438

[39] Ebd. 2/331

[40] Ebd. 1/375

[41] Ebd. 1/375

[42] Ebd. 2/50

[43] Ebd. 2/144

[44] Ebd. 2/438

[45] Ebd. 2/339

[46] Ebd. 2/438

[47] Ebd. 1/363

[48] Ebd. 4/30

[49] Ebd. 4/364

[50] Ebd. 4/365

[51] Ebd. 4/365

[52] Ebd. 1/356

[53] Ebd. 1/356

[54] Ebd. 1/356

[55] Ebd. 2/337

[56] Ebd. 1/146„eine göttliche Einrichtung, der wir uns zu fügen haben“

[57] Ebd., 1/146 „Pflichten einer Gattin und Mutter“

[58] Ebd. 1/356

[59] Ebd. 1/356

[60] Ebd. 1/357

[61] Ebd. 1/353

[62] Ebd. 1/365

[63] Ebd. 1/368

[64] Ebd. 1/162

[65] Ebd. 1/374

[66] Ebd. 1/62

[67] Ebd. 1/375

[68] Ebd. 4/405

[69] Ebd. 4/361

[70] Ebd. 1/156

[71] Ebd. 1/363

[72] Ebd. 2/330

[73] Ebd. 1/141

[74] Ebd. 2/440

[75] Ebd. 2/330

[76] Ebd. 2/336

[77] Ebd. 1/348

[78] Ebd. 2/453

[79] Ebd. 1/137

[80] Ebd. 1/139

[81] Ebd. 1/372

[82] Ebd. 1/361

[83] Ebd. 3/192

[84] Ebd. 2/440

[85] Ebd. 2/448

[86] Ebd. 2/330

[87] Ebd. 3/192

[88] Ebd. 3/194

[89] Ebd. 3/195

[90] Ebd. 3/195

[91] Ebd. 3/197

[92] Ebd. 3/199

[93] Ebd. 1/166

[94] Ebd. 2/49

[95] Ebd. 1/161

[96] Ebd. 2/174

[97] Ebd. 1/162

[98] Ebd. 1/165

[99] Ebd. 2/172

[100] Ebd. 2/58

[101] Ebd. 2/335

[102] Ebd. 1/166

[103] Ebd. 1/162

[104] Ebd. 2/334

[105] Ebd. 1/165

[106] Ebd. 2/135

[107] Ebd. 4/72

[108] Ebd. 4/79

[109] Ebd. 4/78

[110] Ebd. 2/133

[111] Ebd. 2/133

[112] Ebd. 4/405

[113] Ebd. 4/404

[114] Ebd. 4/403

[115] Ebd. 1/145„Er schien mir immer ein sehr gutes Herz zu haben“

[116] Ebd. 1/145„So jung und mit solchem Reichtum belastet, welchen Versuchungen wird er da zu widerstehen haben.“

[117] Ebd. 2/174

[118] Ebd. 2/447

[119] Ebd. 2/447

[120] Ebd. 4/302

[121] Ebd. 4/307

[122] Ebd. 4/309

[123] Ebd. 2/334

[124] Ebd. 2/449

[125] Ebd. 2/449

[126] Ebd. 2/462

[127] Ebd. 2/462

[128] Ebd. 2/453

[129] Ebd. 2/464

[130] Ebd. 4/76

[131] Ebd. 4/237

[132] Ebd. 4/427f

[133] Ebd. 1/145„edle Gesinnung“

[134] Ebd. 1/145 „Er hat so viel Freimut und Herz.“

[135] Ebd. 3/228

[136] Ebd. 3/229

[137] Ebd. 3/229

[138] Ebd. 3/235

[139] Ebd. 3/235

[140] Ebd. 4/29

[141] Ebd. 4/30

[142] Ebd. 4/31

[143] Ebd. 4/31

[144] Ebd. 4/72

[145] Ebd. 4/353

[146] Ebd. 4/353

[147] Ebd. 4/356

[148] Ebd. 4/401

[149] Ebd. 4/365

[150] Ebd. 4/401

[151] Ebd. 4/361

[152] Ebd. 4/405

[153] Ebd. 4/353

[154] Ebd. 4/359

[155] Ebd. 4/364

[156] Ebd. 4/368

[157] Ebd. 3/195

[158] Ebd. 3/214

[159] Ebd. 3/214

[160] Ebd. 3/214

[161] Ebd. 3/216

[162] Ebd. 4/71

[163] Ebd. 4/238

[164] Ebd. 4/401

[165] Ebd. 4/368

[166] Ebd. 4/370

[167] Ebd. 4/370

[168] Ebd. 4/405

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Die Figur der Marja Bolkonskaja aus Tolstojs Roman "Vojna i mir"
Hochschule
Universität Leipzig
Veranstaltung
Hauptseminar zu Lev Tolstojs Romanepos "Vojna i Mir" (Krieg und Frieden)
Note
Unbenotet
Autor
Jahr
2006
Seiten
36
Katalognummer
V110245
ISBN (eBook)
9783640084203
Dateigröße
492 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Hausarbeit zu einem Referat über die Figur der Marja Bolkonskaja mit Schwerpunkt auf ihrer Wandlung im Laufe der Handlung. Das Verhältnis Marjas zu den wesentliche Personen des Romanepos (u.a. Nikolaj Rostow, Andrej Bolkonskij und dem alten Fürsten Bolkonskij, ihrem Vater) wird einbezogen.
Schlagworte
Figur, Marja, Bolkonskaja, Tolstojs, Roman, Vojna, Hauptseminar, Tolstojs, Romanepos, Vojna, Frieden)
Arbeit zitieren
Julia Helbig (Autor:in), 2006, Die Figur der Marja Bolkonskaja aus Tolstojs Roman "Vojna i mir", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110245

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Figur der Marja Bolkonskaja aus Tolstojs Roman "Vojna i mir"



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden