Form und Funktion von Iweins Wahnsinn


Seminararbeit, 2006

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Wahnsinnsepisode im Kontext der Romanhandlung

3. Untersuchung der Form: Iweins Wahnsinn aus medizinischer Perspektive
3.1 Iweins Wahnsinn als Melancholie
3.2 Iweins Wahnsinn aus systemischer Perspektive

4. Untersuchung der Funktion: Iweins Wahnsinn als liminale Phase
4.1 Theorien zur Funktion von Iweins Wahnsinn
4.1.1 Wehrli: Iweins Wahnsinn als Element eines individuellen Reifeprozesses
4.1.2 Matejovski: Iweins Wahnsinn als Sicherung der sozialen Ordnung
4.2 Iweins Wahnsinn als liminale Phase
4.2.1 Liminalität
4.2.2 Gemeinsamkeiten von Iweins Wahnsinn und den Eigenschaften liminaler Personen
4.2.3 Iweins Wahnsinn als Ritual auf der Metaebene
4.2.4 Ritualisierte Konfliktbewältigung: Iweins Wahnsinn als liminale Phase

5. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Hartmann von Aue hat in seinem Artusroman „Iwein“ mit der Wahnsinnsepisode eine stilbildende und motivgeschichtlich einflussreiche Szene entworfen 1. Das Wahnsinnigwerden Iweins ist in der Forschung bereits unter verschiedenen Aspekten untersucht worden - psychoanalytisch als Ich-Verlust, pathologisch als Ungleichgewicht der Körpersäfte, quellenhistorisch als Liebeskrankheit, heilsgeschichtlich als Scheintod und Wiederauferstehung sowie aus der Perspektive der Genderforschung 2.

Die vorliegende Arbeit untersucht zunächst die Form von Iweins Wahnsinn. Zum einen wird gezeigt, dass Hartmann bei der Gestaltung der Geisteskrankheit das scholastische Konzept der Melancholie auf den Text übertragen hat. Zum anderen wird untersucht, ob und inwieweit der Wahnsinn Iweins auch mit Hilfe moderner Konzeptionen erklärt werden kann. Dies geschieht am Beispiel des systemischen Ansatzes der US-amerikanischen Forschergruppe Palo Alto. Dabei soll deutlich gemacht werden, dass die Anwendung dieses Konzepts - exemplarisch auch für andere moderne Theorien zur Geisteskrankheit - auf einen mittelalterlichen, im medizinhistorischen Kontext zu verstehenden Roman nicht problemlos möglich ist.

Die Untersuchung von Iweins Wahnsinn darf allerdings nicht bei einer Darstellung allein der Form der Erkrankung des Helden stehen bleiben. „Es genügt nicht“, so Michael Graf, „den literarischen Text mit der zeitgenössischen Medizin in einen identifikatorischen Zusammenhang zu bringen und dann Halt zu machen.“ 3 Vielmehr ist es notwendig, die Funktion des Iweinschen Wahnsinns im Kontext der gesamten Romanhandlung zu betrachten. Zunächst werden zwei populäre Thesen zu dieser Fragestellung dargestellt. Anschließend wird der Versuch unternommen, das vom Anthropologen Victor Turner entwickelte Konzept der Liminalität auf Iweins Wahnsinn anzuwenden. Dadurch soll verdeutlicht werden, wie Iweins Krankheit als Element eines individuellen Reifeprozesses und somit gleichzeitig als Sicherung der Artusgesellschaft als sozialem Konzept verstanden werden kann.

2. Die Wahnsinnsepisode im Kontext der Romanhandlung

Iwein befindet sich auf einem Aventiureritt, als Ascalon, ein feindlicher Burgherr, bei einem Kampf mit dem Artusritter sein Leben verliert. Iwein verliebt sich in Laudine, die Witwe des Getöteten, die schließlich trotz ihrer unermesslichen Trauer um ihren Mann den Ratschlägen ihrer Dienerin Lunete nachgibt und den Mörder ihres Gatten heiratet, um ihr Land nicht schutzlos den Angriffen feindlich gesinnter Aggressoren zu überlassen. Während der Hochzeitsfeier rät Gawein seinem Freund Iwein, sich vor der Gefahr des „verlegens“, also der Vernachlässigung der ritterlichen Pflichten zugunsten der Minne, zu hüten und schlägt deshalb eine gemeinsame Turnierfahrt vor. Iwein bittet seine Frau, ihm für dieses Unternehmen Urlaub zu gewähren. Laudine willigt nur zögernd ein, da sie um den Schutz ihres Territoriums bei Iweins langer Abwesenheit besorgt ist, war dies doch ihr eigentliches Motiv für die Hochzeit mit Iwein. Sie besteht auf einer Einjahresfrist und gibt ihrem Gemahl einem Ring mit, der ihn an den Termin erinnern soll. Für den Fall, dass Iwein nach einem Jahr nicht zurück käme, droht Laudine ihm die Scheidung an. Iwein verpasst den Ablauf der Frist und wird sich am Artushof schließlich seines Wortbruchs bewusst. Die Dienerin Lunete erscheint, verflucht Iwein für seine Tat und teilt ihm mit, dass Laudine sich von ihm abgewendet habe. An dieser Stelle beginnt die Wahnsinnsepisode, die im Roman als Verbindungselement zwischen erstem und zweiten Kursus den zentralen Wendepunkt darstellt 4.

Iweins Wahnsinn kündigt sich bereits vor Lunetes Erscheinen am Artushof an: Den Ritter überfällt bei der plötzlichen Erinnerung an seine Frau und an sein Versäumnis eine schmerzliche Liebe, sodass er sich selbst vergisst und wahrnehmungslos in ein tiefes Schweigen fällt (V. 3083-3095). Sein Zustand ähnelt bereits jetzt dem eines „tôre“ (V. 3095). Nach der Schmährede Lunetes verliert Iwein endgültig seinen Verstand. Als Ursache nennt Hartmann die Schmähung durch Lunete, ihre Abwendung von ihm, seine Entehrung, die Scheidung von Laudine, deren Zweifel an seiner Verlässlichkeit, die zu späte Reue, die immer noch andauernde Liebe und Sehnsucht nach seiner Frau sowie den Verlust seines Besitzes (V. 3201-3215). Iwein beginnt sich selbst zu hassen, da er seine Schuld auf niemand Anderen übertragen kann (V. 3221ff), und flieht unbemerkt auf ein freies Feld, wo sein Schmerz so gewaltig wird, dass ihm Wut und Tobsucht ins Gehirn schießen (V. 3231ff). Er reißt sich die Kleider vom Leib und rennt als personifiziertes Gegenteil jeglicher Ritterlichkeit nackt in den Wald. Dort ernährt er sich von selbstgejagtem Wild und tritt in einen Tauschhandel mit einem Eremiten ein, der ihm Wasser, Brot und vom Ertrag der verkauften Felle der von Iwein erlegten Tiere gekaufte Gewürze gegen Fleisch überlässt. Nach einiger Zeit findet die mit ihren Dienerinnen vorbeireitende Dame von Narison den mittlerweile am ganzen Körper schwarz gewordenen Artusritter schlafend vor und erkennt in ihm den vermissten Iwein wieder. Um ihn als Verteidiger gegen die Angriffe des Grafen von Aliers zu gewinnen, lässt sie eine ihrer Dienerinnen mit einer Zaubersalbe zu Iwein reiten und ihn damit bestreichen. Iwein erwacht und kann sich wieder an sein früheres ritterliches Leben erinnern, hält es jedoch für einen Traum. Dennoch fühlt er sich seinem Wesen nach als Ritter, auch wenn er sich als ein Bauer wähnt. Mit der Dienerin reitet Iwein auf die Burg der Herrin, wo er durch liebevolle Zuwendung und Pflege seine Gesundheit wieder erlangt. Seiner Identität wird er endgültig gewahr, als er sich dem Brunnen nähert, an dem der Kampf gegen Ascalon seinen Anfang nahm. Mit dem Abschluss der Wahnsinnsepisode auf dem Schloss der Dame von Narison beginnt der zweite Kursus des Romans, in dem Iwein durch soziale Aventiure seine Schuld tilgt und somit Ehe und Ehre endgültig wiederherstellt.

3. Untersuchung der Form: Iweins Wahnsinn aus medizinischer Perspektive

Die mediävistische Literaturwissenschaft ist sich einig, dass es sich bei Iweins Verfall in den Zustand eines „tôre“, wie Hartmann schreibt, um eine Erkrankung an Wahnsinn handelt. Allerdings kann diese Episode nicht als Darstellung einer psychischen Erkrankung mit „einer eigenen zeitlosen Wahrheit“ betrachtet werden, wie Schmitt irrigerweise meint 5. Die Beschreibung des Wahnsinnigwerdens Iweins ist im Kontext der mittelalterlichen Medizin und ihren Theorien über geistige Krankheit zu betrachten. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es sich bei Iweins Wahnsinn um eine präzise Adaption des Melancholie-Konzepts der scholastischen Medizin handelt. Im Anschluss wird anhand eines modernen systemischen Ansatzes gezeigt, worin die Problematik des Versuchs besteht, den Wahnsinn Iweins mit Hilfe heutiger Deutungsmuster zu erklären und ihn somit aus seinem geschichtlichen Kontext zu nehmen.

3.1 Iweins Wahnsinn als Melancholie

Das Leben der Menschen im Mittelalter war von einer überdurchschnittlichen Angst vor Krankheiten geprägt. Dementsprechend bestand ihr Interesse in Bezug auf die medizinische Wissenschaft ihrer Zeit nicht an tiefgehendem und vollständigem Wissen, sondern an einfachen Erklärungsmustern, charakteristischen Merkmalen und selbst durchführbaren Behandlungsmöglichkeiten 6. Daraus ergab sich, dass auch für den Wahnsinn als Krankheit keine mit der heutigen Medizin vergleichbaren komplexen, sondern einfache und anschauliche Konzepte vorherrschten.

Als ein wesentliches Modell psychischer Krankheit galt im Mittelalter neben Phrenitis und Manie die Melancholie. Mit diesem Begriff wurde eine Störung des Säftegleichgewichts bezeichnet. Die mittelalterliche Humoralpathologie kannte vier Säfte im menschlichen Körper, die das Temperament eines Menschen bestimmten. Ein ausgewogenes Säftegleichgewicht galt als Voraussetzung für geistige Gesundheit, sodass Überschuss oder Mangel eines der Körpersäfte in der Vorstellung der scholastischen Medizin zu seelischen Störungen führen konnte. Einen Leib-Seele-Dualismus kannten die mittelalterlichen Gelehrten demnach nicht; bei psychischen Krankheiten handelte es sich immer um eine Erkrankung des beseelten Leibs 7.

Als Ursache der Melancholie, die nicht mit dem in der heutigen Psychiatrie verwendeten Begriff gleichgesetzt werden darf, galt ein Übermaß an schwarzer Galle im Magenmund, die sich zuerst auf das Herz ausbreitete, wo sie Angst und Niedergeschlagenheit hervorrief, und anschließend in das Gehirn eindrang, um dort zu einer, wörtlich wie sinnbildlich, Verdunklung des Verstandes zu führen. Der Überschuss an schwarzer Galle wurde nach der Vorstellung der mittelalterlichen Medizin durch Vernachlässigung des Gleichgewichts der sogenannten „sex res non naturales“, also Klima, Ernährung, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Füllung und Entleerung sowie Gemütsbewegungen, hervorgerufen 8.

Als einflussreichste medizinische Darstellung der mittelalterlichen Lehre von der Melancholie gelten Constantinus’ Africanus’ „Liberi duo Constantini de melancholia“. Es handelt sich bei diesem lateinischen Werk um eine Übersetzung des arabischen „Maqala fi’l-malihuliya“ von Ishaq ibn’-Imsan, wobei Constantinus den arabischen Text an mehreren Stellen abgeändert und erweitert hat 9. Dass sowohl Chrétien de la Trois, der mit seinem „Yvain“, die Vorlage für Hartmanns Artusroman schuf, als auch Hartmann selbst den Constantinus-Text gekannt haben müssen, wird aufgrund der überdurchschnittlichen Bildung beider angenommen, zumal durch die Erwähnung der medizinischen Schulen von Salerno und Montpellier im „Armen Heinrich“ deutlich wird, dass Hartmann über ein umfangreiches medizinisches Wissen verfügte 10. Chrétien benutzt in seinem Roman den Begriff „melancolie“ für den Zustand Yvains 11. Dass Hartmann den Begriff „hirnsühte“ als Übersetzung des altfranzösischen Wortes „melancolie“ verwendet, wird angesichts der exakten Übereinstimmung zwischen Iweins Erkrankung und dem mittelalterlichen Bild der Melancholie deutlich:

Iweins Wahnsinn ist wie die Melancholie eine psychoreaktiv in Gang gekommene, aber hirnorganisch begründete Krankheit. Sie betrifft den Artusritter in seiner leibseelischen Ganzheit („daz im ein krankez wîp / verkêrte sinne unde lip“, V. 3255f). Aufgrund der Schmährede Lunetes und der Umstände, in denen Iwein sich befindet, sind seine Affekte massiv gestört worden (V. 3201-3215). Der Anlass von Iweins Wahnsinn ist also ein Ungleichgewicht der sex res non naturales 12, zumal auch die durch das lange Fortbleiben Iweins bedingte sexuelle Enthaltsamkeit als eine Vernachlässigung von „Füllung und Entleerung“ (in diesem Falle des Letzteren) negative Folgen gehabt haben könnte. Hinzu kommt, dass der Ablauf der Einjahresfrist auf den 29. Juni, also einen der heißesten Tage des Jahres, fällt, was sich ungünstig auf den Humoralhaushalt ausgewirkt haben könnte 13. Endgültig zum Wahnsinnigen wird Iwein auf dem freien Feld, wo ihm Wut und Tobsucht ins Gehirn schießen (V. 3232f). Dieser Vorgang ist nicht etwa bildlich, sondern wörtlich als somatischer Vorgang zu verstehen, wie er bei Constantinus als Einschießen der schwarzen Galle ins Hirn beschrieben wird 14.

Als Symptome von Iweins Wahnsinn werden Angstzustände (V. 3354ff), Selbstentfremdung, die Suche nach Einsamkeit und Dunkelheit (V. 3260), Entfremdung von der bisherigen Umwelt (3225f) sowie starker Appetit (V. 3267ff) beschrieben. Dies stimmt mit Merkmalen des von Constantinus entworfenen Bildes der Melancholie überein. Das wesentliche Kennzeichen von Iweins Wahn ist die Schwarzfärbung seiner Haut (V. 3347ff), die auch bei an Melancholie Erkrankten als Hauptcharakteristikum beschrieben wird 15.

Auch bezüglich der Therapie lassen sich bemerkenswerte Übereinstimmungen von Iweins Wahn und dem mittelalterlichen Melancholiekonzept finden: Besonders wirksam sind nach Constantinus medikamentöse Behandlungen (Iwein wird mit einer Salbe bestrichen), Massagen (die Dienerin reibt ihn von Kopf bis Fuß mit der Salbe ein), Bäder, frische Kleider und Speisen („man schuof im guoten gemach / von cleidern von spîse und von bade“, V. 3648f), Reiten auf einem ruhig gehenden Pferd („und zoch ein pfärit an der hant, daz vil harte sanfte truoc“, V. 3460f) sowie Geschlechtsverkehr (die Massage Iweins ähnelt einer Liebesszene). Wie die von der scholastischen Medizin als Melancholiekranke Klassifizierten, so wird also auch Iwein durch somatotherapeutische und diätetische Behandlungen geheilt. Der endgültige Abschluss des Therapieprozesses wird durch das Verschwinden der schwarzen Körperfarbe Iweins angezeigt (V. 3696f) 16.

3.2 Iweins Wahnsinn aus systemischer Perspektive

Es wurde gezeigt, dass es sich bei Iweins Wahnsinn um eine Melancholie-Erkrankung im Sinne der mittelalterlichen Konzeption handelt. Im Folgenden soll am Beispiel des Ansatzes von Burkhardt Krause untersucht werden, inwieweit auch moderne psychologische Ansätze auf die Wahnsinnsepisode angewandt werden können.

Krause analysiert die kommunikativen Strukturen innerhalb des Beziehungssystems „Iwein - Laudine - Lunete - Gawein“, um Iweins Wahnsinnig-Werden zu verstehen. Er greift dabei auf die systemische Theorie der US-amerikanischen Palo-Alto-Gruppe zurück, die davon ausgeht, dass psychisch abweichende Verhaltensweisen als semiotische Systeme verstanden werden müssen und demnach eine besondere Form kommunikativen Verhaltens darstellen 17. Kern des systemischen Ansatzes ist die maßgeblich von Gregory Bateson entwickelte Double-Bind-Theorie: „[Ein] Individuum ist in eine intensive Beziehung verstrickt; das heißt, in eine Beziehung, in der es ihm als lebenswichtig erscheint, ganz genau zu unterscheiden, welche Art von Botschaft ihm übermittelt wird, damit er entsprechend reagieren kann. Das Individuum ist in einer Situation gefangen, in der die andere Person in der Beziehung zwei Arten von Botschaft ausdrückt, von denen die eine die andere aufhebt. Und das Individuum ist nicht in der Lage, sich mit den geäußerten Botschaften kritisch auseinanderzusetzen, um seine Entscheidung, auf welche Botschaft es reagieren soll, zu korrigieren, das heißt, es kann keine metakommunikative Feststellung treffen.“ 18

Für Krause ist der Wahnsinn Iweins zum einen das Ergebnis von Missverständnissen in der Kommunikation zwischen Iwein und Laudine, zum anderen die Folge einer für ihn nicht zu bewältigenden Kollision individueller und gesellschaftlicher Ansprüche.

Iwein verliebt sich in Laudine, ist jedoch gleichzeitig tief deprimiert, da er sich des Zorns Laudines auf den Mörder ihres Gatten bewusst ist. Für Krause markiert diese „tiefgreifende ambivalente Gefühlslage“ im theoretischen Bezugsrahmen der Double-Bind-Theorie ein bedeutsames Kriterium der Entstehung von Iweins Psychose. Es werde bereits hier der sich später in Iweins Irresein manifestierende Konflikt auf affektiver Ebene deutlich sichtbar 19.

Iwein und Laudine begegnen sich im Folgenden in ihrer Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen. Als Laudine in die Heirat einwilligt, ist ihr Motiv ein politisches, während Iweins Beweggrund „herzeliebe" ist. Iwein ist allerdings der Meinung, so Krause, dass auch Laudine ihn aus Liebe geheiratet habe. Er nimmt an, dass die Ermordung ihres früheren Gatten für Laudine nicht mehr von Bedeutung ist, während Laudine den inneren Konflikt, dass sie mit dem Mörder ihres geliebten Mannes verheiratet ist, verarbeiten muss. Als Iwein Laudine schließlich um Urlaub für seine Turnierfahrt bittet, argumentiert Laudine „distanziert und mit rationaler Kühle“ 20 auf der Ebene der von Iwein eingegangenen Pflicht zur Landesverteidigung. Bei der Einigung auf eine Ein-Jahres-Frist handelt es sich laut Krause wiederum um eine Kommunikationsstörung: Während Laudine aufgrund der erforderlichen Verteidigung des Landes auf einer Begrenzung des Urlaubs besteht, meint Iwein, Laudine habe die Frist aus Liebe zu ihm gesetzt. Den Ring, den Laudine ihrem Mann zur Erinnerung an die rechtzeitige Rückkehr schenkt, hält Iwein für einen Liebesbeweis seiner Frau 21.

Iwein ist also nach Krauses Ansicht nicht in der Lage, Laudines Zeichen zu erkennen und die daraus folgenden Konsequenzen einzuschätzen: „Iwein begreift die Situation nur zur Hälfte, nämlich nur für sich.“ 22

Zudem sieht Krause eine enge Beziehung zwischen der geistigen Erkrankung Iweins und dessen Orientierungsproblemen in dem sich wandelnden soziokulturellen Milieu: Iwein lebte bislang in der idealen Realität des Artushofes, welcher als Idealitätssystem für ihn und Gawein das gesellschaftliche und ihrem Handeln Sinn verleihende Orientierungszentrum darstellt. Diese Sinnstiftung reicht jedoch nicht über die Grenzen der Gemeinschaft des Artushofes hinaus. Iwein tritt jedoch durch die Heirat mit Laudine und die Übernahme einer eigenen Landesherrschaft in eine andere Realität, also in eine alternative Sinn- und Symbolwelt. Aufgrund seiner und Gaweins „monolithischen Identität“ 23 passt sich Iwein jedoch nicht seiner neuen Rolle an, sondern verharrt in seiner alten Lebenswelt, indem er mit Gawein auf Turnierfahrt geht. Gawein und Iwein denken und handeln innerhalb ihres in seinen Regeln fest definierten ritterlichen Codes, während Laudine auf der Ausübung der Landesherrschaft durch ihren Ehemann besteht 24. Dass Iwein also die durch den Eintritt in eine andere Realität zwingend notwendig gewordene Revision seiner bisherigen Deutungsmuster von Wirklichkeit nicht bewältigt, ist für Krause eine Ursache von Iweins Wahnsinn: Krause spricht von einer „Desorientierung in einem sich verändernden kulturellen Milieu, wenn neue Wirklichkeitsmerkmale nicht von präexistenten Modellen integriert werden können“ 25 und bezeichnet dies als ein in der Genese von Psychosen häufig festzustellendes Grundmuster.

Die Unfähigkeit Iweins, den Sprung zwischen zwei differenten Realitäten zu meistern, sowie die Divergenz von Iweins emotionaler und Laudines pragmatischer Denkweise, die zu einer widersprüchlichen Kommunikation zwischen den beiden Ehepartnern führt, sind nach Ansicht Krauses Ursache für Iweins Erkrankung: Der Wahnsinn ist für ihn ein Ausweg, da Iwein sich durch seine Flucht sowohl dem Druck der sozialen und kulturellen Anforderungen als auch den Folgen der konfliktuösen Kommunikation innerhalb seiner Ehe entziehen kann 26.

Krauses Ansatz, den Wahnsinn Iweins mit Hilfe der systemischen Psychologie zu erklären, ist in zweierlei Hinsicht hinterfragbar:

Zum einen wird an mehreren Stellen deutlich, dass Krause den Romantext ohne Rücksicht auf sich ergebende Widersprüche in die Schablone systemischer Strukturmodelle pressen will und dabei auch sehr selektiv zitiert. So sind beispielsweise die Verse 2947ff ein Beleg dafür, dass Laudine ihrem Mann den Ring nicht nur als Erinnerung an die einzuhaltende Frist, sondern auch als Liebesbeweis überlässt 27.

Zum anderen ist fraglich, inwieweit ein modernes psychologisches Konzept wie die systemische Theorie der Palo-Alto-Gruppe auf einen mittelalterlichen Text angewendet werden kann. Kritisiert wird Krauses Aufsatz in dieser Hinsicht am ausführlichsten von Michael Graf. Graf weist zunächst darauf hin, dass Krause das heutige Konzept von Liebe auf den mittelalterlichen Text überträgt. Laudines politisches Kalkül widerspricht jedoch nicht, wie Krause behauptet, ihrer Liebe zu Iwein und schließt diese auch nicht aus, sondern ist ihre Ursache: Laudine liebt Iwein, eben weil er ihr als starker Mann Schutz gewähren kann. So ist auch Iweins Liebe nicht, wie Krause meint, einfach eine selbstlose Liebe an sich, sondern Iwein liebt Laudine, weil sie die Schönste ist und ihm somit Ehre verschafft. Krauses Fehler ist, so Graf, dass er „das darwinistische Liebeskonzept des mittelalterlichen Textes nicht als solches gelten lässt und unter stillschweigender Voraussetzung eines modernen, verinnerlichten Liebesbegriffs ein Missverständnis konstruiert, das keines ist. (...) Er ist der Stärkste, sie ist die Schönste, er gibt ihr Schutz, sie ihm Ehre: Wo ist das Missverständnis? Im historischen Abstand.“ 28

Graf kritisiert zudem, dass Krause die Übertragung des modernen systemischen Ansatzes zu Lasten einer von Krause negativ bewerteten Betrachtung des Textes im Kontext der historischen Melancholie-Konzeption vornimmt, die jedoch ohne Zweifel einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der Wahnsinnsepisode ausgeübt hat. „Dichtung“, so bemerkt Graf richtig, „ist prinzipiell falsch aufgefasst, wenn sie als vorwissenschaftliche, unbewusste Thematisierung wissenschaftlicher Sachverhalte angesehen wird, so nämlich, dass es als wesentliche Verstehensleistung gelten soll, aus Vorwissenschaftlichem Wissenschaftliches zu destillieren.“ 29

Allerdings ist Grafs Bewertung, die man angesichts ihrer Heftigkeit durchaus als Verriss bezeichnen muss (so spricht Graf von einer Vergewaltigung des mittelalterlichen Textes 30 ), in ihrer Absolutheit abzulehnen, zumal Grafs Darstellung selbst in Vielem ungenau und fragwürdig ist. Wenn auch der moderne systemische Ansatz nicht ohne weiteres auf den mittelalterlichen Text übertragbar ist und sich Iweins Wahnsinn nicht ausschließlich über die Theorie der Palo-Alto-Gruppe erklären lässt, als handle es sich bei dem von Hartmann Dargestellten um reale Ereignisse, so ist es doch Krauses Verdienst, dass er auf bestimmte Kommunikationsstrukturen im Netz der AktantInnen des Romans aufmerksam macht, die eine differenzierte Bewertung des Wahnsinnigwerdens von Iwein ermöglichen.

4. Untersuchung der Funktion: Iweins Wahnsinn als liminale Phase

4.1 Theorien zur Funktion von Iweins Wahnsinn

4.1.1 Wehrli: Iweins Wahnsinn als Element eines individuellen Reifeprozesses

Wehrli betrachtet Iweins Erwachen aus dem Wahnsinn als die entscheidende Station im Prozess von Selbsterkenntnis und ethischer Vervollkommnung des Protagonisten. Wie die neuere Psychologie das antike Motiv der Hadesfahrt als eine Reduktion des menschlichen Bewusstseins auf die Quellen des Unbewussten und damit als ein notwendiges Stadium auf dem Weg zur Individuation betrachtet, so sieht Wehrli im Motiv des Erwachens eines Menschen aus Blindheit, Traum oder Torheit ein Element der zentralen Thematik der Artusromane und der höfischen Dichtung des Mittelalters überhaupt, nämlich der Selbstentfremdung und des Zu-Sich-Selber-Kommens. Iweins Wahnsinn kann demnach, so Wehrli, zum einen tiefenpsychologisch als Emanzipationsvorgang gedeutet werden, zum anderen ist die Selbsterkenntnis Iweins auch als eine Form der Gotteserkenntnis theologisch zu interpretieren 31.

4.1.2 Matejovski: Iweins Wahnsinn als Sicherung der sozialen Ordnung

In Anlehnung an die Theorie von Adorno und Horkheimer, der Mensch passe sich an die Natur an, um sie zu beherrschen, sieht Matejovski den Sinn von Iweins Wahnsinn darin, das vorkulturelle Gegenbild der höfischen Artusgesellschaft, das eine Bedrohung für diese darstellt, zu bannen. Der Artushof wird durch die unzivilisierte Erscheinung des Waldmenschen, dem Kalogrenant und später auch Iwein begegnen, provoziert. Um die Herausforderung, die von der „selbstgenügsamen Idylle des Waldmenschen und der von ihm repräsentierten Entwicklungsstufe“ 32 ausgeht, zu bewältigen, passt sich Iwein ihr an, bezwingt sie also durch zeitlich begrenzte mimetische Angleichung. Die Wahnsinnsepisode steht somit im Kontext eines den Artusroman prägenden Themas, nämlich der Auseinandersetzung der höfischen Gesellschaft als einer exklusiven und allgemeingültigen Kultur mit anderen, unzivilisierten Lebensformen. Durch die Bewältigung der Natur werden Ordnung und Sinn der Artuskultur wiederhergestellt 33.

4.2 Iweins Wahnsinn als liminale Phase

4.2.1 Liminalität

Arnold van Gennep macht in der Abfolge von Übergangsritualen drei typische Phasen aus: In der Trennungsphase verweist das symbolische Handeln eines Individuums oder einer Gruppe auf die Loslösung von kulturellen oder sozialstrukturellen Bedingungen. In der darauf folgenden Schwebephase ist das rituelle Subjekt von Ambiguität gekennzeichnet. Abschließend gliedert es sich wieder in eine feste Sozialstruktur ein 34.

Aufbauend auf diese These entwickelte der Anthropologe Victor Turner das Konzept der Liminalität. Turner unterscheidet zunächst zwei Gesellschaftsmodelle: Während zum einen die Gesellschaft in der Regel ein strukturiertes, differenziertes und zumeist hierarchisch gegliedertes System ist, in dem die Menschen nach politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten in unterschiedliche Ränge gegliedert sind, existieren zum anderen temporär oder lokal begrenzte Gesellschaftsformen mit einer unstrukturierten oder rudimentär strukturierten, relativ undifferenzierten Gemeinschaft. Turner fasst diese Differenzierung gesellschaftlicher Formen mit den Begriffen „Struktur“ und „Communitas“ zusammen. Für Turner ist die Dialektik von Struktur und Antistruktur (in Form der Communitas) notwendig für die Bewältigung individueller und sozialer Krisen. Wenn ein gesellschaftlicher Konfliktfall droht, wird dieser in Form von Ritualen aufgehoben. Der Begriff des gesellschaftlichen Konfliktfalls umfasst auch den Übergang eines Individuums von einer Lebensphase in eine andere.

Kennzeichnendes Merkmal solcher Krisenrituale ist die Liminalität. Turner bezeichnet mit dem Begriff ein Schwellenstadium, in dem ein Individuum in die Strukturlosigkeit einer Communitas eintritt, um anschließend in die strukturierte Gesellschaft zurückzukehren. Als Kennzeichen liminaler Personen nennt Turner Gleichheit, Status- und Besitzlosigkeit, Nacktheit oder uniforme Kleidung, Schweigen, Simplizität, Unselbstständigkeit, die Hinnahme von Schmerz und Leid, das Desinteresse an persönlicher Erscheinung sowie mitunter auch sexuelle Enthaltsamkeit 35.

Durch das Durchlaufen einer liminalen Phase wird sowohl die kurzfristig herausgeforderte gesellschaftliche Struktur als auch die individuelle Person langfristig stabilisiert oder positiv formiert. „Es ist“, so Turner, „als ob sie [i.e. die liminalen Personen; d.A.] auf einen einheitlichen Zustand reduziert würden, damit sie neu geformt und mit zusätzlichen Kräften ausgestattet werden können, die sie in die Lage versetzen, mit ihrer neuen Station im Leben fertig zu werden.“ 36

4.2.2 Gemeinsamkeiten von Iweins Wahnsinn und den Eigenschaften liminaler Personen

„Schwellenwesen [...] können symbolisch als Wesen dargestellt werden, die nichts besitzen“, so Victor Turner. „Sie mögen als Monsterwesen verkleidet sein, nur ein Minimum an Kleidung tragen oder auch nackt gehen und so demonstrieren, daß sie als Schwellenwesen keinen Status, kein Eigentum, keine Insignien, keine weltliche Kleidung, also keinerlei Dinge besitzen, die auf einen Rang, eine Rolle oder eine Position im Verwandtschaftssystem verweisen.“ 37 Die von Turner in diesem Zitat genannten Eigenschaften liminaler Personen erinnern auffällig an das Verhalten Iweins. In der Tat lassen sich zwischen der von Turner beschriebenen Liminalität und dem Wahnsinn Iweins wesentliche Übereinstimmungen finden. Liminale Personen sind nach Turner gekennzeichnet durch

- Status- und Ranglosigkeit: Iwein hat alle Eigenschaften und Fähigkeiten, die ihn als Artusritter kennzeichnen, verloren (V. 3350ff).
- Besitzlosigkeit: Iwein, der selbst seine Kleidung abgelegt hat, besitzt im Wald nichts.
- Simplizität: Der Waldmensch, als der Iwein von Hartmann dargestellt wird, gilt in der mittelalterlichen Literatur als Sinnbild des Einfachen 38.
- Desinteresse an der persönlichen Erscheinung: Iwein verwildert im Wald auch äußerlich (V. 3347f).
- Nacktheit oder uniforme Kleidung: Iwein hat sich auf dem freien Feld sämtliche Kleider vom Leib gerissen und somit seine ritterliche Identität äußerlich aufgegeben.
- Schweigen: Hartmann erzählt von keiner verbalen Äußerung Iweins während dessen Wahnsinn.
- Kameradschaft und Egalitarismus untereinander 39: Iwein geht einen Tauschhandel mit dem Eremiten ein.
- sexuelle Enthaltsamkeit: Iwein lebt sexuell enthaltsam. Der quasisexuelle Akt der Einsalbung durch die Dienerin beendet die liminale Phase des Artusritters.

Bereits bei der Darstellung des systemischen Ansatzes Krauses zur Erklärung von Iweins Wahnsinn wurde darauf hingewiesen, dass es nicht Sinn einer Interpretation des mittelalterlichen Textes sein kann, den Hartmannschen Roman als „vorwissenschaftliche, unbewusste Thematisierung wissenschaftlicher Sachverhalte“ 40 zu sehen. So darf also die Wahnsinnsepisode nicht aufgrund der auffälligen Gemeinsamkeiten in das moderne wissenschaftliche Schema der Liminalität gezwängt werden. Allerdings erlaubt die Kongruenz von Iweins Verhalten und den Eigenschaften liminaler Personen, die Funktion von Iweins Wahnsinn im Kontext der Romanhandlung mit Hilfe des Turnerschen Konzepts der Liminalität zu beschreiben.

4.2.3 Iweins Wahnsinn als Ritual auf der Metaebene

Als psychisch krank werden die Denk- und Verhaltensmuster diagnostiziert und klassifiziert, die von soziokulturellen Normen abweichen. Psychische Krankheit ist demnach keine medizinische Tatsache, sondern eine Metapher, mit der scheinbar unerklärliches Verhalten erklärbar gemacht werden soll. So ist auch das mittelalterliche Melancholiekonzept, auf dem die Beschreibung von Iweins Wahnsinn beruht, keine Beschreibung realer körperlich-seelischer Vorgänge; vielmehr ist Melancholie ein „unheilbar metaphorisches Wort. Es handelt sich um einen scheinkonkreten Begriff, dessen Erfüllung grundsätzlich ausbleibt.“ 41 Der Inhalt des medizinisch nicht füllbaren Begriffs „Wahnsinn“ wird durch literarische Beschreibungen konstituiert.

Indem Hartmann seinem Helden die Rolle des Wahnsinnigen zuschreibt, lässt er ihn ein Ritual durchlaufen, das nur im Kontext der Romanhandlung funktional erklärt werden kann. Iweins Wahnsinn ist, in der Terminologie Victor Turners gesprochen, eine ritualisierte Bewältigung eines individuellen und sozialen Konflikts 42. Die Ritualisierung der Konfliktbewältigung findet auf der Metaebene des Textes statt, indem Hartmann für die Beschreibung dieser Bewältigung Iwein die Rolle des Wahnsinnigen zuschreibt. Der Wahnsinn Iweins lässt sich also funktional als liminale Phase beschreiben.

4.2.4 Ritualisierte Konfliktbewältigung: Iweins Wahnsinn als liminale Phase

Zu Beginn des Romans definiert der Artusritter und Freund Iweins Kalogrenant das Rittertum und die Aventiure, indem er sie auf bloße Waffengewalt beschränkt (V. 529-537). Dieser Aventiurebegriff widerspricht der sozialen Definition, die von Hartmann bereits im „Erec“ geprägt worden ist und die für die Artusgesellschaft konstitutiv ist: Der Ritter soll durch Aventiure Dienst am Mitmenschen leisten. Iwein setzt den negativen Begriff Kalogrenants in die Tat um: Die Tötung Ascalons ist nicht gerechtfertigt, zumal sie Iwein zur persönlichen Bereicherung dient - er gewinnt das Königreich und die Ehefrau Ascalons. Iwein hat somit Schuld auf sich geladen, die auch im Interesse der Artusgesellschaft gebüßt werden muss, damit deren sozialer Begriff von Rittertum wiederhergestellt werden kann 43.

Nach der Wahnsinnsepisode Iweins sind die Handlungen des Ritters nicht mehr übereilt und egoistisch wie vorher. Es handelt sich bei den Taten, die Iwein im zweiten Kursus vollbringt, ausschließlich um „helfe- und dienest-Aventiure.“ 44 Iwein hat also, indem er sich aus der hierarchisch aufgebauten Struktur der Artusgesellschaft in den undifferenzierten Raum der Communitas, dargestellt durch die Metapher „Wahnsinn“, begeben hat, eine liminale Phase im Sinne Turners durchlaufen. Zum einen hat dieser Übergangsritus eine Reifung auf individueller Ebene zur Folge, da Iwein einen höheren ethischen Status erlangt. Zum anderen wird die Struktur des Artushofes gefestigt, trotz oder gerade aufgrund der kurzfristigen Außerkraftsetzung ihrer Normen in der normenfreien Phase des Wahnsinns, indem der für die Artusgesellschaft konstitutive soziale Aventiurebegriff gestärkt wird.

5. Zusammenfassung

Bei der formalen Untersuchung von Iweins Wahnsinn wird deutlich, dass die Schilderung des Irrewerdens des Artusritters nur im Kontext der mittelalterlichen Medizin verstanden werden kann. Übereinstimmungen in der Entstehung, im Verlauf und in der Therapie lassen erkennen, dass Hartmann, wie auch Chrétien bei der altfranzösischen Vorlage, das scholastische Konzept der Melancholie auf den Text übertragen hat. Demnach handelt es sich bei Iweins Wahnsinn um ein durch eine Störung der Affekte hervorgerufenes Ungleichgewicht der Körpersäfte, das zu einer Hirnerkrankung führt. Moderne psychologische Ansätze wie die systemische Theorie der Palo-Alto-Gruppe können nicht ohne weiteres auf den mittelalterlichen Roman angewandt werden, da bestimmte Bedingungen und Vorstellungen der damaligen Zeit, wie beispielsweise das Liebeskonzept, nicht mehr mit den heutigen übereinstimmen.

Die Funktion der Wahnsinnsepisode im Kontext der Romanhandlung kann mit Hilfe von Victor Turners Konzept der Liminalität beschrieben werden. Unter Liminalität wird eine rituelle Phase verstanden, in der sich ein Subjekt aus der strukturierten Gesellschaft löst und sich für eine gewisse Zeit in eine strukturlose Communitas begibt, in der die Normen der Gesellschaft in Frage gestellt werden, damit diese schließlich gestärkt werden. Iwein lebt während seines Wahnsinns jenseits aller Normen des Artushofes. Nach seiner Rückkehr in die Normalität ist er ethisch reifer geworden. Die Werte des Artushofes, die durch die ungerechtfertigte Ermordung Ascalons in Frage gestellt wurden, sind dadurch gestärkt worden. Der Ritualcharakter der Liminalität ist auf der Metaebene des Textes gegeben, da Hartmann Iwein die soziale Rolle des Wahnsinnigen zuschreibt, womit der Wahnsinn Iweins als Ritual verstanden werden kann.

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

1. Textausgabe

Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolf. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer. Berlin: de Gruyter, 1968

2. Sekundärliteratur

Bader, Günter: Melancholie und Metapher. Eine Skizze. Tübingen: Mohr, 1990

Bateson, Gregory, Don D. Jackson, Jay Haley, John H. Weakland: Auf dem Wege zu einer Schizophrenie-Theorie. In: Gregory Bateson u.a.: Schizophrenie und Familie. Frankfurt (Main): Suhrkamp, 1990³

Gehlen, Rolf: Artikel „Liminalität“. In: Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl (Hrsg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. IV. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer, 1998. S. 58-63

Giesa, Gerhard: Märchenstrukturen und Archetypen in den Artusepen Hartmanns von Aue. (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 466). Göppingen: Kümmerle, 1987

Graf, Michael: Liebe - Zorn - Trauer - Adel. Die Pathologie in Hartmann von Aues „Iwein“. Eine Interpretation auf medizinhistorischer Basis. (= Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700; 7). Bern, Frankfurt (Main), New York, Paris: Lang, 1989

Hafner, Susanne: Maskulinität in der höfischen Erzählliteratur. (= Hamburger Beiträge zur Germanistik; 40). Frankfurt am Main: Lang, 2004

Hahn, Ingrid: Güete und Wizzen. Zur Problematik von Identität und Bewußtsein im „Iwein“ Hartmanns von Aue. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Jg. 107 (1985), Nr. 2. S. 190-217

Kaiser, Gert: Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung. Aspekte einer sozialgeschichtlichen Interpretation von Hartmanns Artusepen. München: Athenäum, 1973

Krause, Burkhardt: Zur Psychologie von Kommunikation und Interaktion. Zu Iweins „Wahnsinn“. In: Jürgen Kühnel u.a. (Hrsg.): Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions. (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 431). Göppingen: Kümmerle, 1985. S. 215-242

Matejowski, Dirk: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt (Main): Suhrkamp, 1996

Mohr, Wolfgang: Iweins Wahnsinn. Die Aventüre und ihr „Sinn“. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Jg. 100 (1971). S. 73-94

Schipperges, Heinrich: Melancolia als ein mittelalterlicher Sammelbegriff für Wahnvorstellungen. In: Studium Generale, Jg. 20 (1967), Nr. 11. S. 723-736

Schipperges, Heinrich: Artikel „Geisteskrankheiten“. In: Robert-Henri Bautier u.a. (Hrsg.): Lexikon des Mittelalters, Bd. IV. München, Zürich: 1989. Sp. 1177-1180

Schipperges, Heinrich: Die Kranken im Mittelalter. München: Beck, 1993³

Schmitt, Wolfram: Der „Wahnsinn“ in der Literatur des Mittelalters am Beispiel des „Iwein“ Hartmanns von Aue. In: Jürgen Kühnel u.a. (Hrsg.): Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions. (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 431). Göppingen: Kümmerle, 1985. S. 107-214

Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. (= Theorie und Gesellschaft; 10). Frankfurt (Main), New York: Campus, 1989 [= Turner (1989a)]

Turner, Victor: Theaterspielen im Alltagsleben und Alltagsleben im Theater. In: ders.: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt am Main, New York: Campus, 1989. S. 161-195 [= Turner (1989b)]

Waldmann, Bernhard: Natur und Kultur im höfischen Roman um 1200. Überlegungen zu politischen, ethischen und ästhetischen Fragen epischer Literatur des Hochmittelalters. (= Erlanger Studien; 38). Erlangen: Palm & Enke, 1983

Wehrli, Max: Iweins Erwachen. In: ders.: Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze. Zürich, Freiburg: Atlantis, 1969. S. 177-193

[...]


1 vgl. Matejovski (1996), S. 121

2 vgl. Hafner (2004), S. 107

3 Graf (1989), S. 186

4 vgl. Mohr (1971), S. 80f; Wehrli (1969, S. 178

5 Schmitt (1985), S. 212. Schmitt widerspricht sich in seinem Aufsatz, wenn er zunächst diese These aufstellt, um wenige Absätze später den Wahnsinn Iweins in den Kontext der mittelalterlichen Humoralpathologie zu stellen und somit die Zeitlosigkeit der Hartmannschen Darstellung zu widerlegen.

6 vgl. Graf (1989), S. 23

7 vgl. ebd., S. 29; Schipperges (1989), Sp. 1177; ders. (1993³), S. 118; Schmitt (1985), S. 209

8 vgl. Schipperges (1989), Sp. 1178; ders. (1993³), S. 125; Schmitt (1985), S. 211

9 vgl. Graf (1989), S. 26f; Schipperges (1989), Sp. 1178

10 vgl. Graf (1989), S. 27

11 vgl. ebd., S. 34

12 vgl. Schmitt (985), S. 202f

13 vgl. Hafner (2004), S. 139

14 vgl. Schmitt (1985), S. 202f

15 vgl. ebd., S. 210f; Hafner (2004), S. 137

16 vgl. Schmitt (1985), S. 208ff; Schipperges (1967), S. 731ff

17 vgl. Krause (1985), S. 219

18 Bateson u.a. (1990³), S. 19

19 vgl. Krause (1985), S. 222f

20 ebd., S. 226

21 vgl. ebd., S. 224ff

22 ebd., S. 227

23 ebd., S. 233

24 vgl. ebd., S. 230ff

25 ebd., S. 233

26 vgl. ebd., S. 234ff

27 vgl. Graf (1989), S. 178f

28 ebd., S. 178

29 ebd., S. 181

30 vgl. ebd., S. 181

31 vgl. Wehrli (1969), S. 180ff

32 Matejovski (1996), S. 135

33 vgl. ebd., S. 134ff

34 vgl. Turner (1989a), S. 94f

35 vgl. ebd., S. 95ff

36 ebd., S. 95

37 ebd., S. 95

38 vgl. Matejovski (1996), S. 127

39 vgl. Turner (1989a), S. 95

40 Graf (1989), S. 181

41 Bader (1990), S. 81

42 vgl. Turner (1989b), S. 168f

43 vgl. Kaiser (1973), S. 114

44 vgl. ebd., S. 116; Hafner (2004), S. 146

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Form und Funktion von Iweins Wahnsinn
Hochschule
Technische Universität Dresden
Veranstaltung
Seminar: Iwein
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
23
Katalognummer
V110360
ISBN (eBook)
9783640085330
Dateigröße
437 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Hinweise, Kritik usw. an tgriebel@web.de
Schlagworte
Form, Funktion, Iweins, Wahnsinn, Seminar, Iwein
Arbeit zitieren
Thomas Griebel (Autor:in), 2006, Form und Funktion von Iweins Wahnsinn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110360

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