East Palace, West Palace. Ein kulturübergreifender Blick auf Chinas ersten Film mit explizit homosexueller Thematik.


Hausarbeit, 2003

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Homosexualität in der Volksrepublik China
2.1 Tradition und Diskurs
2.2 Der Homosexuelle in der chinesischen Gesellschaft
2.3 Homosexualität im chinesischen Film

3. Zum chinesischen Nationalcharakter
3.1 Erziehung zur Abhängigkeit
3.2 Blinde Verehrung von Autorität
3.3 »Das Gesicht wahren«

4. East Palace, West Palace
4.1 Kurze Inhaltsbeschreibung
4.2 »Die Diebin liebt ihren Henker«
4.3 »Ich kann eine Frau sein, ich kann ein Mann sein«

5. Schluss

6. Abbildungsverzeichnis

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der Film »East Palace, West Palace«[1], von Zhang Yuan, behandelte 1996 erstmals offen das, in der chinesischen Gesellschaft strikt tabuisierte Thema der Homosexualität. Er wurde umgehend von der Zensur verboten und dem Regisseur wurde auferlegt, das Land binnen eines Jahres nicht mehr zu verlassen, um den Film nicht auf internationalen Festivals präsentieren zu können.

Schnell zeigt sich der Film als Kammerspiel um Sexualität und Macht, unterdrücktes Verlangen und die Kunst des Verführens, im Stil Jean Genets. Die anfangs scheinbar festgelegten Machtverhältnisse verschieben sich mit dem Fortschreiten der Handlung zusehends. Liegt die Macht beim Herrschenden oder bei dem, der sich widersetzt – beim Verführer oder bei dem, der widersteht?

Der Film folgt dabei einem Motiv aus der chinesischen Oper – dem des Unterdrückten, der keine andere Wahl hat, als sich in seinen Unterdrücker zu verlieben. Aber warum bringt der Regisseur die Situation Homosexueller in der chinesischen Gesellschaft in Zusammenhang mit diesem traditionellen Motiv der Abhängigkeit und Autoritätsliebe?

Zeichnet er damit nicht ein archaisches Bild von Homosexualität und dient zahlreichen Klischees?

Aus westlicher Sicht heraus stellt er teilweise tatsächlich Stereotype dar, die innerhalb der Gender Studies seit Jahrzehnten als überholt gelten. An solchen Maßstäben sollte den Film aber nicht messen, denn damit risse man ihn gänzlich aus seinem kulturellen Zusammenhang. Also muss man, um ihm gerecht werden zu können, zuerst einen Blick auf die Rolle der Homosexualität in der chinesischen Gesellschaft und den Nationalcharakter der Chinesen im Kontext von Macht und Abhängigkeit werfen.

2. Homosexualität in der Volksrepublik China

2.1 Tradition und Diskurs

In vielen Epochen der chinesischen Geschichte war Homosexualität[2] akzeptiert und respektiert, nahm Einfluss auf Politik, Kunst und die sozialen Gepflogenheiten.[3]

Erst in den letzten Jahrhunderten des imperialen China förderte die strikte Wahrung Neo-Konfuzianischer Familienwerte, eine intolerante Haltung gegenüber Homosexualität. So wurde und wird diese nicht, wie im Westen, aus religiös-ethischen Gründen abgelehnt, sondern weil sie als ernstzunehmender Feind der Familie, die Fundament der chinesischen Gesellschaft ist, gefürchtet wird.[4]

Der sozialistische Diskurs verstärkte diese Ansicht und konstruierte Sexualität als ein Gebiet staatlicher Kontrolle. Jegliche Form vor- und außerehelicher Sexualität wurde als schamlos und abnormal verurteilt. Sexualität, die nicht der Fortpflanzung diente, wurde zum Wohl der Familie und der Nation bekämpft und die klassische Mann-Frau Beziehung erzwungen.[5]

In der klassischen chinesischen Sprache existierte kein Wort für Homosexualität oder den Homosexuellen. Stattdessen gebrauchte man poetische Umschreibungen. Philosophie und Literatur beschäftigten sich fast ausschließlich mit dem öffentlichen Gesicht, nicht aber mit dem privaten Erfahrungsbereich des Einzelnen. Sexualität wurde quasi nicht thematisiert. Dies führte dazu, dass heutzutage selbst gebildeten Chinesen die homosexuelle Tradition des eigenen Landes völlig unbekannt ist. Homosexualität gilt als Phänomen des dekadenten Westens.[6]

Mitte der achtziger Jahre entstand ein stark medizinisch und sexualpathologisch geprägter Diskurs, der jegliche Ansätze der Gender- und Queer Studies ausließ – der abnorme Einzelne und nicht die diskriminierende, heteronormative Gesellschaft bleibt Mittelpunkt der Betrachtungen. In den letzten Jahren stieg die Anzahl der Veröffentlichungen, die sich mit Homosexualität beschäftigen. Darin treten erste Abweichungen vom rein empirisch sexualwissenschaftlichen Diskurs auf. Eine Unterscheidung zwischen Sex und Gender macht allerdings weiterhin keiner der Forscher und Schwerpunkt der Arbeiten bleiben Ursachenforschung und Heilungsmöglichkeiten.[7]

Erst im März 2001 strich die Vereinigung chinesischer Psychiater Homosexualität von der Liste der Geisteskrankheiten. Weiterhin wird sie allerdings als mögliche Ursache für Depressionen und ähnliche Probleme angesehen, welche auch in Zukunft mit Therapien zur Umkehrung der sexuellen Orientierung behandelt werden können. Der Vorsitzende der Vereinigung betont zudem das rein medizinische Interesse dieses Schritts und schließt einen Einfluss auf soziale und gesetzliche Fragen aus.

2.2 Der Homosexuelle in der chinesischen Gesellschaft

Homosexuelle in China führen meist ein Leben voller Frustration, Angst und Einsamkeit. Sie haben kaum Möglichkeiten gleichgeschlechtliche Partner zu finden, gehen Scheinehen ein und müssen Verfolgung durch die Obrigkeit fürchten. Viele haben ihr Leben lang keinen einzigen gleichgeschlechtlichen Partner. Andere gehen ihrem Verlangen in öffentlichen Toiletten und Parks nach. Eine stabile homosexuelle Beziehung scheint fast ausgeschlossen.[8]

Es gibt in China keine Gesetze, die Homosexualität verbieten, dennoch nutzt die chinesische Regierung sehr häufig allgemein formulierte Gesetze gegen »aufrührerisches Verhalten« um gleichgeschlechtliche Handlungen, teils mit mehreren Jahren Haft zu bestrafen.[9] Auch wenn dies seltener geworden ist, kurzfristige Festnahmen und die damit verbundene Erniedrigung bleiben. Oftmals wird das berufliche und soziale Leben des ‚Erwischten’ durch Berichterstattung bei Arbeitgeber und Familie, zerstört.[10]

Nur ein sehr geringer privilegierter Teil der Chinesen hat Zugang zu Aufklärungsmaterialien über Universitätsbibliotheken und das Internet. Die allen zugänglichen Medien unterstützen die allgemein verbreitete Verbindung von Homosexualität mit AIDS und Kriminalität. So fordern beispielsweise Zeitungsartikel Jugendliche mit homosexuellen Tendenzen auf, Hilfe zu suchen, um dem fatalen Sturz in die Kriminalität durch homosexuelle Handlungen zu entgehen.[11]

Aus den genannten Gründen ist es für homosexuelle Chinesen sehr schwer ihre eigenen sexuellen Wünsche zu verstehen, geschweige denn, akzeptieren zu können. Oft entwickeln Sie enormen Selbsthass und kapseln sich von der Gesellschaft ab. Sie selbst sagen von sich, sie lebten nicht das Leben von Menschen, sondern das von Geistern.[12]

2.3 Homosexualität im chinesischen Film

Homosexualität war im chinesischen Film seit jeher ein Tabuthema. Rollentausch, kultische Verehrung des männlichen Körpers und die Darstellung intensiver Männerfreundschaften haben zwar eine lange Tradition, direkt wurde Homosexualität aber nie thematisiert.[13]

In der chinesischen Oper, Grundlage der meisten frühen chinesischen Filme, wurden alle Frauenrollen von Männern gespielt oder aber umgekehrt, alle Männerrollen von Frauen. Dieser Rollentausch ist in der chinesischen Tradition verankert und so kam es, dass sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts einige Filmschauspielerinnen gänzlich auf Männerrollen spezialisieren. Sie werden von der Gesellschaft soweit als Männer akzeptiert, dass niemand daran Anstoß nimmt, wenn diese auch im wirklichen Leben in der Rolle des Mannes eine Liebesbeziehung zu einer Frau eingehen. Man darf diese Akzeptanz allerdings nicht mit Akzeptanz gegenüber Homosexualität verwechseln. Die meisten Chinesen kämen nicht auf den Gedanken, dass es sich bei diesen Schauspielerinnen und ihren Partnerinnen um homosexuelle Paare handelt, da deren männliche Geschlechtsidentität von der Gesellschaft als selbstverständlich betrachtet wird.[14]

Dieses Phänomen lässt sich nicht ohne weiteres auf männliche Schauspieler übertragen. Wurden Männer in Frauenkleidung zur Blütezeit der Peking Oper noch verehrt, so verloren sie, nicht zuletzt durch den Sozialismus und die neu entstandenen Werte der Arbeiterklasse, zunehmend Ansehen. Männliche Homoerotik tauchte vermehrt im Muskelspiel halbnackter Kung-Fu Kämpfer und deren Blutsbrüderschaft auf. Durch die hohe Wertschätzung der Chinesen für Kameradschaft, unter deren Deckmantel sich in der Vergangenheit oftmals gleichgeschlechtliche Liebe verbarg, werden allerdings auch Szenen, die für den westlichen Blick offensichtlich homoerotische Anspielungen enthalten, als Ausdruck reiner Freundschaft interpretiert.[15]

Chen Kaiges »Lebewohl meine Konkubine« hätte ein erster Schritt dahin sein können, Homosexualität direkt zu thematisieren, wäre nicht die, in der Literaturvorlage eindeutig dargestellte Liebesbeziehung zwischen den beiden Opernsängern, im Drehbuch durch die Liebe des Einen zu einer Frau ersetzt worden. Ob Chen dies aus Homophobie tat, wie ihm zahlreiche Kritiker vorwarfen, aus dramaturgischen Gründen, wie er behauptet oder aus Angst vor der Zensur, und die damit verbundenen Repressalien, bleibt offen.[16]

3. Zum chinesischen »Nationalcharakter «

3.1 Erziehung zur Abhängigkeit

Das chinesische Familiensystem ist streng patriarchalisch und hierarchisch geprägt. Eltern geben ihren Kindern Anweisungen, meist aber keine Begründungen. Das Ziel ist blinder Gehorsam. Kinder die eigene Ansichten entwickeln und zu diskutieren wagen gelten als disziplinlos und Regeln missachtend. So lautet ein chinesisches Sprichwort „ein wohlerzogenes Kind habe Ohren, keinen Mund.“[17]

Es wird von jedem Chinesen erwartet, dass er sein Leben lang den Eltern gegenüber gehorsam und pietätvoll ist. Er steht in ewiger Dankesschuld zu ihnen. Selbstständigkeit wird gleichgesetzt mit Undankbarkeit. Dies gilt für nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens. Die entstehende Abhängigkeit wird durch ‚Infantilisierung’ ein Leben lang aufrecht erhalten. So gilt die jüngere Generation, auch wenn sie die Vierzig überschritten hat, stets als nicht erwachsen.[18]

3.2 Blinde Verehrung von Autorität

„Aus dem gehorsamen Kind wird ein Folgsamer Untertan“[19] ist ein Leitspruch der Neo-Konfuzianischen Ethik. Die anerzogene Abhängigkeit und die damit verbundene Unfähigkeit eigene Gedanken zu entwickeln und zu widersprechen führen zu blinder Verehrung von Autorität.[20]

Zwischenmenschliche Beziehungen sind in der chinesischen Gesellschaft vertikale, also streng hierarchisch geordnete Beziehungen von Autorität und Gehorsam. Dies hat zur Ausprägung eines Sklaven- bzw. Versklavungscharakters geführt. Es heißt, Chinesen seien bereitwillig Sklaven, solange sie keine Macht haben, erreichten sie aber Macht, so würden sie zu Herrschern.[21] Das Beziehungsgefüge von Autorität und Unterwerfung spiegelt sich in nahezu allen täglichen Situationen wieder – Zwischen Eltern und Kindern, Angestellten und Vorgesetzten, Volk und Staat.

3.3 »Das Gesicht wahre n«

Das anerzogene blinde Vertrauen in bestehende, aber nie persönlich nachvollzogene Regeln führt nicht nur zu Abhängigkeit, sondern auch zu Konformismus. Die Meinung anderer über sich selbst ist den Chinesen sehr wichtig. Ihr Ziel ist völlige Anpassung. Grundlegend für die chinesische Moral ist das Schamgefühl. So bereut der Chinese, wenn eine unmoralische Tat entdeckt wird, nicht etwa dass er sie begangen hat, sondern nur, dass sie von anderen entdeckt wurde. Leben und Gesellschaft der Chinesen gleichen einer Theaterbühne. Das höchste Gebot ist „…dem Lehrer, dem Vater, der Gesellschaft als ein guter Mensch zu erscheinen“[22], eben das Gesicht zu wahren. Daraus ergibt sich, dass es für einen Chinesen die schlimmste Beleidigung ist, unverschämt [23] genannt zu werden.

4. East Palace, West Palace

4.1 Kurze Inhaltsbeschreibung

Als »East Palace, West Palace« bezeichnen die Homosexuellen Pekings einen ihrer wenigen Treffpunkte, die östlich und westlich vom Tianmen Platz im Park der »Verbotenen Stadt« gelegenen öffentlichen Toiletten. Die Polizei führt dort allabendlich Razzien durch, bei denen sie die Homosexuellen aufspürt, sie erniedrigt oder dazu zwingt, sich selbst zu erniedrigen.

Eines Abends trifft ein Polizist dort auf den jungen Schriftsteller A-Lan, der sich nicht reumütig, wie die Anderen, zeigt. Stattdessen stellt er seine Homosexualität provokant zur Schau, indem er den Polizist auf die Wange küsst, bevor er ihm entflieht. Einige Nächte später begegnet sich die beiden erneut. Dieses Mal nimmt der Polizist A-Lam mit auf die Wache, um ihn einem Verhör zu unterziehen, das die ganze Nacht dauern wird. Schon bald zeigt sich, dass mehr als bloßer Ermittlungseifer ihn dazu veranlasste.

4.2 »Die Verurteilte liebt ihren Henker…«

„…die Diebin ihren Gefängnisaufseher. Wir lieben Euch. Haben wir denn eine andere Wahl?“ In mehreren kurzen Sequenzen zeigt der Film Szenen aus der chinesischen Oper. Eine Diebin wird bei ihrer Tat gefasst und zum Tode verurteilt, verliebt sich in dieser verzweifelten Situation aber genau in den Menschen, der das Urteil vollstrecken wird. Mit dieser Allegorie stellt der Regisseur die komplexen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in der Beziehung der beiden Männer dar. Dabei kristallisiert sich im Verlauf des Films zunehmend heraus, dass beide Charaktere jeweils für den anderen sowohl Verurteilte, als auch Henker sind.

Anfangs scheinen die Machtverhältnisse offensichtlich. Das Schicksal des homosexuellen Schriftstellers liegt in den Händen des Polizisten. Als Repräsentant der verbreiteten Moralvorstellungen und staatlicher Ordnungsgewalt, kann er alleine über Freiheit und Strafe entscheiden. Bald zeichnet sich aber eine zweite Machtebene ab, auf der A-Lan die Regie übernimmt und dem Polizisten eine Rolle in seiner eigenen Inszenierung zuteilt. Die Verhörsituation wird zum Kammerspiel, das Polizeirevier zur Bühne. Lange Kameraeinstellungen, wenige und sehr ruhige Kameraschwenks lassen den Film photographisch wirken und unterstützen den Inszenierungscharakter der Verhörsituation.

Einzelne Motive sind sowohl auf Inhaltlicher, als auch auf technischer und ästhetischer Ebene, stark vernetzt. So baut der Film Analogien zwischen den inhaltlichen Ebenen auf und verdeutlicht diese durch Wiederholung bzw. Parallelen der Bilder. Durch die damit geschaffene Vielschichtigkeit der Bedeutungsebenen, wirkt der Film wie ein klassisches Gedicht, in dem jedes Bild sein Gegenstück oder sich selbst in veränderter Form wieder findet.

Der Film lässt den Zuschauer an der intimen Situation der beiden Männer teilhaben, hält ihn aber durch die Wahl des Blickwinkels meist auf Distanz. Die Kameraeinstellung macht ihn zu einem Voyeur, indem sie ihm Einblicke häufig nur aus versteckten Winkeln, durch Fenster mit Gitterstäben oder halbtransparente Paravents gewährt ( s. Abb. 2).

Dieselben Mittel benutzt der Regisseur auch, um die Distanz zwischen den Protagonisten und die Vielschichtigkeit ihrer Beziehung zueinander zu verdeutlichen. Beispielsweise sehen wir A-Lan anfangs häufig am Boden hockend, mit starker Obersicht, neben ihm die nach oben hin Rand abgeschnittenen Beine des Polizisten, der durch diese Fragmentarisierung gedanklich zu enormer Größe ergänzt wird (s. Abb.1).

Oft sind die Bilder so komponiert, dass eine deutliche Trennung zwischen den beiden zu erkennen ist, obwohl sie sich weiterhin im selben Raum befinden. So sieht man lediglich einen der beiden direkt im Bild, während der andere nur als Spiegelbild zu erkennen ist, oder aber die Kamera arbeitet mit geringer Tiefenschärfe, wodurch der einzelne dem tatsächlichen Geschehen entrückt wirkt. So wie der spärliche Einsatz von Gegenschnitten, unterstreicht dies den extremen Subjektivismus der beiden, am deutlichsten erkennbar in der Art, wie sie, unter Missachtung allgemeingültiger Kommunikationsregeln, zueinander sprechen. Das Spiel von Licht und Schatten wird dabei bewusst eingesetzt, um dramatische Effekte zu erzielen (s. Abb. 2).

Der Zuschauer merkt schnell, dass A-Lan sich dem Polizisten freiwillig ausgeliefert hat, um sich eine sexuelle Phantasie zu erfüllen, die er seit seiner Kindheit in sich trägt. Dadurch ist er, auf einer der Machtebenen, dem Polizisten von Anfang an überlegen, denn auch wenn er seinerseits ein riskantes Spiel eingeht, befindet er sich automatisch in der Position des Stärkeren, allein aus dem Wissen heraus, dass es sich um ein Spiel handelt. Er begibt sich bewusst in die Position des Schwächeren – stellt sich seinem Henker - um sein Ziel zu erreichen.

Aber auch der Polizist scheint zu diesem Verhör mehr durch privates Interesse, als durch Pflichtbewusstsein motiviert. Zahlreiche Gesten und Blicke lassen erkennen, dass er von A-Lan fasziniert ist. Durch das provokante Verhalten A-Lans bei der ersten Begegnung der beiden, hätte er sich der Gefahr der Situation, die er herbeiführte, bewusst sein müssen. Der Film lässt vermuten, dass seine Motive zahlreich sind. Im Endeffekt deuten aber alle Aspekte daraufhin, dass er selbst latent homosexuell ist.

Ein Motiv könnte sein, dass er von A-Lan mehr über die Lebensweise homosexueller erfahren will, denn es ist zu bezweifeln, dass seine Fragen dem polizeilichen Verhör dienlich sind. Eindeutig ist, dass er ihn als Projektionsfläche für den homophilen Teil seiner eigenen Identität benutzt. Das zeigt sich in seinen expulsiven Wutausbrüchen gegenüber A-Lan, deren Heftigkeit nicht eindeutig proportional den von A-Lan gesetzten Impulsen entspricht. Das Verhalten des Polizisten folgt dabei ein ums andere Mal demselben Schema: Er folgt mit zunehmendem Interesse den Schilderungen A-Lans, verliert sich daraufhin, abschweifenden Blickes, in seinen eigenen Gedanken, wobei er sich wahrscheinlich mit seinen homophilen Neigungen konfrontiert sieht. Daraufhin muss er sein unterdrücktes Ich bestrafen. Die Bestrafung vollzieht er aber nicht an sich selbst, was die Situation alleine schon nicht zuließe, sondern an A-Lan, der seine Gefühle nicht unterdrückt, sondern offen zur Schau stellt. Auch die Aussage des Polizisten, er sehe es als seine Aufgabe, A-Lan von dessen Krankheit zu kurieren, entspricht einem, auf A-Lan projizierten, Heilungswunsch seiner eigenen Andersartigkeit.

Besonders gut zeichnet sich die Angst des Polizisten vor der eigenen latenten Homosexualität in einer Sequenz ab, in der A-Lan erklärt, woran er bei Fremden erkenne, ob sie homosexuell sind. Er sagt, es seien der Blick und die Hände, woraufhin der Polizist irritiert den Blick von A-Lan zu seinen Händen gleiten lässt, um diese, nach kurzem Innehalten, dessen Blickfeld zu entziehen. Dies bestärkt nicht nur den Verdacht, dass der Polizist tatsächlich homosexuelle Neigungen hat, sondern ist auch beispielhaft dafür, wie A-Lan Verschiebungen des Machtgefüges herbeiführt. Er kann den Blickkontakt halten, der Polizist weicht aber aus, indem er die Augen senkt, gibt damit also durch eine simple Geste, seine Machtposition auf und ordnet sich unter.

4.3 »Ich kann eine Frau sein, ich kann ein Mann sein…«

„…ich kann alles tun. Auch Du kannst mit mir tun, was Du willst. Und was tust Du? Du könntest tot sein.“

Im Verlauf des Verhörs verleiht A-Lan seinem Begehren für den Polizisten immer direkter Ausdruck. Schließlich wirft er diesem vor, seine Machtposition nicht zu nutzen, durch die ihm frei steht, mit A-Lan zu tun was er möchte, sei es ein Akt der Strafe oder der Hingabe. Der Polizist lässt ihn daraufhin frei – vielleicht wissend, dass dies die einzig wirkliche Strafe für A-Lan ist, sicherlich aber, weil es ihm als einziger Weg erscheint, sich selbst ohne schwerwiegende Konsequenzen aus dieser Situation zu befreien.

A-Lan ist erwartungsgemäß nicht ohne weiteres bereit zu gehen, sondern gesteht dem Polizisten seine Liebe. Dieser lässt ihn daraufhin gewähren und gesteht dadurch ohne Worte seine eigene Zuneigung für A-Lan. Er verlangt allerdings von diesem Frauenkleider anzuziehen um, wie er es ausdrückt, dessen wahres Gesicht besser sehen zu können. Tatsächlich will er aber seine Gefühle für A-Lan legitimieren, indem er ihn in eine weibliche Rolle zwingt und somit die heterosexuelle Norm, wenn auch nur oberflächlich, erfüllt. A-Lan gibt gegen seinen Willen nach.

An dieser Stelle bekommt der Film eine entscheidende Wendung. Bis hierhin war A-Lan die Verurteilte, identifizierte sich also mit einer Frauenrolle. Er verglich sein eigenes Leben mit dem Schicksal eines jungen Mädchens, das für ihre wechselnden sexuellen Kontakte verachtet wird und mit dem eines Transvestiten, der weder von der Gesellschaft akzeptiert wird, noch wirklich zur homosexuellen Subkultur gehört. Der Film verknüpft das Schicksal A-Lans mit dem des Mädchens und des Transvestiten inhaltlich, indem er erneut die chinesische Oper zitiert: „Der Henker kann die Diebin zum Schafott führen und somit dem sicheren Tod überlassen, oder aber ihr die Ketten abnehmen und für sich behalten“. Filmisch wird diese Analogie umgesetzt, indem in allen drei Fällen das Motiv des zum Henker geführten wieder aufgegriffen wird. Die Kamera verdeutlicht uns die Parallelität der Schicksale indem sie, durch die Wahl der Perspektive, die Gänge, teils klaustrophobisch und endlos erscheinen lässt, oder uns in die Position der Schaulustigen, nach Blut verlangenden, Menge versetzt.

Woher kommt es also, dass A-Lan sich zuerst weigert für den Polizisten in die Rolle der Frau zu schlüpfen? Eine Lesart ist, dass er die unterdrückte Position der Frau zwar romantisiert, es aber als Erniedrigung empfindet sich durch einen Cross-Dressing-Act selbst in die Position einer Frau zwingen zu lassen und dadurch seine eigene Identität zu verleugnen. Demnach ist seine Aussage „Ich kann eine Frau sein, ich kann ein Mann sein…“ so zu verstehen, als dass er sich auf Gefühlsebene zwar in die Rolle einer Frau begeben kann, dies aber nicht in Zusammenhang mit seinem biologischen Geschlecht und seiner äußerlichen Erscheinung steht. Er sieht sich selbst als Mensch. Als Mann, der seine Weiblichkeit akzeptiert. Als Mann, der einen anderen Mann liebt, deswegen aber nicht zur Frau wird. Er lässt sich also nicht in ein binäres Geschlechterschema zwingen. Dies entspräche Erkenntnissen der westlichen Geschlechterforschungen, die Gender, Sex und Sexualität voneinander trennen.

Mit der Erfüllung des Zwangsrollentausches erfüllt A-Lan sein Schicksal als Verurteilte, aber auch als Henker. Er muss sich der heterosexuellen Norm beugen, um den Polizisten endgültig mit seinem homosexuellen Verlangen zu konfrontieren. Verdeutlicht wird dies ein letztes Mal durch ein Motiv aus der chinesischen Oper. Der Film zeigt eine Szene, in der der Gefängnisaufseher um den Käfig der Verurteilten kreist, wobei sich beide voller Verlangen anschauen. In der darauf folgenden Sequenz sehen wir A-Lan in der gleichen Weise um den Polizisten kreisen. Es entsteht also eine Analogie zwischen der Verurteilten in ihrem Käfig und dem Polizisten. Währenddessen erzählt A-Lan erneut die Geschichte von der Diebin und dem Henker. Dieses Mal kann sich die Diebin von ihrem Schicksal befreien, kehrt aber zu ihrem Henker zurück. Dieser löst ihre Ketten behält sie für sich. A-Lan reformuliert die Allegorie also eindeutig entsprechend der Entwicklung der eigenen Situation, spielt dabei aber auch auf die Ambivalenz des Gleichnisses an. Er hat die Ketten des Polizisten gelöst, in dem er ihn mit dessen unterdrückten Gefühlen konfrontiert, und dadurch dazu gebracht hat, seine eigene Identität zu hinterfragen. Dieser hat wiederum A-Lan von seinen Fesseln befreit, indem er Gefühle für ihn gezeigt und damit, als Vertreter der gesellschaftlichen Moralvorstellungen, in Frage gestellt hat, ob Homosexualität tatsächlich als verabscheuenswerte Abnormalität gelten kann und darf.

5. Schluss

Nachdem ich versucht habe zu zeigen, wie tief blinde Verehrung von Autorität, das Streben nach Anpassung und die damit verbundene Ablehnung von Andersartigkeit in der chinesischen Gesellschaft verwurzelt sind, sollte deutlich geworden sein, warum man, aus westlicher Sicht heraus, nicht vorschnell über diesen ersten Versuch, Homosexualität in im chinesischen Cinéma zu thematisieren, urteilen kann.

Man darf von einem Film, der in einem Umfeld striktester Zensur und gesellschaftlicher Ablehnung sexueller Andersartigkeit gegenüber entstanden ist, nicht erwarten, mit Stereotypen aufzuräumen, die auch in unserem Kulturkreis erst seit einigen Jahrzehnten und vordergründig nur in wissenschaftlichen Publikationen, nicht aber in den Köpfen der Menschen, als obsolet betrachtet werden.

Filmkritiker unseres Kulturkreises haben »East Palace, West Palace« häufig als überflüssigen, weil nicht mehr zeitgemäßen, Appell für mehr Toleranz gegenüber dem klassisch unglücklichen Homosexuellen, interpretiert. Dabei stellt der Film keine direkte Verbindung zwischen Homosexualität und Selbsthass her. Er versucht eher zu zeigen, dass die heteronormative Gesellschaft, die nicht gelernt hat, traditionelle Werte und überholte Ideologien, in Frage zu stellen, den Homosexuellen in eine Abseitsposition drängt. So wie der Polizist am Ende des Films seine eigenen Wertvorstellungen hinterfragen muss, soll jeder Einzelne Chinese überprüfen, ob neo-konfuzianische Moral und die ideologische Verknüpfung von Sexualität und Fortpflanzung, in der postmaoistischen Gesellschaft, im Zeitalter der Ein-Kind-Politik, weiterhin blinde Akzeptanz verdienen und für den Einzelnen tatsächlich noch Bestand haben.

Man sollte den Film also in einem weiter gefassten Kontext betrachten. Zhang Yuan will nicht nur auf die Situation Homosexueller in der Volksrepublik China hinweisen. Vielmehr will er auf die Abhängigkeit und Hassliebe eines Volkes seinem totalitären Regime, dessen Ideologie und alten Traditionen gegenüber, aufmerksam machen.

6. Abbildungsverzeichnis

Alle verwendeten Abbildungen wurden von mir selbst vom Fernseher abfotografiert und im Sinne des Zitatrechts verwendet.

7. Literaturverzeichnis

Altmann, Dennis: On Global Queering, in: Australian Humanities Review, Juli 1996 (Internetausgabe: http://www.lib.latrobe.edu.au/AHR/archive/Issue-July-1996/altmann.html).

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Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M 1983.

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Monaco, James: Film verstehen. Kunst – Technik – Sprache – Geschichte und Theorie des Films und der neuen Medien, Reinbeck bei Hamburg 1980.

Tam, Kwok-kann / Dissanayake, Wimal: New Chinese Cinema, Images of Asia, Hong Kong 1998.

Teo, Stephen: Hong Kong Cinema. The Extra Dimensions, London 1997.

Umard, Ralph: Film ohne Grenzen. Das Neue Hongkong Kino, Lappersdorf 1998.

[...]


[1]

[2] Homosexualität bezieht sich im folgenden ausschließlich auf männliche Homosexualität, da weibliche H. bis zum heutigen Zeitpunkt in China quasi nicht thematisiert wird.

[3] Bret Hinsch: Passions of the Cut Sleeve. The Male Homosexual Tradition in China, Berkeley u.a. 1990, S.4.

[4] ebdm. S.163, 171.

[5] Frank Dikötter: Sex, Culture and Modernity in China. Medical Science and the Construction of Sexual Identities in the Early Republican Period, London 1995, S. 137f, 181.

[6] Bret Hinsch, 1990, S.6f, 163. vgl. Jens Damm: Vorbeugen ist besser als Heilen. Sexualwissenschaftliche Forschungen zu gleichgeschlechtlichen Lebensweisen in der Volkrepublik China, in: Berliner China-Hefte 16 (Mai 1999), S.96-106. (http://userpage.fu-berlin.de/~jensdamm/pdf/homo1.pdf).

[7] Jens Damm, 1999.

zum Begriff der heteronormativen Gesellschaft bzw. heterosexuellen Matrix, siehe: Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York.

[8] Tiffany Bown: Chinese Cultural Studies. Homosexuals in Modern China. Four Recent Press Reports, Peking 2001, (Internet: http://academic.brooklyn.cuny.edu/core9/phalsall/texts/c-gays.html).

[9] Hinsch, 1990, S.163. vgl. Wan Yan Hai: Homosexuality and the Law in China, http://www.utopia-asia.com/chinlaw.htm.

[10] Bown, 2001.

[11] Hinsch, 1990, S.170.

[12] Bown, 2001.

[13] Kwan, Stanley: China – Yang and Yin. Gender in Chinese Cinema, Hongkong 1995.

[14] ebdm.

[15] ebdm.

[16] E. Ann Kaplan: Reading Formations and Chen Kaige’s Farewell my Concubine, in: Transnational Chinese Cinemas. Identity, Nationhood, Gender, hrsg. Von Sheldon Hsiao-peng Lu, Honolulu 1997.

[17] zit. in: Yu-Chien Kuan / Petra Häring-Kuan: Kultur-Knigge China, Köln 1990, S.71.

[18] Beate Geist: Die Modernisierung der chinesischen Kultur, Hamburg 1996, S.77-81. Yu-Chien Kuan, 1990.

[19] zit. in: Geist, 1996, S.82.

[20] ebd. S.78.

[21] ebd. S.83f.

[22] ebd. S.89.

[23] Si bu yao lian heißt wörtlich übersetz so viel wie: „ ums verrecken kein Gesicht wollen“, wird in der Regel aber mit unverschämt übersetzt.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
East Palace, West Palace. Ein kulturübergreifender Blick auf Chinas ersten Film mit explizit homosexueller Thematik.
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Veranstaltung
Qualitative Interpretationsmethoden
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
19
Katalognummer
V110366
ISBN (eBook)
9783640085392
Dateigröße
1101 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
East, Palace, West, Palace, Blick, Chinas, Film, Thematik, Qualitative, Interpretationsmethoden
Arbeit zitieren
Andre Scherer (Autor:in), 2003, East Palace, West Palace. Ein kulturübergreifender Blick auf Chinas ersten Film mit explizit homosexueller Thematik., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110366

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