Der Kick: Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was ist das Thema der vorliegenden Arbeit?
Die Arbeit analysiert den Theatertext „Der Kick“ von Andres Veiel und Gesine Schmidt und vergleicht ihn mit dem Werk von Peter Weiss, insbesondere mit „Die Ermittlung“. Der Fokus liegt auf der Darstellung von Geschichte(n) im Dokumentartheater, unter Berücksichtigung von modernen und postmodernen Erzählweisen. Zentral ist die Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Realität und dem gesellschaftlich-politischen Wirkungspotential beider Stücke.
Welche theoretischen Grundlagen werden verwendet?
Die Arbeit stützt sich auf Theorien zur Moderne und Postmoderne, insbesondere die Konzepte von Wolfgang Welsch und Jean-François Lyotard. Diese dienen als Grundlage zur Analyse von modernen und postmodernen Geschichtserzählungen im Dokumentartheater. Zusätzlich wird die Arbeit von Klaus Harro Hilzinger zur Dramaturgie des dokumentarischen Theaters herangezogen.
Wie wird das Verhältnis von Fiktion und Realität in den Stücken behandelt?
Die Arbeit untersucht, wie historische Ereignisse in den Stücken von Weiss und Veiel/Schmidt ästhetisch vermittelt werden und welches Geschichtsverständnis damit verbunden ist. Sie beleuchtet die Konvergenz von Wirklichkeitsvorstellung und dramaturgischer Konzeption. „Die Ermittlung“ zeigt eine klare, monokausale Geschichtsdeutung, während „Der Kick“ eine polykausale, nicht-lineare Erzählweise mit Perspektivenpluralismus verwendet.
Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen den Stücken von Weiss und Veiel/Schmidt?
Beide Stücke verwenden die Technik der Zitatmontage, aber „Der Kick“ radikalisiert die fragmentarische Struktur von Weiss' Werk. Weiss verwendet eine starke Reduktion auf sprachliche Vermittlung und eine Schwarz-Weiß-Zeichnung, um seine sozialistische Geschichtsdeutung zu vermitteln. Veiel/Schmidt hingegen lösen die Homogenität auf und präsentieren eine vielschichtigere, dezentralere Perspektive mit einer Vielzahl von Einzelgeschichten.
Wie wird Geschichte in „Die Ermittlung“ und „Der Kick“ dargestellt?
„Die Ermittlung“ präsentiert eine lineare, monokausale Geschichtsdeutung, die Auschwitz als Konsequenz des Kapitalismus darstellt. „Der Kick“ hingegen zeichnet ein komplexeres Bild, das verschiedene mikro- und makrogeschichtliche Faktoren zum Mordgeschehen verbindet, ohne eine einzige, übergeordnete Ursache zu benennen. Die Darstellung ist polykausal und konjunktivisch.
Welches gesellschaftlich-politische Wirkungspotential haben die Stücke?
„Die Ermittlung“ zielt auf eine klare politische Botschaft und den Appell zu öffentlichem Protest ab. „Der Kick“ hingegen verzichtet auf eine eindeutige Schlussfolgerung und lässt den Zuschauer auf seine eigenen Interpretationen und Schlussfolgerungen zurückgeworfen. Das politische Potential liegt hier im Auslösen einer differenzierten Diskussion.
Wie wird die Postmoderne in der Analyse von „Der Kick“ berücksichtigt?
Die Arbeit argumentiert, dass „Der Kick“ postmoderne Merkmale aufweist: die Auflösung der großen Erzählungen, die Betonung von Perspektivenpluralismus, die Dezentralisierung der Erzählung und das Spiel mit Irritation und Verunsicherung. Der Text verzichtet auf eine eindeutige, objektive Wahrheit und öffnet den Raum für vielfältige Interpretationen.
Welche Rolle spielen die Dokumente in beiden Stücken?
In beiden Stücken dienen Dokumente als kompositionelles Strukturprinzip. Bei Weiss werden die Dokumente zu einer einheitlichen Geschichtsdeutung montiert, während bei Veiel/Schmidt die Dokumente in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit erhalten bleiben, was zu einer dezentralisierten und offenen Erzählstruktur führt.
Welche Schlussfolgerung zieht die Arbeit?
Die Arbeit schlussfolgert, dass Weiss' Dokumentartheater als moderne und Veiel/Schmidts „Der Kick“ als postmoderne Form des dokumentarischen Geschichte(n)-Erzählens betrachtet werden können. Die Unterschiede spiegeln die Entwicklung von einer tendenziell einheitlichen Geschichtsdeutung hin zu einer pluralistischen und konjunktivischen Sichtweise wider.
Welchen Ausblick gibt die Arbeit?
Die Arbeit weist auf die anhaltende Aktualität von „Der Kick“ hin, insbesondere im Kontext der Zunahme rechtsextremistischer Gewalt und des damit verbundenen Diskurses. Weitere Inszenierungen des Stücks sind zu erwarten.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Modernes und postmodernes Geschichte(n)-Erzählen im Dokumentartheater
I.1. Geschichte(n)-Erzählen in der Moderne und Postmoderne
I.1.1. Begriffsbestimmungen Moderne und Postmoderne
I.1.2. Geschichte(n)-Erzählen in Moderne und Postmoderne
I.2. Das Dokumentartheater
Fazit Teil I.
II. Dokumentartheater von Weiss und Veiel/Schmidt
II.1.1. Konzeption des Dokumentartheaters von Weiss
II.1.2. Die Ermittlung
Aufbau und Handlung
Erklärungsmodell und Geschichtsdeutung
Gesellschaftlich-politisches Wirkungspotential von Die Ermittlung
Fazit Teil II.1.
II.2.1. Entstehungsprozess und Konzeption des Dokumentartheaters vonVeiel/Schmidt
II.2.2. Der Kick
Aufbau und Handlung
Erklärungsmodell und Geschichtsdeutung
Gesellschaftlich-politisches Wirkungspotential von Der Kick
Exkurs: Veiels Inszenierung von Der Kick
Fazit Teil II.2.
III. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
Ausblick
Literaturverzeichnis
Einleitung
Das klassische Dokumentartheater befand sich in den 1960er Jahren in einer Blütezeit, die schon Anfang der 1970er Jahre wieder verebbte. Dementsprechend beschäftigt sich die literaturwissenschaftliche Forschung bis heute weitgehend mit Dokumentartheaterstücken der 1960er Jahre, vielfach mit Stücken der drei wichtigsten Vertreter des Dokumentartheaters, Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt und Peter Weiss.
Im letzten und in diesem Jahr hat das 2005 geschriebene und in der Zeitschrift „Theater heute“ veröffentlichte Dokumentartheaterstück Der Kick [1] von Dokumentarfilmer und Autor Andres Veiel[2] und Gesine Schmidt[3] in der Theaterlandschaft Aufmerksamkeit erregt. Nicht allein die überregionale Inszenierung des Theatertextes in Berlin und Basel[4] von Veiel, in Bochum von Sybille Broll- Pape und in Göttingen am Deutschen Theater von Tasha Haug trugen und tragen zu dessen verbreiteten Bekanntheitsgrad bei. Bei der Kritikerumfrage im Jahrbuch der Zeitschrift „Theater heute“ heißt es, dass Veiel/Schmidt „das zweitbeliebteste deutsche Stück des Jahres“ entwickelten.[5] Die Verleihung des Friedrich- Luft- Preises[6] und des Konrad- Wolf- Preises[7], die Einladung der Inszenierung Veiels zum Berliner Theatertreffen 2006[8] und den Mülheimer Theatertagen 2006[9], die Vorführung seiner abgefilmten Fassung auf der Berlinale 2006, welche ab September in Kinos zu sehen ist[10], und die Bearbeitung des Theatertextes als Hörspielfassung[11] unterstützten und unterstützen die Verbreitung des Dokumentartheatertextes.
Die Entstehung eines überregional bekannten Dokumentartheaterstücks vierzig Jahre nach der Hauptblütezeit dieses Genres motiviert zu einer Textanalyse von Der Kick. So beschäftigt sich diese Arbeit mit dem Theatertext Veiels/ Schmidts mit einem Rückblick auf das Dokumentartheater der 1960er Jahre, speziell von Peter Weiss als einem der bedeutendsten Vertreter des Genres.
Im Zentrum der Arbeit steht eine Frage, die sich für das Dokumentartheater als literarische und theatrale Kunstform, welches per definitionem auf der Vermittlung eines historischen Ereignisses beruht, in besonderem Maße stellt[12]: es geht um das Verhältnis von Fiktion und Realität. Wie wird ein historisches Ereignis ästhetisch im Dokumentartheater von Weiss und Veiel/ Schmidt vermittelt? Welches Geschichtsverständnis ist mit dieser Vermittlungsform verknüpft und welches gesellschaftskritische Potential ist mit dieser Geschichtsvermittlung verbunden? In Übereinstimmung mit Klaus Harro Hilzingers Hinweis auf den engen Zusammenhang zwischen Form und Inhalt bei der Realitätsvermittlung des dokumentarischen Theaters[13] wird in dieser Arbeit auf die Konvergenz von Wirklichkeitsvorstellung und dramaturgischer Konzeption eingegangen.
Formal steht die Konzeption von Veiels/ Schmidts Theatertext Der Kick in der Tradition des Dokumentartheaters von Peter Weiss, insbesondere von Der Kick. Die starke Reduktion auf sprachliche Vermittlung eines historischen Ereignisses begründet sich ua. in thematischen Parallelen. So thematisieren beide Stücke neonazistische Phänomene der BRD und greifen rechtsextremistisch motivierte Misshandlungen und Morde auf, deren Grauen naturalistisch darzustellen fraglich ist. Veiels/Schmidts Theatertext kann- so die Hauptthese dieser Arbeit- als Radikalisierung der sprachlich-reduktionistischen und fragmentarischen Form, des „formale[n] Minimalismus“[14] von Weiss’ Dokumentartheater betrachtet werden.
Um über eine thematische Textanalyse hinaus allgemeine Tendenzen von Wirklichkeitsvermittlung in den beiden Dokumentarstücken als Beispiele der Konzeption des Dokumentartheaters von Weiss und Veiel/ Schmidt zu erläutern, werden sie vor dem Hintergrund theoretischer Aspekte über modernes bzw. postmodernes Geschichte(n)- Erzählen beleuchtet. Mit dem theoretischen Ansatz über die Postmoderne und Moderne können wesentliche Momente der Dokumentartheaterstücke erfasst werden.[15]
Der gewählte theoretische Ansatz ermöglicht neben der Beschreibung wesentlicher Merkmale der Theatertexte marginal die Formulierung punktueller allgemeiner Aspekte der Geschichtskonzeption des Dokumentartheaters in den 1960er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, obgleich diese Formulierungen aufgrund des geringen zeitlichen Abstandes zu dokumentarischen Ansätzen im 21. Jahrhundert allenfalls vorsichtige Einschätzungen sein können.
Da die Theorie zur modernen und postmodernen Erzählweise die gewählte Grundlage zur Analyse der Dokumentartheaterstücke Der Kick und Die Ermittlung darstellt, beginnt die Arbeit mit Teil I als theoretischem Abschnitt über modernes und postmodernes Geschichte(n)- Erzählen. Dazu werden zunächst in Kapitel 1 die Beiden Begriffe „Moderne“ und „Postmoderne“ definiert und daraufhin in einem weiteren Kapitel grundlegende Merkmale des modernen und postmodernen Geschichte(n)- Erzählens erläutert. Darauf aufbauend folgen im 2. Kapitel grundlegende Erläuterungen zum dokumentarischen Theater.
Damit sind theoretische Vorraussetzungen geschildert, um im Teil II der Arbeit die Untersuchung der beiden Konzepte des Dokumentartheaters von Weiss und Veiel/Schmidt durchzuführen sowie anhand der Theatertexte Die Ermittlung und Der Kick zu vertiefen. Auf historische Hintergründe des Theatertextes wird in der Analyse zu Die Ermittlung verzichtet, da allgemeine Kenntnisse über das Dritte Reich vorausgesetzt und anhand zahlreicher Sekundärliteratur zu Peter Weiss nachgeschlagen werden können. Die Geschichtsvermittlung und -konzeption der beiden Stücke wird anhand des dramaturgischen Aufbaus und der Handlung, außerdem anhand der jeweiligen geschichtlichen Erklärungsmodelle erläutert. Daran wird die Konvergenz von formaler Präsentation und inhaltlicher Vermittlung bzw. Geschichtsdeutung gezeigt. Anschließend folgt ein kurzer Abschnitt über das politisch-gesellschaftliche Wirkungspotential von Die Ermittlung und Der Kick. Aufgrund des textanalytischen Schwerpunktes der Arbeit bezieht sich dieser Abschnitt allein werkimmanent auf das mit der Geschichtsvermittlung verbundene politische Potential der Stücke, nicht auf eine tatsächlich ausgelöste Wirkung, welche einer empirischen Untersuchung bedarf. Die beiden Kapitel zu Weiss und Veiel/ Schmidt sind grob symmetrisch angelegt.
In Anknüpfung an diese textanalytischen Ausführungen wird exkursiv auf die Inszenierung des Theatertextes Der Kick von Andres Veiel eingegangen. Daran können vertieft formale Parallelen zu Die Ermittlung gezeigt werden.
Im III. Teil der Arbeit werden die wesentlichen Aspekte moderner und postmoderner Erzählweise im Dokumentartheater von Weiss und Veiel/Schmidt erläutert und die Gesamtarbeit zusammengefasst.
Insgesamt verläuft die strukturelle Argumentation der Arbeit über allgemeine Grundlagen zum konkreten Stückvergleich, um schließlich beide Komponenten resümierend zu verknüpfen. Schließlich folgt ein kurzer Ausblick, der auf den Aktualitätsbezug des Theatertextes Der Kick eingeht.
I. Modernes und postmodernes Geschichte(n)-Erzählen im Dokumentartheater
Die Ermittlung von Merkmalen und Tendenzen moderner und postmoderner Geschichtsvermittlung in den Dokumentarstücken Die Ermittlung und Der Kick von Peter Weiss und Veiel/Schmidt im II. Teil der Arbeit bedarf einer theoretischen Basis. So werden in diesem Teil I die Begriffe „Moderne“ und „Postmoderne“ definiert und daran anknüpfend auf Merkmale modernen und postmodernen Geschichte(n)- Erzählens eingegangen. Damit ist die Grundlage geebnet, um daran anschließend im Kapitel über das Dokumentartheater die Definition des Genres und einen kurzen entwicklungsgeschichtlichen Abriss vor dem Hintergrund moderner und postmoderner Momente und Tendenzen auszuführen.
I.1. Geschichte(n)-Erzählen in der Moderne und Postmoderne
I.1.1. Begriffsbestimmungen
Im Folgenden werden die Begriffe „Moderne“ und „Postmoderne“ definiert. Mit der Definition wird keine unumstößliche Begriffsbestimmung angestrebt. Die einzelnen Merkmale markieren zusammen genommen eine Tendenz, anhand derer die Analyse durchgeführt wird.
Die beiden Begriffe „Moderne“ und „Postmoderne“ sind insofern terminologisch miteinander verknüpft, als die Post- Moderne ein Phänomen ‚nach’ der Moderne beschreibt und sich auf diese bezieht.[16] Damit schließt die Definition der Postmoderne stets eine Begriffsbestimmung der Moderne ein. Doch existiert weder ein wissenschaftlicher Konsens über die Definition, noch über eine zeitliche Eingrenzung beider Begriffe. Ebenso ist eine eindeutige terminologische und zeitliche Abgrenzung der Moderne von der Postmoderne aufgrund verschiedener wissenschaftlicher Positionen nicht möglich.[17] Der Diskurs um den schillernden Begriff der Postmoderne entstand in den verschiedenen Disziplinen zu unterschiedlichen Zeitpunkten.[18] In bedeutendem Umfang entwickelt er sich in den 1950er und 1960er Jahren.[19] Seit dieser Zeit sind verschiedene Konzepte entstanden, die im Extrem bis zu konträren spiegelbildlichen Moderne- Postmoderne-Definitionen reichen. So verstehen die einen unter der Moderne allgemeine Pluralisierungs- und Differenzierungstendenzen und grenzen davon die Postmoderne in ihrem Bestreben zur monistischen Ganzheitlichkeit ab. Die anderen erfahren die Moderne als Prozess der Uniformierung, von deren Vereinheitlichung sich die Postmoderne in ihrer Differenzierungs- und Pluralitätsintention absetzt.[20]
Vor dem Hintergrund dieser konträren Definitionen ist eine Positionierung sowie eine genaue Begriffs- und Konzeptbestimmung notwendig. So bemerkt Wolfgang Welsch treffend: „[...] wer sinnvoll von der Postmoderne sprechen will, muss angeben, gegen welche Moderne er sie absetzen möchte.“[21]
Diese Arbeit setzt in Anlehnung an Wolfgang Welsch und Jean- Francois Lyotard auf die Postmoderne in ihrer Pluralisierungsoption und grenzt sie von der Moderne in ihrer Tendenz zur Vereinheitlichung ab. Zum einen können mit dieser Konzeption wesentliche Momente der Dokumentarstücke von Weiss und Veiel/Schmidt beschrieben werden.[22] Zum anderen weisen Lyotard und Welsch präzise und nachhaltige Konzeptionen zur Postmoderne auf. Welschs Konzeption basiert auf einer differenzierten Analyse, die nicht vor der Problematik des schillernden Begriffs der Postmoderne kapituliert, sondern sich den Unklarheiten stellt und für einen Lösungsansatz plädiert.[23]
Welsch nimmt keine pauschale Dualisierung in Einheits- und Vielheitskonzeption von Moderne und Postmoderne vor, sondern macht darauf aufmerksam, dass beide Komponenten in beiden Strömungen vorhanden sind. Der Unterschied besteht in einem veränderten Bewusstsein von und Umgang mit der Vorstellung von Ganzheit. Während die Moderne mit Ausschließlichkeitsprinzipien versucht, Ganzheit darzustellen, versucht es die Postmoderne, indem sie Offenheit mit einschließt. So folgert Welsch: „Wirkliche Ganzheit kann aus Strukturgründen einzig durch ein Denken der Pluralität eingelöst werden.“[24]
Welsch unterscheidet im Groben zwischen der neuzeitlichen Moderne und der Moderne des 20. Jahrhunderts. Bei beiden negiert Welsch trotz Universalitätsanspruch deren Pluralismusoptionen nicht. Er bemerkt: „Die Klagen über den Verlust der Einheit sind alt“.[25] So zeichnet sich das Zeitalter der Aufklärung durch zahlreiche Gegenbewegungen zur Aufklärung aus und weist in diesem Sinne pluralistische Konzeptionen auf. Doch sie „alle reproduzieren die neuzeit-typischen Charakteristika [...] der Ausschließlichkeit und Universalität. [...] Nie verstehen diese Erneuerer, was sie propagieren, als nur einen von mehreren möglichen Wegen, es muss vielmehr immer der einzig richtige sein.“[26]
Das ändert sich im 20. Jahrhundert. Vielheit und Zersplitterung werden denkbar.[27] Doch wird der Pluralismus in der Moderne des 20. Jahrhunderts erst „sektoriell verbindlich“[28] und ist häufig noch einheitlichen, wenn auch komplexen Wirklichkeitsvorstellungen untergeordnet. Erst in der Postmoderne wird dieser Pluralismus „konsequenterweise zur Grundverfassung“.[29] [30]
Insgesamt versteht Welsch die Postmoderne in Abgrenzung zur neuzeitlichen Moderne als ‚Nach- Moderne’, indem sie deren Einheitsträume verabschiedet. In Bezug auf die Moderne des 20. Jahrhunderts kann sie als ‚Radikal- Moderne’ betrachtet werden, da sie pluralistische Ansätze zur verbindlichen Grundform ernennt und Einheitsgedanken gänzlich verwirft.[31]
Die Moderne kennzeichnet damit zwei besondere Merkmale: sie zeichnet sich zum einen durch die fortschreitende Zersplitterung und Pluralisierung der Welt in Einzelphänomene aus und wählt damit zu ihrer Epistemologie Perspektivenpluralismus und Relativismus. Zugleich gibt sie den Glauben an eine der Welt zugrundeliegende einheitliche Realität nicht auf, den die Postmoderne überwindet. Die Postmoderne radikalisieret Pluralitätstendenzen der Moderne. Sie „beginnt dort, wo das Ganze aufhört.“[32] So formuliert auch Lyotard: „Die Postmoderne situiert sich weder nach der Moderne noch gegen sie. Sie war in ihr schon eingeschlossen, nur verborgen.“[33]
Auch Lyotard definiert die Postmoderne in ihrem Vielheitsbestreben in Abgrenzung zur Moderne. Seine 1979 erschienene Arbeit „La condition postmoderne“ hat den Diskurs um die Postmoderne nachhaltig geprägt. Lyotard definiert die Moderne als einen Geisteszustand, der trotz Pluralisierung an die große Meta-Erzählung als legitimierende Leitidee glaubt. Lyotard postuliert: „So wird etwa die Konsensregel zwischen Sender und Empfänger bei einer Aussage mit Wahrheitswert für annehmbar gehalten, wenn sie sich in die Perspektive einer möglichen Einstimmigkeit der mit vernünftigem Geist begabten einschreibt: das war die Erzählung der Aufklärung, worin der Heros der Wissenschaft an einem guten ethisch-politischen Ziel, dem universellen Frieden, arbeitet.“[34]
Da der Glaube bzw. das Festhalten an einer Einheit im Zuge der fortschreitenden Pluralisierung zunehmend schwieriger wurde, mischte es sich häufig mit einem „Pessimismus“[35], der den Zustand der Fragmentation und Haltlosigkeit verurteilte, die Welt im Begriff des Verfalls wahrnahm, und der sich aus dieser Situation hinaussehnte.
Obgleich Lyotard keine genaue zeitliche Eingrenzung der Moderne vornimmt, weist er auf den Pessimismus hin, der „Die Generation [...] nach der Jahrhundertwende in Wien genährt [hat]“.[36] Dieser Pessimismus kann als Ausdruck der zugespitzten Pluralisierung und Auflösung von traditionellen Sinnordnungen des 19. Jahrhunderts, des bürgerlichen Zeitalters, betrachtet werden. Indem die Postmoderne den Glauben an eine Einheitlichkeit, an die großen Meta-Erzählungen aufgibt,[37] begrüßt sie zugleich die Verabschiedung der Einheit mit einer positiven Bewertung erkennt sie in ihrem eigenen Wert an; Lyotard weist auf dieses Merkmal unter Bezugnahme auf die Wiener Moderne hin, wenn er den Übergang von Moderne zur Postmoderne beschreibt:
„Dies ist der Pessimismus, den die Jahrhundertwende in Wien genährt hat: [...] Man kann heute sagen, daß diese Trauerarbeit abgeschlossen ist. Sie muss nicht wieder begonnen werden. Es war die Stärke Wittgensteins, dass er dem nicht auf die Seite des Positivismus entwich, den der Wiener Kreis entwickelte, und daß er in seiner Untersuchung der Sprachspiele die Perspektive einer anderen Art von Legitimierung entwarf. Mit ihr hat die postmoderne Welt zu tun. Die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung ist für den Großteil der Menschen selbst verloren.“[38]
Die Enteinheitlichung der Welt ist mit einer allgemeinen Dezentralisierung verbunden, mit einem Nebeneinander verschiedenster Möglichkeiten, die Lyotard anhand der enthierarchisierten Wissensstruktur beschreibt: „Die spekulative Hierarchie der Erkenntnisse macht einem immanenten, sozusagen „flachen“ Netz von Forschungen Platz, deren jeweilige Grenzen nicht aufhören, sich zu verschieben.“[39] Dabei beeinflussten der Aufschwung der neuen Technologien diese Entwicklung, sowie die „Wiederentfaltung des liberalen, fortgeschrittenen Kapitalismus, der, nach seinem Rückzug unter dem Schutz des Keynesianismus während der Jahre 1930- 1960, vorgerückt ist, die kommunistische Alternative beseitigt und den individuellen Besitz an Gütern und Dienstleistungen aufgegeben hat.“[40] [41]
Insgesamt umfassen folgende Schlüsselbegriffe die Definition von Moderne und Postmoderne :
- Pluralismus als gemeinsames Merkmal von Moderne und Postmoderne
- fortschreitender Zerfall von Einheitsvorstellungen, Dezentralisierung und deren positive Bewertung als Unterscheidungsmerkmal postmodernen Denkens von der Moderne
Daran lassen sich im folgenden Unterkapitel wesentliche Konsequenzen für modernes und postmodernes Geschichte(n)- Erzählen ableiten, anhand derer themenunabhängig die Dokumentarstücke von Weiss und Veiel/Schmidt untersucht werden können.
I.1.2. Geschichte(n)-Erzählen in der Moderne und Postmoderne
Das Dokumentartheater befindet sich im Spannungsverhältnis zwischen Faktizität und Poetizität, d.h. Ästhetik. Die Vermittlung eines geschichtlichen Ereignisses, das Geschichten- Erzählen, lässt sich vor dem Hintergrund moderner und postmoderner Aspekte zum einen von der ästhetischen Seite beleuchten. Zum anderen ist die Betrachtung geschichtswissenschaftlicher Entwicklungen aufschlussreich. So hat Sven Hanuschek in seiner Studie zu Heinar Kipphardts Dramen auf die „starke Bindung“ von Dokumentartheater und Geschichtsschreibung aufmerksam gemacht.[42] Auch diesbezüglich eignet sich Lyotards Werk zur Beschreibung der Postmoderne, als es die Moderne und Postmoderne unter dem philosophischen Aspekt von Wissenschaftlichkeit betrachtet. W.G. Sebald und G. Köpf zeigen große Parallelen zwischen Lyotards Beschreibung des modernen und postmodernen Wissens mit wissenschaftlichem und ästhetischem Geschichte(n)- Erzählen.[43] Im Folgenden wird vordergründig auf die Ausführungen Sebalds und Köpfs eingegangen, da sie speziell modernes und postmodernes Geschichte(n)-Erzählen erläutern.[44]
Entsprechend der These Lyotards, dass sich die Moderne durch Pluralismus auszeichnet, der noch an den ‚großen Erzählungen’ festhält, tendiert die moderne Geschichtsschreibung und Literatur eher dazu, allumfassende Erklärungsmuster für eine Erzählung zu finden, „Ursprung, Gesetze und Ziel von historischen Prozessen in umschließender Weise zu deuten und zu analysieren“.[45] Das Bestreben, historische Ereignisse in einer einheitlichen Kontinuität darzustellen, führt häufig zu einer monokausalen Geschichtsbetrachtung, die den Einzelfall linear auf eine bestimmte Ursache zurückführt und repräsentativ in den großen, allgemeinen historischen Zusammenhang einordnet.[46] Sebald / Köpf markieren als Tendenzen der modernen Narration jeweils die Bevorzugung der Erzählung einer kollektiven Vergangenheit; sie zitieren diesbezüglich Ulrich Schmidt, der schreibt:
„Während in historischen Einzelerzählungen das Geschehen weitgehend aus der Perspektive eines unmittelbar betroffenen Individuums wiedergegeben ist, bilden den Gegenstand der wissenschaftlichen [modernen] Geschichtsschreibung vornehmlich solche Ereignisse, Strukturen und Transformationsprozesse der kollektiven Vergangenheit, die ohne die subjektiven Brechungen von historischer Erfahrung als objektive dargestellt werden. Diese Abstraktion vom lebensweltlichen Geschichtenerzählen hat die Funktion, einen möglichen Gesamtzusammenhang als allgemeine Geschichte für die vielen Einzelerzählungen zu konstruieren.“[47]
Diese Einheitlichkeit spiegelt sich in der Form des Kunstwerks, das die organische Ganzheit nicht völlig aufgibt, wider. Zugleich weist es pluralistische Momente in der Konstituierung von Handlung, Aufbau, Figur, Sprach- und Zuschauerebene wider.[48]
Die Geschlossenheit traditioneller Kunstformen bzw. die Autonomie des Kunstwerks wird durchbrochen. In einer Welt, die keine zusammenhängende Ganzheit mehr bildet, in der Realität als ein chaotischer und durch Zufall bestimmter Ereignisraum wahrgenommen wird, können Geschichten, die diese Wirklichkeit wiedergeben sollen, nicht mehr in der traditionellen Darstellungsform erzählt werden. Die geordnete, geradlinige Sinnstruktur traditioneller Handlungsmuster, die sich zielgerichtet nach einer chronologischen und geschlossenen Ereigniskette von Anfang, Mitte und Ende entwickelt, wie beispielsweise noch im naturalistischen Drama Ende des 19. Jahrhunderts, wird in der Moderne in zunehmender Weise aufgebrochen. Moderne Kunstformen präsentieren die Komplexität der Welt in einem Nebeneinander von Einzelgeschichten, die nicht als Kettenereignisse aufeinander folgen, sondern sich gegenseitig relativieren und widersprechen. Die Montage- und Collagetechnik wurde als beliebtes formales Kunstmittel zur Darstellung der fragmentarischen Welt benutzt.[49]
Typisch für die moderne Literatur ist ebenfalls die Entstabilisierung der ‚literarischen Figur’. Die durch die Zerstückelung der Welt ausgelöste Entfremdung und Krise des Individuums spiegelt sich in der Ablehnung wider, literarische Figuren als einheitliche, stabile bürgerliche Individuen oder Persönlichkeiten zu konzipieren. Viele literarische Figuren „ringen um das Bewusstsein ihrer Identität, um die Ganzheit ihres Ichs. Hier manifestiert sich die Krise des Ich, die zerstörte Ichgewissheit, die Freud aufgedeckt hat“.[50] Das Ich basiert nicht mehr auf der Sicherheit seiner Mitte.
Des weiteren führt der Zerfall der Wirklichkeit in Einzelteile, in isolierte Phänomene und die Auflösung von traditionellen Sinnordnungen in der Moderne zu einer Sprachkrise. So ist es nicht ungewöhnlich, dass Schriftsteller versuchen, für die entfremdete Welt eine Sprache zu finden, „die richtige Sprache für das zu finden, was man ausdrücken will.“[51]
Das Fragmentarische auf allen Ebenen moderner Kunstwerke durchbricht die traditionelle geschlossene Form und Autonomie des Kunstwerks.
Mit der fragmentarischen Form des Kunstwerks konvergiert das für moderne Literatur typische autoreflexive Element, das eine zunehmende Reflexion über Wahrnehmungs- und Vermittlungsbedingungen von Wirklichkeit indiziert und illusionistische Rezeption ausschließt.[52] Die Kennzeichnung des Kunstwerkes als solches wirkt der Illusion entgegen, durch welche sich der Rezipient im Kunstwerk ‚verliert’. Die moderne Literatur fordert so inhaltlich wie formal vom Rezipienten Eigenaktivität; er muss die fragmentarischen Einzelteile selbst zusammensetzen und zum Zustandekommen des Kunstwerkes beitragen. Die offene Form und Struktur moderner Kunstwerke ermöglicht dem Zuschauer eine eigene Interpretation. Der Sinn der Kunstwerke liegt nicht mehr in ihnen selbst beschlossen, in zunehmender Weise wird nicht mehr das Rezeptionsresultat als entscheidendes Ereignis angestrebt, sondern es geht um den Prozess des Rezipierens und die Interpretation des Rezipienten, der damit auf sich selbst zurückgeworfen ist. Die Rolle des Rezipienten und performative Elemente werden immer bedeutsamer. Auf diese Weise überschreiten moderne Kunstwerke die Grenze zwischen Realität und Fiktion, gehen Wirklichkeit und Kunst ineinander über.
Postmodernes Geschichte(n)-Erzählen radikalisiert die fragmentarischen Momente der modernen Narration, indem es die Form der organischen Ganzheit aufgibt. Lyotards Postulierung vom Ende der Meta-Erzählungen, der „Aufgabe der Fabeln“[53] betont die Skepsis der Postmoderne gegenüber einer Hermeneutik des Sinns, reduktionistischen Denkens sowie universaler Erklärungsmuster, die Wesen, Ursprung, Gesetze und Ziel historischer Ereignisse zu deuten bestrebt sind.[54]
Geschichte und Wissen werden in der Postmoderne zunehmend nicht mehr in linearen Argumentationen und Kausalitäten vermittelt. Einzelne Wissensfragmente müssen in ihrer wechselseitigen Anknüpfbarkeit miteinander vernetzt werden; Wissen und Fakten werden zirkulär präsentiert. Diese Wissensvernetzung, wie sie Lyotard ausführt, erinnert an das netzförmige Aufbauprinzip des Hypertextes, das nicht mehr auf einer hierarchischen Wissens- und Faktenvermittlung beruht, sondern auf Knotenpunkten bzw. Links basiert, die unterschiedliche Wissensbereiche miteinander kombinieren.[55] Der Monopolismus und das „zu dirigistischen Zwecken [...] [eingesetzte] Herrschaftswissen als Wissensrepräsentationstypus“[56], ist von der Netzstruktur abgelöst worden. Wissen wird in Schichten „folienartig übereinandergelegt“[57] und kombiniert, so dass sowohl die Möglichkeit zur Entdeckung neuer Wissensstrukturen gegeben ist, als auch die Möglichkeit des Scheiterns immanent besteht. Durch die Kombinierung bisher getrennter Wissensbereiche und diese Schnittpunktbildung kann eine Dialogeröffnung entstehen. In diesem Spiel mit Möglichkeiten spiegelt sich die für die Postmoderne charakteristische positive Bewertung des Pluralismus wider. Die Entdeckung neuer Wissensstrukturen ermöglicht die narrative Erprobung verschiedener, „voneinander abgrenzbare[r] Erzählungen“[58] sowie eine hohe Kombinationsmöglichkeit durch die Vernetzung und Übereinanderschichtung von Fakten. Sebald / Köpf konstatieren:
„Geschichte wird insofern wörtlich angewendet, da das Geschichtete in ihrer Formation ernst genommen und zuvorderst betrachtet wird; durch die Separierung der einzelnen Schichten der Geschichte und ihre eigenständige narrative Aufbereitung werden diejenigen Zwischenschichten betont, die sonst von den Deckschichten der Geschichte überlagert werden. Geschichte ist in postmoderner Sicht das Geschichtete, das es zu entschichten und zu dekompressieren gilt, um so die es konstituierenden Elemente und Fragmente einzeln zu gewichten und aufwertend erzählen zu können.“[59]
Insgesamt führt die Netzstruktur zu einem Verlust von Objektivität und Abstraktion. Da die Welt in ihrer Gesamteinheit nicht erfassbar ist, wird die Darstellung der umfassenden, klar strukturierten und grob gemusterten Geschichtsbuch- Geschichte, der „Geschichte der Sieger“[60] infrage gestellt und eine Geschichte der Verweise, Bezüge und Ausschnitte favorisiert. Postmodernes Geschichte(n)- Erzählen nimmt „historische Einzelereignisse als das, was sie sind, als Einzelereignisse nämlich, und sie versucht nicht um jeden Preis, Notwendigkeiten zu konstruieren, um die Summe der Einzelereignisse in eine Abfolge zu reihen und somit eine totalitaristische Meta- Erzählung zu finden.“[61]
Indem postmoderne Narration die Formulierung abstrakter geschichtlicher Gesetze und der Erzählung einer kollektiven Vergangenheit aufgibt, wird die Geschichtserzählung in ihrer Besonderheit, im Konkreten belassen, die globale Geschichtsbetrachtung von einer regionalen und dezentralen abgelöst.[62]
Damit konvergiert eine Hinwendung zu den kleinen Erzählungen und dem Nebeneinander individueller Brechungen. Das Individuum steht im Wechselbezug zur eigenen Geschichte, es wird nicht als Objekt vorgestellt, an dem sich überindividuelle Geschichtsprozesse exemplifizieren lassen, „sondern es wird gezeigt als untrennbar eingebunden in die Prozessualität der Geschichte, an der es teilhat.“[63] Geschichte wird in ihrer Phänotypologie gezeigt. Die zentralen Figuren würden „im Kontext der herkömmlichen Geschichtsschreibung höchstens als Statisten oder in Statistiken erscheinen [...].“[64]
Konsequente Weiterführung der Moderne durch die Postmoderne zeigt sich auch in der Fragmentarisierung des Subjekts das bereits schon in der Literatur der Moderne in Ansätzen vorhanden ist. Die postmoderne Literatur „löst die Konturen des Ich vollständig auf, projiziert es in eine Skala von äußeren Erscheinungsformen, zersplittert es in variantenreiche Spracherscheinungen.“[65]
Die Dezentralisierung der Geschichtsschreibung und der literarischen Erzählung betrifft dabei nicht allein die Personen bzw. Figuren, die Geschichte bzw. Geschichten erzählen, sondern auch die Wahl der häufig marginalen und peripheren Handlungsorte, an denen verborgene Geschichtsstrukturen als Gewobenes und Geschichtetes gezeigt werden, da kein Zentrum mehr in der Geschichtsschreibung existiert. Ausnahmen stellen nicht selten den Regelfall dar.[66] So folgern Sebald / Köpf:
„Die Aufwertung der Peripherie und die gleichzeitige Abwertung des Zentralen ist ein wesentliches Kennzeichen des postmodernen Erzählens überhaupt.[...] In der Postmoderne hat daher selbst die Geschichte im Plural zu stehen.“[67]
Auch die korrekte Deutung geschichtlicher Daten im wissenschaftlichen Sinne zählt nicht mehr vordergründig.
„Die Frage nach Fiktionalität oder Faktizität ist im Einzelfall nicht einer historischen Prüfung und Würdigung zu unterziehen, sondern das literarisch angebotene und verarbeitete Material ist schlicht als Textretikulum zu sehen, das Korrespondenzen herstellt und durch die Vernetzung zu einer anderen Sichtweise aufruft.“[68]
Die individuellen Einzelerzählungen beschreiben und deuten ein bestimmtes historisches Geschehen häufig unterschiedlich. Sie stehen in ihrer Parallelanordnung gleichberechtigt nebeneinander. Die Differenzen zwischen den Einzelerzählungen werden nicht geschlossen. Geschichte wird in ihrer Pluralität, Polyperspektivität, Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit dargestellt.[69] Es geht nicht mehr darum, welche bestimmte Wahrnehmung und Erfahrung als richtig, wahr und allgemein zulässig zu gelten hat. So mischen sich Fiktionalität und Faktizität stärker als in der Moderne, Wahrheit wird durch Performativität eingelöst.[70] Doch gerät die Geschichte nicht „zwischen Fakten und Fiktion abhanden, sondern sie offenbart sich in ihrer Verlängerung in den Plural des Möglichen und der Möglichkeiten.“[71]
Dieser konjunktivische Ansatz führt zur Methode der Verunsicherung und Irritation. Sah sich die Geschichtsschreibung lange Zeit in der Aufgabe, „das historische Gedächtnis mit Versicherungen zu bestärken, so ist nun Verunsicherung ihre Aufgabe“. Die Postmoderne zeigt überall „Züge einer deutlichen Selbstrelativierung“, „ist häufig ängstlich, sich definitiv festzulegen“.[72]
Das bedeutet nicht, dass jegliche Art von Kohärenz oder Geschichtsdeutung aufgegeben wird; vielmehr beruht die netzstrukturelle Vermittlung von Geschichte auf der Gleichzeitigkeit von Chaos und Ordnung, da die Schnittpunkte neben der Kombination von Möglichkeiten zugleich ordnendes Moment darstellen.
„Die Ausschaltung der gewöhnlichen und chronologischen personalen Geschichtsbetrachtung ermöglicht es, hinter Ereignisfolgen und – verläufen Muster zu entdecken und diese mit literarischen Mitteln zu betrachten.“[73]
Tendenziell werden nicht neue Informationen miteinander vernetzt, da alles bekannt und als Information verfügbar ist. Die Vernetzung ermöglicht methodisch neue Lesbarkeiten des Bekannten und führt zu Differenzierung.[74] [75]
Insgesamt schließt die Verunsicherung, die postmodernem Geschichte(n)- Erzählen immanent ist, zugleich den Anspruch auf eine Deutung nicht aus. Doch führt der verstärkt pluralistische Ansatz und die Hinwendung zur den kleinen, individuellen und ausschnitthaften Geschichten notwendig zu einer Rücknahme von vorgegebenen Eindeutigkeiten in der Geschichtsinterpretation sowie zur verstärkten „Demokratisierung des Zuschauers“.[76]
Zusammenfassung: modernes und postmodernes Geschichte(n)-Erzählen
Die zersplitterte Welt spiegelt sich in der Geschichtenerzählung moderner Literatur und Dramaturgie in der fragmentarischen, offenen Form auf allen Ebenen (Handlung, Figurenkonzeption etc) wider. Bei gleichzeitiger Darstellung einer widersprüchlichen, komplexen Wirklichkeit weist moderne Literatur tendenziell –trotz erster Ansätze zum Zweifel an einem einheitlichen Zentrum- eine organische Ganzheit auf, die sich in der Geschichtsschreibung und im Geschichten-Erzählen in der Konstruktion monokausaler Zusammenhänge und der Einordnung eines geschichtlichen Ereignisses in den großen Weltzusammenhang zeigt.
Die postmoderne Literatur und Geschichtsschreibung verschärft die fragmentarische Form des Kunstwerks. Postmodernes Geschichten-Erzählen und Literatur zeichnen sich durch „die bereitwillige, ja sogar erleichterte, Verwerfung der künstlerischen Aura und des Kunstwerkes als organisches Ganzes, [...] [durch] die Verwerfung von ‚Figur’ und ‚Handlung’ als bedeutungsvolle oder künstlerisch haltbare Konzepte“[77] sowie ihrem Spiel mit Sprache und Möglichkeiten aus.
Mit der postmodernen Dezentralisierung ist zudem eine Verstärkung performativer Momente verbunden, da ein eindeutiger Kern und Sinn des Kunstwerks kaum mehr vorgegeben wird und der Rezipient mit seiner Bedeutungszuschreibung als Interpret in stärkeren Maße zum Akteur wird als beim modernen Kunstwerk. Historische Ereignisse werden nicht mehr monokausal gedeutet und in den großen allgemeinen Geschichtszusammenhang gestellt. Stattdessen stehen kleine Einzelgeschichten gleichberechtigt nebeneinander, ohne an einen zentralen Punkt gekoppelt zu sein.
Diese zentralen Merkmale moderner bzw. postmoderner Literatur zeigen ihren Einfluss auf das dokumentarische Theater, wie im folgenden Kapitel ausgeführt wird.
I.2. Das Dokumentartheater
Begriffsbestimmung
„Das dokumentarische Drama scheint für die Literaturwissenschaft eher ein Problem als ein Genre darzustellen.“[78] So beschreibt Nesje Vestli treffend den Diskurs zum Genre. Diese Schwierigkeiten betreffen nicht allein das Verhältnis von Faktizität und Poetizität des Dokumentartheaters, sondern beginnen damit verbunden bei definitorischen Umgrenzungen und entstehungsgeschichtlichen Bestimmungen.[79] Die dialektische Spannung zwischen historischem Dokument und ästhetischer Umsetzung führt zu fließenden Übergängen zwischen der „Bindung ans Dokumentarische“ und der „Lösung vom Dokumentarischen“, so dass es eine „verbindliche [...] Lösung [...] nicht gibt.“[80]
Tautologisch definiert basiert das Dokumentartheater auf Dokumenten, die, in Abgrenzung zum Geschichtsdrama, als kompositionelles Strukturprinzip und erkennbar eigene „ästhetische Kategorie“[81] eingesetzt wird.
Immanenter Pluralismus: Offene Form und dialektische Geschichtsvermittlung
Mit dem Einsatz des Dokuments als eigene „ästhetische Kategorie“ ist notwendig das Gestaltungsprinzip der Montage als Merkmal des modernen Theatertextes verbunden. Eine Theaterhandlung wird durch „einzelne Bausteine authentischen Materials neu zusammengestellt.“[82] Die Collagetechnik bedingt notwendig eine fragmentarisch- offene Dramaturgie[83], die Auflösung der Autonomie des Kunstwerks und führt zu einer dialektischen Geschichtsvermittlung. Bleibt im Drama der geschlossenen Form, beispielsweise im naturalistischen Drama, das geschichtliche Ereignis an den historischen Augenblick gebunden, so zerstört die offene Form die „absolute Gegenwart des Dramas“[84] und löst das historische Ereignis aus seinem ursprünglichen Kontext. Das „Faktum [wird] in die Kontinuität des geschichtlichen Prozesses eingereiht und [..] zugleich aus dieser Festlegung in der Kontinuität [ge]löst, um die Erkenntnis seiner gegenwärtigen Aktualität zu vermitteln“.[85] Die Darstellung des vergangenen Ereignisses wird im Drama der offenen Form so im Gegensatz zum naturalistischen Drama als eine von der Gegenwart getrennte präsentiert. Die Spaltung von Vergangenheit und Gegenwart führt zur konsequenten Erinnerung des Rezipienten an die Distanz zwischen geschichtlichem Ereignis und dessen Transformationsvorgang in die Gegenwart, ja dessen Interpretationsbedürftigkeit. Daran zeigt sich ein veränderter, pluralistischer Umgang mit der Vermittlung von Geschichte in der Moderne: eine ‚Wahrheit’ wird kontextualisiert und relativiert betrachtet.[86]
Die Montagetechnik kann „als eine Art Verfremdung ausgelegt werden“,[87] denn die damit verbundenen Unterbrechungen der Handlung lassen dem Zuschauer Raum, „mit dem eigenen Urteil dazwischen“[88] zu kommen. Sie aktiviert den Zuschauer, indem er die Arbeit des Zusammensetzens übernehmen muss und fördert die Entwicklung einer nachdenklichen und kritischen Haltung, die der Rezipient dem Bühnengeschehen gegenüber einnehmen soll, anstatt sich durch eine illusionistische dramatische Darstellung mit den Figuren zu identifizieren.
Mit der Verfremdung ist formal nicht allein ein aktiver Appell an den Zuschauer verbunden, dem geschichtlichen Ereignis aktuelle Bedeutung beizumessen, sondern zudem die Aufforderung, das konkrete Ereignis in einen allgemeinen Zusammenhang zu stellen, d.h. auf seinen Modellcharakter hin zu abstrahieren. Die Verfremdung unterstützt damit formal die Unabgeschlossenheit des historischen Geschehens.[89]
Das Dokumentartheater ermöglicht die Vermittlung eines historischen Ereignisses in einem aktuellen Zusammenhang, indem dem zurückliegenden Geschehen eine gegenwärtige, modellierende Bedeutung zugeschrieben werden kann.
Insgesamt eignet sich das Dokumentartheater aufgrund seiner immanenten Merkmale wie dem Aufgreifen eines faktischen Geschehens, der offenen Form, der dialektischen Geschichtsvermittlung, der Aktivierung des Zuschauers sowie der Modellierung eines historischen Ereignisses insbesondere zum Hinweis auf gesellschaftliche oder politische Missstände. Die Aufdeckung und Kritik an gesellschaftlichen oder politischen Missständen führt zum politisch- aufklärerischen Potential des dokumentarischen Theaters.
Dokumentartheater der 1960er Jahre
Die dem Dokumentartheater immanenten Merkmale begründen die Blütezeit dieses Genres in den 1960er Jahren.
Integrierte Piscator schon in den 1920er Jahren das Dokument als ästhetische Kategorie in seinen Inszenierungsstil, so etabliert es sich als eigenständiges ästhetisches Gestaltungsprinzip endgültig in den 1960er Jahren, in denen ein verschärftes politisches und gesellschaftskritisches Klima die optimistische Stimmung der Wirtschaftswunderzeit ablöst.[90] Die Kritik an gesellschaftlichen Autoritäten, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Ditten Reiches, die in der Phase des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wiederaufbaus vernachlässigt wurde, und die Beschäftigung mit Kriegen und Krisen „als Ausdruck der weltweiten Polarisierung“[91] erklären die Entstehung dokumentarischer Theatertexte in diesem Jahrzehnt und die Thematisierung ‚großer’ geschichtlicher Ereignisse, die das Dokumentartheater der 1960er Jahre charakterisiert. So formuliert Hellmuth Kasarek:
„In einer Gesellschaft, die so große Erfolge darin gehabt hat, das Vergangene zu vergessen oder wegzudrücken, überlegt sich natürlich ein Autor, wie er sein allzu mobiles Publikum zwingt, sich wieder zu stellen und zu hören. Er überlegt sich, wie er Belege beibringt, die eines auf keinen Fall mehr zulassen: Ausflüchte vor dem Stoff, Belege, die die Ausreden im Keim ersticken, das Gezeigte sei erdichtet, unwirklich, Poesie. Das dokumentarische Theater ist eine Erfindung dieser Situation. Kein Ausweichen mehr! Was Du siehst, ist belegt [...].“[92]
Die Autoren der dokumentarischen Theatertexte der 1960er Jahre waren insofern mit dem für das Dokumentartheater charakteristische Spannungsverhältnis zwischen Realität und Fiktion, Authentizität und Ästhetik, Objektivität und Subjektivität konfrontiert, als es einerseits galt, die großen, historisch wirksamen Kräfte objektiv als belegbare Wahrheit darstellen zu wollen, andererseits eine kritische, d.h. subjektive Stellungnahme oder eine gegenwärtige Bedeutungszuschreibung zu vermitteln.[93]
Diese Ambivalenz lösten die Autoren in unterschiedlicher Weise und begründeten damit unterschiedliche Dramaturgien des Dokumentartheaters. Das Spannungsverhältnis stellte sich beispielsweise bei den zahlreichen dokumentarischen ‚Prozessdramen’. Die Materialvorlage der Prozesse legt eine objektive Handlungsabfolge vor, die ästhetisch bearbeitet werden muss, um einen subjektiven Standpunkt, eine Bedeutungszuschreibung vermitteln zu können. Bleibt diese Ästhetisierung, die immer zugleich Fiktionalisierung ist, aus, so beschränkt sich dokumentarisches Theater auf die Reproduktion reiner Oberflächenwirklichkeit und wird sinnlos.[94] [95] Hans Magnus Enzensberger und Heinar Kipphardt bilden in Das Verhör von Habana und In der Sache J. Robert Oppenheimer noch den Prozess als solchen, als Handlungsfolge ab. Am weitgehenden Verzicht auf ästhetisch- fiktionale Bearbeitung zeigt sich an Das Verhör von Habana exemplarisch die Problematik der Vermittlung einer kritischen Stellungnahme: die äußerst umfangreiche Interpretation Enzensbergers ist als Text den Verhörprotokollen vorangestellt, weil eine Bedeutungszuschreibung hier zu wenig als ästhetisches Gestaltungsprinzip umgesetzt wurde. Heinar Kipphardts Dokumentartheaterstück In der Sache J. Robert Oppenheimer weist fiktionale Elemente auf wie beispielsweise eingeblendete Fragestellungen, um die Verwechslung zwischen realer und theatraler Wirklichkeit zu vermeiden und die Wahrnehmung des Rezipienten zu lenken.[96] Peter Weiss löst die charakteristische dokumentarische Problematik, indem er in Die Ermittlung den Prozess als solchen nicht chronologisch abbildet, sondern das geschichtliche Ereignis sprachlich vermittelt. Damit kann Realität unmittelbar vermittelt werden, zugleich zerstört der Verzicht auf theatralische Nachahmung von Grund auf die Illusion der Ununterscheidbarkeit von Theater und Realität.
Insgesamt führt die Politisierung der 1960er Jahre zur Ausbildung des Dokumentartheaters mit seiner immanent offenen Form und dem Bezug zur Realität, die ein Wegschauen zu verhindern sucht. Dabei hat jeder Autor dramaturgisch einen anderen Weg gewählt, mittels Fakten in theatraler Umsetzung die Wirklichkeit zu belegen. Merkmale modernen Geschichte(n)- Erzählens zeigen sich hier in der tendenziellen Orientierung an den großen Geschichtsthemen und der Funktion der Dokumente, ein historisches Ereignis als objektive ‚Wahrheit’ zu belegen. Die pluralistischen Montagepartikel werden so einer Einheitlichkeit untergeordnet.
Dokumentartheater nach den 1960er Jahren
In den folgenden Jahrzehnten, insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren, sind wenig neue dokumentarische Theaterstücke entstanden.[97]
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts scheint sich die Entstehung dokumentarischer Theaterstücke zu mehren. So weist Kathrin Tiedemann in „Theater Heute“ auf die „zahlreichen dokumentarischen Ansätze, die zur Zeit verfolgt werden“[98], hin. Jürgen Berger macht im Programmheft zu den Mülheimer Theatertagen 2006 ebenfalls auf den neuen Trend zum Dokumentarischen im letzten Jahr aufmerksam.[99] Da eine differenzierte literaturwissenschaftliche Untersuchung hierzu bisher nicht vorgenommen wurde, kann an dieser Stelle nur auf punktuelle Erscheinungen zeitgenössischen dokumentarischen Theaters eingegangen werden, anhand derer sich mögliche Tendenzen abzeichnen. Deutlich wird daran die Radikalisierung pluralistischer Momente des Dokumentartheaters der 1960er Jahre in Bezug auf Begrifflichkeit und Geschichtsvermittlung.
Neben halbdokumentarischen Ansätzen[100] darf hinsichtlich der Öffnung des Theaters in vielerlei Hinsicht von einer zunehmenden Formenvielfalt ausgegangen werden, die den Begriff des Dokumentarischen im Vergleich zu den Möglichkeiten der 1960er Jahre erweitern, differenzieren oder auch in Frage stellen. Postmoderne Momente wie Performance und Happening, Entliterarisierung und die Ausbildung des Regietheaters, „Demokratisierung des Zuschauers“[101] und multimediale Formen, der Einfluss von Film, Fernsehen und Reality- TV, multikulturelle Beeinflussungen, die verstärkte Verbreitung von Laientheater und Theaterpädagogik, die Ausbreitung und Professionalisierung der freien Szene und fließende Übergänge zwischen freiem Theater und Stadttheater[102] unterstützen die verstärkte Unschärfe des Begriffs des Dokumentarischen und erschweren eine Übersicht dokumentarischer Theaterformen.[103] Diese Vermischung trägt dazu bei, dass das Dokument in seiner Funktion, eine objektive Wirklichkeit zu belegen, tendenziell an Bedeutsamkeit verloren hat. Zudem mag vor dem Hintergrund einer allgemeinen verstärkten Grenzverwischung von Realität und Fiktion in postmodernen Formen die Frage nach dem Sinn der Bezeichnung „Dokumentartheater“ in einigen Fällen nicht unberechtigt sein.[104]
Neue ästhetische Formen, politische und dokumentarische Ansätze entwickeln sich vor allem in der freien Szene.[105]
Ein Beispiel für die Unschärfe des Begriffs des Dokumentarischen und die Mischung von dokumentarischen Ansätzen, Performance, Arbeit mit Laienschauspielern und Einfluss des Films und interkontinentaler Vernetzung bietet das seit einigen Jahren überregional bekannte Regiekollektiv „Rimini- Protokoll“, fester Stamm des Berliner HAU- Theaters der freien Szene.[106] Das Regieteam verdoppelte im Projekt Deutschland 2 eine Bonner Bundestagsdebatte live, indem Politiker- Doubles im Theater über Kopfhörer die Reden im Bundestag hörten und eins zu eins nachsprachen.[107] Diese Vernetzung wendeten sie in ihrem Projekt Cal Cutta interkontinental an, in dem die Zuschauer mit Menschen aus Calcutta telefonisch verbunden und durch Berlin dirigiert wurden.[108] In ihrem jüngeren Projekt Wallenstein arbeiten sie mit Laienschauspielern, die auf der Bühne mit eigenem Namen auftreten und aus ihrem Leben erzählen. Diese Theaterform, die Wirklichkeit inszeniert, verzichtet auf dokumentarische Reportagen oder Interviewaussagen.[109] Kritiker Uwe Gössel fragt: „Was ist das für eine Erzählform? Theaterinstallation, Dokumentarfilmtheater, Theaterhörspielperformance [...]?“[110] Obgleich „Rimini Protokoll“ in manchen Zeitungen als „dokumentarisches Theater“[111] bezeichnet wird, ist es eher filmisch geprägt und lässt sich nicht in die traditionelle Reihe dokumentarischer Theaterstücke einfügen, zumal die Textgrundlage häufig erst im Laufe der Probenprozesse entwickelt wird. Deutlich wird hier die Demokratisierung des Zuschauers, indem er die Theaterthandlung performativ beeinflusst.
Der traditionelleren, textuellen Sprechstück- Form von Peter Weiss und ihrer Vermeidung von Bebilderung folgen Autor-Regisseur Hans Werner Kroesinger[112] und Andres Veiel.[113]
Doch differenziert sich Kroesinger explizit von Peter Weiss, wenn er bemerkt: „Die Differenz zu dem, was Peter Weiss zum Beispiel gemacht hat, liegt darin, dass es gar nicht darum geht, eine Antwort festzuschreiben, sondern möglichst viele Perspektiven zu bieten, ein Feld zu erarbeiten, in dem sich Spieler und Zuschauer verhalten können, ihre Schlüsse aus den zur Verfügung stehenden Informationen ziehen können.“[114] In Coming home spielen sich die Kriege dementsprechend in einer Blackbox ab.[115] Zugleich zeigt sein Ansatz deutlich performative Elemente, wenn in vielen seiner Stücke das Publikum in Gruppen aufgeteilt wird, die Gruppen durch verschiedene Räume laufen, dadurch verschiedene Teile einer in den Räumen gezeigten Inszenierung sehen und die Zuschauer so in Interaktion miteinander treten können, da jeder zu unterschiedlichen Zeitpunkten etwas anderes gesehen hat.[116]
Auch Der Kick beruht auf einem dokumentarischen Text. Insofern er auf reinem Faktenmaterial beruht, kann er als Dokumentartheater bezeichnet werden. Doch zeigen sich auch hier deutliche Spuren der Demokratisierung des Zuschauers und die Skepsis gegenüber einer objektiv darstellbaren ‚Wahrheit’.[117] Das Theaterstück steht einerseits in der Tradition des Dokumentartheaters von Peter Weiss und überwindet zugleich die moderne Form der Erzählung, wie im folgenden Teil II. gezeigt wird.
Fazit Teil I
Moderne und postmoderne Phänomene beeinflussen faktisches wie poetisches Geschichte(n)- Erzählen und somit das Dokumentartheater im Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion. Das Dokumentartheater der letzten Jahre radikalisiert tendenziell die dem Dokumentartheater der 1960er Jahre immanenten fragmentarisch-pluralistischen Momente. Die offene Form und dialektische Vermittlung von Geschichte, Entautonomisierung des Kunstwerks und autoreflexive Momente werden durch die Demokratisierung des Zuschauers verschärft. Die Demokratisierung des Zuschauers und die Zunahme performativer Elemente führt zur Aufgabe von Einheitlichkeit. Die Dokumente werden nicht mehr einem positivistischen Geschichtsverständnis untergeordnet, sondern Geschichtsvermittlung favorisiert aufgrund der Demokratisierung des Zuschauers und Perspektivpluralismus eine Geschichte der Ausschnitte. Diese Radikalisierung der pluralistischen Momente führt so tendenziell zu einer veränderten Geschichtsvermittlung und, sofern dokumentarisches Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts gesellschaftliche Missstände aufzeigt, zu einem veränderten politischen Wirkungspotential. Die genannten Merkmale werden im Besonderen im folgenden Teil II. anhand des Dokumentartheaters von Peter Weiss und Andres Veiel/Gesine Schmidt gezeigt.
II. Dokumentartheater von Weiss und Veiel/Schmidt
Wie die Postmoderne pluralistische Momente der Moderne radikalisiert, so weist Der Kick pluralistische Momente der Dokumentartheaterstücke von Peter Weiss auf und radikalisiert sie zugleich, indem er Einheitsmomente aufgibt. Diese Hauptthese der Arbeit wird im Folgenden auf verschiedenen Ebenen ausgeführt. So wird in den grob symmetrisch aufgebauten Kapiteln zu Weiss und Veiel/Schmidt zunächst auf die Konzeption des Dokumentartheaters eingegangen und anschließend die gewonnenen Aspekte anhand der beiden Prozessdramen Die Ermittlung und Der Kick vertieft, da anhand des konkreten Textvergleichs weitere wesentliche Punkte erläutert werden können. Da Veiels/Schmidts Theatertext in der Literaturwissenschaft nicht vergleichbar bekannt ist wie Die Ermittlung, wird hier zusätzlich auf den historischen Hintergrund eingegangen. Das Kapitel über Veiel/Schmidts Dokumentarstück umfasst zudem einen kurzen Exkurs zur Inszenierung von Der Kick, welcher das Aufgreifen weiterer Momente des Dokumentartheaters von Weiss verdeutlicht.
II.1.1 Konzeption des Dokumentartheaters von Weiss
Peter Weiss formulierte sein Konzept des Dokumentartheaters in den Notizen zum Dokumentarischen Theater, die eine Begriffsbestimmung sowie verschiedene allgemeine Aspekte dieses Genres umfassen und zugleich spezifische Charakteristika der Dokumentardramen von Peter Weiss aufgreifen. So wird im Folgenden hauptsächlich anhand der Notizen das Konzept von Weiss unter dem Blickwinkel fragmentarischer und ganzheitlicher Merkmale untersucht.
Fragmentarische und reduktionistische Momente in Weiss’ Konzept
Das Dokumentartheater von Peter Weiss beansprucht eine berichtigende Funktion gegenüber wirklichkeitsverzerrenden und – fälschenden Medien, die es kritisiert. Die medienkritische Funktion greift Peter Weiss in seinen Notizen zum dokumentarischen Theater auf. Die Funktion des dokumentarischen Theater beschreibt Weiss in den Notizen anhand folgender Punkte:
„a) Kritik an der Verschleierung. Werden die Meldungen in Presse, Rundfunk und Fernsehen nach Gesichtspunkten dominierender Interessengruppen gelenkt? [...] b) Kritik an Wirklichkeitsfälschungen. [...] c) Kritik an Lügen. [...]“ (Notizen Punkt 2).[118]
Um der medialen Vermittlung von Wirklichkeit eine eigene ‚Wahrheit’ entgegenzusetzten, wählt Weiss die abstrakte Vermittlung eines realen Ereignisses. Sie ermöglicht eine kritische Auseinandersetzung mit dem dokumentarischen Material.
Dazu löst Weiss die einheitliche Fabel und die stringente Handlungsfolge auf. Indem die Dokumente nicht in Handlung umgesetzt werden, ein historisches Ereignis nicht naturalistisch dargestellt wird, können ausschließlich sprachliche Zitate als solche zitiert, in harten Schnitten widersprüchlichen Inhalts aneinandergereiht und eigene „Gesichtspunkte“ hervorgehoben werden (Notizen Punkt 11). So heißt es in den Notizen Punkt 11 und 5:
„Das dokumentarische Theater kann die Form eines Tribunals annehmen. Auch hier hat es nicht Anspruch darauf, der Authentizität eines Gerichtshofs von Nürnberg, eines Auschwitzprozesses in Frankfurt, [...] nahezukommen, doch kann es die im wirklichen Verhandlungsraum zur Sprache gekommenen Fragen und Angriffspunkte zu einer neuartigen Aussage bringen. Es kann, durch den Abstand, den es gewonnen hat, die Auseinandersetzung von Gesichtspunkten her nachvollziehen, die sich im ursprünglichen Fall nicht stellten“ (Notizen Punkt 11). „Die Bühne des dokumentarischen Theaters zeigt nicht mehr augenblickliche Wirklichkeit, sondern das Abbild von einem Stück Wirklichkeit, herausgerissen aus der lebendigen Kontinuität“ (Notizen Punkt 5).
Peter Weiss grenzt sich mit dieser „filmischen Ausschnittechnik“[119] der Montage sprachlicher Dokumente insbesondere von der visuellen Vermittlung eines historischen Ereignisses ab.[120] Während Bilder und die Filmkunst sich nach Meinung des Autors dem analytischen Verständnis von ‚Wahrheit’ entziehen, regt Sprache den Rezipienten zum Nachdenken und zur Kritik an. Über die Sprache lässt sich nach Weiss die Komplexität und auch die Brüchigkeit einer ‚Wahrheit’ vermitteln:
„Das Bild liefert eine Ganzheit und „spiegelt [...] [damit] eine heile Welt vor. [...] Worte enthalten immer Fragen. Worte bezweifeln die Bilder. Worte umkreisen die Bestandteile von Bildern und zerlegen sie. Bilder begnügen sich mit dem Schmerz. Worte wollen den Ursprung des Schmerzes wissen.“[121]
Der Reduktion auf die Sprache ist eine starke Verfremdung und formal die Herstellung eines Aktualitätsbezuges immanent, die zur Modellierung des Geschehens beiträgt. Klaus Harro Hilzinger formuliert:
„Dokumentarisches Theater konstituiert sich so als potenzierte Reflexion historisch realer Vorgänge, wenn diese nicht unmittelbar, sondern in der Vermittelung und Spiegelung durch das sprachliche Dokument reflektiert werden [...] das Zitat [markiert] deutlich die Grenze von Fiktion und Wirklichkeit und hebt sie zugleich auf, indem es als Übernahme aus einem anderen Bereich gekennzeichnet ist.“[122]
Die sprachliche Vermittlung eines historischen Geschehens verbindet zugleich Konkretheit mit Abstraktion und bezieht über die sprachliche Vermittlung von Geschichte Distanz und Reflexion ein.
Die Beschränkung der Dokumentarstücke von Weiss auf einen „formale[n] Minimalismus“[123] und sprachlicher Vermittlung von Geschichte wird durch die Reduktion darstellerischer Momente unterstützt. Die Schauspieler spielen keine Rollen, sie zitieren die Dokumente. Auf Requisiten wird weitgehend verzichtet. So heißt es in der Anmerkung zum Lusitanischen Popanz: [124]
„Die 9 Zeugen referieren nur, was hunderte ausdrückten“
Zu den Personen im Gesang vom Lusitanischen Popanz heißt es:
7 Spieler, 4 weibliche, 3 männliche, stellen alle Rollen des Stückes dar. [...] Mit einfachsten Mitteln können Übergänge von einer Rolle zur anderen dargestellt werden. Ein einfacher Gegenstand genügt: Ein Tropenhelm, [...] ein Sack [...] Die Schauspieler, gleich welcher Hautfarbe sie haben, sprechen abwechselnd für Europäer oder Afrikaner.“[125]
Entsprechend heißt es in der Vorbemerkung zum Viet Nam Diskurs:
„Jeder Spieler in diesem Stück stellt eine Vielzahl von Figuren dar, deren Aussagen und Verhaltensweisen in ihrer Gesamtheit einen bestimmten historischen Prozess verdeutlichen. [...] Der Übergang von der einen Rolle zur anderen wird nicht durch Hilfsmittel von Maske und Kostümen unterstrichen, sondern nur sparsam angewendet durch die Verwendung von einzelnen Attributen. [...] Die hier formulierten Bühnenanweisungen wollen vor allem deutlich machen, daß bei der Aufführung des Stücks größte Einfachheit gelten soll. Der Verzicht auf Kostümierung und die Beschränkung auf sparsamste dekorative Einzelheiten weisen darauf hin, daß die Spieler Wort, Gestik und Gruppierung zum zentralen Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung machen müssen.“[126] [127]
Insgesamt zeichnet sich das dokumentarische Theater von Weiss durch die fragmentarisch- reduktionistische Vermittlung historischer Ereignisse mittels scharfer Schnitttechnik aus. Diese Methodik eignet sich aufgrund der ihr immanenten abstrakten Vermittlung von Geschichte zur Medienkritik. Anhand der Hervorhebung eigener „Gesichtspunkte“ aus dem chaotischen dokumentarischen Material kann über die Anordnung der Dokumente eine eigene Geschichtsthese konstruiert werden.
Ganzheitliche Momente in Weiss’ Konzept
Peter Weiss nutzt sein Gestaltungsmuster der harten Schnitttechnik zur Umsetzung einer „Schwarz/Weiss- Zeichnung“ (Notizen Punkt 10), zur antithetischen Gegenüberstellung von Position und Gegenposition und zur Vereinfachung einer komplexen Realität durch Reduzierung auf ihre dichotomen Inhalte.[128] Dieses Muster konvergiert in den dokumentarischen Stücken Weiss’ mit einer einheitlichen Geschichtsinterpretation, die auf einer antikapitalistischen Parteilichkeit und sozialistischen Geschichtsinterpretation basiert. Peter Weiss’ Dokumentardramen umfassen damit jeweils große, globale Geschichtsbetrachtungen, die von linear gedachten Abfolgen metropoler geschichtlicher Ereignisse erzählen. Einzelereignisse werden einer tolitaristischen Geschichtsidee über Wesen und Gesetze der Historie untergeordnet. Geschichtswissen „wird monopolistisch verwaltet und zu dirigistischen Zwecken eingesetzt“.[129]
Obgleich die Notizen die parteiliche Position des dokumentarischen Theaters als sozialistische Perspektive nicht explizieren, weisen sie ein eindeutiges Vokabular auf, welches eine Schwarz- Weiß- Zeichnung der Verhältnisse und eine Einteilung der Personen in „Gewalttäter“ und „Ausgeplünderte“, „Gewinnende“ und „Verlierende“ vornimmt:
„Bei der Schilderung von Raubzug und Völkermord ist die Technik einer Schwarz / Weiß- Zeichnung berechtigt, ohne jegliche versöhnliche Züge auf seiten der Gewalttäter, mit jeder nur möglichen Solidarität für die Seite der Ausgeplünderten“ (Notizen Punkt 10).
„Einer Seite gereicht das Ereignis zum Vorteil. Eine andere Seite wird davon geschädigt. Die Parteien stehen einander gegenüber. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihnen wird beleuchtet. Die Bestechungen und Erpressungen werden geschildert [...] Die Gewinnenden verteidigen sich [...] Sie stellen sich vor als Erhalter der Ordnung. [...] Im Kontrast zu ihnen die Verlierenden“ (Notizen Punkt 9).
So ist das Dokumentartheater von Weiss „parteilich“ (Notizen Punkt 10) und führt zur Vermittlung einer eindeutigen ‚Wahrheit’:
„Viele seiner Themen können zu nichts anderem als zu einer Verurteilung geführt werden“ (Notizen Punkt 10).
In seiner eindeutigen Stellungnahme intendiert es die Aktivierung des Rezipienten zum „öffentlichen Protest“ (Notizen Punkt 4; Erg. Punkt 9), so dass es nicht im „kommerziellen Bühnenraum“ vorgeführt werden soll, sondern beispielsweise in „Fabriken, Schulen [...]“ (Notizen Punkt 13).
Sein Dokumentartheater beansprucht zugleich eine Allgemeingültigkeit, wenn es weiter heißt:
„Alles Unwesentliche, alle Abschweifungen können weggeschnitten werden zugunsten der eigentlichen Problemstellung. Verloren gehen die Überraschungsmomente, das Lokalkolorit, das Sensationelle, gewonnen wird das Allgemeingültige“ (Notizen Punkt 11).[130]
Es greift die ‚großen’ historischen Prozesse auf und wichtige Personen, die diese beeinflussten:
„Das dokumentarische Theater, das sich z.B. befassen will mit der Ermordung Lumumbas, Kennedys, Che Guevaras, mit dem Massaker in Indonesien [...] sieht sich zunächst dem künstlichen Dunkel gegenüber, unter dem die Machthabenden ihre Manipulationen verheimlichen“ (Notizen Punkt 3). „Nicht individuelle Konflikte werden dargestellt, sondern sozial- ökonomisch bedingte Verhaltensweisen“ (Notizen Punkt 9).
Deutlich formuliert der Autor seine Auffassung von einer umfassenden objektiven Erklärbarkeit und Einheitlichkeit der Welt, wenn er schreibt:
„Das dokumentarische Theater tritt ein für die Alternative, dass die Wirklichkeit, so undurchschaubar sie sich auch macht, in jeder Einzelheit erklärt werden kann“ (Notizen Punkt 14). „Je bedrängender das Material ist, desto notwendiger ist das Erreichen eines Überblicks, einer Synthese“ (Notizen Punkt 12).[131]
Um seine sozialistische Geschichtsdeutung zu verschärfen, beschränkt sich Weiss nicht auf die Auswahl und Anordnung dokumentarischen Materials. Diese Anordnung, die schon eine Ästhetisierung darstellt, wird durch Fiktionalisierungen und Stilisierungen unterstützt. Die Nebentexte beinhalten ausführliche Anweisungen. Figuren werden karikiert, ein Chor eingeführt (Vgl. Notizen Punkt 12) und Songs verwendet.[132] Die Figuren werden durch die Reduzierung auf Nummern und in allen dokumentarischen Theatertexten von Weiss entindividualisiert. Dazu trägt die Verwendung von symbolischen Farben bei.[133] Diese Mittel unterstützen die Auslöschung individueller Merkmale zugunsten einer Kollektivität. Auf einer abstrakten Ebene können so große geschichtliche Ereignisse gezeigt werden.
Zusammenfassung: Konzeption des Dokumentartheaters von Weiss
Insgesamt weisen die dokumentarischen Theaterstücke von Weiss fragmentarische wie ordnende Momente auf. Die Fragmentierung basiert auf der Schnitttechnik, die zugleich eine eigene These ermöglicht. Mit dieser Technik kann reine Oberflächenabbildung verhindert werden. Das für das dokumentarische Theater spezifische Spannungsverhältnis zwischen Objektivität und Subjektivität wird so in eigener Weise gelöst. Hier soll eine geschichtsmaterialistische Deutung anhand objektiver Fakten vermittelt werden.
Die ordnenden Momente konstituieren sich über die Anordnung der Dokumente in eine vereinheitlichende Schwarz- Weiß- Technik und Fiktionalisierungen, die über die reine dokumentarische Materialauswahl und Anordnung der Dokumente hinausgehen. Die zusätzliche Ästhetisierung verstärkt interpretatorische Ansätze Sie spiegelt auf struktureller Ebene die Konstruktion eines homogen geordneten Geschichtsbildes wider. So kann einerseits die zersplitterte Welt und zugleich eine ganzheitliche ‚Wahrheit’ dargestellt werden.[134]
Die erläuterten Merkmale werden im folgenden Kapitel anhand Weiss’ dokumentarischem ‚Prozessdrama’ Die Ermittlung vertieft analysiert.
II.1.2. Die Ermittlung
Die Ermittlung, die 1964 / 1965 entstanden ist, basiert gänzlich auf Dokumenten des Frankfurter Auschwitz- Prozesses, in dem die Vorgänge in Auschwitz juristisch verhandelt und aufgearbeitet wurden. Die Dokumente setzen sich aus Berichtprotokollen der FAZ und Weiss’ eigenen Notizen zusammen.[135] In Hinblick auf sämtliche Dokumentarstücke von Peter Weiss setzte der Autor in Die Ermittlung das Prinzip des „formalen Minimalismus“[136] am konsequentesten um. Diese reduktionistische Umsetzung resultiert u.a. aus der Unmöglichkeit bzw. fragwürdigen Darstellung der Vorgänge in Auschwitz und der Unfassbarkeit der unmenschlichen Grausamkeiten, die im Dritten Reich begangen wurden.[137] Da die grobe Kenntnis über die Zustände in Auschwitz vorausgesetzt werden können, erübrigt sich an dieser Stelle eine Erläuterung der geschichtlichen Hintergründe.
Aufbau und Handlung
Aufbau und Handlung von Die Ermittlung werden im Folgenden anhand verschiedener Aspekte erläutert, die fragmentarische und ganzheitliche Momente der Struktur des Textes betreffen. Sie sind eng miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig, werden hier jedoch aus Gründen der Übersichtlichkeit getrennt aufgeführt.
Fragmentarisch- reduktionistische Momente
Die Ermittlung basiert auf antithetisch aneinander montierten Aussagen von Täter- und Opferperspektiven aus dem Frankfurter Prozess. Auf dieser antithetischen Schnitttechnik basiert die ‚Spannung’ der Dramaturgie. Die harte Schnitttechnik der Zitatmontage als einzige Grundlage des Theaterstücks stellt ein wesentliches Moment der offenen Form in Die Ermittlung dar. Die ästhetische Vermittlung der Vorgänge in Auschwitz beschränkt sich nahezu gänzlich auf das Erinnern und Berichten; spezifische theatralisch- darstellerische Mittel treten in den Hintergrund. So weist Die Ermittlung kaum Regieanweisungen und Nebentexte auf. Diese „filmische Ausschnitttechnik“[138] und der weitgehende Verzicht auf sinnliche Vergegenwärtigung führt zu folgender treffenden, jedoch abwertend gemeinten Bewertung Reinhard Baumgarts über das Theaterstück: „Hier hat es einem Theatertext außer der Sprache alles verschlagen, was Theater angeblich braucht“.[139]
Tatsächlich bleibt als nahezu einziges charakteristisches, spielerisch- theatralisches Mittel der Dialog, über den sich die Handlung konstituiert, da Prozessdokumente aneinander gereiht werden. Die Handlung zerfällt damit in zwei verschiedene Fabeln. Den Rahmen der Handlung bildet der Frankfurter Prozess, in dem im Rede-Gegenrede Schema die Zustände in Auschwitz ermittelt werden. Ein Textbeispiel für die antithetische Anordnung der Dokumente im Rahmen der Prozessverhandlung von Auschwitz stellt folgender Ausschnitt dar:
„ZEUGE 3 Kaduk wurde von den Häftlingen/ Professor genannt/ oder/ Der heilige Herr Kaduk/ weil er selbständig Ausssonderungen vornahm [...] ANGEKLAGTER / Herr Direktor/Diese Behauptung ist unwahr [...] ZEUGE 3 Ich war dabei/ als Kaduk Hunderte von Häftlingen/ aus der Krankenstation holen ließ [...] ANGEKLAGTER 7 Ich habe keine Häftlinge ausgesondert/ Ich habe nichts entschieden“ (DE, S. 296-297).[140]
Der Prozess wird nicht chronologisch vom Beginn bis zum Ende dargestellt, an dessen Schluss die Urteilsverkündung steht, es liegt kein „historische Handlung imitierende[r] Dokumentarismus“[141] vor. So heißt es in der Anmerkung zu Die Ermittlung:
„Bei der Aufführung des Dramas soll nicht der Versuch unternommen werden, den Gerichtshof, vor dem die Verhandlung über das Lager geführt wurden, zu rekonstruieren. Eine solche Rekonstruktion erscheint dem Schreiber des Dramas ebenso unmöglich, wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre. [...] Die „Ermittlung“ [ist] weder die Geschichte des Frankfurter Prozesses, noch die Geschichte von Auschwitz. Was ermittelt wird, ist nicht die Schuld der Angeklagten- das hat der Frankfurter Prozess getan [...].“[142]
Auf die Rekonstruktion des Prozesses wird verzichtet, weil damit ein bestimmter Aspekt von Auschwitz hervorgehoben werden kann. Die Ermittlung zeigt Auschwitz als Massenausbeutungs- und Vernichtungssystem, das repräsentativ für andere Konzentrationslager steht.[143]
Um diesen Aspekt hervorzuheben, gliedert sich der Theatertext in Einzelepisoden. Diese Gestaltung ermöglicht die Darstellung einzelner Stationen, welche die Inhaftierten von ihrer Ankunft im Lager bis zur Gaskammer durchliefen. Die ausschnitthafte Anordnung der Prozessdokumente führt zu einem Zerfall der Handlung in Einzelepisoden, die zusammen verschiedene Aspekte des Konzentrationslagers als Massenvernichtungsmaschinerie dokumentieren. Diese Fragmentierung unterstützt der Verzicht auf charakteristische dramatische Elemente wie beispielsweise Höhepunkt und Peripetie.[144] Jede Episode erzählt andere Gräueltaten aus dem Lager, die den zuvor oder anschließend geschilderten Quälereien in ihrer Grausamkeit nicht nachstehen. Die Erzählung weist in ihrer Schilderung, die mit der Ankunft der Häftlinge beginnt und mit ihrer Vergasung endet, eine chronologische Abfolge auf, welche „eine imaginäre Wanderung durch die Topographie von Auschwitz“[145] assoziiert.
Einheitliche Momente
Obgleich der eigenen Anordnung der Dokumente eine Fragmentarisierung immanent ist, werden sie zu einer einheitlichen Ordo- Struktur montiert, die sich in einer homogenen Schwarz/Weiss- Zeichnung von Täter und Opferperspektive zeigt. Auch die einzelnen Episoden sind einer homogenen, zirkulären Struktur untergeordnet, die sämtlich den einzigen Aspekt der Massenvernichtungsmaschinerie von Auschwitz betonen. Anfang und Ende des Stückes ergeben einen Zirkel, eine Geschlossenheit, da die Vernichtung der Insassen Raum für Neuinhaftierungen schafft.[146]
Diese Geschlossenheit des Dramas und die Schwarz/Weiss-Zeichnung unterstützt die Ästhetisierung des Theatertextes als Oratorium in zwölf Gesängen. Die Gesänge entsprechen den Einzelepisoden. Der Untertitel Oratorium in elf Gesängen von Die Ermittlung verweist auf die Fiktionalisierung des dokumentarischen Theatertextes. In dieser Ästhetisierung lehnt Die Ermittlung an Dantes Divina Commedia an und basiert auf einer stark symmetrischen Struktur. Die elf Gesänge sind jeweils in drei verschiedene Abschnitte unterteilt. Der Text setzt sich so insgesamt aus 33 Fragmenten zusammen. Analog dazu bestehen in der Divina Commedia das Inferno, das Purgatorio und das Paradiso aus jeweils 33 (einmal 34) Gesängen. Die Zahl 3 und ihre Vielfachen lassen sich auch in den Figurenzahlen von Die Ermittlung finden: es gibt 3 Juristen, 9 Zeugen und 18 Angeklagte.[147] [148]
Parallelen des Leidensweges der Opfer in Die Ermittlung zur Höllenwanderung in der Divina Commedia sind unverkennbar.
Zugleich stellt Die Ermittlung inhaltlich einen Gegenentwurf zur Höllenwanderung der Divina Commedia dar, weil Dantes Werk ein „heiles Weltbild“[149] vermittelte, welches Die Ermittlung subvertiert.[150] Dantes Werk gründet auf einer Heilslehre, die auf das Leben nach dem Tod ausgerichtet ist, hingegen negiert Die Ermittlung jede Form von Metaphysik.[151] Die Ermittlung zeigt eine Hölle auf Erden, welche die Verankerung der Welt in einem einheitlich- sinnvollen, heiligen Gedankengebäude aufgegeben hat. Dementsprechend sind die Gesänge in Die Ermittlung nicht wie in Dantes „heilem Weltbild“ als Klang, sondern als „schauerlich grotesker Missklang“, als „Gesang von der Folter und dem Unmenschen“[152] zu verstehen.
In der säkularen Negation von Dantes einheitlichen Weltbild folgen Handlung und Aufbau von Die Ermittlung ebenfalls wie die Divina Commedia einem homogenen Prinzip, das mit einer monotonen Struktur in verschiedener Hinsicht korreliert. Die Gesänge unterstützen in ihrer variierten Wiederholung gleicher Aspekte die Homogenität des Massenvernichtungslagers und des Theatertextes.
Den musikalischen Aspekt verstärkt der in leicht rhythmischen Versen verfasste Text, der keine Satzzeichen aufweist und individuelle Sprechweisen auslöscht.[153] Diese zusätzliche Ästhetisierung führt zu einer Homogenisierung von Täter- und Opferseite, dh. zu einer statisch- eindimensionalen Figurenzeichnung, welche wiederum die homogene Dramaturgie des Textes stützt. So setzt sich das Oratorium in zwölf Gesängen, das als Untertitel des Stückes die musikalische Form ankündigt, aus den beiden statisch-antithetisch angeordneten Gruppen von Tätern und Opfern als Chören zusammen. Der Chor ist ein wichtiges Kompositionselement des Oratoriums.[154]
In Die Ermittlung gibt es allerdings keine Singstimmen, doch lassen sich Täter und Opfer als homogener Chor und Gegenchor auffassen.[155] Diese chorischen Gruppen begründen die für Peter Weiss’ Dokumentardramen typische „Schwarz/ Weiß- Zeichnung“.[156]
In der episch zugespitzten Konfrontation von Rede und Gegenrede, Chor und Gegenchor wird die Welt als eine aus Unterdrückern und Unterdrückten bestehende gezeigt, die individuelle ‚Töne’ weitgehend ausschließt.[157] Die häufige Verwendung des verharmlosenden Wortes „nur“., mit dem sich die Angeklagten ihrer Verantwortung entziehen, unterstützt ihre Charakterisierung als Gruppe. Schon auf der ersten Seite des Theatertextes sagt Zeuge 1:
„ZEUGE 1: [...] Ich hatte nur fahrplantechnische Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Pendelverkehr zwischen Lager und Bahnhof durchzuführen.“ (DE, S. 261, Vgl. ergänzend z.B. S. 269, 270, 271, 273, 277, 278, 279)
Sprache entlarvt die Angeklagten und indiziert in Die Ermittlung eine ‚Wahrheit’, die sich hinter der zerrissenen Welt verbirgt.
Die Homogenisierung der Angeklagten als Gruppe wird durch Regieanweisungen als weiteres fiktionales Merkmal des Textes unterstützt. Die einzige Regieanweisung des Theatertextes besteht aus dem häufigen monoton- chorischen Lachen und der gegenseitigen Zustimmung der Angeklagten, welches die Aussagen der Häftlinge abwertend kommentiert. Diese stilisierte Verfremdung chorischen Lachens prallt auf die alptraumanaloge Gestaltung des Leidensweges der Häftlinge. Vor dem Hintergrund, dass im Stück die Lügen der Angeklagten durchgängig entlarvt werden, unterstützen diese Regieanweisungen deren Karikierung.[158] Diese interpretierende Zufügung zum dokumentarischen Material beschreibt Hilzinger als „Höllensignal des uniformierten Gelächters“, welches „die Szenen pointiert- provokatorisch schließen“ lässt.[159]
Besonders provokant ist das Ende des Stückes, an dem der Appell des Angeklagten 1, die Vergangenheit als überwunden und abgeschlossen zu betrachten, mit der Anweisung: „Laute Zustimmung von seiten der Angeklagten“ abschließt (DE, S. 448).
Zusammenfassung: Aufbau und Handlung von Die Ermittlung
Entsprechend der Konzeption des Dokumentartheaters von Peter Weiss weist das ‚Prozessdrama’ Die Ermittlung sowohl Merkmale der offenen als auch der geschlossenen Form auf. Die offene und reduzierte Struktur der Schnitttechnik, die Auflösung der stringenten Prozesshandlung und einheitlichen Fabel nutzt Peter Weiss zur Montage einer weitgehend homogenen Struktur und klare Einteilung in Täter- und Opferseite, die er durch fiktionale Elemente wie Ästhetisierung des Theatertextes als Oratorium und Verfremdungen verstärkt. Die musikalisch-monotone Sprache dient der Entlarvung einer eindeutigen Wahrheit. Diese Fiktionalisierungen unterstützen die Abstraktion der konkreten Ereignisse. Die Fragmentierung wird so einer Einheitlichkeit untergeordnet, die mit einer linear-homogenen Geschichtsdeutung übereinstimmt. Dieser Aspekt wird im nächsten Kapitel erläutert.
Erklärungsmodell und Geschichtsdeutung
Die Ermittlung weist eine monokausal- lineare Geschichtsdeutung auf. Die Fragmentarisierung wird zur Montage eines einheitlichen Geschichtsbildes verwendet. Peter Weiss wählt die Dokumente unter dem Aspekt aus, dass sie als Beleg der sozialistisch-antikapitalistischen ‚Wahrheit’ fungieren.[160].
Die verfremdenden und fiktionalen Elemente in Die Ermittlung unterstützen diese Deutung. Sie verstärken die Ausrichtung des Gesamttextes auf eine übergeordnete Abstraktion des konkreten Ereignisses. Mittels des Chors, der Gesänge, der Reduzierung der Figuren auf Nummern und der entindividualisierenden Sprache wird Auschwitz nicht allein als Massenvernichtungsmaschinerie gezeigt, welches zugleich das funktionale System aller anderen Lager repräsentiert. Es wird zugleich zum Modell der Menschenvernichtung im Nationalsozialismus, dessen Wurzeln aus der bürgerlich-liberalen Gesellschaftsform im Kapitalismus noch in der Gegenwart existieren[161] und „in anderer Form als wiederholbar angenommen werden“.[162]
Indem das Phänomen Auschwitz nicht auf den Nationalsozialismus als einmalige Ursache zurückgeführt, sondern als letzte Konsequenz des kapitalistischen Systems interpretiert wird, das noch in der Gegenwart existent ist, reiht es sich in die Konstruktion einer linearen Kausalkette ein. Das gesamte Drama ist auf diese monokausal- einheitliche Geschichtsidee hin konzipiert, um die Ausmaße und die Folgen kapitalistischen Profitdenkens als abschreckendes Beispiel zu verdeutlichen und Auschwitz in ein historisches Kontinuum zu stellen. Damit findet die Reduktion auf eine monokausale Erklärung für Entstehung des Dritten Reiches statt. Der Stoff wird so zur Objektivierung und Darstellung der kapitalistischen Gesellschaft als Ausbeutungssystem benutzt. Dazu findet eine Aussparung der Rassenideologie statt; „die Judenfrage [wird] in den lediglich ökonomisch bedingten Klassenwiderspruch von Ausbeutern und Ausgebeuteten“ verwandelt.[163]
Christoph Weiß hat die Geschichtsdeutung von Die Ermittlung als „Ausbeutungs- und Kontinuitätsthese“ bezeichnet.[164] Beide Aspekte zusammen ergeben die monokausale Linearität.
Lineare Geschichtsdeutung
a) Ausbeutungsthese
Diese monokausale Ausbeutungsthese findet sich zunächst auf der Ebene der Vergangenheit, des Ausbeutungssystems Auschwitz.
Bereits der erste Gesang greift das kapitalistische Profitdenken im Nationalsozialismus auf, indem die Funktion von Auschwitz als Massenausbeutungslager gezeigt wird. Zunächst werden die unmenschlichsten Bedingungen, unter denen der Massentransport nach Auschwitz stattfand, geschildert. Ein Menschenleben als solches besitzt keinen Wert, die Menschen werden instrumentalisiert und entindividualisiert. Beispielsweise findet ihr Transport nach Auschwitz u.a. in „Viehwagen“ (DE, S. 262) statt, und nach der Ankunft werden ihnen sämtliche noch in irgendeiner Weise verwertbare Gegenstände abgenommen. So konstatiert Zeuge 8:
„ZEUGE 8: Indem man den Häftlingen/ vor der Deportierung geraten hatte/ soviel wie möglich/ an Wertgegenständen/ Wäsche Kleidern Geld und Werkzeugen mitzunehmen/ unter dem Vorwand daß dort/ wo sie angesiedelt werden sollten/ nichts zu bekommen sei/ nahmen alle ihren letzten Besitz mit/ [...] Die aussortierenden Ärzte/ nahmen nicht nur Gebrauchsgegenstände an sich/ sondern auch Schmuckstücke und Valuten/ die sie kofferweise für sich zurückstellten“. (DE, S. 280).
Im Gesamten ergaben sich für das geraubte Eigentum „Milliardenwerte“(DE, S. 281), die dem Regime und dem Krieg zugute kamen. Zeuge 8 bemerkt:
„Die Güter wurden weitergeleitet/ an die Reichsbank/ [...] Der Schmuck wurde eingeschmolzen/ Uhren zum Beispiel kamen an die Truppen“ (DE, S. 281).
In der Profitgier geht es allein um die Ausnutzung menschlichen Potentials; so erzählt der Angeklagte 8:
„Die Leute wurden aufgestellt/ dann bestimmten die Ärzte/ wer arbeitsfähig war/ und wer zur Arbeit nicht infrage kam/ Mal waren mehr/ mal weniger Arbeitsfähige/ rauszuholen/ Der Prozentsatz war bestimmt/ Er richtete sich nach dem Bedarf/ an Arbeitskräften RICHTER: Was geschah mit denen/ die nicht zur Arbeit gebraucht wurden/ ANGEKLAGTER 8: Die kamen ins Gas/“ (DE, S. 269- 270).
Diejenigen, die am Leben blieben, hatten unter unmenschlichsten Bedingungen für die Lagerwelt zu arbeiten, um schließlich, am Ende ihrer Kräfte, „bis zum äußersten verbraucht“ (DE, S. 348) und arbeitsunfähig, ebenfalls getötet zu werden.
Die Häftlinge sind damit ausweglos dem Vernichtungssystem der Lagerwelt ausgeliefert, die an ihnen begangene Gewalt findet auf allen Ebenen bis zu grauenvollen Foltermethoden statt, wie beispielsweise im 3. Gesang, dem „Gesang von der Schaukel“ (DE, S. 306 ff.), ausführlich dargestellt wird. Die Häftlinge sind außerdem schutzlos den alltäglichen Schikanen des Lagerpersonals, z.B. dem „Mützenschießen“ (DE, S. 304), ausgeliefert. Nach Willkür mancher Aufseher werden sie beispielsweise spontan erschossen (DE, S. 363), „erdrosselt“ (DE, S. 298), erschlagen (DE, S. 312 ff.).
Vor Gericht leugnet das Lagerpersonal einstimmig sein Handeln und seine Verantwortung, als hätte Auschwitz nicht stattgefunden, ihre Taten sind ihnen „nicht erinnerlich“ (DE, S. 284), sie waren angeblich „nicht zuständig“ (DE, S.297) oder sie bestreiten Anschuldigungen als „unwahr“ (DE, S. 297). Auch nach Aufdeckung ihrer Lügen geben sie an, ihre Taten „unter Zwang“ (DE, S. 278), „unter der Drohung“ (DE, S. 279) und „befehlsbestimmte[...] [r] Verantwortung“ (DE, S. 321) ausgeführt zu haben.
Das System vernichtet von Grund auf jegliche Menschenwürde, da sich das kapitalistische Vorteilsdenken bis in die unterste Ebene zu den Häftlingen fortsetzt; Opfer werden zu Tätern. Für den kurzfristigen „Aufschub des eigenen Todes“ (DE, S. 334) werden Häftlinge zu Mithelfern der Tötungsmaschinerie, die Auslöschung jeglicher Mitmenschlichkeit führt zur Pervertierung von Normalität. Zeugin 5 erzählt:
„ZEUGIN 5 [...] Normal war/ das Absterben unserer Empfindungen/ und die Gleichgültigkeit/ beim Anblick der Leichen/ Es war normal, dass sich zwischen uns solche fanden/ die denen die über uns standen/ beim Prügeln halfen/[...] Überleben konnte nur der Listige/ [...] die Milden [...] wurden zertreten“ (DE, S. 289).
In diesem System geht es allein darum, „seinen eigenen Vorteil zu wahren“ (DE, S. 287). Die Identität wird gänzlich vernichtet: „Familie Heim Beruf und Besitz/ das waren Begriffe/ die mit dem Einstechen der Nummer/ ausgelöscht wurden.“ (DE, S. 288).
Dieses Ausbeutungsmuster weist eine strukturelle Gleichheit mit dem Gesellschaftssystem auf, allein der Grad der Ausbeutung ist verschieden.[165] So sagt Zeuge 3 aus:
„ZEUGE 3 Ich bitte nur/ darauf hinweisen zu dürfen/ wie dicht der Weg von Zuschauern gesäumt war/ als man uns aus unseren Wohnungen vertrieb/ und in den Viehwagen lud/ Die Angeklagten in diesem Prozess/ stehen nur als Handlanger/ ganz am Ende/ [...] Einige sind uns hier begegnet/ als Zeugen/ Diese leben unbescholten/ Sie bekleiden hohe Ämter/ sie vermehren ihren Besitz/ und wirken fort in jenen Werken/ in denen die Häftlinge von damals/ verbraucht wurden“(DE, S. 444- 445).
Ohne „die Unterstützung/ von Millionen anderen“ (DE, S. 444), welche diese menschenverachtenden gesellschaftlichen Zustände duldeten und die im wesentlichen an das Verhalten der Menschen in der Lagerwelt erinnern, wäre die systematische Menschenausrottung im Dritten Reich nicht möglich gewesen. Die kontinuierliche Entwicklung des Nationalsozialismus aus dem kapitalistischen Profitdenken heraus expliziert Zeuge 3 besonders deutlich:
„ZEUGE 3 Wir müssen die erhabene Haltung fallen lassen/ daß uns diese Lagerwelt unverständlich ist/ Wir kannten alle die Gesellschaft/ aus der das Regime hervorgegangen war/ das solche Lager erzeugen konnte/ die Ordnung die hier galt/ war uns in ihrer Anlage vertraut/ deshalb konnten wir uns auch noch zurechtfinden/ in ihrer letzten Konsequenz/ in der der Ausbeutende in bisher unbekanntem Grad/ seine Herrschaft entwickeln durfte/ und der Ausgebeutete/ noch sein eigenes Knochenmehl/ liefern musste“ (DE, S. 335- 336).
Aufgrund der „Ausbeutungsthese“ und des entindividualisierten Gesamtkonzept liegt der thematische Schwerpunkt des Stückes nicht auf der persönlichen Schuldfrage. Die lineare Systemkritik führt zur Erklärung menschlicher Verhaltensweisen in einem übergeordneten Zusammenhang. Die Ohnmacht der Angeklagten und Inhaftierten gegenüber staatlichen Zwängen zeigt nicht allein die Aufgabe individueller Verantwortung, sondern vor allem die Kritik an einem System, welches diese Verhaltensweisen und den Verlust jeglichen Rechtsbewusstseins produziert. Die Grenzverwischung zwischen Opfer und Täter, die Pervertierung von Normalität wird durch den übergeordneten Rahmen erklärbar.
b) Kontinuitätsthese
Diese sich auf die Vergangenheit beschränkende Ausbeutungsthese wird durch eine Kontinuitätsthese erweitert, die einen Bezug zur Gegenwart, zur geteilten Welt herstellt.
Die Kontinuitätsthese wird durch vielfache Hinweise auf die gegenwärtige Fortführung des gesellschaftlichen Systems, welches Auschwitz produzierte, deutlich. Beispielsweise sagt Zeuge 3, dem Rolf Krause eine „herausragende Kommentatorfunktion“[166] zuschreibt :
„Wir/ die noch mit diesen Bildern leben/ wissen/ dass Millionen wieder so warten können/ angesichts ihrer Zerstörung/ und dass diese Zerstörung an Effektivität/ die alten Einrichtungen um das Vielfache übertrifft“(DE, S. 336).
Stark thesenhaft ist auch die Aussage des Zeugen 7:
„Ich kam aus dem Lager heraus/ aber das Lager besteht weiter“ (DE, S. 338).[167]
Die Kontinuitätsthese wird besonders im 5. Gesang, in der Mitte des Dramas, deutlich.[168] Weiss zeigt hier einen engen Zusammenhang des Profitinteresses der Großindustrie, die für ihre Expansion ‚über Leichen ging’, und Auschwitz bzw. der Vernichtungslager als Grundlage für diese Expansion. Nicht zuletzt in der konkreten Nennung von Firmennamen schuf er „Reizstellen“[169], die auf den Fortbestand des Systems zielen, da diese Firmen in den 1960er Jahren noch immer expandierten. Besonders deutlich wird dies im folgenden Dialog zwischen Richter/ Ankläger und Zeuge 1:
„RICHTER Was war Ihnen über Professor Claubergs Arbeit/ bekannt ZEUGE 1 Dort wurden Untersuchungen im Auftrag/ pharmazeutischer Industrien vorgenommen RICHTER Was für Untersuchungen waren das ZEUGE 1 Das weiß ich nicht/ Ich wußte vom Lager nur/ daß es sich um ein großes Industriegebiet/ handelte/ in dessen verschiedenen Zweigen/ Häftlinge als Arbeitskräfte/ eingesetzt wurden ANKLÄGER Herr Zeuge/ welcher dieser Industrien/ unterstand ihre Abteilung ZEUGE 1 Wir gehörten zu den Buna- Werken/ der IG- Farben/ Wir arbeiteten alle auf Kriegswirtschaft ANKLÄGER War Ihnen bekannt/ daß die Häftlinge bei der Einrichtung/ der Industrien/ als Arbeitskräfte einkalkuliert waren ZEUGE 1 Ja natürlich ANKLÄGER Zahlten die Industrien Löhne/ für die Häftlingsarbeiter ZEUGE 1 Selbstverständlich/ nach bestimmten Tarifen ANKLÄGER Was waren das für Tarife ZEUGE 1 Für einen Facharbeiter wurden 4 Mark/ pro Tag gezahlt/ für einen ungelernten Arbeiter 3 Mark ANKLÄGER Wie lang war der Arbeitstag ZEUGE 1 11 Stunden ANKLÄGER An wen wurde der Lohn ausgezahlt ZEUGE 1 An die Lagerverwaltung [...]“ (DE, S. 347- 348).
Die Angabe der langen Arbeitszeit im Zusammenhang mit den extrem niedrigen Löhnen verdeutlicht die systematische Ausbeute der Häftlinge im Lagersystem, welches an die Expansion der Betriebe, hier konkret der IG Farben, gekoppelt ist. Damit besteht eine „segensreiche Freundschaft zwischen der Lagerverwaltung und der Industrie“ (DE, S. 351).
Der Fortbestand dieser auf Ausbeute basierenden Konzerne nach dem 2. Weltkrieg und die Kritik am mangelnden Reflexionsvermögen der restaurierten Gesellschaft, die sich im wirtschaftlichen Wideraufbau eingerichtet hat, ohne ihren Erfolg auf die Ursachen zu hinterfragen, wird beispielsweise in folgendem Dialog deutlich:
„ANKLÄGER [...] Herr Zeuge/ Stehen Sie heute noch in Zusammenarbeit mit den Industrien/ die damals die Häftlinge bei sich beschäftigten VERTEIDIGER Wir protestieren gegen diese Frage/ die keinen anderen Zweck hat/ als das Vertrauen in unsere Industrie zu untergraben ZEUGE 2 Ich bin nicht mehr aktiv/ im Geschäftsleben tätig ANKLÄGER Nehmen sie eine Ehrenrente dieser Industrien entgegen ZEUGE 2 Ja ANKLÄGER Beläuft sich diese Rente auf 300 000 Mark im Jahr VERTEIDIGER Wir widersprechen dieser Frage ANKLÄGER Herr Zeuge/ Wenn Sie auf Ihrem Schloß leben/ und sich nicht mehr mit den Angelegenheiten/ des Konzerns befassen/ der heute nur seinen Namen geändert hat/ womit beschäftigen Sie sich dann ZEUGE 2 Ich sammle Porzellan Gemälde und Stiche/ sowie Gegenstände bäuerlichen Brauchtums VERTEIDIGER Fragen dieser Art haben mit dem Eröffnungsbeschluss des Prozesses/ nicht das geringste zu tun [...] ANKLÄGER [...] Sie Herr Zeuge/ sowie die anderen Direktoren/ der großen Konzerne/ erreichten durch unbegrenzten Menschenverschleiß/ Jahresumsätze von mehreren Milliarden VERTEIDIGER Wir protestieren ANKLÄGER Lassen Sie es uns noch einmal bedenken/ daß die Nachfolger dieser Konzerne heute/ zu glanzvollen Abschlüssen kommen/ und daß sie sich wie es heißt/ in einer neuen Expansionsphase befinden“ (DE, S. 350 – 352).
Zusammenfassung: Erklärungsmodell und Geschichtsdeutung in Die Ermittlung
Insgesamt führt die „Ausbeutungs- und Kontinuitätsthese“ zu einer linearen, monokausal- reduzierten Geschichtsdeutung, die das Phänomen Auschwitz erklärt. Der auf Homogenisierung und Linearität ausgerichtete Theatertext Die Ermittlung löst die Konkretheit zugunsten der Abstraktion auf. Deutlich wird darin die hierarchische Struktur des Textes, da jede Einzelheit in der übergeordneten Geschichtsthese aufgeht. Auf der Erklärbarkeit von Auschwitz basiert der Lösungsvorschlag von Die Ermittlung zur politisch- gesellschaftlichen Situation und das Wirkungspotential des Stücks.
Gesellschaftlich-politisches Wirkungspotential von Die Ermittlung
Die eindeutige Erklärbarkeit von Auschwitz und die Systemkritik von Die Ermittlung, die so einen politisch- gesellschaftlichen Missstand aufzeigt, ermöglicht einen klaren Lösungsvorschlag und deutlichen Appell an den Rezipienten. Das reflexive Moment, das der zitierenden Ausschnitttechnik immanent ist, wirkt in Kombination mit der parteilichen Geschichtsdeutung provokativ-appellierend. Durch die dialektische Geschichtsvermittlung verbindet es die Zeitebenen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander.
Deutlich wird dies besonders am provokativ-offen angelegten Schluss von Die Ermittlung. Hier bemerkt der Angeklagte 1:
„Wir alle/ das möchte ich nochmals betonen/ haben nichts als unsere Schuldigkeit getan/ selbst wenn es uns oft schwer fiel/ und wenn wir daran verzweifeln wollten/ Heute/ da unsere Nation sich wieder/ zu einer führenden Stellung/emporgearbeitet hat/ sollten wir uns mit anderen Dingen befassen/ als mit Vorwürfen /die längst als verjährt /angesehen werden müssten“ (DE, S. 448- 449).
Der Text schließt mit der angefügten provokativ wirkenden Regieanweisung: „ Laute Zustimmung von seiten der Angeklagten“ (DE, S. 449). Indem die neue Expansion der Konzerne nach Kriegsende als ideologische Rechtfertigung für die Bewältigung der Vergangenheit angeführt wird, findet am Schluss des Theatertextes provokativ eine paradoxe Verkehrung der Verhältnisse statt, die das mangelnde Reflexionsvermögen der Angeklagten entlarvt. Ihnen fehlt die Einsicht, dass die Vergangenheit im gegenwärtigen System existent ist.[170]
Die Provokation des Schlusses ist mit dem deutlichen Appell an den Rezipienten verbunden, die Zukunft zu verändern.
Dazu liefert der Theatertext mit der textmittig platzierten Geschichte der Lili Tofler einen deutlichen Lösungsvorschlag (DE, „Gesang vom Ende der Lili Tofler“, S. 343–355). Lili Tofler ging widerständig ehrenhaft in den Tod und stellt ein Gegenbeispiel zur Verantwortungslosigkeit, die das kapitalistische System produziert, dar. Wird mit der allgemeinen Entindividualisierung die Schuldfrage der Angeklagten nicht auf persönlicher Ebene, sondern überindividuell thematisiert, die das Funktionieren des kapitalistischen Systems zeigt, so gestaltete Peter Weiss Lili Tofler als einzige Figur individuell. Sie fungiert so als Sprachrohr des Autors und kann als Heldin des Stückes betrachtet werden.[171] Mit ihrem Beispiel wird metatextuell eine Welt gezeigt, die sich von Menschen ändern lässt.
Die Betroffenheit des Rezipienten und die Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entsteht über die Konstituierung einer zeitlichen Linearität: das kapitalistische System als Ursache führt zur Massenvernichtung als Wirkung, deren potentielle Wiederholung in der Gegenwart als Folge möglich ist.
In ihrer didaktisch- parteilichen Ausrichtung kann Die Ermittlung als „Lehrstück“[172] bezeichnet werden. Das Stück steht damit in der Tradition aufklärerisch- ideologischer Enthüllung.
Fazit Teil II.1.
Das Kapitel über das Dokumentartheater von Peter Weiss zeigt, dass sein dokumentarisches Theater fragmentarische als auch ganzheitliche Momente aufweist. Weiss nutzt seine Ausschnitttechnik zur Montage eines Einheitskonzepts. Dazu wählt er die Anordnung der Dokumente zu einer Schwarz/Weiß- Zeichnung und fügt fiktionale Momente, die über Auswahl und Anordnung des faktischen Materials hinausgehen, hinzu. Weiss gelangt damit zu einer reduzierten, monokausal- linearen Geschichtsthese, die einen klaren Lösungsvorschlag ermöglicht. Darin besteht die politisch-gesellschaftliche Funktion seines Dokumentartheaters.
II.2.1 Entstehungsprozess und Konzeption des Dokumentartheaters von Veiel/Schmidt
Da das Dokumentartheater von Veiel/Schmidt bisher allein auf dem Theatertext Der Kick basiert, beziehen sich die folgenden Ausführungen auf dieses Stück.
Entstehungsprozess von Der Kick
Andres Veiels dokumentarische Arbeiten zeichnen sich durch die intensive Beschäftigung mit Menschen aus. Sein Talent zur Entwicklung einer besonderen menschlichen Nähe, die Entdeckung einzelner, unbekannter, individueller Details und die gleichwertige Nebeneinanderstellung verschiedener Positionen charakterisieren seine sehr individuellen Arbeiten, die eine einfache Einordnung in lineare Zusammenhänge und Verallgemeinerungen erschweren. Dirk Pilz charakterisiert Veiel treffend, wenn er schreibt: „Nichts ist ihm [Veiel] fremder als der Bescheidwisser, der mit allem immer schon fertig ist“.[173]
In Filmen wie Die Überlebenden und Black Box BRD beschäftigt sich Veiel als Spurensucher mit ungeklärten Mordfällen. Auch sein Theaterstück Der Kick basiert auf einem realen Mord. Es thematisiert den Mord an Marinus Schöberl.
Der Mord wurde im Sommer 2002 an dem Jugendlichen im brandenburgischen Dorf Potzlow von drei jungen Männern verübt, von denen Marius Schöberl zwei sicher kannte und mit einem befreundet war. Die Täter trieben das Opfer am Abend des 12. Juli 2002 durch das Dorf und quälten Marinus Sch. auf grausame Weise bis zum Tod. Sie misshandelten ihn betrunken in der Anwesenheit und im Haus von Bekannten und trieben ihn anschließend durch das Dorf in einen alten Schweinestall, in dem sie ihn ermordeten.[174] Einer der Täter hatte einige Wochen vor der Tat den Film American History X. gesehen, in dem gezeigt wird, wie Rechtsextreme einen Schwarzen in eine Bordsteinkante beißen lassen und ihn durch einen anschließenden Sprung auf den Kopf töten. Marinus Sch. wurde ebenfalls Opfer dieses Bordsteinkicks. Obwohl der Film eine antirechtsextremistische Intention verfolgt, verfehlte er seine Wirkung bei Marinus’ Mörder. Den Anreiz zur Nachahmung unterstützte wahrscheinlich die heroische Darstellung des Mörders nach dem Bordsteinkick und die Ausblendung der Opferqualen.[175] Die Täter vergruben den Jungen nach seinem Tod in einer Jauchegrube im Stall. Marinus wurde von seiner Mutter als vermisst gemeldet; erst im September 2002 fand ihn die Polizei, weil in diesem Monat einer der Täter auf einer Party von dem Mord erzählt hatte und die Tat damit allgemein und auch den Eltern der Mörder bekannt wurde.
Der Mordfall hat inzwischen einen überregional großen Bekanntheitsgrad erlangt und wurde thematisch in verschiedenen Kunstwerken und wissenschaftlichen Abhandlungen aufgegriffen.[176]
Da die Täter Springerstiefel und Glatze trugen und Marinus aufgrund seiner blondierten Haare und seinen Hip-Hop-Hosen als Juden beschimpften, wurde die Tat „von maßgeblichen lokalen Persönlichkeiten“[177], und der überregionalen Presse als rechtsextreme Tat bewertet und verurteilt, obgleich die Tat nicht eindeutig rechtsextremistisch motiviert war. Sie verliert sich im Gewaltexzess der Jugendlichen, in der Lust am Töten, im ‚Kick’. Dennoch wurde das Dorf von den sensationslüsternen Medien als „verstocktes Nazinest und asoziales Suffloch“[178], die Bewohner als unzivilisierte „Bestien“ und „Monster“[179] stigmatisiert und als „weiterer Beleg für den Rechtsradikalismus unter verderbten ostdeutschen Jugendlichen“[180] etikettiert.
Veiel/Schmidt betrachten diese oberflächliche Etikettierung der Medien kritisch. Veiel bemerkt: „Ich glaube nicht, dass eine Dämonisierung oder Tabuisierung der Rechtsextremen grundsätzlich sinnvoll ist. Denn durch die Ausgrenzung zelebrieren sich die Rechtsradikalen oft in einer Opferrolle, die ihnen neue Anhänger verschafft.“[181] Er versucht diese Pauschalisierung der reißerischen Presse durch Differenzierung aufzuheben.
Er recherchierte zwei Jahre nach der Tat mit Dramaturgin Gesine Schmidt monatelang vor Ort, führte Interviews mit Dorfbewohnern, mit den Eltern von Opfer und Tätern und mit den Mördern im Gefängnis. Aus 1500 Seiten eigener Recherchen, Verhörprotokollen und Interviews von Gaby Probst destillierten die Autoren eine Textmontage aus 40 Seiten.[182] Erst durch eine ausdauernde Arbeit der Kontaktaufnahme mit dem mediengeschädigten verschlossenen Dorf, das aufgrund der Stigmatisierungen einen großen Hass gegen die Aussenwelt entwickelt hatte und zu Gesprächen nicht mehr bereit war, gelang es Veiel und Schmidt, die Bewohner Potzlows zu interviewen. Sie bemerkten ein großes Bedürfnis zum Sprechen hinter der Verschlossenheit und suchten nach Ursachen des Mordes und Erklärungen. Das Destillat dieser Gespräche zeichnet sich dadurch aus, dass „Einzelnes aus einer nivellierenden Masse“ gehoben und ihm damit die Widersprüchlichkeit zurückgegeben wird.[183]
Insgesamt motivierte die Entstehung des Theatertextes eine Reaktion auf die pauschalisierende Medienwelt und die ästhetisierte, wirklichkeitsverzerrende Darstellung des Bordsteinkicks im Film American History X.
Konzeption des Dokumentartheaters von Veiel/Schmidt
Von einer Konzeption des Dokumentartheaters Veiels/Schmidts lässt sich nur in eingeschränktem Sinne sprechen, da die Autoren bisher -im Gegensatz zu Peter Weiss- einen einzigen dokumentarischen Theatertext entwickelt und kein umfassendes Konzept wie die Notizen formuliert haben. Doch steht das Dokumentartheater von Veiel/Schmidt in der Tradition des dokumentarischen Theaters von Weiss. Im Programmheft zu Veiels Inszenierung von Der Kick werden die Notizen ausschnittweise zitiert. So basiert das Konzept des Dokumentartheaters von Veiel/Schmidt auf dem Konzept Weiss’. Darüber hinaus radikalisiert es die fragmentarische Ausschnitttechnik. Anhand der Auswahl der Zitate der Notizen bzw. Aussparungen bestimmter Aspekte lässt sich dies zeigen.[184]
Aufgreifen der fragmentarischen und reduktionistischen Momente von Weiss’ Dokumentartheater
Wie das Dokumentartheater von Weiss ist Der Kick als medienkritisches Korrektiv entwickelt worden. Den medienkritischen Aspekt greift das Programmheft zur Inszenierung Der Kick auf, indem es Punkt 2 zitiert, der das Dokumentartheater in seiner medienkritischen Funktion erläutert:
„Das dokumentarische Theater ist Bestandteil des öffentlichen Lebens, wie es uns durch die Massenmedien nahe gebracht wird. Die Arbeit des dokumentarischen Theaters wird hierbei durch eine Kritik verschiedener Grade bestimmt. a) Kritik der Verschleierung. Werden die Meldungen in Presse, Rundfunk und Fernsehen nach Gesichtspunkten dominierender Interessengruppen gelenkt? Was wird uns vorenthalten? Wem dienen die Ausschließungen? Welchen Kreisen gelangt es zum Vorteil, wenn bestimmte soziale Erscheinungen vertuscht, modifiziert, idealisiert werden?“[185]
Der medialen Vermittlung eines historischen Ereignisses soll eine berichtigende Darstellung gegenüber gestellt werden. Dementsprechend wählen Veiel/Schmidt die harte Ausschnitttechnik des Dokumentartheaters von Weiss, welches durch die ausgewählte Anordnung der Dokumente die Hervorhebung eigener Aspekte ermöglicht.
Im Programmheft wird dieses Moment aufgegriffen, indem es aus den Notizen Punkt 11 zitiert:
„[Das Dokumentartheater] kann, durch den Abstand, den es gewonnen hat, die Auseinandersetzung von Gesichtspunkten her nachvollziehen, die sich im ursprünglichen Fall nicht stellen“ (PH, S. 25).
Diese Ausschnitttechnik ist mit der sprachlich- abstrakten Vermittlung eines geschichtlichen Geschehens verbunden. Veiel/Schmidt distanzieren sich bewusst von einer naturalistischen Darstellung des ‚Falls Potzlow’. Indem Veiel/ Schmidt auf jegliche visuelle Darstellung des Bordsteinkicks verzichten, verhindern sie zugleich sensationelle Momente, die der Film vermittelt.[186] So erklärt Veiel:
„Ich finde das Bilderverbot zwingend und wollte das Grauen der Tat nicht mit der ausgesprochen schönen Landschaft oder mit der Dorfidylle konfrontieren. Die Bilder müssen im Kopf entstehen. Jede Bebilderung wirkt da hilflos. Theater ermöglicht Abstraktion, wenn man die Dinge nicht naturalistisch abbildet. So entstehen Freiräume.“[187]
Veiel/Schmidt wählen dementsprechend wie Weiss die Form der reflexiven Geschichtsvermittlung, d.h. die Zerstörung der „absoluten Gegenwart“ des theatralischen Spiels, mit der die Auflösung einer stringenten Handlungsfolge verbunden ist.
So findet sich im Programmheft zudem folgender Ausschnitt aus den Notizen:
„Die Bühne des dokumentarischen Theaters zeigt nicht mehr augenblickliche Wirklichkeit, sondern das Abbild von einem Stück Wirklichkeit, herausgerissen aus der lebendigen Kontinuität“ (PH, S. 24).
Radikalisierung der fragmentarischen und reduktionistischen Momente von Weiss’ Dokumentartheater
Zwei wesentliche Momente führen in Der Kick zu einer Radikalisierung der fragmentarischen und reduktionistischen Form von Weiss’ Dokumentartheater.
Der erste Aspekt betrifft die Auswahl und Anordnung der Dokumente in ihrer fragmentarischen Form. Während Weiss das dokumentarische Material unter dem „Gesichtspunkt“ einer geschichtsmaterialistischen Deutung montiert, basiert das Prinzip der Montagetechnik von Der Kick auf Differenzierung. Schwarz/Weiss-Zeichnungen werden vermieden. Dies führt zu einem Verlust von Einheitlichkeit, bedeutet jedoch nicht die gänzliche Aufgabe einer Geschichtsthese. Vielmehr wird der Anspruch einer objektiven ‚Wahrheit’ in seinem tolitaristischen Anspruch zurückgenommen
Unterstützt wird diese radikalisierte Fragmentarisierung durch Verstärkung des reduktionistischen Moments im Sinne einer Aussparung von zusätzlichen Ästhetisierungen. Der Kick weist keine Fiktionalisierungen auf, die über Auswahl und Anordnung des dokumentarischen Materials hinausgehen. Äußere ordnungsstrukturelle Momente wie Episoden- und Szeneneinteilungen, Regieanweisungen sowie eine Vorbemerkung sind nicht vorhanden. Es exisitiert keine literarische Vorlage, die eine strukturelle Ordnung vorgibt.[188] Der Text wurde nicht stilistisch bearbeitet, die Figuren nicht auf Nummern reduziert. Sie behalten großenteils ihre Eigennamen. Damit wird eine übergeordnete Ordo- Struktur, die Einheitlichkeit schafft, aufgegeben. Der Theatertext Der Kick ist nicht wie Die Ermittlung gänzlich auf verfremdende Anonymisierung und direkte Verallgemeinerung ausgerichtet. Aktualitätsbezüge und Abstraktion werden einerseits formal durch die harte Schnitttechnik als eine Art Verfremdung hergestellt, andererseits bleibt der Fall Potzlow in seiner Konkretheit bewahrt. Indem Der Kick auf der reinen Zitatmontage basiert, ist der Theatertext in strengerem Sinne dokumentarisch als die Ermittlung. Das Prinzip des „formalen Minimalismus“ ist konsequenter umgesetzt als in Die Ermittlung.
Die Radikalisierung fragmentarisch- reduzierter Momente zeigt sich an der Aussparung bestimmter Passagen der Notizen im Programmheft. Beispielsweise greift das Programmheft Punkt 2 a) der Notizen auf, in dem die Kritik des Dokumentartheaters an medialen „Verschleierungen“ erläutert wird (s.o.). Die weiteren Unterpunkte in den Notizen b) Kritik an Wirklichkeitsfälschungen und c) Kritik an Lügen sind im Programmheft ausgespart.
Diese Reduktion der Zitate erklärt nicht allein der begrenzte Umfang des Programmheftes, sondern sie kann auch im Zusammenhang mit Veiels/Schmidts Vermeidung von Schwarz- Weiss-Dualismen in Der Kick gedeutet werden. Auffällig ist, dass sämtliche Radikalpositionen, die sich in den Notizen finden lassen, im Programmheft zur Inszenierung des neueren Dokumentarstückes nicht abgedruckt sind. Erzielte Weiss mit seiner Radikalpositionierung noch die Aufdeckung einer ‚objektiven Wahrheit’ im Sinne der sozialistischen Weltanschauung, so erstreben Veiel/ Schmidt eine vorsichtigere Annäherung an die Vermittlung eines historischen Ereignisses als ‚Wahrheit’.
Aus diesem Konzept folgt, dass einige Auszüge aus den Notizen im Programmheft nicht punktgenau und in derselben Bedeutung, die sie für das Dokumentartheater für Weiss haben, auf den Theatertext Der Kick übertragen werden können. Beispielsweise lautet ein Zitat der ‚Notizen’ im Programmheft:
„Alles Unwesentliche, alle Abschweifungen können weggeschnitten werden zugunsten der eigentlichen Problemstellung. Verloren gehen die Überraschungsmomente, das Lokalkolorit, das Sensationelle, gewonnen wird das Allgemeingültige.“ (PH, S.26).
Eine punktuelle Ungenauigkeit besteht beispielsweise darin, dass der Theatertext Der Kick mit Überraschungsmomenten arbeitet. Vor dem Hintergrund der Abgrenzung des Theatertextes vom Film American History X muss hingegen eine eigene Bedeutung dem Aspekt der Ausschließung des „Sensationellen“ beigemessen werden.
Zusammenfassung: Konzeption des Dokumentartheaters von Veiel/Schmidt
Insgesamt kann Veiels/ Schmidts Konzeption des dokumentarischen Theatertextes Der Kick als Radikalisierung der reduktionistischen Theaterform von Peter Weiss betrachtet werden. Diese stärkere Offenheit schließt die gleichzeitige Existenz ordnender Momente nicht aus; diese sind jedoch stärker zurückgenommen, indem auf Homogenisierung und Ästhetisierung, die über die Anordnung der Dokumente hinaus geht, verzichtet wird. In den folgenden beiden Kapiteln wird dies v.a. im Rückblick auf Die Ermittlung genauer erläutert.
II.2.2. Der Kick
Aufbau und Handlung
Aufbau und Handlung von Der Kick werden im Folgenden anhand verschiedener Aspekte erläutert, welche die fragmentarische Struktur des Textes betreffen. Sie sind eng miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig, werden hier jedoch aus Gründen der Übersichtlichkeit getrennt aufgeführt.
a) Aufgreifen der fragmentarisch- antithetischen Struktur von Die Ermittlung
Wie oben erwähnt, basiert Der Kick wie Die Ermittlung auf der Weissschen Schnitttechnik, welche die fragmentarischen Kontrastierung unterschiedlicher Figurenpositionen, hier zum Mordfall Marinus Schöberl, ermöglicht und die ein geschichtliches Ereignis reduziert- sprachlich vermittelt. Auf dieser Spannung beruht die Dramaturgie und die Handlung des Textes. Der Kick setzt sich aus Verhörprotokollen, Monologen und Satzkompilationen zusammen. In den dialogischen Verhörprotokollen schildert einer der Täter, Marcel Schönfeld, einem Verhörenden chronologisch und in bereinigter, d.h. objektivierter Protokollsprache den Tathergang. Die Verhörprotokolle liefern dem Rezipienten wichtige Informationen über den Verlauf des Mordes. Hier wird wie in Die Ermittlung chronologisch ein langsames, qualvolles Sterben geschildert, dessen Grausamkeit grenzenlos ist.
Monologe und Satzkompilationen verschiedenster Personen, die direkte und indirekte Aspekte zum Mord, verschiedene Wahrnehmungen und Meinungen transportieren, sind um diese Verhörfragmente angeordnet, unterbrechen sie und stehen teilweise im Widerspruch zueinander. Der Theatertext weist damit im Groben wie Die Ermittlung eine diskursiv-antithetische Struktur auf. So bestimmt die äußere Rahmung eine starke Antithese, da zu Beginn und zum Ende des Textes Aussagen der beiden Mütter von Opfer und Täter in direkter Abfolge aneinander montiert sind (DK, S.48, Sp.1-2 und S. 55, Sp.2-3).
Aufgrund der Verhörprotokolle und der diskursiven Struktur zum Mord, welche um die Schuldfrage und Entstehung der Mordes kreisen, seiner harten Schnitttechnik und der Kontrastierung unterschiedlicher Positionen weist Der Kick übereinstimmende Momente mit dem Handlungsaufbau von Die Ermittlung auf.
Zugleich unterscheidet sich der Aufbau von Der Kick in seiner stärkeren Fragmentierung und dem Verlust hierarchischer Ordnungsmomente von Die Ermittlung. Die Enthierarchisierung gründet auf Perspektivpluralismus, der Auflösung einer vorgegebenen Rahmen- bzw. Prozessstruktur, welche eine Netzstruktur ersetzt, wie im folgenden erläutert wird.
b) Radikalisierung der fragmentarischen Struktur von Die Ermittlung
Radikale Fragmentarisierung: Polyperspektivität
Bei näherer Betrachtung erweisen sich die Antithesen des Theatertextes Der Kick als Extrempunkte innerhalb eines breiten Spektrums verschiedenster Nuancierungen und Differenzierungen. Dies führt zu einer stärkeren Fragmentarisierung von Handlung und Struktur, da die Einheitlichkeit einer Schwarz/Weiß- Zeichnung aufgegeben wird und Figuren nicht eindimensional- homogen dargestellt werden, sondern in ihrer Brüchigkeit gezeigt werden.
Dies wird schon zu Beginn des Textes deutlich. Den ersten Monolog spricht Jutta Schönfeld, die Mutter der Täter Marcel und Marco Schönfeld. Im ersten Teil ihres Monologs greift sie die mediale Stigmatisierung ihrer Familie als Mörder auf :
„JUTTA SCHÖNFELD Am Dienstag, da ging es los. Man kennt ja das mit der Zeitung und Fernsehen und plötzlich ist man das selbst. RBB, Stern TV, RTL, alle wollten was erfahren, und der Polizist hat gesagt, alles abblocken. Die Nachbarschaft, wenn Du rauskommst, denn wird grad noch so gegrüßt, und dann gehen sie wieder los. Und abends sitzen wir hier, kriegen Anrufe, Mörder, Mörder. Denn hört man bloß ein Stöhnen im Hintergrund“[189] (DK, S. 48 Sp.1).
Dieser medialen Stigmatisierung als Mörderin, im Text als These verwendet, setzt die Mutter die eigene Ohnmacht im gleichen Monolog, die Antithese entgegen.
„ JUTTA SCHÖNFELD [...] Ich wusste, dass was passieren wird. Marco hat mich angerufen und gesagt, dass sie jetzt losziehen. Marcel und er, mit dem Sebastian. Am 12. Juli, in der Nacht. Ich war im Krankenhaus, mir haben se ja Rückenmarkwasser gezogen, und da hab ich gedacht, ich muss nach Hause. Diese Unruhe, war so warm gewesen“ (DK, S. 48, Sp.1).
Menschlich wird ihre Erzählung durch nachvollziehbare Situationen und Handlungen: die Mutter fühlt, dass „was passieren wird“ und möchte das Unglück verhindern, ist jedoch an den Ort des Krankenhauses gebunden. Die mediale Stigmatisierung der Eltern als „verroht“, „viehisch“ oder „unzivilisiert“ wird damit nicht bestätigt, dem Ressentiment als These folgt so eine Antithese.
Indem die Mutter der Täter in ihrer menschlichen Ohnmacht gezeigt wird, relativiert sich zugleich ihre antithetische Position gegenüber der Mutter des Opfers, Birgit Schöberl. Deutlich wird dies, indem die beiden Monologe der Mütter, die zu Beginn des Textes aufeinander folgen, inhaltliche Parallelen, nicht Antithesen, aufweisen. So erzählt Jutta Schönfeld von ihrem letzten Telefonat mit ihrem Sohn vor dem Mord (s.o.), Birgit Schöberl schildert ihren letzten Kontakt zu ihrem Sohn Marinus Schöberl:
„[...] und dann hat er [Marinus] gesagt: Mutti, ich fahr nach Potzlow, ich schlaf da und komm Sonntag wieder. Tschüss, mach’s gut“ (DK, S.48, Sp.1).
Zudem lassen beide Mütter in ihrer Beziehung zu ihren Söhnen ein Verantwortungsbewusstsein erkennen. Beide möchten wissen, wo sich ihre Söhne an diesem Abend aufhalten (DK, S.48, Sp.1-2).
Diese beiden Eingangsmonologe der Mütter zeigen als Grundprinzip des Theatertextes die gleichwertige Nebeneinanderstellung verschiedener Erzählungen und Perspektiven auf den Mord, mögliche Ursachen und das Dorf Potzlow. So zeichnet sich die Handlung durch Perspektivenpluralismus und Parallelität aus.[190] Es gibt keinen monolithischen Chor des Bösen. Das Handlungsprinzip bildet die Irritation des unvereinbaren Widerspruchs.[191]
Diese Polyperspektivität führt formal zur Auflösung einer Ordo- Struktur. So bildet der Theatertext Der Kick mitnichten eine abgeschlossene Form. Die zirkuläre Struktur des Textes, die kreisenden Monologe und Satzkompilationen um die Verhörfragmente, die umschließenden Zitate der Mütter von Opfer und Täter entsprechen einer Suchbewegung, die am offenen Ende des Stückes nicht aufgelöst wird. Dabei greift Birgit Schöberl, Mutter des Opfers, die nach der Mutter der Täter spricht, auf den Anfangsdiskurs, der Stigmatisierung der Eltern Schönfeld als Mörder, zurück:
„BIRGIT SCHÖBERL Sehr geehrtes Gericht, sehr geehrte drei Anwälte! Im Namen meiner Familie und von mir als Mutti von Marinus bitte ich Sie, mit diesem Pokerspiel aufzuhören, [...] Haben Sie als Anwälte eigentlich ein Gewissen? Denken Sie an die unbeschreibliche Qual, die Marinus erleiden musste. Er ist das Opfer, nicht diese Bestien. Das sind tickende Zeitbomben. Die tun das wieder. Einmal Mörder, immer Mörder. Ich habe Hass, Wut und Verachtung für diese Bestien. Die verdienen kein anderes Wort. [...] Diese Familie Schönfeld hat eine glückliche Familie zerstört: [...] Diese Bestien verdienen keine Gnade. Die müssten so umgebracht werden wie unser Sohn. [...] Fluch den Bestien, denken Sie an die Gerechtigkeit. Familie Schöberl“ (DK, S. 55 Sp. 2-3).
Der Aufforderung Birgit Schöberls an das Gericht und die Anwälte, die Täter zu verurteilen, folgt strukturell eine gerichtliche Verurteilung: der letzte montierte Dokumentausschnitt des Theatertextes bildet die Urteilsverkündung. Die Urteilsverkündung am Ende des Stücks deutet im Zusammenhang mit Birgit Schöberls Monolog strukturell an, dass das Verstehen- Wollen der Tat nicht zum Verständnis, zur Entschuldigung der Tat führen darf, sondern diese verurteilt werden muss.[192]
Zugleich bleibt die Irritation. Im Vergleich zum provokativ-parteiischem Schluss von Weiss’ ‚Prozessdrama’ bildet der abschließende Monolog Birgit Schöberls keine Positionierung einer Schwarz/Weiss-Zeichnung, da ihre Aussage, wie alle Monologe in Der Kick, Brüche aufweist. So widerspricht beispielsweise ihre Behauptung, „dass dieser Mord eingeplant war“, Erzählungen anderer Monologe, welche die sich aufschaukelnde und eskalierende Situation und die ungewollte Tat betonen (Vgl. Marco Schönfeld, DK, S. 55, Sp.2; Marcel Schönfeld, DK, S. 51, Sp.3). Durch diese Brüche verweigert sich Der Kick im Gegensatz zu Die Ermittlung einer vorgegebenen objektiven ‚Wahrheit’. Deutlich wird dieser Aspekt insbesondere in Hinblick auf die Auflösung der Prozessstruktur.
Radikale Fragmentarisierung: Auflösung einer übergeordneten Rahmenstruktur, Monologizität
Die Handlung von Der Kick ist durch die Verwendung unterschiedlicher Dokumentarten stärker fragmentarisiert als die Handlung von Die Ermittlung. Die zitierten Montagepartikel verbindet nicht mehr der sprachlich nachgestellte Dialog, sondern Rede und Gegenrede sind hier monologisch in scharfen Schnitten aneinandergereiht und die „filmische Ausschnitttechnik“ verschärft.[193] Eine wirklichkeitsnachahmende Dramenhandlung, ein theatralisches Spiel, wird gänzlich vermieden und in diesem Sinne distanziert -verfremdend „eine karge Geschichte“ erzählt.[194] [195]
Die Zersplitterung der Handlung durch Verzicht auf die Dialogstruktur konvergiert mit der Aufgabe einer übergeordneten Rahmenstruktur wie einer vorgegebenen Prozessverhandlung. Die Verhörfragmente bilden keine eindeutige übergeordnete Struktur. So beginnt der Theatertext nicht mit einer Verhörpassage, sondern mit den Monologen der Mütter von Tätern und Opfer. Die auf widersprüchlichen Monologen zum Mordgeschehen basierende diskursive Struktur des Theatertextes, die Verhörfragmente und die Urteilsverkündung am Ende weisen zwar übereinstimmende Momente mit einer Prozessstruktur auf, doch wird kein realer Prozess rekonstruiert. Die wirkliche ‚Ver- handlung’ und fiktionale Elemente im Sinne einer Bedeutungszuschreibung sind in den Kopf des Zuschauers verlegt.
Die in den Kopf des Rezipienten verlegte Handlung wird durch die monologische Struktur der Aussagen unterstützt: der Verzicht auf eine gerichtliche Dialogstruktur ermöglicht ein freies Erzählen der Figuren und verhindert eine vorgegebene Intersubjektivität und Objektivität und den Bezug zu einem staatlich vorgegebenen Rechtssystem.[196]
Während die Dialoge in einem vorgegebenen Prozess wie in Die Ermittlung auf eine möglichst genaue Faktengewissheit ausgerichtet, in der die Zeugen persönliche Angelegenheiten nur in Bezug auf den zu verhandelnden Sachverhalt äußern, schafft eine Monologizität wie in Der Kick die Atmosphäre einer privat- intimen Gesprächssituation, eine Interviewstruktur, welche durch gelegentliche direkte Ansprachen wie z.B. „Und was meinen Sie“ (Jürgen Schönfeld, DK, S. 53, Sp. 1) und „das sag ich ihnen ganz ehrlich“ (Jutta Schönfeld, DK, S. 49, Sp.3) verstärkt wird; auch in dieser Hinsicht findet eine Verlagerung der Handlung von der Bühne zum Rezipienten statt.[197]
Die Erzählungen der Figuren weisen einen Charakter von persönlichen Einzelgeschichten auf, die assoziativ-frei, ohne vorgegebene Ordnung bzw. strukturierende Frage geschildert werden, verschiedenste Zeitebenen und die Erwähnung unterschiedlichster Themenbereiche zulassen über die Verknüpfung verschiedenster Details und Nuancierungen. Sie sind demnach selbst fragmentarisch strukturiert. Über diese assoziativen Verknüpfungen funktioniert der gesamte Handlungsablauf, der so in verschiedene Einzelgeschichten zerfällt. Er basiert damit auf netzstrukturellen Anknüpfungen. Auch damit ist die Auflösung einer hierarchischen Ordnungsstruktur verbunden.
Radikale Fragmentarisierung: Netzstruktur und Dezentralisierung
Die Fragmentarisierung der Handlung basiert auf einer netzförmigen Textstruktur.
Die einzelnen Monologe sind reigenförmig aneinandergeknüpft. Es handelt sich hierbei um eine Aneinanderkettung verschiedener Aussagen, wobei jeweils der thematische Inhalt, ein Wort oder ein Name am Ende einer Aussage zu Beginn des darauf folgenden Textes aufgegriffen wird. Der daran anschließende Textbestandteil greift zu seinem Beginn wiederum ein Stichwort oder Thema der vorangegangenen Aussage auf usf.
So endet beispielsweise der erste Monolog, das Zitat Jutta Schönfelds, mit ihrer Bezugnahme auf die Mordnacht, den 12. Juli:
„JUTTA SCHÖNFELD Marco hat mich angerufen und gesagt, dass sie jetzt losziehen. [...] Am 12. Juli, in der Nacht. [...] Da hab ich gedacht, ich muss nach Hause. Diese Unruhe [...]“ (DK, S. 48 Sp.1).
Birgit Schöberls Monolog greift das Stichwort „12. Juli“ auf.
„BIRGIT SCHÖBERL: Am 12. Juli ist Marinus mal wieder nach Potzlow gefahren. [...] Hat immer zu mir gesagt, wo er hin geht, weil er wusste, ich wollte es wissen“ (DK, S. 48 Sp. 2).
Das folgende Textsegment, ein Verhörabschnitt, greift ebenfalls das Stichwort „12.Juli“ aus Birgit Schöberls Monolog auf:
„VERHÖRENDER Schildern Sie bitte, was passiert ist. MARCEL SCHÖNFELD Es war der 12. Juli 2002.[...]“ (DK, S. 48, Sp. 3) .[198]
Nach diesem Prinzip der thematischen Verknüpfung funktionieren auch Textsegmente innerhalb eines Monologs.
Der Text bildet eine Netzstruktur, die es ermöglicht, Details oder wiederkehrende Aspekte als Knotenpunkte zu bestimmen. Dies verstärkt den Perspektivenpluralismus, welcher die Antithesen als Extreme relativiert, differenziert, verschiedenste Nuancen und Abstufungen zeigt und dem eine Entgrenzung folgt.
Diese Knotenpunkte ermöglichen zudem die Hervorhebung von Nuancen und Details durch Kontextveränderungen. Am Beispiel der Verknüpfung des Monologes der Frau aus dem Dorf und dem des Pfarrers lässt sich dies zeigen. Nachdem die Frau aus dem Dorf von Potzlow im 2. Weltkrieg berichtet, erzählt sie:
„FRAU AUS DEM DORF: [...]Ganz viele in Potzlow sind Flüchtlinge. [...] Die Hälfte sind Umsiedler. [...] Auch nach der Wende kamen se noch. Die Schönfelds, wo die Brüder da den Marinus da tot gemacht haben, die kamen 1994. Und die Schöberls sind auch Fremde hier, die Familie, die waren lange nicht hier, 1996 sind se gekommen, sind nich heimisch geworden hier“ (DK, S. 51 Sp. 2).
Die Frau setzt Täter und Opfer gleichermaßen in eine Außenseiterposition, indem sie diese als Fremde bezeichnet, obwohl beide Familien schon mehrere Jahre im Ort wohnten. Hier wird eine konservative Haltung der Frau deutlich. Der Pfarrer setzt das Thema der Ausgrenzung in einen anderen Kontext und auf eine anderen Sprachebene, die Ebene der christlich – moralischen Wertung.
„PFARRER [...] Marinus ist von unmenschlichen Kreaturen zu Tode gesteinigt worden [...], deren Feind die Sprache, die Liebe, das Leben war und wohl weiter sein wird. Von Kreaturen des Todes“ (DK, S. 51, Sp.2).
Er setzt die Täter in die Position von Feinden und grenzt sie als unmenschlich ab. Durch die Ausgrenzung der Täter wertet er im Gegensatz dazu die Opferfamilie auf.
Durch derartige Kontextualisierungen spielt der Theatertext mit Sprache und konstituiert sich über den Dialog der Einzeltexte.[199] [200]
Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass die Handlung in ihrer Verknüpfungsabfolge in den Kopf des Rezipienten verlegt ist, da explizite Überleitungen in Form von dialogischen Fragen fehlen und keine Figur mit Kommentatorfunktion existiert. Diese Verknüpfungen sind einerseits nicht immer einfach herzustellen; sie sind außerdem mehrdimensional.
Ein Beispiel für eine indirekt-abstrakte Verknüpfung stellen die beiden aufeinanderfolgenden Textfragmente dar:
Marcel Schönfeld spricht die Außenseiterposition der Schöberls an, wenn er bemerkt:
„Die sind von allen geschnitten worden“ (DK, S. 53, Sp. 1).
Daran schließt Jürgen Schönfelds Monolog an, in dem es um eine wirtschaftliche Blütezeit Potzlows geht:
„Und was meinen sie, was damals in den 60er Jahren in Potzlow los war. Da war hier nebenan die Gaststätte, die jetzt zu ist. [...] Hinter Seehausen Warnitz, Freilichtkino, brauchte man nicht bezahlen. [...] Maitanz war gewesen, da war Erntefest. Wurde auf dem Platz gefeiert und Tanz im Saal [...]“ (DK, S. 53, Sp. 3).
Erst durch die Abstraktion des Monologs von Jürgen Schönfeld auf das Thema ‚Gemeinschaft’ gelingt eine antithetische Verknüpfung.
Ein Beispiel für Mehrdimensionalität bietet die Rede vom Pfarrer. Sein Satz: „Marinus ist von unmenschlichen Kreaturen zu Tode gesteinigt worden“ (DK, S. 51 Sp. 2) kann mit dem vorhergehenden Monolog der Frau aus dem Dorf verknüpft werden, wie oben gezeigt, oder mit Marcels Schönfelds Aussage „Die sind von allen geschnitten worden“ (DK, S. 53 Sp.1), die 21 Textsegmente später montiert ist. Sie könnte zudem antithetisch mit folgender Aussage von Matthias M. über Marinus Schöberl verbunden werden: „Er war eigentlich nie allein, er hat immer welche gehabt“(DK, S.50, Sp.2). Weitere Anknüpfungspunkte bietet die Aussage von Birgit Schöberl:
„[...] Und die Kinder ham auch lange gebraucht, bis sie Marinus akzeptiert haben. Den Matthias Muchow, den hat er bis zum Schluss gehabt“ (DK, S. 53, Sp. 2) sowie Jutta Schönfelds Bemerkung: „Marco ist hier nicht klar gekommen. Marcel schon, aber der Marco nicht“ (DK, S. 53, Sp.2).
Damit wird wiederum die Außenseiterposition der Familie Schönfeld thematisiert, zu der es weitere Verknüpfungen gibt, z.B. zu Jutta Schöfelds Monolog (DK, S. 53, Sp.3) usf.
Die Handlung von Der Kick stellt ein offenes System dar und bietet ein großes Potential an Assoziationsmöglichkeiten, da jede Informationseinheit, jeder Satz, jedes Wort Anknüpfungspunkt sein kann. Die Bedeutungen verändern sich je nach Kontext und werden mit steigenden Assoziationsmöglichkeiten zunehmend komplexer. So gibt der Text eine Netzstruktur vor, deren verknüpfte Reihenfolge der Texte eine Handlungsmöglichkeit zeigt und den Rezipienten darüber hinaus zum Spieler werden lässt, indem er diesen zum Spiel mit Möglichkeiten animiert.
Handlung konstituiert sich über die vielfältigen, dezentralisierten Kombinationsmöglichkeiten, die es erlauben, immer wieder neue Muster durch die folienartige Übereinanderschichtung unterschiedlicher Knotenpunkte zu entdecken. Dadurch entsteht eine Handlungsstruktur als Netzstruktur, die zugleich eine Offenheit einschließt, eine Subsumption der Einzelmomente unter eine Ordo- Struktur vermeidet und durch Parallelität gekennzeichnet ist.
Diese Dezentralisierung und der Verlust einer übergeordneten Struktur zeigt sich zudem im Verhältnis der dialogischen Verhörsegmente zu den Monologen. Hier findet in verschiedener Hinsicht eine Assimilation aufgrund der Durchbrechung der chronologischen Struktur statt.
Die Verhörsegmente bilden zwar mit ihrer geordneten, linear- chronologischen Schilderung des Mordes einen besonderen Fixpunkt im Stück. Diese Ordnung wird jedoch zugleich durchbrochen, indem die Geschichte des Mordes nicht allein durch das Verhör erzählt, sondern durch zahlreiche Geschichten der anderen Personen ergänzt und weitergeführt wird.
Beispielsweise beginnt Marcel mit seiner Schilderung am Nachmittag des 12. Juli, als sein „Kumpel Sebastian mit dem Zug nach Seehausen“ (DK, S. 48 Sp. 3) kam. Parallel könnte sich die zeitlich nicht zu bestimmende Geschichte Birgit Schöberls ereignet haben; eine genaue zeitliche Bestimmung geht aus dem Text nicht hervor:
„BIRGIT SCHÖBERL Am 12. Juli ist Marinus mal wieder nach Potzlow gefahren. [...]“ (DK, S. 48, Sp. 1)
Auch Achim F. und Matthias M. ergänzen Marcels Aussagen und erzählen dabei zugleich ihre eigene Version des Vorfalls (z.B. DK, S. 49, Sp. 1).
Außerdem ergeben sich verschiedenste Verknüpfungen zu Erzählungen, welche die Schilderung Marcels weiterführen. Die Erzählung Marcels in den Verhörfragmenten endet mit dem Zubettgehen der Täter nach dem Mord (DK, S. 55, Sp. 1). Zwischen Verhörsegmenten, in denen Marcel den Beginn der Quälereien schildert, wird vom Suchen und Finden der Leiche einige Monate nach dem Mord erzählt. Matthias M. erzählt, wie es zum Auffinden der Leiche kam (DK, S. 49, Sp. 2). Die Eltern Schönfeld und Birgit Schöberl schildern die Überbringung der polizeilichen Nachricht vom Auffinden der Leiche (DK, S. 49, Sp. 3; DK, S. 50, Sp. 3). Die chronologische Schilderung des Mordes wird so wieder durchbrochen. Das Verhör kann damit nicht auf seine reine Funktion als Tatsachenbericht reduziert werden, sondern stellt auch persönliche Erlebnisschilderung dar und gleicht sich somit den restlichen Monologen an.
Eine Assimilation findet weiterhin formal durch die monologische Struktur des Verhörs statt. Es weist als einziges Textdokument Dialogform auf, doch kann das Verhör nur in sehr eingeschränktem Sinne als Dialog bezeichnet werden. Es fehlen innerhalb der Verhörsegmente die bei allen bekannten dokumentarischen Prozessdramen der 1960er Jahre vorhandenen Verteidiger, Ankläger und Staatsanwälte, die einen Fall intersubjektiv ‚ver-handeln’.[201] Der Dialog findet allein zwischen Marcel und dem Verhörenden statt, und während der Verhörende sachlich- neutral Fragen stellt, motiviert er die Erzählung Marcels. Dadurch sind die Verhörpassagen auf die Schilderungen Marcels fokussiert, während der Verhörende kaum an Profil gewinnt, so dass typische dialogische Momente fehlen. Exemplarisch zeigt dies folgende Passage:
„MARCEL SCHÖNFELD Mit dem Gegenstand meiner heutigen Beschuldigtenvernehmung wurde ich vertraut gemacht. [...] Es ist richtig, dass ich dabei war, als eine Person zu Tode kam. VERHÖRENDER Um wen handelt es sich dabei? MARCEL SCHÖNFELD Es handelt sich hierbei um Marinus Schöberl aus Gerswalde. VERHÖRENDER Waren sie an dieser Handlung allein beteiligt? MARCEL SCHÖNFELD Außer mir waren noch mein Bruder Marco Schönfeld und Sebastian Fink beteiligt. VERHÖRENDER Schildern sie bitte, was passiert ist. MARCEL SCHÖNFELD Es war der 12. Juli 2002. [...]“ (DK, S. 48, Sp. 3).
Eine formale Parallelität besteht zudem darin, dass sowohl Verhörfragmente gestückelt auftreten, als auch Personen mehrfach zitiert werden.
Insgesamt bildet das Verhör einerseits Fixpunkt und reiht sich zugleich fragmentarisch in die Gesamterzählkette ein. Es existiert formal als Teilbereich unter vielen, da es in seiner Dialogizität vielmehr monologisch geprägt ist. So basiert der Gesamttext insgesamt auf einer monologischen Struktur, die eine gegenseitige Anknüpfbarkeit und Dezentralisierung in ihrer Form besonders begünstigt. Jedes Einzelgeschichte stellt ein eigenes Zentrum dar und ist in ihrer Umgrenzung von Anfang und Ende nicht mehr exakt bestimmbar, da jeder singuläre Textpartikel nicht nur in seiner thematischen Verkettung mit dem vorherigen und nachfolgenden Monolog verbunden ist, sondern auch zahlreiche Querbezüge zu weiteren Monologen zulässt, die durch die zahlreichen Nuancierungen zwischen den extremen Antithesen zustande kommen.
Zersplitterte die Handlung in Die Ermittlung in zwei verschiedene Fabeln, so werden in Der Kick viele verschiedene Einzelgeschichten erzählt, mit denen die Zersplitterung in verschiedne Zeit- und Raumebenen verbunden ist. Obgleich die Geschichte des Mordes auf den Mord zuläuft, weist der Theatertext keine strenge Dramaturgie auf, weil die Verhörfragmente von den Geschichten der angrenzenden Testsegmente durchbrochen werden, so dass und der Theatertext nicht auf die Schilderung des Mordes als Sensation ausgerichtet ist.
Die Angleichung der Verhörfragmente an die restlichen Textfragmente zeigt zugleich, dass die Geschichte des Mordes nicht in der Mordnacht beginnt, sondern zahlreiche kleine und große Geschichtsereignisse in der Vergangenheit als mögliche mordbedingende Faktoren betrachtet werden können. Diese werden konkret im folgenden Kapitel erläutert.
Zusammenfassung: Aufbau und Handlung in Der Kick
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Handlung in Der Kick wie in Die Ermittlung über die reduzierte Ausschnitttechnik der Zitatmontage zusammensetzt. Hier greifen Veiel/Schmidt die fragmentarische Struktur auf. Sie radikalisieren Weiss’ Ausschnitttechnik, indem sie homogene Antithesen zugunsten von Polyperspektivität auflösen. Die Handlung setzt sich aus monologisch- retikular verknüpften Einzelgeschichten zusammen, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Diese Netzstruktur schließt in ihrer Parallelanordnung eine übergeordnete Struktur aus. Dementsprechend weist die Handlung keine Ästhetisierungen auf, die über Auswahl und Anordnung des Stoffes hinaus gehen. Dies führt zugleich zu einer Verschärfung der reduzierten Vermittlung von Geschichte: Indem auf Fiktionalisierungen verzichtet wird, ist die gesamte Handlung auf die sprachliche Vermittlung reduziert; Bilder sind in den Kopf des Rezipienten verlagert. Galt schon seine reduzierte Form der sprachlichen Vermittlung in Die Ermittlung, als untheatralisch, so führt Der Kick diese Reduktion potenziert fort, so dass die Rekonstruktion der erzählten Geschichten noch stärker in die Vorstellungswelt des Rezipienten verlagert wird. Damit ist ein Verlust an Vorgaben verbunden. Eine ‚Handlung’ im traditionellen theatralischen Sinne findet nicht statt. Das theatralische Moment des Personendialogs wird aufgegeben, die Einzelgeschichten sind durch Knotenpunkte miteinander verbunden. Die Handlungsabfolge konstituiert sich durch netzstrukturelle, reigenförmige Verknüpfungen, die in der linearen Abfolge einzelner Textsegmente eine Ordnung als Möglichkeit vorgeben und zugleich Freiraum für Verbindungsmöglichkeiten einzelner Textpartikel lässt. Sprache wird nicht zur Entdeckung einer einzigen Wirklichkeit eingesetzt. Der Text stellt damit ein offenes System dar.
Diese fragmentarische Struktur korrelliert mit einer nicht- linearen Geschichtsdeutung.
Erklärungsmodell und Geschichtsdeutung
Die Verstärkung fragmentarischer Momente des Dokumentartheaters von Weiss in Der Kick und die Aufgabe einer Ganzheitlichkeit, einer Ordo- Struktur führt zu einer enthierarchisierten, nicht- linearen Geschichtsdeutung, die sich in ihrer Struktur gänzlich von der Geschichtsbetrachtung Weiss’ unterscheidet. Der fragmentarische, netzstrukturelle Aufbau des Theatertextes Der Kick, in dem Einzelgeschichten parallel erzählt werden, spiegelt formal diese Geschichtsdeutung wider. Enthierarchisierung, d.h. Dezentralisierung sowie Zerstörung einer einheitlichen Kontinuität und der Verzicht auf ein umfassendes Erklärungsmuster gründen erstens auf der konjunktivisch- pluralistischen These des Theatertextes, zweitens auf Irritation bzw. Verunsicherung und drittens auf blinden Flecken. Auf diese Aspekte wird im Folgenden eingegangen.
Nicht- lineare Geschichtsthese
a) konjunktivisch- pluralistische These
Konjunktivische Momente weist Der Kick insofern auf, als die Vermittlung eines historischen Ereignisses durch retikular- zirkuläre Strukturen mit der Tatsache konvergiert, dass es sich bei dem Theatertext Der Kick um eine Spurensuche handelt. Gleichwohl gibt es eine klare These, der zufolge viele einzelne Gewalterlebnisse zum Mordgeschehen beigetragen haben. Diese These weist in sich jedoch ein pluralistisches Konzept auf. Sie führt zu einer polykausal- punktuellen Ursachenzeichnung, wobei die Einzelmotive nicht singulär als ‚Ursache’ bezeichnet werden können. Sinnvoll ist hier vielmehr die vorsichtigere Bezeichnung als ‚mordbegünstigende Faktoren’, die sich in den Biographien der Eltern, der Mörder und der Dorfbewohner finden lassen. Dabei mischen sich makro- und mikrogeschichtliche Ereignisse und stehen gleichberechtigt nebeneinander. Hinsichtlich makrogeschichtlicher Erlebnisse findet eine zeitliche und räumliche Entgrenzung statt, da viele verdrängte Kapitel der deutschen Geschichte erwähnt werden; die Schuld kann so nicht auf ein bestimmtes gesellschaftliches oder staatliches System reduziert werden.
Folgende mordbegünstigende Faktoren werden im Theatertext Der Kick genannt:
- Die Frau aus dem Dorf erzählt vom Leid der Vertreibungen des 2. Weltkrieges:
„FRAU AUS DEM DORF Ich war doch auch bloß ’n Kind. [...] Wenn ich des jetzt alles sehe, 1945, die Todesmärsche.[...]“
„Jeder Zweite hier is Flüchtling“ (DK, S. 51, Sp. 2).
- Der Vater von Marcel und Marco beschreibt Gräueltaten der Russen im Zweiten Weltkrieg:
„JÜRGEN SCHÖNFELD [...] Da hat mein Vater das erzählt, vom Weltkrieg, was er als Kind mitgemacht hat. Dass dann die Russen kamen. Kommt rein ins Haus, der Russe. Will mein Großvater seine Uhr, die Russen da haben die Uhr abnehmen wollen. Hat er gesagt, er gibt nischt raus, und dann wollten se die Uhr abreißen, meinem Großvater. Hat er sie nich rausgerückt, und dann wurden se beide stranguliert. Mein Großvater und meine Großmutter. Musst zugucken, mein Vater. Muss Schreie und alles gehört haben. Vor seinen Augen. Ja. Kurz vor Ende des Krieges“ (DK, S. 53, Sp. 3).
- Jürgen Schönfeld sieht sich und seinen Vater zudem als Opfer der SED- Machtwillkür:
„JÜRGEN SCHÖNFELD [...] Nach dem Krieg, alles aufgebaut, Hof, Wirtschaft, hier in Potzlow. 1960 müsste det gewesen sein. Erst mal waren se Einzelbauer, und dann wurde Typ 1 gebildet, das heißt dann, dass die Einzelbauern sich zusammengeschlossen haben zu ner Gruppe. Und dann hat jeder jedem geholfen, nich, und denn kam denn die Enteignung. Da wurden Kühe aus’m Stall geholt und Pferde und alles, wurde ne große Genossenschaft draus. Mussten wa unterschreiben, wie viele Rinder rausgegangen sind. Denn hieß es Volkseigentum, det gehört jetzt allen. Das war nur ne Umschreibung dafür, dass wa gar nischt mehr gehabt haben. Wir hatten kein Vieh im Stall, außer ‚n Schwein zum Schlachten, das war alles denn. Was wollen sie sich dagegen wehren?“ (DK, S. 53, Sp. 3).
Hinzu kommen Gewalterfahrungen der Nachwendezeit, die bis in die Gegenwart reichen:
- Viele Personen erzählen von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, von Abwanderung und Zukunftslosigkeit des Ostens nach der Wende, beispielsweise der Vater der Mörder:
„JÜRGEN SCHÖNFELD Was meinen Sie, was damals in den 60er Jahren für nen Trubel in Potzlow war. [...] Dann gab’s ’n Bäcker, dann gab’s ’n Fleischer, dann gab’s hinten bei der LPG noch mal ne Gaststätte, Paul Schlecht. Dann gab’s ’n Friseur, der hat immer ’n weißen Anzug angehabt, da hab ich gedacht, det is ’n Arzt, hab ich mir nie die Haare schneiden lassen, war der alte Herr Wilde, dann war da ne Sparkasse drinne. Heute- alles nischt mehr. Von 700 Leuten in der LPG sind zwei übrig geblieben. Die einzige Gaststätte hat auch dicht gemacht. Die paar Leute, die hier noch sind, können se wegtreiben und denn hier n’ Naturreservat aufmachen“ (DK, S. 53, Sp. 1-2; Vgl. ergänzend Torsten M., DK, S. 52, Sp. 2).
- Zudem wird von Armut, Arbeitslosigkeit und mangelnder Sozialhilfe gesprochen:
„JÜRGEN SCHÖNFELD [...] Ick hab 30 Jahre gearbeitet- bin arbeitsunfähig. Ich krieg keinen Cent im Moment. Rückenprobleme. Wucherung im Rückenmark, wenn ich auf der Leiter stehe, in ’n paar Minute is vorbei. Kann gar nischt mehr machen. JUTTA SCHÖNFELD Wir müssen Kredite abzahlen, bleiben uns unterm Strich 130- im Monat. Mein Mann hat ’n Bescheid bekommen. Ich hab zu viel Rente. 14 Euro 53 zu viel... Deswegen kriegt er nichts, keine Unterstützung vom Amt. JÜRGEN SCHÖNFELD Is ne große Sauerei, sie verarschen einen hier. Man kommt sich richtig gedemütigt vor. Vorher war ich derjenige, der das Geld nach Hause gebracht hat. JUTTA SCHÖNFELD: Als die Frau im Amt das gesagt hat, da hat er sich aufgeregt, abends Kreislaufkollaps gehabt. Lag er mit dem Kopf zur Decke, mit starren Augen, als wenn ne Leiche gelegen hat. Hab ihn geschüttelt, gerüttelt, dann kam er nachher wieder zu sich, sag, ich ruf ’n Arzt. Man steht da, als wenn man steif ist, man kommt einfach nicht mehr zum Telefon. JÜRGEN SCHÖNFELD Da komm ich nich drüber weg, dass man weg vom Fenster is“ (DK, S. 54, Sp. 3)
Jutta Schönfeld erzählt:
„[...]Marcel schickt uns Geld aus’m Knast. Sonst könnten wir ihn gar nich besuchen kommen. [...]“ (DK, S. 55, Sp. 2; Vgl. ergänzend Birgit Schöberl, DK, S.53, Sp. 1; Achim F., DK, S. 48, Sp.3).
- Es werden schulische und sprachliche Defizite von Opfern und Tätern erwähnt:
„JUTTA SCHÖNFELD [...] Marinus, der hat diesen Sprachfehler gehabt, [...] den haben se kaum verstanden, wenn er gesprochen hat [...]“ (DK, S. 50, Sp. 1).
„BIRGIT SCHÖBERL [...] Der Marinus hatte Schwierigkeiten in der Schule [...]“ (DK, S. 50 Sp. 2).
„MARCEL SCHÖNFELD Marinus ist auf die Beklopptenschule gegangen“ (DK, S. 53, Sp. 1).
„GUTACHTER [...] Marco S. gibt an, er habe in den ersten drei Klassen immer alles Einser gehabt. Seine Lieblingsfächer seien Mathematik, Deutsch und Sport gewesen. Er sei erst mit sieben Jahren eingeschult worden. Er sei in eine Sprachheilschule gekommen, aber er habe nie einen Sprachfehler gehabt. Manchmal habe er sich mit Mitschülern geprügelt, da habe es schon mal einen Verweis gegeben. Nach der Sprachheilschule sei er dann in die Gesamtheilschule gekommen. Das sei in der 4. Klasse gewesen. Da seien sie über 20 Kinder gewesen, und er sei gleich sitzen geblieben. In der 5./6. Klasse habe er dann ‚die Schule geschmissen’ “ (DK, S. 54, Sp. 1; Vgl. ergänzend Sandra B., DK, S. 54, Sp.2; Birgit Schöberl, DK, S. 48, Sp. 2).
- Weiterhin werden im Theatertext Feindlichkeit gegenüber anderen Menschenrassen und Zugezogenen erwähnt. Heiko G., Lehrling, schildert:
„Verändert hat sich Marcel denn ganz schnell.[...] Dann hat er mir gefragt, ob ich ihm ne Glatze schere.[...] Er kam am Sonntag dann an, hat Springerstiefel angehabt, Fred- Perry-T- Hemd [...]. Am Abend haben wir wieder Feuer gemacht, draußen am See. Gab da so ’ne Negerin bei uns. Hat er gesagt, hier, auf’n Scheiterhaufen mit der, Negerverbrennung, [...] Alice hieß die. [...] Ich würd’ Alice ausweisen, weil sie Mischling ist. Ausweisen. Abschieben“ (DK, S. 52, Sp. 1).
Nach Marcel Schönfelds Aussage sind die Schöberls als Zugezogene „von allen geschnitten worden“ (DK, S. 53, Sp. 1). Birgit Schöberl bestätigt: „Ich hatte da keinen großen Kontakt im Dorf [...]“ (DK, S. 53, Sp. 2). Auch den Schönfelds fiel die Integration nach ihrer Niederlassung in Potzlow schwer, so erzählt Jutta Schönfeld:
„JUTTA SCHÖNFELD 1994, als wa nach Potzlow zogen... Schwer, ich bin hier gar nicht klar gekommen“ (DK, S. 53, Sp.2).
Sie schildert auch die Ausgrenzung von Marco:
„JUTTA SCHÖNFELD Marco war auf’m Fahrrad unterwegs. Das warn sieben oder acht Leute, sind ihm entgegen gekommen. Ham ihn zusammengeschlagen. Die ham denn ’n toten Aal aus’m See geholt, dem Marco um ’n Hals gebunden und ihn denn ins Wasser gejagt. Dann musst er sich ausziehen, [...] musst er sich einen runterholen. Ham se gegröhlt und alles. Wenn er das nicht gemacht hätte, dann... Musst er machen. Das war so die Art Begrüßung von hier, für unsern Marco. Willkommen in Potzlow. 1994 war das, war er 14“ (DK, S. 53, Sp. 3).
- Das letzte Beispiel zeigt zugleich, dass gewaltvolle Ausschreitungen zum Alltag Potzlows gehören (Vgl. ergänzend Marcel Schönfeld, DK, S. 52, Sp.1; Sandra B., DK, S. 54, Sp. 3; Birgit Schöberl, DK, S. 53, Sp. 2). Auch die Opfer weisen eine potentielle Bereitschaft zur Gewalt auf, es existieren allerdings keine Beispiele für tatsächliche gewaltsame Übergriffe. Beispielsweise erzählt der ehemalige Freund des Mordopfers, Matthias M.:
„Wenn Marco und Marcel hier säßen, also ich sag Dir’s ehrlich, wenn die beiden jetzt neben mir sitzen würden, ich würd’ denen so ’ne Bierflache über die Ohren ziehen, auf jeden Fall, quer durch die Fresse ziehen. Ist mir egal. Und die meisten, wie ich gehört hab, wenn Marcel oder Marco in dieses Dorf einen Fuß reintreten... Ein Telefonat, Marco und Marcel kommen nur fünf Meter aus der Haustür, und dann sind se Matsch [...]“ (DK, S. 51, Sp. 1).
Die Mutter des Opfers bemerkt:
„BIRGIT SCHÖBERL [...] Die müssten so umgebracht werden wie unser Sohn [...]“ (DK, S. 55, Sp. 3; Vgl. auch Birgit Schöberl, DK, S. 55, Sp.3).
Kriminalität zeichnet den Alltag Potzlows auch bezüglich Diebstähle aus, wie ein Zitat des Gutachters verdeutlicht:
„GUTACHTER Herr Marco S. ist bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten.[...] Dabei lag ein Schwerpunkt in Diebstählen, Fahren ohne Führerschein, [...]“ (DK, S. 53, Sp. 2).
Matthias M. erzählt seine kriminellen Ausschreitungen mit seinem ehemaligen Freund Marinus Schöberl:
„Dann haben wir da immer in der Kiesgrube in Potzlow mit nem Moped rum gefahren, immer vor der Polizei geflüchtet, beide. [...] Wir haben so viel Scheiße gemacht, ich weiß gar nicht mehr, was wir alles gemacht haben. Mopeds geklaut, Fahrräder geklaut,[...] abgestellt oder zu Schrott gefahren [...]“ (DK, S. 50, Sp. 1-2).
- Hinzu kommen Fernseh- und Drogenkonsum der Dorfbewohner:
„ACHIM F. [...] ich hab mit Sieglinde meine Wohnstube gehabt, konnt ich Fernseh kieken und was willste denn machen als Arbeitsloser?“ (DK, S. 48, Sp. 3).
Matthias M. berichtet über seine Beziehung zum Opfer:
„[...] Da ein Bier getrunken, da geredet. Haben Kräuter-Wettsaufen gemacht. [...] An seinem letzten Abend, am 12. Juli, da hab ich mit ihm sogar noch gesprochen, gefragt, kommste mit zu mir, noch ’n paar Bierchen trinken, ich und Madlen so, er so, nee, ich geh mit Schönfelds zu Achim, paar Bierchen trinken auch, auf die Platte mit Achim, mal sehen, was sonst noch so passiert. [...]“ (DK, S. 50, Sp. 2).
Marcel erzählt vom Abend des 12. Juli 2002:
„Dann kam mein Bruder Marco auf die Idee, nach Strehlow zu fahren, um dort Achim zu besuchen. Mein Bruder war erst neun Tage vorher aus der Haft entlassen worden. Die beiden kannten sich noch aus früheren Zeiten. Wir holten einen Kasten Bier „Sternburger“. [...] Nach ca. einer Stunde war der Kasten leer, und wir holten einen zweiten.“ (DK, S. 48, Sp. 3; Vgl. ergänzend Jutta Schönfeld, DK, S. 51, Sp. 3, Marcel Schönfeld, DK, S. 51, Sp. 2 und S. 52, Sp. 1; Marco Schönfeld, DK, S. 53, Sp. 2, Jutta und Jürgen Schönfeld, DK, S. 54, Sp.2 ).
- Es werden auch Krankheiten der Eltern Schönfeld und Birgit Schöberls genannt. Das Krebsleiden von Jutta Schönfeld löste bei Marcel ein Trauma aus:
„MARCEL SCHÖNFELD [...] Aus der Flasche konnte se trinken, aber da war nach der Operation der Mund schief, da lief des alles raus. Ich war gelähmt. Bin dann nich mehr ins Krankenhaus. Ich... das ging einfach nich. Ich wollte, ich hab’s nich fertig gekriegt. Was is, wenn die das nich überlebt. Das hab ich gedacht, nur das“ (DK, S. 51, Sp. 3).
Diese Gewalt- und Demütigungserfahrungen mischen sich als indirekte mordbegünstigende Faktoren mit Motiven, die zeitnaher und direkter mit dem Mord in Verbindung stehen.
Marcel Schönfeld erwähnt sein von Marinus Schöberl gestohlenes Moped:
„VERHÖRENDER Hatten Sie persönlich etwas gegen den Marinus Schöberl? MARCEL SCHÖNFELD Nein. Der Marinus hat mir vor fünf Monaten mein Moped gestohlen.[...] deshalb habe ich ihn in der Nacht da auf die Fresse gehauen“ (DK, S. 50, Sp.1).
Marco Schönfeld nennt daneben als eine Ursache des Mordes fehlende Alternativen, die zur Lust am Töten, am ‚Kick’ führen:
„MARCO SCHÖNFELD Ich wollt ihn nur quälen und ärgern. Is eben aus der Situation heraus entstanden, und denn macht man det eben so, weil’s Spaß macht und weil’s nichts anderes gibt, was man machen kann“ (DK, S. 55, Sp. 2).
- In einem Zitat von Sandra B., Freundin von Marco, die zum Zeitpunkt des Mordes im Gefängnis saß, heißt es:
„SANDRA B. Wir haben telefoniert. [...] Da wusste ich noch nicht, was sie da im Stall gemacht hatten. Marco hat zu mir gesagt, er kommt nicht klar damit, dass ich da drin bin und er woanders. Das hat er immer wieder gesagt. Sandra, ich will es so nich, ich komm wieder zurück. In ’n Knast. Ich komm wieder zurück [...]“ (DK, S. 55, Sp. 1).
So kann Marcos Sehnsucht nach seiner Freundin eine weitere Ursache für den Mord gewesen sein.
- Im Anschluss an Sandra B.’s Monolog folgt ein Zitat von Marco, in dem er von der Entladung unterdrückter Aggressionen spricht, welche ebenfalls als mordbegünstigender Faktor gewertet werden können:
„MARCO SCHÖNFELD: Ich hab drei Jahre gesessen und solche Aggressionen aufgebaut. Die mussten raus. Det hätt jeden treffen können“ (DK, S. 55, Sp.2).
- Die Willkür des Mordes verbindet sich mit dem Zufall der Ereignisse. So war Marco Schönfeld zur falschen Zeit am falschen Ort, da er erklärt:
„MARCO SCHÖNFELD Als ich aus dem Knast rauskam, da am 3. Juli 2002, da hat meine Schwester zu mir gesagt: Komm nach Bremen. Gibt Arbeit dort und allet. - Ich bin nich gefahren. Ich hab Sandra besucht, im Knast in Luckau. Wenn ich nach Bremen gefahren, wär das im Schweinestall nich passiert“ (DK, S. 55, Sp. 1).
Birgit Schöberl erzählt entsprechend über sich und ihren Sohn:
„[...] Manchmal mach’ ich mir auch Vorwürfe. Hätt’ ich ihn nach Bayern gelassen, wär’s vielleicht nicht passiert. [...]“ (DK, S. 50 Sp. 2).
- Die Tatsache, dass Marcel Schönfeld einige Monate vor der Tat den Film American History X gesehen hat, führte zudem zu der speziellen Mordmethodik:
„MARCEL SCHÖNFELD Die Idee kam mir plötzlich in den Kopf. Ich habe ca. ein halbes Jahr vor der Tat einen Film im Fernsehen angeschaut. Es handelte sich hierbei um den Film „American History X“. In diesem Film wird eine gleichartige Szene dargestellt“ (DK, S. 52, Sp. 3).
Die genannten Beispiele zeigen, dass Der Kick eine polykausale Ursachenzeichnung aufweist. Diese werden über unterschiedliche, punktuell- ausschnitthafte Einzelperspektiven und verschiedene Lesarten geschichtlicher Ereignisse vermittelt. Verschiedene Ereignisse erwähnt z.B. Jürgen Schönfeld, der jeweils ein Einzelerlebnis zum 2. Weltkrieg, zur DDR und zur Nachwendezeit erzählt, daneben berichtet beispielsweise die Frau aus dem Dorf von Potzlow als Flüchtlingsdorf.
Auch verschiedene Kausalkonstruktionen ergeben sich durch die Polyperspektivität und werden von verschiedenen Personen unterschiedlich konstruiert. Sie folgen keiner vorgegebenen, einheitlichen Meta-Erzählung. Z.B. betont der Staatsanwalt das rechtsextremistische Gedankengut der Täter, auf das der Mord zurückgeführt werden kann:
„STAATSANWALT: [...] Die Täter [...] hatten ein dumpfes rechtsextremistisches Gedankengut und den unbedingten Willen, das in Gewaltform auszuleben [...]“ (DK, S. 49, Sp. 3).
Marcel Schönfeld erwähnt sein von Marinus Schöberl gestohlenes Moped (DK, S. 50, Sp.1), das mit Rechtsextremismus zunächst in keinem Zusammenhang steht. Die beiden Motive schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig und relativieren die verschiedenen Kausalitäten. Jedes Motiv steht gleichwertig neben dem anderen.
Nicht nur verschiedene Positionen stehen in relativer Beziehung zueinander, sondern auch einzelne Aussagen und Sätze derselben Personen. So erklärt Marcel Schönfeld im selben Verhörabschnitt, in dem er als eine Mordursache das gestohlene Moped erwähnt:
„Ich habe nur geschlagen, weil alle es gemacht haben“ (DK, S. 50, Sp. 1).
Diese verschiedenen Nuancierungen können in ihren Extrempunkten gegensätzliche Ursachenbegründungen und Bewertungen aufweisen. Erklärt der Staatsanwalt den Mord mit dem Hinweis auf die rechtsextremistische Gesinnung der Täter (s.o.), so bemerkt der Ausbilder über seinen ehemaligen Lehrling Marcel Schönfeld hingegen:
„Er is für mich ein ganz normaler Jugendlicher, der nach Orientierung gesucht hat. [...] Leute wie Marcel, die haben doch von Politik kein Ahnung, [...] da kann ich nich sagen, du bist en Nazi. Was der da zu Alice gesagt hat – Nigger auf’n Scheiterhaufen, die brennen besser wie Dachpappe-, da steht der nicht dahinter, das is einfach so blöd dahergesagt. Die haben da ganz andere Ausdrücke, die kennen doch keine anderen. Heute find ich’s ganz toll, rote Schnürsenkel zu tragen, morgen ziehe ich mit andere ein, übermorgen find ich’s unheimlich toll, ne Schlafanzughose anzuziehen und mit der rumzurennen“ (DK, 52, Sp.3).
Tatsächlich weist Marcel eine Stilwandlung vom Rechtsradikalen zum Hip- Hopper auf. Indem er von seiner Angst gegenüber seinem großen Bruder erzählt, bemerkt er:
„Wenn der erfährt, dass ich Drogen genommen hab und Haare gefärbt hab... der geht über Leichen“ (DK, S. 52, Sp. 1).
So wirkt die Aussage des Ausbilders im Kontext von Marcels Äußerung stimmig, im Kontrast zur kausalen Erklärung des Staatsanwaltes wiederum verklärend.
Auch die Konstruktion von Kausalketten mit mehreren Komponenten wird durch die Polyperspektvität der Einzelzitate im Gesamten multioptional präsentiert.
Der Staatsanwalt konstruiert eine lineare Kausalkette, indem er den hohen Alkoholkonsum der Dorfbewohner auf die Arbeitslosigkeit und diese wiederum auf die wirtschaftliche Regression des Dorfes seit der Wende zurückführt:
„STAATSANWALT: [...] Und wenn man dann diese traurigen Gestalten da gesehen hat vor Gericht. Ein Zeuge nach dem anderen, frühere Rinder- oder Schweinezüchter und dann arbeitslos, alle dem Alkohol verfallen. [...]“ (DK, S. 49, Sp.1).
Die Aussage Marco Schönfelds zerstört diese Linearität:
„MARCO SCHÖNFELD [...] Mit 16 bin ich nach Güterfelde gekommen. Vorbereitungsjahr Lehre, war über ein Jahr dort. Dann bin ich ausgerastet. Hab den Meister aus Versehen zusammengeschlagen. War besoffen. Hab mich an nischt erinnern können. Bin am nächsten Tag auf Arbeit gekommen, und dann haben sie zu mir gesagt: Kannst gleich nach Hause gehen, bist entlassen“ (DK, S. 53, Sp. 2).
Die Aussage steht hinsichtlich der Kausalkette konträr zur Aussage des Staatsanwaltes, da hier der hohe Alkoholkonsum zum Verlust der Arbeit führt.
Insgesamt wird nicht mehr eine lineare Abfolge metropoler Ereignisse in einen sich notwendig aufeinander entwickelnden Kausalzusammenhang gestellt. Der Kick präsentiert singuläre Einzelereignisse der großen Geschichte durch Polyperspektivität nebeneinander summarisch. Damit wird die Linearität der geschichtlichen Konstruktion durchbrochen und der Anspruch auf eine übergeordnete objektive Geschichtsdeutung zurückgenommen. Die geschilderten Gewalterfahrungen stellen Beispiele individuell recherchierter Biographien dar, die nicht mehr als wissenschaftlich korrekt interpretierte Belege einer objektiven Wahrheit fungieren. Es handelt sich bei den Erklärungen um Ausschnitte, die ergänzungsfähig sind. Insofern ist der zweite Weltkrieg ein möglicher, jedoch kein absoluter Beginn einer Kette von Gewalterfahrungen. Geschichte wird so thematisch in ihrer Entgrenzung vermittelt. Diese Entgrenzung basiert zudem auf Verflechtungen direkter und indirekter, großer und kleiner Geschichtsereignisse.
So ergibt sich ein dezentralisiertes Ursachengestrüpp, in dem sich insbesondere die Auswirkungen der Wende nicht mehr chronologisch ordnen lassen, sondern in Parallelanordnung eine Gewaltspirale eines eng verwobenen, reziproken Ursache-Wirkungsgeflechts ergeben, da sich die beiden Komponenten nicht mehr unterscheiden lassen: begünstigt die Arbeitslosigkeit den Alkoholkonsum oder umgekehrt? Bedingen alltägliche Demütigungen Kriminalität oder umgekehrt? Auch hier zeigen sich Entgrenzungen und weniger ein linear- kausales als vielmehr ein kumulatives Denken.
Neben punktuellen Kausalzusammenhängen, die in einzelnen Zitaten genannt werden, ermöglicht der Text aufgrund der Netzstruktur zitatübergreifend wechselseitige Anbindungen direkter und indirekter mordbegünstigender Faktoren, die der Rezipient knüpft. Damit ergeben sich, wie auf der Ebene der Handlungsstruktur schon gezeigt, vielfältige Anknüpfungs- und Kombinationsmöglichkeiten, die ein Spielfeld eröffnen, das auf Nuancierungen und Differenzierungen beruht.
Die Präsentation von Geschichte in Ausschnitten mit verschiedenen Kausalketten und das Spiel mit Verknüpfungsmöglichkeiten begründet die Konjunktivität der pluralistischen Geschichtsthese.
b) Irritation und Verunsicherung
Das Spielfeld der pluralistischen Geschichtsthese, der zufolge viele Einzelfaktoren zum Mord führten, wird seiner Netzstruktur durch zusätzliche nicht-lineare Argumentationen erweitert. Der Text schließt zahlreiche Gegenbeispiele zu den vielfältigen Gewalterfahrungen der Dorfbewohner ein und spielt so mit Irritationen und Verunsicherung. Es werden glückliche Zeiten, Verletzlichkeit, Liebe und Normalität der Dorfbewohner gezeigt. Auch ihre Opferposition ist nicht immer eindeutig.
Den meisten oben aufgezählten direkten und indirekten mordbegünstigenden Faktoren stehen relativierende Erzählungen entgegen, manchmal von derselben Figur.
So erzählt Jürgen Schönfeld einerseits von der ohnmächtigen Position seiner Familie gegenüber der Enteignung. Er beschreibt seine Familie hier in ihrer Opferposition.
„[...] und denn kam denn die Enteignung. Denn hieß es Volkseigentum [...]. Das war nur ne Umschreibung dafür, dass wa gar nischt mehr gehabt haben“ (DK, S. 53, Sp. 3).
Er schwärmt jedoch in einem anderen Zusammenhang von der funktionierenden Wirtschaft und stabilen Gesellschaft zu DDR-Zeiten:
„Was meinen Sie, was damals in den 60er Jahren für nen Trubel in Potzlow war. [...] Dann gab’s ’n Bäcker, dann gab’s ’n Fleischer, dann gab’s hinten bei der LPG noch mal ne Gaststätte, Paul Schlecht. [...] Heute- alles nischt mehr“ (DK, S. 53, Sp. 1 – 2).
Die Enteignung wird einmal in einem negativen, ein andermal in einem positiven Zusammenhang aufgegriffen.
Eine weitere Relation ergibt sich bei der Verknüpfung der Zitate mit folgender Aussage:
„JÜRGEN SCHÖNFELD Sind wir mit den Kindern damals viel nach Berlin gefahren, noch vor der Wende. Alles mit Zug. Tierpark und überall ’n bisschen rumgeguckt. [Wir haben det Geld gehabt damals, zu DDR- Zeiten. [...] Samstags, Sonntags bin ich arbeiten gegangen. Schwarz, sozusagen. In DDR- Zeiten hat kein Mensch danach gefragt, [...] Insgesamt kam ich auf sieben Tage. 64 Stunden pro Woche. Joa. [...] Wir konnten überall hinfahrn, Papa hat gut verdient. [...] Da konnten wir leben wie Gott in Frankreich. Ham wir Urlaub gemacht. Sind wir nach Warnitz gefahren, Betriebsbungalow, zehn Kilometer von Potzlow. Wir haben viel unternommen, für die Kinder sehr viel, immer wenn die ’n Wunsch hatten, wurde der erfüllt“ (DK, S. 54, Sp.1).
- Durch derartige Kontextualisierungen wird die Frage nach Tätern und Opfern, Schuld oder Unschuld kaum mehr lösbar. Deutlich zeigt dies Thorsten M.’s gelungene, wenn auch anfangs „krampfhaft“ und nicht ohne Opfer erkämpfte Selbständigkeit als Relativierung der hohen Arbeitslosigkeit in Potzlow angeführt werden:
„TORSTEN M: „Ich arbeite gerne. [...] Dass ich Formulare ausfüllen muss, Steuererklärung machen, hab ich nie gelernt. Gut, dann habe ich mir gedacht, machst dich privat.[...] Was ja dann auch lief. Dann bin ich in die Bundesrepublik gefahren und habe krampfhaft nach irgendeiner Marktlücke gesucht, die man hier noch aufbauen konnte. Was ich dann auch in der Sache CWS Hygieneartikel gefunden habe. [...] Du arbeitest am Wochenende, unter der Woche, du arbeitest bis spät abends, du kümmerst dich einfach nicht mehr um diese Familie [...]“ (DK, S. 52, Sp. 2).
Das Zitat Thorsten M.’s könnte weiterhin mit Aussagen verknüpft werden, in denen deutlich wird, dass viele Jugendliche Potzlows, die im Theatertext als Figuren zitiert werden, in einem Ausbildungsverhältnis standen oder stehen. Heiko G. wird als Lehrling zitiert (DK, S. 52, Sp. 1-2), Thorsten M. erzählt über seinen Sohn Matthias M.:
„Als Vater kann ich sagen: Er will weiterkommen, er will nicht auf der Straße, auf der Strecke bleiben“ (DK, S. 49, Sp. 2). Marcel war vor seiner Verurteilung Auszubildender (Marcel Schönfeld, DK, S. 48, Sp. 2; Ausbilder, DK, S. 52, Sp. 3), Marco erzählt von seinem „Vorbereitungsjahr Lehre“ (DK, S. 53, Sp. 2).
- Zur Irritation und Unterbrechung der Linearität tragen zudem die ‚kleinen Bemerkungen’ bei, die in Zitaten nebensächlich erscheinen, doch vielfältige Anknüpfungspunkte bieten und neben den häufiger erwähnten Aspekten stehen. Beispielsweise erwähnt Achim F. Marinus’ auffällige Geschicklichkeit, Binsenboote zu bauen (DK, S. 48, Sp. 3). Auch die Mutter des Opfers weist auf die handwerkliche Begabung ihres Sohnes hin:
„Er war quasi der Mann im Haus. Wenn mal was kaputt war...“ (DK, S. 50, Sp. 3).
Diese Bemerkungen erweitern die eingeschränkte Portraitierung der Jugendlichen als schulische Versager.
- Irritierend wirkt weiterhin die Tatsache, dass einige Gegenbeispiele zu den Gewalterfahrungen als solche wiederum Brüche und Ambivalenzen aufweisen. Ein Beispiel stellt der Monolog Marco Schönfelds dar, der in sich verschiedene Momente vereint:
„MARCO SCHÖNFELD Mit 16 bin ich nach Gütersfelde gekommen. Vorbereitungsjahr Lehre, war über ein Jahr dort. Dann bin ich ausgerastet. Hab den Meister aus Versehen zusammengeschlagen.[...]“ (DK, S. 53, Sp. 2).
Der Monolog lässt sich einerseits in die Reihe der Beispiele für Jugendliche in Potzlow mit Ausbildungsplätzen einordnen, kann jedoch zugleich als Beleg für die Gewalttätigkeit und Chancenlosigkeit der Jugendlichen dienen. Insgesamt ergeben sich so die verschiedensten Verknüpfungsmöglichkeiten dieses Monologteils mit anderen Segmenten, die wiederum eine Reihe weiterer Verbindungsmöglichkeiten beinhalten usf..
Die zahlreichen Beispiele, Relativierungen und Kontextverknüpfungen ließen sich vielfach fortsetzen, wobei stets neue Perspektiven zu entdecken sind.
Insgesamt wirken die Brechungen irritierend, subvertieren jedoch nicht die These, dass die Ursachen des Mordes auf langjährige und tägliche Gewalt- und Demütigungserfahrungen zurückgeführt werden können. So gelangt Kritikerin Christiane Kühl zu dem Schluss, dass die Liebe „im Kosmos der Demütigung keine Chance“ hat.[202] Die Aggressionen überwiegen quantitativ.
c) Blinde Flecken
Die nicht-lineare Argumentation des Textes, der Verzicht auf eine übergeordnete Meta-Erzählung wird durch die Existenz blinder Flecken unterstützt, mit denen sich der Text eines endgültigen Erklärungsmusters entzieht und Raum für Spekulationen lässt.
Obgleich zahlreiche übereinstimmende Momente zwischen Täter- und Opferseite auffällig sind, entwickeln sich allein die Schönfeld-Brüder als Bewohner Potzlows zu Mördern. Hier entsteht aufgrund mangelnder Erklärung ein blinder Fleck.
Die Schönfeld- Brüder verbringen ihre Zeit wie das Opfer Marinus Schöberl bei alkoholisierten Erwachsenen, z.B. Achim F (DK, S. 48, Sp.3 f.). Er und sein Freund Matthias haben häufig „gekifft“ (DK, S. 49, Sp. 2), „Bier getrunken, [...] Kräuter- Wettsaufen gemacht“ (DK, S. 50, Sp.2). Marinus Schöberl wird wie Marcel und Marco vor ihm Gewaltopfer (DK, S. 50, Sp. 3, S. 51, Sp. 3, S. 52, Sp.3, S. 55, Sp.1). Jutta Schönfeld bemerkt, dass ihr Sohn Marcel mit Marinus Schöberl befreundet war (DK, S. 50, Sp. 1) und bestätigt die Indifferenz der Täter und Opfer mit der Bemerkung: „Ebenso gut hätt einer von unseren Jungs das Opfer sein können“ (DK, S. 52, Sp.1).
Auch eine Analyse der Familienstruktur Schönfeld führt nicht zur Klärung der Frage, warum die Schönfeld-Brüder zu Mördern werden.
- Die Eltern Schönfeld betonen wiederholt die Gewaltlosigkeit in Familie und Erziehung:
„JÜRGEN SCHÖNFELD [...] Wir haben ihn [Marco] zur Gewaltlosigkeit erzogen. Bei uns hat nie einer zurückgehauen. [...]“ (DK, S. 53, Sp. 3); „JÜRGEN SCHÖNFELD [...] Die Wut saß drinne bei meinem Vater. Er hat det sich nich anmerken lassen, mir gegenüber nich. Nie wat gesagt. Nie“ (DK, S. 53, Sp. 3).
- Die Eltern weisen zudem reflektierte Erziehungsansätze auf, indem sie über die Legitimität von Gewaltanwendungen bei Notwehr nachdenken und sich mit ihren Kindern darüber austauschen.
„JUTTA SCHÖNFELD Wir haben gesagt, er soll sich nicht prügeln, aber wenn er was einstecken tut, dass se ihm verhauen, dann soll er sich wehren. JÜRGEN SCHÖNFELD Wenn da drei, vier Jugendliche..., muss sich ja einer wehren“ (DK, Sp. 1-2).
- Die Eltern versuchen, über verbale Kommunikation Schwierigkeiten mit ihren Kindern zu klären. Jutta Schönfeld schildert wiederholt ihre Bemühungen, mit Marco ins Gespräch zu kommen. Im Anschluss an ihre Erzählung der Aal- Geschichte zur Begrüßung Marcos in Potzlow, die oben zitiert wurde, schildert sie:
„Mir hat er das zwei Jahre später erzählt. Wir haben beide in der Küche gesessen. Da saß er auch hier, so bedrückt. Ich sag, Mensch Marco, irgendwas haste.- Ja, sagt er, Mutti, aber darüber will ich nich sprechen. - Komm, sag ich, da hat er einen getrunken gehabt, und dann kam er damit raus. Ja, da hat er geweint. Ich sage, Marco, warum bist Du nicht früher gekommen, die hätten wir angezeigt. Da hab ich ihn dann auch in den Arm genommen, aber Marco ist denn auch so, dass er sich nich drücken lassen will. Er hat seine Mauer aufgebaut, wo er keinen ranlassen tut“ (DK, S. 53, Sp. 3).
Trotz ihrer Bemühungen ist Marco der Mutter schon früh entglitten. Zu Schulzeiten Marcos bemerken die Eltern die latente Bedrückung ihres Sohnes und versuchen die Ursachen herauszufinden:
„JUTTA SCHÖNFED [...] Wir sind zur Schule hin, haben gesagt, hier stimmt irgendwas nich, und die haben immer gesagt, es ist alles in Ordnung. Wir haben ihn gefragt, was ist denn los? Er hat sich nie geäußert, nie. Das war wie ne Wand“ (DK, S. 54, Sp. 1).
Die Eltern stehen dem Rechtsextremismus ihres Sohnes hilflos gegenüber:
„JUTTA SCHÖNFELD Ich sag, Marco, sag ich, als wär ne Welt zusammengebrochen, als er auf einmal vor einem stand mit ner Glatze“ (DK, S. 54, Sp.2).
„JÜRGEN SCHÖNFELD Ich hab zu ihm gesagt, mit seiner Glatze, ich sag, Marco, [...] wir [...] mussten uns in der Schule angucken „Nackt unter Wölfen“. Da is keiner von den Nazis mit ner Glatze rumgelaufen, die haben alle nen vernünftigen Haarschnitt gehabt. Die Einzigsten, die mit ner Glatze rumlaufen mussten, waren die Kommunisten, die sie damals umgebracht haben, die Juden und alles [...]“ (DK, S. 54, Sp. 3).
Es lassen sich allerdings elterliche und großelterliche Nachlässigkeiten in Bezug auf den Alkoholkonsum der Kinder finden. Marcels Großvater hat ihm mit elf Jahren „den ersten Schnaps eingeschenkt, [...], so dass er „nich mehr geradeaus gehen“ konnte“ (DK, S. 51, Sp. 2). Marcel fing mit zwölf oder dreizehn Jahren an zu trinken, und die Eltern haben nichts unternommen:
„Wenn ich ken Geld hatte, vom Vater. Der hatte auch genug da. Im Schlafzimmer. Schlafzimmer war immer offen. Schnaps“ (DK, S. 51, Sp. 3).
Warum die Eltern schon frühzeitig nichts gegen den Drogenkonsum ihrer Kinder unternehmen, wird nicht eindeutig geklärt; auch hier bleibt ein blinder Fleck.
Jutta Schönfeld spricht von ihrer ständigen Sorge um ihren Sohn Marco.
„Da kam er auch ständig nach Hause, angetrunken. Da war er zwölf, dreizehn, wo es anfing, da war er wie inner Sekte, da hat er sich immer mehr zurückgezogen, und ich konnte nächtelang nicht schlafen“ (DK, S. 54, Sp. 2).
„In der Zeit war er so mit Drogen. [...] Ich hatte immer Angst, er liegt irgendwo, und kein Mensch weiß, wo er ist“ (DK, S. 51, Sp 3).
Jürgen Schönfeld erwähnt die Machtlosigkeit und Angst gegenüber Marco:
„JÜRGEN SCHÖNFELD Reißner, vor dem hat man Angst gehabt [...] Der hat ja auch immer gesagt: - Marco, wenn Deine Eltern Dir wat antun, dann komm ich, dann schlag ich Deinen Vater zusammen. - Und dann haben wir Marco gehen lassen“ (DK, S. 54, Sp.2).
Die Eltern begründen ihre ‚Nachlässigkeit’ mit der Abgrenzung und Gewaltandrohung ihres Sohnes und ihrem mangelnden Einfluss auf Marco. Die Mutter betont dennoch ihre fortgesetzten Bemühungen gegen die Entgleisung ihres Sohnes, indem sie von ihrer Suche nach professioneller Hilfe berichtet: nach einem Gewaltausbruch des alkoholisierten Sohnes Marco gegen seine Eltern (DK, S. 52, Sp. 2) sucht die Mutter mit Marco die Anonymen Alkoholiker auf:
„JUTTA SCHÖNFELD Das hab ich so oft zu Marco gesagt: Marco, komm, ich bin bereit. Ich steh Dir zur Seite, ich komm mit zu den Anonymen Alkoholiker. Ich begleite dich! – Waren wa dann da gewesen. Hat da ne Frau zu ihm gesagt, er muss sich nich einbilden, dass er bloß die Füße bei uns untern Tisch stecken kann [...] Er muss auch was dafür tun. Da war’s schon vorbei. Hat Marco zu mir gesagt: Du musst dir nich einbilden, dass ich dir noch mal helfe“ (DK, S. 54, Sp. 3).
Insgesamt liefert die Analyse der Familienstruktur ebenso wie die Betrachtung der sozialen Verkarstung des Dorfmilieus keine eindeutige Ursache für die besondere Entgleisung der Schönfeld-Brüder. Stattdessen verwischen aufgrund der Bemühungen der Schönfeld-Eltern die Grenzen zwischen Normalität und Anormalität. Als einzige Nachlässigkeit der Eltern und Großeltern wird der eigene Alkoholkonsum deutlich, der den Alkoholkonsum der Kinder unterstützt. Vor dem Hintergrund, dass auch die anderen Dorfjugendlichen einen hohen Drogenkonsum aufweisen, wirkt dieser Aspekt allein nicht erhellend.
Insgesamt weist der Theatertext Der Kick eine nicht-linearen Geschichtsdeutung auf, die auf einer pluralistischen Geschichtsthese, Verunsicherung und blinden Flecken basiert. Die Auflösung einer einheitlichen Kontinuität hängt wesentlich mit der Netzstruktur und dem individuellen Erzählmodus zusammen. Die Abwendung von der Konstruktion eines objektiven, homogenen und kontinuierlichen Gesamtzusammenhangs und die Betonung punktueller Einzelerzählungen führt dazu, dass ein historisches Ereignis, ein Thema oder ein Gesichtspunkt polyperspetiv völlig unterschiedlich beschrieben und präsentiert wird. Dadurch ergeben sich Schnittmengen von Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede, die Differenzen zwischen den Erzählungen werden nicht geschlossen. Es entsteht eine Gleichzeitigkeit von chaotischen und geordneten Elementen, die „Geschichte von ihrer diaphanen und ihrer opaken Perspektive her erschließen.“[203]
Dieser individuelle, netzstrukturell- polyperspektive Erzählmodus lässt keine eindeutige Abstraktion der konkreten Ereignisse auf eine hierarchisch übergeordnete Meta-Erzählung zu. Vielmehr bedingen Dezentralisierungen, insbesondere die Grenzverwischung von Normalität und Anormalität eine mögliche lokale Entgrenzung des Mordfalls. Ein derartig abschreckender Mord kann überall geschehen, da die Grenzen zwischen Normalität und Anormalität verwischen; gleichwohl bleibt die Kombination der einzelnen Mordmotive und der Verlauf des Mordes individuell.[204] So gelangt der Theatertext Der Kick anders als Die Ermittlung nicht über Anonymisierungen und ästhetische Verallgemeinerungen zur Abstraktion des konkreten Falles. Das Konkrete geht nicht über Stilisierungen in einer übergeordneten Abstraktion auf. Die mögliche Verallgemeinerung des Falls basiert enthierarchisiert auf Entgrenzungen. Gleichzeitig führt die regionale Entgrenzung des Falles zur These vom Rechtsextremismus, der in der Mitte der Gesellschaft entsteht. Der Text verdeutlicht, wie früh Grundlagen zum Gewaltpotential gelegt werden, ohne die Entstehung zu zeigen. Damit bewegt sich der Text stets zwischen Erklärungsansätzen und der Aufgabe einer letztendlichen Erklärung. Er fordert so ein Denken in Dichotomien.[205]
Zusammenfassung: Erklärungsmodell und Geschichtsdeutung in Der Kick
Die radikalisierte fragmentarische Struktur von Der Kick führt zu einer konjunktivisch-pluralistische Geschichtsthese, die mit Irritationen, Verunsicherung und blinden Flecken spielt. Damit geht die Auflösung eines einheitlichen, umfassenden Erklärungsmodells einher.
Der Text bildet ein offenes System, das Feiräume lässt. Dies begründet den Verzicht auf eindeutige Vorgaben und Lösungsvorschläge, wie im folgenden gezeigt wird.
Gesellschaftlich-politisches Wirkungspotential von Der Kick
Der Verzicht auf ein umfassendes Erklärungsmuster zum Mord an Marinus Schöberl begründet die Rücknahme eines Lösungsvorschlags zum gesellschaftlichen Missstand, den Der Kick zeigt. Dieser Verzicht bedeutet jedoch nicht die Aufgabe einer politischen Intention und ein eines Lösungsansatzes. Mit dem Aufgreifen der fragmentarisch- offenen Form des Weissschen Dokumentartheaters ist notwendig die reflexiv-kritische Rezeption des Stoffes verbunden.
Auch der Schluss des Theatertextes ist wie das Ende von Die Ermittlung provokativ- offen angelegt. Er verbindet die Zeitebenen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In Verknüpfung mit Birgit Schöberls Bewertung: „Das sind tickende Zeitbomben. Die tun das wieder“ (DK, S. 55, Sp. 2) weist der Schluss trotz Urteilsverkündung auf die Wiederholungsmöglichkeit einer Gewalttat in diesem Ausmaß hin, wenn auch nicht von den selben Mördern und am selben Ort. Mit der Verurteilung ist der Fall ebenso wenig abgeschlossen wie der Fall Auschwitz mit dem Appell des Angeklagten 1 in Die Ermittlung, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Auch Der Kick stellt am Ende einen deutlichen Zukunftsbezug her, der den Zuschauer zum Nachdenken anregt.
Die Betroffenheit des Rezipienten entsteht jedoch nicht allein, wie bei Die Ermittlung, durch eine zeitliche Linearität, die Parallelen von Vergangenheit und Gegenwart über einen stringenten Kausalzusammenhang von Ursache, Wirkung und Folge aufzeigt. Durch Vermischung von Ursache und Wirkung, Normalität und Anormalität entstehen Verbindungen zum Rezipienten über räumliche Entgrenzungen.
Da zudem die Grenze zwischen Normalität und Anormalität verwischt, werden hier nicht, wie in Weiss’ Die Ermittlung, direkte analoge Strukturen zum Rezipienten hergestellt, sondern es bleibt über die Abstraktion hinaus auch diesbezüglich ein Spielraum, da jeder Leser bzw. Zuschauer für sich selbst beurteilen muss, inwieweit und wo Gewaltpotenzial in seinem eigenen sozialen Umfeld zu bemerken ist. Die Abstraktionsleistung basiert auf individueller Differenzierung, nicht, wie bei Weiss’ Dokumentarstücken, auf gesellschaftlicher Homogenisierung.
So beinhaltet der provokative Schluss von Der Kick eine Aufforderung oder Motivierung des Rezipienten zur Wachsamkeit und zum differenzierten Hinschauen. Einen Lösungsvorschlag im Sinne einer eindeutigen parteiischen Position vermeidet der Text, und der Rezipient bleibt im Gegensatz zu den Implikationen von Weiss’ Dokumentarstücken auf seine eigene Bewertung des Falls und seine eigenen Schlussfolgerungen zurückgeworfen. Bezüglich dieser kritischen Funktion kann Der Kick als politisches Theater bezeichnet werden, wenn auch der Zuschauer zugleich analoge Strukturen im eigenen Umfeld selbst entdecken muss und eine objektive ‚Wahrheit’ nicht vorgegeben wird.[206]
Der Theatertext ist, wie die Stücke von Weiss, auf kritisch- rationale Reflexion ausgerichtet und intendiert politische Aufklärung. wobei der Begriff „Aufklärung“ in Bezug auf Der Kick anders zu verstehen ist als bei Weiss’ Dokumentarstücken. Der Kick ist kein Lehrstück im aufklärerisch- idealistischen Sinne. Darauf weist schon Nikolaus Merck hin, der schreibt: „Erklärungen, die über das Bekannte hinausgehen, bietet Veiel nicht. Der Kick leidet wie alle Aufklärung heute daran, dass kaum mehr enthüllt werden muss. Alles ist bekannt.“[207] Doch unabhängig von der Frage, ob im Theatertext neue oder bekannte Informationen miteinander verknüpft werden[208], liegt die Stärke des Textes in den Freiräumen, die dem Rezipienten gewährt werden. Der Text als offenes System ermöglicht dem Rezipienten, über eigene Verknüpfungen von Knotenpunkten neue und widersprüchliche Lesarten zu konstruieren, Geschichte gegen den Strich zu lesen. Schließlich trägt zudem der Rest Unerklärbarkeit zu diesem Freiraum bei.
Da dem Rezipienten eigene Assoziationen, Verknüpfungen und Meinungen bleiben, ist nicht, wie Nicolaus Merk meint, alles enthüllt. Aufklärung definiert sich nicht mehr über die Vorgabe einer Wahrheit, sondern kann auf einen performativen Prozess bezogen werden. Während Die Ermittlung Antworten vorgibt und propagandistisch den Zuschauer aktiviert, liegt das politische Potential von Der Kick darin, eine differenzierte Diskussion auszulösen, die Deutschland im Diskurs zum (Rechts)extremismus bereichern kann. Obgleich dies einen Idealfall darstellt und das tatsächliche politische Wirkungspotential des Dokumentartheaters umstritten ist, liegt in diesem Moment der politische Gehalt des Theatertextes Der Kick.[209]
Die Freiräume als Stärke des Theatertextes bilden einen Schwerpunkt von Veiels Inszenierung des Stücks. Auf diesen Aspekt geht der kurze Exkurs im folgenden ein. Damit ergeben sich zugleich weitere wichtige Schwerpunkte seiner Arbeit im Rückblick und Vergleich zu Peter Weiss.
Exkurs: Veiels Inszenierung des Theatertextes Der Kick
Andres Veiels theatralische Umsetzung des Stücks Der Kick zeichnet sich durch die Ausschöpfung der Textkomplexität auf allen möglichen Ebenen aus, die in einer äußerst minimalistischen Inszenierung ihren Ausdruck findet und damit auf jegliche Vorgaben verzichtet.[210] [211]
Veiel lässt den gesamten Theatertext von zwei Schauspielern sprechen, die durch kleine Andeutungen von Körperhaltungen die Figuren zitieren. Es wird auf nahezu sämtliche Gegenstände in dieser Inszenierung verzichtet, mit denen ein theatralisch- spielerischer Charakter entstehen könnte.[212]
Dieses reduktionistische Moment, das sich in den Regieanweisungen der Weiss’schen Dokumentardramen finden lässt, greift Veiel nicht im Theatertext auf, der auf ästhetische Bearbeitungen wie Bühnenanweisungen verzichtet. Er setzt es entsprechend in seiner Inszenierung ein und radikalisiert die Reduzierung theatralischer Momente, indem er allein mit Andeutungen arbeitet, die dem Zuschauer Freiräume für Eigenprojektionen lassen.
Die Schauspieler spielen keine Rollen, sondern sind Sprachschatten. Die Neutralität ermöglicht persönliche Bezüge. Unterstützt wird diese Projektionsfläche, indem die Schauspieler keine symbolischen Farben tragen wie noch bei Weiss, sondern neutrale Schwarze Kleidung, die vorgegebene Assoziationen verhindern soll. Vorgaben, die der Zuschauer erhält, sind die Springerstiefel und Kapuzenshirt, welche die Schauspielerin Susanne Marie Wrage als Anspielung auf die rechte Szene trägt, Turnschuhe, Long- Sleeve und Polohemd, die Marcus Lerch als Andeutung auf den Hip- Hop- Stil trägt, und eine schlichte Bank ohne Lehne, auf denen die Schauspieler die Eltern der Mörder zitieren.[213]
Indem die Aufführungen nicht in einem Theaterraum stattfinden, sondern in einer leerstehenden Gewerbehalle, wird ebenfalls zugleich auf Vorgaben verzichtet sowie der Schweinestall, indem Marinus Schöberl ermordet wurde, angedeutet. Zudem findet hier die Forderung nach der Inszenierung des Dokumentartheaters in Fabrikhallen, die Peter Weiss in seinen Notizen zum dokumentarischen Theater stellte, ihre Umsetzung.
Deutlich wird die reduktionistische Intention Veiels, die in Verwendung einer Black Box zugespitzt zum Ausdruck kommt und die Leerstellen, die der Theatertext aufweist, in eine gegenständlichen Entsprechung umsetzt. Die Schauspieler zitieren einige Passagen in einem großen schwarzen Kasten mit Sichtfenster, der Black Box.
„Black Box“ ist die „Bezeichnung für ein Teil, bei dem vorwiegend das Zusammenwirken mit anderen ähnlichen Teilen betrachtet wird, während sein innerer Aufbau [...] unbekannt ist.“[214] Die Black Box steht somit für den Rest Unerklärbarkeit der Tat und bildet eine Projektionsfläche für den Zuschauer. Sie vermag in der Inszenierung von Der Kick beispielsweise eine Gefängniszelle oder einen Sarg assoziieren.[215] Sie umfasst zudem textuelle Momente und kann für die Sinnleere und Langeweile, für die Seelenleere und „soziale Versteppung“ der Dorfbewohner oder für die Entgrenzung auf vielen verschiedenen Ebenen stehen. Sie kann das Dorf als blinden Fleck der Gesellschaft meinen und mag zudem die unvollständige Erklärbarkeit der Tat oder das Geheimnis, das jeder Geschichte innewohnt, ausdrücken, die unklärbare Schuldfrage sowie alle offenen Fragen umschließen.
Die minimalistische Inszenierung und die Verwendung einer Black Box zeigt, dass Veiel den ‚blinden Flecken’ und ‚leeren Stellen’ neben seinen Erklärungsmöglichkeiten eine nicht unwesentliche Bedeutung beimisst.
Mit dieser „Black Box“, die dem Rezipienten die Möglichkeit für eigene Erklärungen offen lässt, schließt nicht nur der Theatertext, sondern auch die Inszenierung an Andres Veiels bekannten Dokumentarfilm Black Box BRD an, der die ungeklärte Ermordung Alfred Herrhausens und mögliche Zusammenhänge mit der RAF thematisiert. Die Unerklärbarkeit historischer Ereignisse bildet damit werkübergreifend und themenunabhängig eine spezielle Charakteristik in einigen Arbeiten Veiels, die neben klaren Thesen stehen und seinen Werken ein konjunktivisches Moment geben. Hier ist es die „Black Box DDR“.[216] [217]
Fazit Teil II.2.
Das Kapitel über das Dokumentartheater von Veiel/Schmidt zeigt, dass Der Kick die fragmentarische Ausschnitttechnik von Weiss und damit verbunden die reduzierte sprachliche Vermittlung eines geschichtlichen Ereignisses aufgreift. Die pluralistischen und Momente werden verschärft, indem sie nicht mehr einem Einheitskonzept untergeordnet werden. Damit konstruieren Veiel/Schmidt eine pluralistisch-konjunktivische Geschichtsthese, die auf einen klaren Lösungsvorschlag verzichtet, doch aufgrund der offen- dialektischen und reduzierten Form von Der Kick zum Nachdenken anregt.
III. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
Weiss’ Dokumentartheater als moderne und Veiels/Schmidts Dokumentarstück Der Kick als postmoderne Form des dokumentarischen Geschichte(n)-Erzählens
Ausgangspunkte dieser Arbeit sind Pluralismus als gemeinsames Merkmal von Moderne und Postmoderne sowie der Zerfall von Einheitsvorstellungen als Unterscheidung postmoderner von moderner Erzählung, welche die dokumentarischen Theaterkonzepte und – texte von Weiss und Veiel/Schmidt aufweisen:
Pluralistische Momente sind dem Dokumentartheater als Genre allgemein immanent, da es die Autonomie des Kunstwerks infolge der Integration einer außerästhetischen Lebenswirklichkeit auflöst.[218] Ausdruck dessen ist die mit der Montage von Wirklichkeitsausschnitten verbundene offene Form, die die Zerrissenheit der Welt darzustellen vermag. Sie ermöglicht die Ablösung vom individuellen Einzelschicksal und autoreflexiv den Gegenwarts- und Zuschauerbezug. Der Montagetechnik ist die Relativität jeder Rezeption von Vergangenheit als dialektisches Geschichtsverständnis immanent; auch in dieser Hinsicht zeigt sich die Zersplitterung der Welt.
Peter Weiss’ dokumentarische Theatertexte weisen insbesondere hinsichtlich seiner Schnitttechnik, d.h. der Zerstörung der traditionellen Fabel und Handlung diese Entautonomisierung und Fragmentierung in potenzierter Form auf. Verstärkt wird dieses für die Moderne charakteristische autoreflexive Moment in Die Ermittlung, da der Theatertext im Verzicht auf eine darstellerische Handlung und der nahezu rein sprachlichen Vermittlung eines historischen Ereignisses Geschichte untheatralisch und abstrakt vermittelt.
Die Weisssche Ausschnitttechnik verhindert mit der Auflösung der einheitlichen Handlung die reine Oberflächenabbildung eines historischen Ereignisses und ermöglicht aufgrund der eigenen Anordnung der Dokumente eine Geschichtsdeutung trotz steng dokumentarischer Form.
Da sich Geschichtsdeutungen der Dokumentarstücke von Peter Weiss, wie viele Dokumentarstücke der 1960er Jahre, auf die großen historisch wirksamen Kräfte beziehen und lineare Kausalzusammenhänge konstruieren, können sie diesbezüglich als modern bezeichnet werden. Es geht darum, anhand intersubjektiv überprüfbarer Fakten einen geschichtlichen Zusammenhang zu erklären, der aufgrund seiner Belegbarkeit Objektivität beansprucht.
Dieser Anspruch ergibt sich va. aus der verschärften politischen Situation der 1960er Jahre und der polarisierten Welt. Die sozialistisch-propagandistische Perspektive von Weiss’ Texten führt zu einer eindeutigen Geschichtsinterpretation und Position, die durch eine über Selektion und Anordnung der reinen Fakten hinausgehende Ästhetisierung der Dokumente verstärkt wird. So weisen seine dokumentarischen Theaterstücke, wie an der Dramaturgie von Die Ermittlung exemplarisch gezeigt werden konnte, neben der Fragmentierung und Auflösung der Fabel eine symmetrische, hierarchische Ordnung und fiktionale Momente auf, welche die für die Moderne typische Erhaltung des Kunstwerks als organisches Ganzes aufweisen. Deutlich wird das Festhalten an einer Ganzheitlichkeit in Bezug auf die Figuren- und Sprachebene, auf die nur andeutungsweise eingegangen wurde. Die Figuren des Dokumentartheaters von Peter Weiss sind eindimensional gezeichnet und ihre Sprache dient der Entdeckung einer ganzheitlichen Wahrheit. Diese Homogenität auf Handlungs- Sprach- und Figurenebene spiegelt das Festhalten an einer einheitlichen Geschichtsdeutung wider.[219] Über diese Geschichtsdeutung, die einerseits aufgrund der fragmentarischen Form zur Reflexion anregt und zugleich aufgrund der homogenen Struktur und Fiktionalisierung eindeutige Positionierungen festschreibt, konstituiert sich das politisch-aufklärerische Potential des Theatertextes in den 1960er Jahren.
Der Kick radikalisiert das reduktionistisch-fragmentarische Moment der Weissschen Dramaturgie. Er basiert auf der Schnitttechnik von Weiss, die die Konstruktion einer Geschichtsthese ermöglicht und in ihrem harten Schnitt einen verfremdenden Abstraktionsbezug, eine dialektisch-kritische Geschichtsvermittlung begründet. Zugleich wird als wesentliches Merkmal postmoderner Erzählung die Ganzheitlichkeit der Theatertexte von Weiss aufgehoben, indem Veiel/Schmidt die Schnitttechnik differenzierter anwenden. Eindeutige Antithesen sowie Stilisierungen werden vermieden und durch Polyperspektivität ersetzt. Damit wird der abstrakten Ebene der Reflexion eine Konkretheit entgegengesetzt, die nicht auf direkte Auflösung in der Abstraktion angelegt ist und Eindeutigkeiten vermeidet. Die Polyperspektivität und Pluralisierung führt insgesamt zu einem zurückgenommenen Objektivitäts- bzw. umfassenden Wahrheitsanspruch als weiteres Merkmal postmodernen Geschichtenerzählens. Dies zeigt sich zudem im großenteils individuell entstandenen Faktenmaterial, welches Nachweislichkeit im wissenschaftlich- korrekten Sinne nicht in den Vordergrund stellt. Geschichte wird anhand individueller, kleiner Geschichten in ihrer Phänotypologie gezeigt und auf die große Geschichtsbuch-Geschichte der Sieger verzichtet. Das Periphere wird aufgewertet. Die Figuren zeichnen sich durch Zersplitterung in Sprachfragmente aus, die Sprache zeigt eine differenzierte, enteinheitlichte Wirklichkeit.
Die Polyperspektivität radikalisiert Weiss’ Aufgabe der einheitlichen Fabel und löst die vorgegebene Prozessstruktur von Die Ermittlung auf. Einheitliche Ort- und Zeitstrukturen sind unbedeutend. So stellt Der Kick ein komplexes Textretikulum dar und weist das postmoderne Merkmal der Netzstruktur, der Knotenpunkte, der Dezentralisierung und Enthierarchisierung auf. In Der Kick wird deutlich, wie aufgrund dieser dezentralen Entgrenzungen, hier von Normalität und Anormalität, die Ausnahme zum Regelfall wird.
Der Dezentralisierung und Enthierarchisierung entspricht die Konstruktion einer nicht-linearen Geschichtsthese. Indem die These an das Spiel mit Irritationen, Entgrenzungen und leeren Flecken geknüpft ist, weist Der Kick das postmoderne Moment der selbstbewussten Verwerfung von Einheit auf, das Konjunktivität und Pluralität nicht mehr als Mangel erfasst, sondern in ihrer Möglichkeit und Stärke anerkennt. Die Aufgabe der Verunsicherung, die postmodernes Geschichtenerzählen an die Stelle von Versicherungen setzt, findet sich bestätigt. Die These, die auf möglichen Geschichten aus dem unerfassbaren Gesamten beruht, verstärkt in ihrer Verunsicherung und Konjunktivität das autoreflexive Moment, welches schon für die Moderne und für die reflexive Geschichtsvermittlung von Weiss’ Theatertexten bedeutsam war und das in der Postmoderne an Bedeutung gewinnt. Sie markiert Geschichtskonstruktionen in ihrer Relativität.
Die Differenzen, die aufgrund der Pluralisierung zwischen den Einzelerzählungen entstehen und nicht geschlossen werden, lassen dem Rezipienten Raum für eigene Projektionen und Schlussfolgerungen. So wird der Rezipient zum postmodernen Mitgestalter des Kunstwerks. Fiktion und Wirklichkeit mischen sich. Auch diesbezüglich lässt sich der Verlust einer objektiven Wirklichkeit konstatieren.
So eignet sich Der Kick in seiner offenen Form zur gesellschaftskritischen Reflexion, bei der es nicht um eine fertige Antwort oder Propaganda, sondern um den Prozess des Diskurses geht. Der Kick weist eine Form postmodernen Geschichte(n)- Erzählens auf, das sich einem Beliebigkeit widersetzt und Reflexion produziert.
In seinen wesentlichen Aspekten der „Demokratisierung des Zuschauers“ des Perspektivpluralismus und der Dezentralisierung weist Der Kick Übereinstimmungen mit dokumentarischen Theaterstücken von Rimini Protokoll und Hans Werner Kroesinger auf.[220] So kann Der Kick als eine mögliche Form des postmodernen dokumentarischen Theaters betrachtet werden.
Ausblick
Mit der Aufmerksamkeit, die einige dokumentarische Stücke in den 1960er Jahren erlangt haben, insbesondere Die Ermittlung, lässt sich der Bekanntheitsgrad von Der Kick nicht vergleichen. Dennoch ist dieser Text in der Theaterlandschaft auf große Resonanz gestoßen. Die Aktualität des Textes Der Kick lässt sich mit der Zunahme (rechts)- extremistischer Gewalttaten in den letzten Jahren begründen, insbesondere der Zunahme des Rechtsextremismus als verstärkt ostdeutsches Phänomen nach der Wende und des Diskurses um dieses Phänomen.[221] Indem Der Kick die These impliziert, dass der Rechtsextremismus sich nicht allein auf den Osten beschränkt, sondern auch aus der Mitte der Gesellschaft entspringt, greift er einen aktuellen politischen Diskurs auf.[222] Vor diesem Hintergrund sind weitere Inszenierungen des Theatertextes Der Kick möglich und anzunehmen.
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[...]
[1] Andres Veiel / Gesine Schmidt, Der Kick, in: Theater heute, H. 6, 2005, S. 48 – 55.
[2] Andres Veiel ist einer der bekanntesten deutschen Dokumentarfilmer; er gewann für seine beiden Dokumentarfilme Black Box BRD und Die Spielwütigen zahlreiche Preise. Black Box BRD ist als „Dokumentarfilm des Jahres 2001“ ausgezeichnet worden. Siehe unter: http://www.dokfest-muenchen.de/filme_view_web.php?fid=1277&lang=de&s=a225385987f7818cf7b0b8a8303850e3. Zu Andres Veiels Werken siehe unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Andres_Veiel.
[3] Gesine Schmidt ist Dramaturgin am Maxim Gorki Theater Berlin.
[4] Die Uraufführung fand in Basel am 23. April 2005 statt. Siehe unter: http://www.theater-basel.ch/news/news_detail.cfm?n_nr=1906.
[5] Unbekannter Autor, „Die Höhepunkte des Jahres“, in: Theater heute- Jahrbuch 2005, Berlin 2005, S. 133.
[6] Stefan Kirschner, „ Schmerzhafte Wahrheiten“, siehe unter: http://morgenpost.berlin1.de/content/2006/05/02/feuilleton/826340.html.
[7] Siehe unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Konrad-Wolf-Preis.
[8] Siehe unter: http://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals 03_theatertreffen/tt_programm_gesamt/tt_06_programmlisteUebersicht_4.php.
[9] Siehe unter: http://www.stuecke.de/archiv_presse.phtml.
[10] Siehe unter: http://www.stern.de/unterhaltung/film/:EXTRA-Die-Berlinale-2006/556012.html?eid=555108.
[11] Siehe unter: http://www.1.ndr.de/ndr/pages_special/1,2632,SPM2332,00.html?conID=2B322C34C4196E07C1257132004FC55A.
[12] Klaus Harro Hilzinger, Die Dramaturgie des Dokumentarischen Theaters, Tübingen 1976, S. 7.
[13] Ebd., S. 1.
[14] Robert Cohen, Peter Weiss in seiner Zeit. Leben und Werk, Stuttgart 1992, S. 146.
[15] Aufgrund der Schwerpunktsetzung und des begrenzten Rahmens der Arbeit können einige Aspekte der Theaterstücke nur marginal gestreift werden. So wird beispielsweise begrenzt die speziell thematische Geschichtsdeutung des Rechtsextremismus im jeweiligen zeitgenössischen diskursiven Kontext erläutert. Auch auf eine Figurenanalyse kann aufgrund des eingeschränkten Rahmens nur am Rande eingegangen werden. Eine umfassendere Figurenanalyse bietet möglicherweise weitere aufschlussreiche Aspekte zur Themenstellung.
[16] Vgl. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin, 1997, S. 45.
[17] Ebd., S. 53 und Jeremy Hawthorn, Grundbegriffe moderner Literaturtheorie, Tübingen und Basel 1994, S. 205.
[18] Ebd., S. 12 ff.
[19] Ebd., S. 14 ff. und Hawthorn, Grundbegriffe Literaturtheorie, S. 210.
[20] Vgl. Welsch, postmoderne Moderne, S. 53.
[21] Ebd., S. 45.
[22] An dieser Stelle zeigen sich die Möglichkeiten und Grenzen der Arbeit: einerseits ermöglicht die Theorie zur Moderne und Postmoderne eine Analyse der Kunstwerke. Sie stellt zugleich ein theoretisches Konstrukt dar, welches hier als Hilfsmittel eingesetzt wird. Letztendlich entzieht sich jeder Autor einer Vereinnahmung durch Schubladen.
[23] Vgl. Welsch, postmoderne Moderne, S. 1 und 60.
[24] Ebd., S. 63.
[25] Ebd., S. 53.
[26] Ebd., S. 76.
[27] Ergänzend zu Welsch lässt sich anfügen, dass verschiedene Faktoren zu dieser verstärkten Partikularisierung beitrugen. Die Sinnordnungen des 19. Jahrhunderts, die bürgerliche Kultur und ihre Orientierungswerte zerfielen im 20 Jahrhundert zunehmend. Das technische Zeitalter konfrontierte den Menschen mit einer Fülle unübersichtlicher Erscheinungen, so dass ihm die Welt chaotisch, fremd, unbeherrschbar und nicht selten grausam erscheint. Die seit Jahrhunderten, auch in der bürgerlichen Kultur hervorgehobene, gewachsene Selbstbeherrschung und –bestimmung des Menschen, sein Fortschrittsglaube und die Entfaltung seiner Persönlichkeit und Individualität werden durch die zunehmend technisierte und unübersichtliche moderne Welt zerschlagen. Das Selbstwertgefühl des Menschen, sein Glaube an Selbstbeherrschung und Weltkontrolle gerieten nicht zuletzt durch Freuds Psychoanalyse in die Krise, welche dem Einfluss des Unbewussten auf das Tun und Handeln des Menschen große Bedeutung beimisst und damit einen Teil seiner Machtlosigkeit einräumt. Mit der zunehmenden Technisierung und Zersplitterung der modernen Welt in separate Einzelbereiche ist die Welt nur in partikularer Erkenntnis zugänglich, die Subsumption unter einen Konsens immer schwieriger. Vgl. Horst Steinmetz, Moderne Literatur lesen. Eine Einführung, München 1996, S. 182; Hawthorn, Grundbegriffe Literaturtheorie, S. 209.
[28] Welsch, postmoderne Moderne, S. 82.
[29] Ebd., S. 82.
[30] Dass es dabei fließende Übergänge von Moderne zur Postmoderne gibt, ist naheliegend. Vgl Hawthorn, Grundbegriffe Literaturtheorie, S. 205.
[31] Vgl. Welsch, postmoderne Moderne, S. 6 und 82.
[32] Ebd., S. 39.
[33] Jean- Francois Lyotard, Le Postmoderne expliqué aux enfants, Paris 1986, Umschlagrücken. Vgl. Welsch, postmoderne Moderne, S. 82.
[34] Jean- Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz- Wien 1986, Übers. Otto Pfersmann, S. 14.
[35] Ebd., S. 120.
[36] Ebd., S. 121.
[37] Ebd., S. 53 ff. und 112.
[38] Ebd., S. 122, Vgl. auch S. 87.
[39] Ebd., S. 117.
[40] Ebd., S. 112. Lyotard konstatiert, dass sowohl die Systemtheorie als auch der Marxismus an einer Einheitlichkeit festhalten. S. 42 ff.
[41] Sicherlich trug die Auflösung der geteilten Welt und der Sieg des Kapitalismus 1989 zu einer beschleunigten Pluralisierung der Welt bei. Bildeten in der Spätmoderne lange Zeit ordnungspolitische Sicherungen und „der [...] Nationalstaat das stabile Flussbett“, das Pluralisierungserscheinungen bändigte und eine statische Ordnung in die Dynamik der sich beschleunigenden verändernden Welt brachte, so löste die zunehmende Globalisierung diese Statik als festen Orientierungspunkt in ein „Zeitalter des simultanen Nebeneinanders“ auf. Thomas Assheuer, „Atemlos“, in: Die Zeit, Nr. 5, 26. 01. 2006. Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 53.
[42] Sven Hanuschek, Ich nenne das Wahrheitsfindung. Heinar Kipphardts Dramen und ein Konzept des Dokumentartheaters als Historiographie, Bielefeld 1993, S. 21.
[43] Winfried.G. Sebald / Gerhard Köpf, „Netzknoten in Enzyklopädie und Museum: Orte der Geschichte und der Geschichten“, in: Dieter Wrobel (Hrsg.), Postmodernes Chaos- Chaotische Postmoderne, Bielefeld 1997, S. 289- 372.
[44] Die entsprechenden Textstellen bei Lyotard werden in Anmerkungen genannt.
[45] Ebd., S. 287. Vgl. Lyotard, der beschreibt, dass es hier noch um „den großen Heroen, die großen Gefahren, die großen Irrfahrten und das große Ziel“ geht. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 14.
[46] Sebald / Köpf, „Orte der Geschichte“, S. 289.
[47] Ulrich Schmidt, Zwischen Aufbruch und Wende. Lebensgeschichten der sechziger und siebziger Jahre, Tübingen 1993. Vgl. Sebald/ Köpf, „Orte der Geschichte“, S. 295.
[48] Vgl. Hawthorn, Grundbegriffe Literaturtheorie, S. 207 und Steinmetz, Moderne Literatur, 197 ff.
[49] Vgl. Steinmetz, Moderne Literatur, 197 ff.; Welsch, postmoderne Moderne, S. 78.
[50] Hawthorn, Grundbegriffe Literaturtheorie, S. 209; Vgl. Steinmetz, Moderne Literatur, S. 192 und 196 und Erika Fischer- Lichte, Geschichte des Dramas, Bd.2, Tübingen 1990, S. 168.
[51] Steinmetz, Moderne Literatur, S. 227.
[52] Vgl. Hawthorn, Grundbegriffe Literaturtheorie, S. 207.
[53] Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 180.
[54] Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 14.
[55] Vgl. Sebald/ Köpf, „Orte der Geschichte“, S. 290 und Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 22, 55, 59, 163 und 116.
[56] Ebd., S. 291.
[57] Ebd., S. 299.
[58] Ebd., S. 291.
[59] Ebd., S. 291.
[60] Ebd., S. 296; Vgl Lyotard 172 und 53.
[61] Sebald / Köpf: „Orte der Geschichte“, S. 293; Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 175. Lyotard beschreibt hier die Auflösung des Konsens’.
[62] Vgl. Sebald / Köpf: „Orte der Geschichte“, S. 296, Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 175.
[63] Sebald / Köpf: „Orte der Geschichte“, S. 296.
[64] Vgl. Sebald / Köpf: „Orte der Geschichte“, S. 296, Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 177.
[65] Steinmetz, Moderne Literatur, S. 256; Vgl. Sebald / Köpf: „Orte der Geschichte“, S. 296, Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 177.
[66] Vgl. Sebald / Köpf: „Orte der Geschichte“, S. 296, Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 15, 170, 177.
[67] Sebald / Köpf: „Orte der Geschichte“, S. 297.
[68] Sebald / Köpf: „Orte der Geschichte“, S. 300; Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 92, 113- 114, 119 ff.
[69] Sebald / Köpf: „Orte der Geschichte“, S. 294; Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 50. Hier zeigt sich der Einfluss des „linguistic turn“ auf die Geschichtsschreibung und das Geschichte(n)-Erzählen.
[70] Sebald / Köpf: „Orte der Geschichte“, S. 296; Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 116, 130, 135.
[71] Sebald / Köpf, „Orte der Geschichte“, S. 313.
[72] Steinmetz, Moderne Literatur, S. 255 und 256.
[73] Sebald / Köpf: „Orte der Geschichte“, S. 295, Vgl. S. 299.
[74] Lyotard formuliert in Bezug auf das postmoderne Wissen dementsprechend: „Es verfeinert unsere Sensibilität für Unterschiede [...]“. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 16; Vgl. S. 185.
[75] Welsch und Lyotard heben hervor, dass postmodernes Geschichte(n)- Erzählen nicht mit der willkürlichen Kombination verschiedener Elemente gleichgesetzt werden muss; im Gegenteil: sie plädieren für eine postmoderne Form, die sich dem Einerlei der Beliebigkeit widersetzt und Reflexion produziert. „Statt die Vielheit durch Mischmasch zu vergleichgültigen, potenziert er [der gelungene Postmodernismus] sie durch Zuschärfung [...] und betreibt einschneidende und effektive Kritik.“ Welsch, postmoderne Moderne, S. 3, Vgl. Welsch 35 und Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 54, 55 und 58.
[76] Ingo Breuer, Theatralisierung und Gedächtnis. Deutschsprachiges Geschichtsdrama seit Brecht, Köln 2004, S. 24.
[77] Hawthorn, Grundbegriffe Literaturtheorie, S. 210- 211.
[78] Nesje Vestli, Die Figur zwischen Faktizität und Poetizität. Zur Figurenkonzeption im dokumentarischen Drama Heinar Kipphardts, Peter Weiss’ und Tankred Dorsts, Frankfurt am Main 1998, S. 75. Auf den folgenden Seiten gibt Vestli einen Forschungsüberblick.
[79] Vgl. Ebd., S. 54.
[80] Brian Barton, Das Dokumentartheater, Stuttgart 1987, S. 2-3.
[81] Vgl. Vestli, Die Figur, S. 84 und Marianne Kersting, „Völkermord und Ästhetik. Zur Frage der sogenannten Dokumentarstücke“, in: Paul Fechter (Hrsg.), Neue Deutsche Hefte, H. 1, 1967, S. 94.
[82] Vgl. Vestli, Die Figur, S. 85.
[83] Prinzipiell löst sich mit dem Gestaltungsprinzip der Montage das erzählte Geschehen von der subjektiven Erlebniswahrnehmung des klassischen Helden. Die dramaturgische Konzeption von Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ folgt allerdings diesem traditionellen Schema. Doch ist die Subsumption von „Der Stellvertreter“ unter das Genre des Dokumentartheaters umstritten, da dokumentarische Elemente nicht als ästhetische Kategorie des Textes eingesetzt werden; erfundene und dokumentierte Ereignisse vermischen sich hier. „Der Stellvertreter“ zeigt beispielhaft, dass sich die offene Form der Montagetechnik und die traditionelle Erlebnisdramaturgie des klassischen Helden und damit verbunden die geschlossene Dramenform ausschließen.
[84] Steinmetz, Moderne Literatur, S. 243.
[85] Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 65.
[86] Ebd., S. 8 und 98.
[87] Vestli, Die Figur, S. 85.
[88] Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt am Main 1964, S. 120.
[89] Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 26. Hilzinger hat auf den engen Zusammenhang von Verfremdung und Modell und Fiktion hingewiesen. Vgl. S. 9.
[90] Vgl. Vestli, Die Figur, S. 61.
[91] Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 140.
[92] Hellmuth Kasarek, „Die wahren Beweggründe“, in: Akzente, H. 13, 1966, S. 210.
[93] Vgl. Mun- Ki Lee, Das Engagement für die Geschichte und die Wirklichkeit in den Dokumentarstücken von Peter Weiss, Göttingen 2004, S. 56 und Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 146.
[94] Vgl. Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 8.
[95] Eben dieses Spannungsverhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität hat zur bei einigen Kritikern zu einer Ablehnung des Genres „Dokumentartheater“ geführt, da das Dokumentartheater seinem eigenen Anspruch, Wirklichkeit zu dokumentieren, nicht gerecht werden könne oder sinnlos sei. Entschiedene Gegner des Dokumentartheaters sind z.B. Martin Walser und Peter Handke. Vgl. Martin Walser, „Ein weiterer Tagtraum vom Theater“, in: Ansichten, Einsichten. Werke in zwölf Bänden, Bd. 11, Frankfurt am Main 1997, S. 232 ff. Vgl. Peter Handke, „Straßentheater und Theatertheater“, in: Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt am Main 1972, S. 51-55.
[96] Lee, Das Engagement für die Geschichte und die Wirklichkeit in den Dokumentarstücken von Peter Weiss, Göttingen 2004, S. 60.
[97] Sven Hanuschek bemerkt in den 1990er Jahren: „ Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Autoren und Autorinnen zwar, gegenüber den 70er und 80er Jahren, wieder vermehrt auf dokumentarisches Material zurückgreifen, dass aber die außerordentlich reflektierten ästhetischen Lösungen Kipphardts, Weiss’ und Dorsts keine Nachfolger gefunden haben.“ Hanuschek, „Ich nenne das Wahrheitsfindung.“, S. 350- 351.
[98] Kathrin Tiedemann im Interview mit Barbara Burckhardt / Eva Behrendt / Franz Wille, „Man ist im freien Theater anders verantwortlich“, in: Theater heute, H. 11, 2005, S. 2. Tiedemann nennt keine Stücke.
[99] Jürgen Berger, „Lockende Theaterwelten, dokumentarische Realitätserkundungen“, in: Mülheimer Theatertage NRW (Hrsg.), Stücke ’06, Mülheim an der Ruhr 2006. Der geringe Zeitabstand zur Entstehung neuer dokumentarischer Theaterformen erschwert eine Erklärung der verstärkten Entwicklung politischen und dokumentarischen Theaters. Einen Einfluss auf dieses Phänomen nimmt möglicherweise die mit der Globalisierung verbundene verstärkte politische und gesellschaftliche Verunsicherung.
[100] Als bekannte Stücke außerhalb der freien Szene sind beispielsweise zu nennen: Kathrin Rögglas Draußen tobt die Dunkelziffer, Feridun Zaimoglus/ Günter Senkels Schwarze Jungfrauen und Moritz Rinkes Café Umberto.
[101] Breuer, Theatralisierung und Gedächtnis., S. 24.
[102] Vgl. Klaus Dörr und Wilfried Schulz im Interview mit Barbara Burckhardt / Eva Behrendt / Franz Wille, „Man ist im freien Theater anders verantwortlich“, in: Theater heute, H. 11, 2005, S. 1 - 2.
[103] Die „institutionelle Trennung“ von Literatur- und Theaterwissenschaft mag die Entstehung einer umfangreichen Studie erschweren. So beschreibt Breuer, dass „die Theaterwissenschaft den Dramentext zu einer unverbindlichen und letztlich irrelevanten Spielvorlage zu reduzieren droht, während häufig genug in der Literaturwissenschaft das gespielte Stück gegenüber dem Dramentext den Anschein eines ‚abgesunkenen Kulturguts’ erweckt.“ Ingo Breuer, Theatralität und Gedächtnis, S, 20.
[104] Möglicherweise führt der Verlust des Glaubens an eine ‚objektive Wahrheit’ in der Postmoderne zu einem freieren Umgang mit dem Begriff des dokumentarischen Theaters.
[105] Kathrin Tiedemann und Wilfried Schulz im Interview mit Barbara Burckhardt / Eva Behrendt / Franz Wille, „Man ist im freien Theater anders verantwortlich“, in: Theater heute, H. 11, 2005, S. 2.
[106] Vgl. Peter Laudenbach, „Jetzt mal in Echt“, in: Tip, Berlin Magazin, H. 2, 2004.
[107] Ebd.
[108] Karim Saab, „Flirt zwischen den Kontinenten“, in: Märkische Allgemeine, 30.04.2005.
[109] Dazu ausführlich Ralf- Carl Langhals, „Vorsicht! Freiheit im Quadrat“, in: Theater der Zeit, H. 9, 2005, S. 32 ff.
[110] Uwe Gössel, „Die Welt aus dem Wahrnehmungsbaukasten“, Berliner Zeitung, 14.06.2004.
[111] Z.B. Milo Rau, „Wir alle sind Spezialisten“, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.02.2004.
[112] Kroesinger ist in der freien Berliner Szene des HAU und den Sophiensaelen etabliert.
[113] Eine Erklärung für das Aufgreifen dieser traditionellen Form, die Weiss entwickelte, bietet Rüdiger Scharper: „Es war das Fernsehen, das dem dokumentarischen Theater die Mittel wegnahm. Darauf folgte mit all seiner Fantasie das Regietheater, das nun auch in einer Phase der Erschöpfung steckt.“ Rüdiger Scharper, „Fliehende Landschaften“, in: Der Tagesspiegel, 26. 04. 2005.
[114] Kroesinger im Interview mit Anja Dürrschmidt. Anja Dürrschmidt, „Theater als Ort der Konzentration“, in: Theater der Zeit, H. 12, 2003, S. 23.
[115] Vgl. Friedhelm Teicke, „Kriegsspiele“, in: Zitty, 11.12.- 24.12.03. Patrik von Blume bemerkt im gemeinsamen Interview mit Kroesinger: „Die Bilder sollen im Kopf des Zuschauers entstehen“. Patrik von Blume im Interview mit Anja Dürrschmidt. Anja Dürrschmidt, „Theater als Ort der Konzentration“, in: Theater der Zeit, H. 12, 2003, S. 24.
[116] Vgl. Kroesinger im Interview mit Anja Dürrschmidt. Anja Dürrschmidt, „Theater als Ort der Konzentration“, in: Theater der Zeit, H. 12, 2003, S. 23.
[117] Veiel bemerkt: „Allein dadurch, dass wir von 1500 Seiten 40 auswählen, werte ich. [...] Deshalb tue ich mich mit dem Begriff „Dokumentartheater“ schwer.“ Stefan Kirschner im Interview mit Andres Veiel, „Mordfall als Theaterstück“, in: Berliner Morgenpost, 22.04.2005. Eine interessante Mischung von Realität und Fiktion, von Theater, Film und Wirklichkeit stellt Veiels Film Winternachtstraum dar. Hier zeigt sich ebenfalls die postmoderne Vermischung von Realität und Fiktion. Der Film erzählt von der Realisierung des Lebenstraumes der alten Frau Inka, Schauspielerin zu sein. Veiel schrieb für sie das Revolutionsdrama Die letzte Probe über alte Damen in einem Altenheim, die Weiss’ halbdokumentarisches Theaterstück Marat/ Sade aufführen. Wie die Insassen Charentons in Marat/ Sade revolutionieren die alten Frauen gegen ihre Unterdrückung vom Personal. Insofern wird dem ‚Stück im Stück’ noch eine dritte theatrale Verschachtelung hinzugefügt. Der Film zeigt den Prozess der Proben Inkas bis zur Aufführung, die mit Interviewsequenzen durchbrochen werden. Er erzählt die Geschichte dieser Frau, und Veiel benutzt mediale Verschachtelungen, um zur Wirklichkeit Inkas durchzudringen. Insofern vermischen sich Fiktion und Wirklichkeit. Veiel bemerkt: „Ich hatte manchmal den Eindruck, dass sie sich mit meiner Fiktionalisierung, mit meinem Blick auf sie, mit dem Stück, was ich ihr geschrieben habe, besser zeigte als im Interview.“ Siehe unter http://www.nachdemfilm.de/no2/vei01dts.html.
[118] Folgende Angaben zu den Notizen zum dokumentarischen Theater beziehen sich auf den Abdruck in: Peter Weiss, Rapporte 2, Frankfurt a.M. 1971, S. 91- 104.
[119] Lee, Das Engagement, S. 72. Reinhard Baumgart bemerkt: „ [...] Hier, so kommt mir vor, arbeitet Literatur schon wie im Film, da erscheint auch ihr eine Wirklichkeit konkret und unmittelbar, allerdings eine sekundäre, sprachlich schon verarbeitete Wirklichkeit. Um der Deutlichkeit zuliebe zu übertreiben: Sprache setzt hier keine Fiktionen mehr, sie besteht aus Fertigteilen, diese collagieren sich zum Muster.“ Reinhard Baumgart, „Politisches Theater oder moralische Anstalt? Zur Entwicklung von Peter Weiss“, in: Reinhard Baumgart (Hrsg): Die verdrängte Phantasie. 20 Essays über Kunst und Gesellschaft. Darmstadt / Neuwied 1973. S. 217- 221.
[120] So markiert diese „filmische Ausschnittechnik“ zum einen methodische Einflüsse des Dokumentarfilmers Weiss auf sein literarisches Werk und zeigt zugleich seine in den 1960er Jahren zunehmende Abwendung vom filmischen Medium. Lee, Das Engagement, S. 71.
[121] Peter Weiss, „Laokoon oder die Grenzen der Sprache“, in: Peter Weiss, Rapporte, Frankfurt am Main 1968, S. 182.
[122] Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 51.
[123] Robert Cohen, Peter Weiss, S. 146.
[124] Peter Weiss, Dramen 2, Frankfurt am Main 1968, S. 202.
[125] Ebd., S. 202.
[126] Ebd., S. 269- 271.
[127] Unverkennbar sind die fragmentarisch-offene Form und die Verfremdungstechniken stark von Brechts episch- dialektischem Theater beeinflusst, in dem sich der Schauspieler nicht mehr „restlos in die Figur verwandeln“ darf. Auch bei Brecht „zitiert, erzählt, [...], erinnert“ das Theater. Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 119 – 120.
[128] Vgl Lee, Das Engagement, S. 72- 73.
[129] Sebald/ Köpf, „Orte der Geschichte“, S. 291.
[130] Vgl. Thorsten Roelcke, Dramatische Kommunikation. Modell und Reflexion bei Dürrenmatt, Handke, Weiss, Berlin 1994, S. 169 und 171.
[131] Obgleich Weiss in seinen Werken mit der Schwarz/Weiss-Zeichnung eine ‚Wahrheit’ vermittelt, ist sein ausgiebiges Suchen nach einer geeigneten sprachlichen Vermittlung dennoch von großen Zweifeln geprägt. Beispielsweise schreibt er in Laokoon oder die Grenzen der Sprache: „So kommt der Schreibende auf einem Umweg über den Zerfall und die Machtlosigkeit zum Schreiben, und jedes Wort, mit dem er eine Wahrheit gewinnt, ist aus Zweifeln und Widersprüchen hervorgegangen.“ Peter Weiss, Laokoon, S. 187. Diese Ohnmacht indiziert das Bewusstsein über die Enteinheitlichung der Welt bei gleichzeitiger hoffnungsvoller Suche nach einer Wahrheit, einem Halt.
[132] Die Verwendung von Chören und Songs in Weiss’ Dokumentardramen, die die Handlung unterbrechen und kommentieren, erinnern an brechtsche Verfremdungseffekte; auch hier wird der Einfluss Brechts deutlich.
[133] So tragen beispielsweise im Viet Nam Diskurs „Alle Figuren aus den frühen und späten Phasen der Geschichte Viet Nams und des feudalen China [...] einfache schwarze Kleidung [...] Die Vertreter der Konolialmächte und des Imperialismus [...] tragen gleichartige weiße Kleidung“. Weiss, Dramen 2, S. 270.
[134] Obgleich Weiss in seinen Werken mit der Schwarz- Weiss- Zeichnung eine ‚Wahrheit’ vermittelt, ist sein ausgiebiges Suchen nach einer geeigneten sprachlichen Vermittlung dennoch von großen Zweifeln geprägt. . Beispielsweise schreibt er in „Laokoon oder die Grenzen der Sprache“: „So kommt der Schreibende auf einem Umweg über den Zerfall und die Machtlosigkeit zum Schreiben, und jedes Wort, mit dem er eine Wahrheit gewinnt, ist aus Zweifeln und Widersprüchen hervorgegangen“. Peter Weiss, Laokoon, S. 187. Diese Ohnmacht indiziert das Bewusstsein über die Enteinheitlichung der Welt bei gleichzeitiger hoffnungsvoller Suche nach einer Wahrheit, einem Halt.
[135] Vgl. Peter Weiss, Notizbücher. 1960- 1971.1. Bd., Frankfurt am Main 1882, S. 390; Vgl. Lee, Das Engagement, S. 212; Vgl Marita Meyer, Eine Ermittlung, St. Ingbert – Heidelberg 2000, S. 14.
[136] Robert Cohen, Peter Weiss S. 146.
[137] Die Tatsache, dass die Vorgänge –trotz streng dokumentarischer Form- im künstlerischen Werk ästhetisiert wurden, ist von einigen Kritikern verurteilt worden. Z.B. hat Adornos Satz „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ diesen Diskurs geprägt. Theodor W. Adorno, „Kulturkritik und Gesellschaft.“, in: Rolf Tiedemann (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 10.1., Frankfurt 1977, S.30. Urs Jenny sieht ein moralisches Problem in der Ästhetisierung von Auschwitz, wenn er schreibt: „Aus einer Gewissensfrage wurde eine Geschmacksfrage, aus einem moralischen Problem ein ästhetisches.“ Urs Jenny, „Jede Menge Eulen für Athen“, in: Akzente, H. 13, 1966, S. 220.
[138] Reinhard Baumgart, „Politisches Theater oder moralische Anstalt?“, S. 197.
[139] Ebd., S. 197.
[140] Folgende Textzitate beziehen sich auf die Ausgabe: Peter Weiss, Stücke 1, Frankfurt am Main 1968. Die Ermittlung wird durch die Siglen DE abgekürzt.
[141] Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 62.
[142] Peter Weiss, Stücke 1, Frankfurt am Main 1963, S. 259.
[143] Vgl. Hilzinger, S. 54.
[144] Vgl. Lee, Das Engagement, S. 213.
[145] Burkhardt Lindner, Im Inferno. Die Ermittlung von Peter Weiss, Frankfurt am Main 1988, S. 47.
[146] Vgl. Lee, Das Engagement, S. 213.
[147] Vgl. Meyer, Eine Ermittlung, S. 108.
[148] Die Orientierung Weiss’ an der symmetrischen Struktur von Dantes Werk spiegelt dessen Ohnmacht gegenüber dem vielschichtigen, komplexen und undurchschaubaren Pluralismus der Wirklichkeit wider. Sie half Weiss, dem Chaos des Faktenmaterials eine Form zu geben. Weiss schreibt im „Gespräch über Dante“, dass er „nach einem Modell [suchte], nach einer Möglichkeit, den Stoff zu konzentrieren“. Peter Weiss, „Gespräch über Dante“, in: Rapporte, Frankfurt am Main 1968, S. 142. Erika Salloch konstatiert: „Um das riesenhafte, „unförmliche“ Material gliedern zu können, findet er [Peter Weiss] in der Ordnung von Dantes dreigeteilter Komposition ein Hilfsmittel. Er braucht ein Gerüst, eine mechanische Struktur, in der die „Gegenstände und Figuren mathematisch verteilt [...] ein System von Koordinaten ergeben“. Weiss’ Anliegen ist die Institution von Auschwitz, alles was gemessen, gezählt, geprüft, gewogen werden kann“. Erika Salloch, Peter Weiss’ Die Ermittlung. Zur Struktur des Dokumentartheaters, Frankfurt am Main, 1972, S. 55.
[149] Peter Weiss, „Gespräch über Dante“, S. 144.
[150] Vgl. Salloch, Peter Weiss, S. 72; Vgl. Meyer, Eine Ermittlung, S. 112.
[151] Weiss schreibt beispielsweise: „Ich stelle mir Dante in unserer Welt vor, beim Antritt der Höllenwanderung. Könnte er hier den Blick noch heben und die Möglichkeit einer Erlösung sehen? In unserer Hölle liegen doch die Unschuldigen. [...] Er konnte sich zum Richter machen. Zu einem Sprachrohr göttlichen Waltens.[...] Doch was sagt er, wenn er zu unseren Verdammten kommt? Kann er da weitergehen, kann er da noch Verse finden, hat er da noch Erklärungen zur Hand?“. Peter Weiss, „Gespräch über Dante“, S. 42. Vgl auch Peter Weiss, „Vorübung“, Rapporte, S.135- 136.
[152] Alle Zitate des Satzes: Salloch, Peter Weiss, S. 45.
[153] Lee, Das Engagement, S. 214. Diese Formalisierung bewirkt eine Reduktion emotionaler Überwältigung durch individuelle Schicksale und unterstützt die reflektiert- objektive Rezeption des Stoffes. Vgl. Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 94.
[154] Lee, Das Engagement, S. 214.
[155] Manfred Haiduk, Der Dramatiker Peter Weiss, Berlin 1977, S. 136 – 137.
[156] Sie führt zu einer weitgehenden statisch- eindimensionalen Figurenzeichnung, die durch die Anonymisierung der Figuren in ihrer Reduktion auf Nummern unterstützt wird und eine Festlegung auf ihre historische Rolle verhindert. Vgl. Vestli, Die Figur, S. 265.
[157] Salloch, Peter Weiss, S. 72.
[158] Vgl. Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 54-56.
[159] Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 95.
[160] Meyer formuliert radikal: „Weiss will in seinem Stück die Einzelheiten dieser Protokolle und Aufzeichnungen nicht transkribieren, sondern sie so umgruppieren und neu zusammenstellen, dass sie als Zeugnis gegen den Kapitalismus begreifbar werden.“ Meyer, Eine Ermittlung, S. 57.
[161] Vgl. Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 89.
[162] Lee, Das Engagement, S. 214.
[163] Lee, Das Engagement, S. 222.
[164] Christoph Weiß, „ Die Ermittlung “. In: Martin Rector (Hrsg.): Peter Weiss’ Dramen. Neue Interpretationen, Opladen / Wiesbaden 1999. S. 108- 145.
[165] Vgl. Lee, Das Engagement, S. 217.
[166] Rolf Krause, Faschismus als Theorie und Erfahrung. Die Ermittlung und ihr Autor Peter Weiss, Frankfurt am Main – Bern 1982, S. 417.
[167] Vgl. Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 93.
[168] Christoph Weiß, „ Die Ermittlung “, S. 121.
[169] Ebd., S. 121.
[170] Vgl. Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 92.
[171] Vgl. Lee, Das Engagement, S. 91 und Meyer, Eine Ermittlung, S. 121 und 117.
[172] Salloch, Peter Weiss, S. 72. Vgl. Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 95.
[173] Dirk Pilz, „Black Box Potzlow“, in: Zitty, 14.04. – 27.04. 2005.
[174] Vgl. Alex Rühle, „Die Totmacher“, in: Süddeutsche Zeitung, 26.04.2005.
[175] Siehe unter: www.planet-interview.de/interviews/print.php?interview=veiel-andres.
[176] Vgl. Michael Kohlstruck / Verena Münch, Der Mordfall Marinus Schöberl, 2004, S. 7 und 19, siehe unter: http://66.249.93.104/search?q=cache:50|MGUxmSQYJ:zfa.kgw.tu-berlin.de/Fall_Schberl.pdf+kohlstruck+michael+der+mordfall+sch%C3%B6berl&hl=de&gl=de&ct=clnk&cd=1.
[177] Kohlstruck / Münch, Der Mordfall, S. 6.
[178] Reinhard Wengierek, „Im Strom der Gewalt“, in: Die Welt, 26.05.2005.
[179] Christiane Kühl, „Kontexte für Monster“, in: Die Tageszeitung, 26.04.2005.
[180] Dirk Pilz, „Black Box Potzlow“, in: Zitty, 14.04.- 27.04. 2005.
[181] Siehe unter: www.planet-interview.de/interviews/print.php?interview=veiel-andres.
[182] Stefan Kirschner / Holger Kreitling, Von Schuld und Weiterleben: Andres Veiel, Filmemacher, in: Die Welt, 23.04.2005.
[183] Dorothea Marcus, „Trotz vieler Gründe unerklärlich“, in: Frankfurter Rundschau, 26.04.2005.
[184] Die Auswahl der Zitate lässt sich ebenso auf die Inszenierung wie auf den Theatertext Der Kick beziehen.
[185] Programmheft zu Andres Veiels Inszenierung von Der Kick, S. 24. Im folgenden wird das Programmheft mit den Siglen „PH“ abgekürzt.
[186] Während Weiss sich jedoch seit den 1963er Jahren zunehmend vom gesamten filmischen Medium abwendet, wählt Veiel speziell für diesen Stoff die reduzierte Vermittlung in theatralischer Form in Abgrenzung zum Film American History X. Diese Entscheidung motivierten weitere Gründe. Die Medienschädigung des Dorfes trug dazu bei, dass sich die befragten Personen nicht mehr filmen lassen wollten. Ein anderes Motiv bildete die grenzenlose Grausamkeit der Tat, die Unfassbarkeit der menschlichen Motivation zur derartig qualvollen Folterung eines anderen Menschen, für die eine nachahmende Darstellung fraglich ist. Das Motiv der Unfassbarkeit derartiger Brutalität stimmt mit dem von Peter Weiss für die Wahl der sprachlichen Form für den Auschwitz- Stoff überein. Beide Autoren suchten nach einer adäquaten Form der Vermittlung dieser Grausamkeiten und fanden in der Sprache das geeignete Medium, die Gewalt in ihrem gesamten Ausmaß transportiert.
[187] Veiel im Interview mit Karim Saab, „Theater mit Klarnamen“, in: Märkische Allgemeine, 22.04.2005.
[188] Der Stückabdruck von Der Kick in Theater heute H. 6, 2005 weist eine Nummerierung, scheinbar in Sinnabschnitte, auf, die jedoch nicht vom Autor vorgenommen, sondern erst im Nachhinein eingefügt wurden. Während einer Publikumsdiskussion nach einer Aufführung des Stückes in Basel fragte ich die Dramaturgin Julia Lochte und die Regieassistentin Michelle Faller nach dem Sinn dieser Einteilung; beide wiesen auf die nachträgliche Segmentierung hin, deren Sinn ihnen nicht bekannt war. Da der Autor diese Einteilung nicht vornahm und ich ihr keine abgrenzbaren Sinnabschnitte entnehme, gehe ich in dieser Arbeit nicht weiter darauf ein.
[189] Folgenden Textzitaten liegt der Stückabdruck in „Theater heute“, H. 6, 2005 zugrunde. Die Siglen „DK“ stehen für Der Kick.
[190] Reißerischen Mediendiskursen wird so ein differenziertes Textgefüge entgegen gesetzt, in dem Ressentiments sowohl bestätigt als auch widerlegt werden.
[191] Für den Rezipienten bedeutet die Irritation ein ständiger Wechsel zwischen Zu- und Abneigung, zaghafter Sympathie und großem Ekel, die eine „dramaturgische[...] Achterbahnfahrt“ begründen. Zitat siehe Veiel, PH, S.6. Vgl. Reinhard Wengierek, „Im Strom der Gewalt“, in: Die Welt, 26.05.2005.
[192] Vgl. Andres Veiel im Interview mit Karim Saab, „Theater mit Klarnamen“, in: Märkische Allgemeine, 22.04.2005.
[193] Methodisch knüpft Der Kick diesbezüglich an Veiels Dokumentarfilm Black Box BRD an, der allein auf dem Zusammenschnitt verschiedener Interviewpartner basiert. Fragen des Regisseurs sind ausgeblendet, so dass sich der Film aus Monologen zusammensetzt. Vgl. Christiane Kühl, „ Kontexte für Monster“, in: Die Tageszeitung, 26. 04.2005.
[194] Andres Veiel, PH, S. 7.
[195] Hatte schon Reinhard Baumgart am Prozessstück von Weiss kritisiert, dass es hier „einem Theatertext außer der Sprache alles verschlagen [hat], was Theater angeblich braucht“, so lässt sich Der Kick nicht eindeutig als Theatertext definieren; er könnte ebenfalls als Hörstück bezeichnet werden. Dementsprechend bemängelten einige Kritiker die theatralische Umsetzung dieses Textes. So bemerkt Peter Hans Göpfert: „Ich könnte mir vorstellen, dass eine Hördokumentation vielleicht doch die bessere Form gewesen wäre.“ Peter Hans Göpfert, „Maxim Gorki Theater: Der Kick “ siehe unter: http://www.daskulturradio.de/_/auslese/beitrag_jsp/activeid=35/key=tipp_705055.html. Download am 30.04.2005, Bericht vom 25.04.2005.Vor dem Hintergrund, dass der Text mit der Intention zur Inszenierung geschrieben wurde, bereits mehrfach theatralisch umgesetzt wurde und in der Arbeit im Rückblick auf Weiss’ Dokumentartheater analysiert wird, legitimiert sich hier die Bezeichnung als Theatertext.
[196] Der Rezipient kann sich nicht an einer äußeren Ordnung orientieren, sondern ist auf die eigene Bewertung zurückgeworfen. Der Verzicht auf eine übergeordnete homogene Struktur markiert einen Verlust von ‚objektiver Wahrheit’. So muss die individuelle Schuldfrage im Gegensatz zu Die Ermittlung unabhängig vom wirklichen Prozess thematisiert werden.
[197] Dieser Struktur ist formal die Ambivalenz zwischen Zu- und Abneigung sowie zwischen Allgemeinem und Besonderen immanent, bedeutet doch die scharfe Schnitttechnik der aneinander gereihten Monologe eine Verfremdung und Distanzierung, d.h. Abstraktion und Reflexion, während die direkte Ansprache an den Zuschauer eine Einfühlung in die konkrete Situation einschließen. Die direkte Ansprache verschärft das filmische Moment der Ausschnitttechnik Weiss’.
[198] Über diese Anknüpfungspunkte konstituieren sich auch die Passagen, in denen die Eltern Schönfeld abwechselnd sprechen. Diese Passagen können kaum als Dialoge bezeichnet werden, das sich die Eltern gegenseitig ergänzen und diese Textfragmente eher an einen großen Monolog erinnern.: „JUTTA SCHÖNFELD Marcel war mit Marinus sogar befreundet. Der is ja auch zu uns gekommen. Marinus, der hat diesen Sprachfehler gehabt, aber der war eigentlich en ruhiger Junge. Den haben se kaum verstanden, wenn er gesprochen hat. Ich sag, um den Jungen tut es mir auch Leid. Man hat ihn ja gekannt, aber die Eltern, die haben sich nie um ihr Kind gekümmert“ (DK, S. 50, Sp.1). Meist verbinden sich die Aussagen thematisch miteinander, selten miteiner Konjunktion, wie in folgendem Beispiel: „JUTTA SCHÖNFELD Jetzt vermuten wir langsam, dass der Marinus das war. JÜRGEN SCHÖNFELD Weil er als Einziger auf einmal ankam und gezeigt hat, wo die Schwalbe liegt“ (DK, S. 50, Sp.1).
[199] Durch diese Kontextualisierungen wird „Bekanntes [...] fremd, Fremdes rückt überraschend nah. Manchmal sind es einzelne Halbsätze, die den Sinnzusammenhang in eine neue Richtung lenken, manchmal ist es ein einzelnes Wort, das einen Protagonisten unglaubwürdig erscheinen lässt“. Veiel, PH, S. 6.
[200] Damit werden die Figuren über dezentrale Sprachflächen charakterisiert und von verschiedenen Seiten beleuchtet. Die mehrdimensionale Figurenzeichnung verhindert methodisch eindeutige Karikierungen. Starke Kontraste ergeben sich bei Erzählungen wie folgende: „MARCEL SCHÖNFELD Mein Bruder Marco fing dann an, den Marinus zu beschimpfen. Er fragte und sagte immer wieder, ob oder dass er ein Jude sei. Frau Spiering sagte, Marinus solle doch zugeben, dass er ein Jude sei, dann wäre Ruhe. Marinus hat dann irgendwann ja gesagt, dass er ein Jude sei. Ruhe war dann auch nicht. Dann ging es richtig los. Marco fing dann an, Marinus kräftig in die Fresse zu schlagen. [...]“ usf.. (DK 50, Sp3- 51, Sp.1) Marcos Freundin Sandra beschreibt die sensible Seite ihres Freundes: „[...] Und er kam dann immer an, hat mich in den Arm genommen. [...] Marco hat... er hat weiche Hände.“ (DK 54, Sp. 2) Kontrastiv ist auch die Offenheit der Mörder, „wenn sie erzählen, [und] ihre Kälte, wenn’s darum gehen sollte, etwas zu bereuen oder sich zu entschuldigen“. Stefan Koslowski, „Mit gezielten Tritten“, in: Basler Zeitung, 25.04.2005.
[201] Auch dieser Aspekt unterstützt die Auflösung einer vorgegebenen Prozesshandlung.
[202] Christiane Kühl, „Kontexte für Monster“, in: Die Tageszeitung, 26.04.2005.
[203] Sebald / Köpf, „Orte der Geschichte“, S. 295.
[204] Der Diskurs über die Normalität bzw. Anormalität der Dorfbewohner und –struktur wird in zahlreichen verschiedenen Kontexten und Nuancierungen aufgegriffen. Beispiele: „STAATSANWALT [...] Dem Dorf fehlt der zivilisatorische Anstand [...]“ (DK, S. 49, Sp.1); „BÜRGERMEISTER 1 Potzlow ist ein ganz normales Dorf [...] (DK, S. 51, Sp.1); „BÜRGERMEISTER 2 [...] Es hätte ebenso gut ein anderer sein können. Die wollten an dem Abend irgendeinen aufklatschen da... Wie das heute is unter Jugendlichen. Heute machen wir Feetz, und heute muss einer dran glauben, nach dem Motto“ (DK, S. 51, Sp. 1); „MARCEL SCHÖNFELD Wir Potzlower sind eben anders- wir Potzlower sind fröhlich.“ (DK 53, Sp.1); „MARCEL SCHÖNFELD Ich hatt’ ne schöne Kindheit [...]“ (DK, S. 51, Sp.2).
[205] Nicht zuletzt führte diese Dichotomie zu unterschiedlichen Bewertungen des Theatertextes. So entdeckt Willy Theobald darin eine „eindeutige Aussage“; Alex Rühle bemerkt: „Je mehr Details man kennt, desto unverständlicher wird das Ganze. [...] und man sitzt nach der Lektüre da wie Peter Feike, der am Ende in seinem Garten sagte: „Ich verstehe es nicht. Ich versteh es bis heute nicht.“; Christian Gampert stellt die gesamte Konzeption der Differenzierung in Frage, wenn er erklärt: „Veiel handelt, hier wenigstens, mit sozialen Klischees“. Tatsächlich ist die These von der Rassismusentstehung in der gesellschaftlichen Mitte nicht unbekannt. Nachweise: Willy Theobald, „Früchte des Zorns“, in: Financial Times Deutschland, Dienstag, 26.04.2005; Alex Rühle, „Die Totmacher“, in: Süddeutsche Zeitung, 26.04.2005; Christian Gampert, „Der Kick“, siehe unter: URL: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/369717/. Die Rezension wurde im Deutschlandfunk am 24.04.2005 gesendet. Zur These vom „Rassismus der Mitte“ siehe unter http://www.bpb.de/publikationen/8GIOFA,0,0Rechtsextremismus.phpl.
[206] Indem mögliche Vernetzungsmöglichkeiten damit über den Text hinaus gehen, schließt die These in Einzelfällen ein ‚Scheitern’, dh. im Einzelfall nicht entdeckte Analogien des Rezipienten, als postmodernes Merkmal ein.
[207] Nikolaus Merck, „Enthüllt ist schon“, in: Stuttgarter Nachrichten, 26.04.2005.
[208] Über diesen Aspekt streiten die Kritiker.
[209] Vgl. z.B. Irene Bazinger, „Applaus des betretenen Schweigens“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.04.2005.
[210] Dieses reduktionistische Moment kann auch als Schwäche des Theaterstücks und der Inszenierung gewertet werden, wie schon die Bemerkung Reinhardt Baumgarts zu Die Ermittlung zeigte, die oben zitiert wurde. Die Vermittlung von Realität erfolgt auf Kosten der Rückdrängung von Theatralität, so dass der Sinn der Vermittlungsart bezweifelt werden kann. Hier zeigt sich eine grundsätzliche Schwierigkeit des Dokumentartheaters, Realität angemessen im theatralen Kontext zu vermitteln.
[211] Mit ungleich mehr Vorgaben als Veiel und größerer Eindeutigkeit hat Sybille Broll- Pape im Bochumer Prinz- Regent- Theater das Stück inszeniert. Es existieren spielerische Momente wie ein Tisch mit Kaffeetassen, an dem die drei Schauspieler zeitweilig zusammen sitzen, als würde ein Dialog stattfinden. Der Verhörende tippt während des Verhörs auf einer Schreibmaschine. Die Inszenierung arbeitet zudem mit eindeutigen Antithesen, indem der Mord in seiner Grausamkeit mit Filmausschnitten als Leinwandprojektion im Hintergrund, welche die idyllische Naturlandschaft Potzlows zeigen sollen, kontrastiert wird. Die Inszenierung legt einen Schwerpunkt auf die Demonstrierung der Verantwortungslosigkeit der Dorfbewohner, die sämtlich außer dem Pfarrer keine Schuldeinsicht zeigen. Der Text lässt diese Deutung in seiner Vielfältigkeit zu, doch stellt diese Interpretation eine Reduktion des komplexen Textgefüges dar.
[212] Diese verfremdenden Mittel unterstützen den Gegenwartsbezug des Stückes, der im Text formal allein durch das Fragmentarisch- Ausschnitthafte bestimmt wird.
[213] Gänzlich frei von theatralischen Elementen ist die Inszenierung allerdings nicht, singt doch Wrage als Freundin von Marcel einmal ein Lied und tanzen die Eltern der Mörder einmal miteinander. So gibt es in der Inszenierung, wie in den Stücken Weiss’, ein musikalisches Element.
[214] Brock Haus Enzyklopädie, 2. Bd., Wiesbaden 1967, S. 782.
[215] Vgl. Andres Veiel im Interview mit Stefan Kirschner, „Mordfall als Theaterstück“, in: Berliner Morgenpost, 22.04.2005.
[216] Rüdiger Scharper, „Fliehende Landschaften“, in: DerTagesspiegel, 26. April 2005.
[217] Die Inszenierung wurde von der Presse unterschiedlich bewertet. Beispielsweise lobt Jürgen Berger: „All das spielen Susanne- Marie Wrage und Markus Lerch so behutsam- unsaufdringlich, dass man am Ende sicher ist, dies sei die einzige Möglichkeit, ein derart heikles Thema angemessen auf die Bühne zu bringen.“ Alex Rühle kritisiert hingegen: „Denn das Gestrüpp dieses Textes, die klumpige Syntax[...], es fehlt auf der Bühne.[...] Wenn Lerch die Mutter des Toten mimt, sitzt er mit brav gefalteten Händen da, schaut ins Publikum wie ein freundlicher Lindenstraßenbewohner und sagt dazu diese schrecklichen Sätze vom Ende des Prozesses.“; Peter Hans Göpfert bezweifelt insgesamt generell ein Gelingen der theatralischen Umsetzung des Textes: „Dennoch scheint die Vermittlungsform „Theater“, mit ihrer bewusst abstrahierenden Methode, nicht das geeignete Medium für die Stimmen, die hier [...] zum Sprechen gebracht werden. „Theater“ hebt sich nicht wie ein klärender, sondern wie ein diffuser Filter vor die realen Ereignisse und Menschen.“ Nachweise: Jürgen Berger, „Das Notopfer“, in: Kölner Stadt- Anzeiger, 26.04.2005; Alex Rühle, „Die Totmacher“, in: Süddeutsche Zeitung, 26.04.2005; Peter Hans Göpfert, „Gefühlskälte, Lebensleere und Ausländerhaß“, in: Berliner Morgenpost, 26.04.2005.
[218] Vgl. Hilzinger, Die Dramaturgie, S. 147.
[219] Darüber hinaus befindet sich Peter Weiss in seinem Festhalten an einer Einheitlichkeit und seiner Ohnmacht, die richtige Sprachform zu finden, in der für die Moderne typische Sprachkrise, die auf den Wegfall des Zentrums verweist. Am Text konnte das nicht belegt; sondern allein als Äußerung von Weiss angeführt werden.
[220] Zu einer differenzierten Aussage über Der Kick in seinem Verhältnis zu anderen dokumentarischen Theaterstücken und- formen seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts wäre eine weitere Arbeit mit anderem Schwerpunkt notwendig.
[221] Vgl. z.B. Armin Pfahl- Traughber: „Die Entwicklung des Rechtsextremismus in Ost- und Westdeutschland“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, 22. September 2000., S. 3.
[222] So betont Gunter Hoffmann, dass die These des „Extremismus aus der Mitte“ einer breitflächigeren Einsicht, va. im politischen und journalistischen Bereich, bedarf. Er schreibt: „Auch nach Mölln, Solingen, Hoyerswerda Anfang der neunziger Jahre hieß es, die Fälle würden unzulässig „politisiert“. [...] Auch wenn die rechtsextremen Attentäter seinerzeit am Rande der Gesellschaft losschlugen, verbandelt waren sie dennoch mit der politischen Mitte, mit Bürgersleuten, die der Fremdenhatz applaudierten, mit Politikern, die verniedlichten, und mit Journalisten, die ihren unfrisierten Ressentiments freien Lauf ließen. Der Gedanke jedoch, dass der Extremismus aus der Mitte kommt, oder dass die Mitte ihre Integrationskraft einbüßt und selbst normal „feindselig“ wird, wie eine Studie von Andreas Zick und Beate Küpper diagnostizierte, diesen selbstkritischen Gedanken weisen Politiker und Journalisten heute wie damals weit von sich.“ Gunther Hofmann, „Dagegen war Kohl modern“, in: Die Zeit, 27. 04. 2006.
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- Natalie Peeters (Autor:in), 2006, Andres Veiels und Gesine Schmidts Theaterstück 'Der Kick' und die Möglichkeiten des dokumentarischen Theaters zu Beginn des 21. Jahrhunderts - mit einem Rückblick auf Peter Weiss, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110370