Die Verwandlung - Eine Novelle der Moderne?


Seminararbeit, 2003

17 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Franz Kafka ist eine Ikone der Moderne“[1] war letzter Tage in einer auflagenstarken Kultur-Zeitschrift lesen. Ein ausführlicher Artikel über den Autor “bei dem jeder Satz leuchte, wie der Hinterleib eines Leuchtkäfers“[2] schien den Redakteuren angemessen, angesichts der Neuerscheinung zweier Biographien, die sich, wenn auch von unterschiedlichen Standpunkten aus, mit dem Schaffen Kafkas auseinandersetzen.

Die im November 1912 von ihm verfasste Erzählung „Die Verwandlung“ eines Handelsreisenden in ein Ungeziefer, gilt nach wie vor als Sternstunde in der Literatur und so arbeiten sich auch knapp 100 Jahre nach deren Erscheinen namenhafte Literaturwissenschaftler und solche die es werden wollen, Stundenten in Proseminaren, unermüdlich an Leben und Werk des Franz Kafka ab.

Auffallend an Kafka ist der schlichte Stil; einzigartig die lockere und dennoch streng progressive Konsequenz des Erzählens, vor der sich kaum ein Leser zu verschließen vermag. Wird er doch von Beginn der Erzählung, einem Sog gleich in die Perspektive des Gregor Samsa versetzt, die ihm fortan, über den Verlauf der Erzählung hin, die einzige Möglichkeit bleibt, die Welt zu betrachten. Um die Gefühlswelt des Protagonisten zu offenbaren nutzt Kafka geschickt literarische Stilmittel, die der Einzug der Moderne mit sich gebracht hat. Schnitzler gleich, lässt er seinen Helden in inneren Monologen referieren; legt so die Gedankenwelt des Ungeziefers mit menschlichen Empfindungen offen, verknüpft die innere Welt Gregors geschickt mit der äußeren, indem er die Handlungen, scheinbar kontrastierend dazu, in der erlebten Rede wiedergibt. Mittels dieser geschickten Erzählführung gelingt es Kafka dem Leser Zweifel über die Aufrichtigkeit von Gregors Handlungen zu implizieren, etwa wenn Gregor in der erlebten Rede über die Anstrengungen seines Berufes sinnt[3] um im inneren Monolog die täglichen Anstrengungen zu verdammen:

„Dies frühzeitige Aufstehen“, dachte er „macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muss doch seinen Schlaf haben. Andere Reisende leben wie die Haremsfrauen.“[4].

Obwohl der Leser also die Welt der Erzählung scheinbar nur durch Gregors Augen zu betrachten vermag, kommen ihm immer wieder Zweifel an der Aufrichtigkeit dieser Aussagen. So bleibt er während der ganzen Erzählung dazu gezwungen zu entscheiden, welcher Realität er den Vorzug geben soll; der Gregors Gedanken oder der seiner Handlungen. Und so wie sich die Erzählperspektive des inneren Monologs inkongruent zu der der erlebten Rede verhält, so ungleich sind Gedankenwelt des Reisenden und seine Taten; etwa wenn das riesige Ungeziefer versucht den Prokuristen aufzuhalten, diesen trotz seiner Abneigung gegen den Beruf dazu bewegen will, dem Chef von der Verhinderung zu berichten. Somit kontrastiert die Form der erlebten Rede mit der des inneren Monologs, und zwingt den Leser sich einer subjektiven Wahrheit Gregors anzunehmen, die weder als existent gilt, noch zu leugnen ist.

Erschwerend kommt hinzu, dass Franz Kafka bei der Erzählung fast vollständig auf eine auktoriale Erzähldistanz verzichtet, sie nur gelegentlich - fast unbemerkt, korrigierend - einsetzt, um beim Leser Zweifel über das dargestellte keimen zu lassen. Friedrich Beißner fasst zusammen:

„Kafka lässt dem Erzähler keinen Raum neben oder über den Gestalten, keinen Abstand von dem Vorgang. Es gibt bei ihm keine Reflexion über die Gestalten und über deren Handlungen und Gedanken. […] Kafka verwandelt, wenn wir es recht auffassen, nicht nur sich, sondern auch den Leser in die Hauptgestalt.“[5].

Mit einer solchen Aussage wird Beißner dem Erzähler Kafka nicht gerecht, da es die auktoriale Erzählinstanz doch gibt, etwa wenn Gregor seinen ersten Ausbruchsversuch unternimmt, die Mutter ihn entdeckt, den Kopf geneigt hält um ihn besser zu sehen, dann aber„scheinbar im Widerspruch dazu“[6] sinnlos zurück läuft. Diese gezielt auktorialen Einschübe bewirken beim Leser eine Korrektur der Perspektive, die in ihm erste Zweifel an der Gültigkeit der Wahrnehmung Gregors auslösen soll; der Leser wird gezwungen die Gültigkeit von Gregors Perspektive anzuzweifeln; besser, sie zu reflektieren. So können auch Perspektivwechsel auf die Familienmitglieder, der Wahrnehmung Gregors kritisch gegenübergestellt werden, etwa wenn von der Versorgung durch Schwester berichtet wird.

„Außerdem stellte sie zu dem allen noch den wahrscheinlich ein für allemal für Gregor bestimmten Napf, in den sie Wasser gegossen hatte. Und aus Zartgefühl, da sie wusste, dass Gregor vor ihr nicht essen würde, entfernte sie sich eiligst und drehte sogar den Schlüssel um, damit Gregor nur merken könne, dass er es sich so behaglich machen dürfe, wie er wolle.“[7],

Allzu deutlich wird das Missverhältnis, in dem die Handlungen der Schwester - die ihn ängstlich und teilnahmslos mit dem Notwendigsten versorgt - mit den Gedanken Gregors stehen, der er ihre Vorsicht mit Zartgefühl zu erklären versucht. An solchen Stellen ist der Leser besonders gefordert, muss er aus der situationellen Erzählsituation heraus vergleichen, welcher Darstellung er den Vorzug gibt, um das Geschehen zu dechiffrieren. Allerdings bleiben solche Perspektivwechsel die Ausnahme und die einsinnige, subjektive Erzählweise fordert ein hohes Leseverständnis, ergeben sich doch die Zusammenhänge der Erzählung aus den Brüchen solcher Perspektivwechsel.

Das schon angesprochene, situationelle Erzählen spielt in vielen Werken Kafkas eine zentrale Rolle, denn wie keinen anderem gelingt es ihm eine Doppelsträngigkeit[8] in seine Erzählung einzufügen, die nur schwer offen zu legen ist. Um möglichst situationell erzählen zu können, schickt er einer Szene einen Raffsatz voraus, der die Situation bereits vorausnehmend darlegt und zu einem inhaltlichen Abschluss führt. Anhand eines Beispiels soll diese Technik verdeutlicht werden:

„Kaum war er innerhalb seines Zimmers, wurde die Tür eiligst zugedrückt, fest geriegelt und versperrt.“[9],

ist der Raffsatz, der die Situation vorwegnimmt. Die Situation ist abgeschlossen, die Handlung ist beendet.

„…[Die Schwester]…die sich so beeilt hatte“[10]

kann als ein weiterer Raffsatz, perspektivisch auf Grete bezogen, gelten, um das situationelle Erzählen direkt einzuleiten:

„Aufrecht war sie schon da gestanden und hatte gewartet, leichtfüßig war sie dann vorwärts gesprungen, Gregor hatte sie nicht kommen hören, und ein >Endlich!< rief sie den Eltern zu, während sie den Schlüssel im Schloss umdrehte.“[11]

Aus der Raffung heraus beschreibt Kafka anschließend situationell die einzelnen Etappen mit denen das Ergebnis erreicht wird; für diesen Absatz ist das Ergebnis schon bekannt - die Tür ist geschlossen – und in szenischen Bildern wiederholt er die Handlungen die zum Ergebnis, eben der verschlossenen Tür führten. Durch diese Technik „wird Kafka der Dramatik durch raffenden Erzählbericht gerecht[…]Gleichzeitig kann man an diesem Beispiel studieren, wie die Doppelsträngigkeit der Handlung [Gregor, die Schwester] auf die Perspektivperson bezogen wird, auch wenn diese gar keine Möglichkeit hatte, den zweiten Handlungsstrang zu beobachten.“[12]

Eingebettet sind die szenischen Elemente in einen strengen Aufbau, von drei annährend gleich langen Teilen, so dass Fingerhut den Aufbau der Erzählung, als dem eines „Stationendrama[s]“[13] verwandt auffasst. Der erste Teil der Verwandlung beinhaltet die Exposition. Der Protagonist und der zentrale Konflikt (die Verwandlung in ein ungeheueres Ungeziefer) werden ausgebreitet und dem Leser vorgestellt. Gregor, bis zu jenem Morgen, der Ernährer der Familie Samsa, ist nicht mehr fähig seine soziale Rolle zu erfüllen, so dass die bis dato existierende Familienstruktur aus dem Gleichgewicht gerät. Trotz seiner Tiergestalt, die zu keiner Zeit von keinem der Familienangehörigen außer der Mutter, verleugnet oder bezweifelt wird, hat er menschliche Empfindungen und lässt die Lebenssituation der Familie vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Er vertraut darauf, durch den Rückhalt der Familie wieder in das soziale, menschlich-kommunikative System integriert zu werden.

Die Erzählzeit entspricht nicht der erzählten Zeit; so wird im ersten Teil der Erzählung nur ein Morgen, der Morgen der Verwandlung, beschrieben. Alle anderen Informationen der Vorgeschichte erhält der Leser einzig aus Gregors Perspektive. Mit dem ersten Ausbruchsversuch, dessen Ziel ein Umstimmen des Prokuristen zugunsten der Familie ist, scheitert der Zusammenhalt und Gregor wird wie selbstverständlich als Tier gesehen und empfunden, wieder in sein Zimmer getrieben; hat somit den Anspruch auf Mensch-Sein verloren.

Im zweiten Teil entfaltet Kafka den Konflikt, mit einer erzählten Zeit von fast zwei Monaten, zu seinem vollen Umfang. So wird die Entfremdung[14] zwischen Familie und Ungeziefer zunehmend größer und unüberwindbarer. Der ehemalige Handelsreisende wird seiner Möbel beraubt, aus einem Napf gefüttert und in seinem Zimmer isoliert. Kurz: er wird von seiner Familie zum Tier degradiert; denn innerhalb dieser wird jedwedes Mensch-Sein Gregors abgestritten und verleugnet. Allmählich ergibt sich Gregor seinen tierischen Instinkten,„[…] so nahm er zur Zerstreuung die Gewohnheit an, kreuz und quer über die Wände und Plafond zu kriechen. Besonders an der Decke hing er gern“[15]. Kontrastierend dem gegenüber, hängt er in Gedanken auf naive und sentimentale Weise den Zeiten nach, in denen er noch der Ernährer der Familie war, „…fühlte[…]einen großen Stolz darüber, dass er seinen Eltern und seiner Schwester eine so schöne Wohnung hatte verschaffen können“[16].

Seine letzte menschlich motivierte Tat, wird der verzweifelte Versuch das Bild der Pelzdame davor zu bewahren aus dem Zimmer getragen zu werden. Sie endet im Fiasko, gipfelt im angeblichen Ausbruchsversuch Gregors,

„ Grete antwortete mit dumpfer Stimme[…]>Gregor ist ausgebrochen<“[17].

Der wieder erstarkte Vater, „der gleiche Mann, der müde im Bett vergraben lag, wenn früher Gregor zu einer Geschäftsreise ausgerückt war“[18] nutzt den Ausbruchsversuch, die Ohnmacht der Mutter, um zu bestrafen. So schleudert er den Apfel, der schließlich Tode führen soll, da er sich des Sohnes, des Ungeziefers entledigen will; trotz dem “er wusste[…]selbst nicht, was er vorhatte“[19], greift er zur Gewalt gegen den Sohn. Allein die Mutter kann den Vater von der letzen Konsequenz der Tat abbringen. Der Aufschub des Unvermeidlichen ist an dieser Stelle gleich einem retardierenden Moment, im Aufbau des geschlossenen Dramas[20] eingesetzt, und Kafka versteht es einmal mehr zu zeigen, dass er die literarischen Stilmittel beherrscht und sie spielerisch in seiner Prosa vereinigt.

Im dritten Teil der Erzählung schließt sich der Kreis des Unvermeidlichen, indem Gregor Samsa, dessen „Meinung darüber, dass er verschwinden müsse, […]womöglich noch entschiedener[war], als die der Schwester“[21], stirbt. Von der Familie, zu diesem Zeitpunkt der Verwandlung, vom Menschen, über das Tier, wird er mittlerweile zu einem Gegenstand herabgestuft. So urteilt die Schwester, einst Gregors Versorgerin und das Familienmitglied, welches ihm am nächsten stand:„[…] wir müssen versuchen, es [22] loszuwerden.“[23], reduziert Gregor somit allein auf die Aufgaben, die mit seiner Existenz verbunden sind, der Pflege und der zusätzlichen finanziellen Belastung, entstanden aus dem Zimmer, in dem er lebt. Dem Gegenüber steht das Verlangen Gregors, eingangs des dritten Teils, die Schwester, einem Drachen gleich, in sein Zimmer zu entführen und dort mit ihr zu leben, „…denn niemand lohnte hier das [Violinen]Spiel so, wie er es lohnen wollte.“[24] und eine erotische, eine inzestuöse, Komponente in der Darstellung der Szenerie drängt sich dem Leser auf.

„Während Gregor sich also erkennbar als Mensch versteht, wird er von der Schwester ebenso klar als Untier definiert.“[25], urteilt Fingerhut.

Gregor glaubt bis zum Ende seines Käferseins an die Liebe seiner Familie, während diese versucht sich seiner zu endledigen. Die Erzählung endet mit einem Perspektivwechsel, muss mit einem Perspektivwechsel enden, denn „dann sank sein[Gregors]Kopf ohne Willen gänzlich nieder, und aus seinen Nüstern strömte letzter Atem schwach hervor.“[26].

Der Erzähler wird genötigt seinen Standpunkt zu ändern, ist doch Gregors Perspektive erloschen. Kafka liefert hier romanhaft einen Epilog. Die überlebenden Mitglieder der Familie Samsa beschließen einen Ausflug ins Grüne, verzichten für einen Tag auf die Arbeit, scheinbar um den Tod des Ungeziefers zu feiern. Der Erzähler nimmt einen auktorialen Standpunkt ein und während Gregor schlussendlich, ausgetrocknet stirbt, blüht die Schwester zu einem „schönen und üppigen Mädchen“[27] auf. Ein Gegensatz von Tod und Vitalität, der möglicherweise eine ironische Lesart bzw. Auflösung erfahren kann, wenn man sich des Oxymorons das Kafka hier entwirft bewusst wird.

Kafkas „Verwandlung“ hat, wie die eingangs zitierte Zeitschrift beweist, eine Flut von Rezensionen ausgelöst, die letztlich aber nur versuchen können dem Leser Möglichkeiten zur Deutung der Erzählung zur Hand zu geben. Die Spanne reicht hier von religiösen, über psychologische und biographische Interpretationen, um nur einige zu nennen. Allen gemein ist aber die Verselbstständigung der Metapher, d.h., dass die Verwandlung des Handelsreisenden menschliche Existenz ab. ie Familie, die Haushälterin, der Prokurist und auch die Zimmerherren sehen in Gr in einen Käfer im fiktionalen Rahmen der Erzählung, im erzählerischen Konstrukt, stattfindet und sich konsequent weiter entwickelt.

Kafkas Finesse bleibt es den Leser im Unklaren darüber zu lassen, ob Gregor nun tatsächlich in ein Ungeziefer verwandelt ist, oder ob sich seine Sozialphobie, seine Ängste, nicht etwa derart potenzieren, dass er sich einem Käfer gleich fühlt. Anzunehmen ist allerdings Ersteres, denn auch Familie, Haushälterin, der Prokurist und die Zimmerherren sehen in Gregor einzig das Ungeziefer; sprechen ihm seine menschliche Existenz ab. Wie kann der Leser also dieser Realität entkommen? Indem er sich auf sie einlässt und sie interpretiert.

Referiert der Titel „Verwandlung“ nun auf Gregors Metamorphose oder auf die Veränderung im Verhalten der Schwester dem Bruder gegenüber? Entwickelt diese sich doch von dem Familienmitglied, das vor jenem Morgen als einziges noch aufrichtige, zwischenmenschliche Beziehungen zu Gregor pflegt zu seiner entschiedensten Gegnerin, oder wie Politzer formuliert:

„Der Titel der Erzählung hat für die Schwester größere Gültigkeit als für Gregor selbst. Gretes Verwandlung bildet die Grundstruktur der epischen Handlung, während Gregors Metamorphose im ersten Satz[…]bereits vollzogen und vorauszusetzen ist. Grete aber tritt mehr und mehr hervor; der Schluss zeigt dann, […]dass ihre Verwandlung sich folgerichtig zu Ende vollzogen hat.“[28]

Hat Kafka seinen Protagonisten deswegen Samsa genannt, weil sich dahinter ein Kryptogramm für Kafka verbirgt, und er so in der Erzählung seine eigene Lebenssituation spiegelt? Der aufmerksame Leser vermag sicher leicht Parallelen zum authentischen Kafka zu ziehen. Sorgt Gregor für seine Familie, sichert ihr die finanzielle Existenz und haftet für die Schulden seines Vaters, so haftet auch Franz Kafka für seinen Vater. Die Asbestfabrik, die Kafka als Teilhaber mitfinanzierte und in die er sein gesamtes Vermögen einbringen musste, war eine große Belastung für ihn. Sein Vater machte ihm Vorwürfe, weil er die Fabrik vernachlässigte, so dass Kafka für den 03.04.1912 in seinem Tagebuch festhält:

„So ein Tag vorüber – Vormittag Bureau, Nachmittag Fabrik, jetzt abends Geschrei in der Wohnung rechts und links[…] – und ich habe mit keinem Augenblick etwas anzufangen verstanden“[29].

Die Krankheit seines Vaters, er litt an Arterienverkalkung, und die damit verbundene Aussicht, im schlimmsten Falle an des Vaters Stelle treten zu müssen um einen drohenden Ruin abzuwenden; die Vorstellung, in der verhassten Geschäftswelt des Vaters gefangen zu sein, spiegelt sich scheinbar erzählerisch in Gregor Samsa, der vor der Verwandlung, eben eine solche Position innehat. Er sorgt für die Familie und nimmt aber dadurch eine Außenseiterposition ein. Die klassische Rollenverteilung ist ausgehebelt und Gregor gezwungen, den Vater weiterhin als Autorität anzuerkennen. Doch ist nicht nur die Lebenssituation Gregors seiner eigen nachempfunden; es lassen sich noch weitere autobiographische Anlehnung finden. War ein Gregor Samsa in die Kassiererin eines Hutgeschäfts verliebt, warb aber vergeblich um sie, war auch Kafkas Geliebte Felice Bauer in einem Hutgeschäft angestellt. Zur Zeit des Entstehens der Erzählung wartete Kafka sehnsüchtig auf einen Brief von ihr, ging soweit, das Verhältnis der Beiden als beendet zu betrachten.

„[…]alles scheint die Erzählung biographisch zu präfigurieren[…]“[30],

bemerkt Binder 1975 dazu und es ließen sich unschwer viele weitere Hinweise auf den authentischen Kafka aus der Erzählung herauslesen oder ableiten.

Interessanter für den Leser ist anstelle einer exakten Zuordnung der biographischen Präfiguration allemal die Frage, warum die Verwandlung stattgefunden hat. Scheint zunächst die Vermutung nahe zu liegen, als handele sich um ein Verwandlungsmärchen, wie der „Froschkönig“ oder die „Schöne und das Biest“, wird spätestens am Ende der Erzählung deutlich, dass Kafka keine Auflösung des Fluches, keine Rückkehr zur Normalität, geplant hat. Weder durch die Rücksichtnahme seiner Familie, noch durch die Liebe der Schwester Grete kann die Verwandlung rückgängig gemacht werden und so ist der Tod des Ungeziefers unvermeidlich. Das Konzept des Anti-Märchens[31], als das „Die Verwandlung“ von vielen Rezipienten gelesen werden wollte, kann nicht aufgehen.

Vielmehr scheint der Grund für die Verwandlung in der Vorgeschichte zu liegen, im Bankrott des Vaters, der damit verbundenen Schuld Gregors gegenüber seinem Chef, in der ablehnenden Haltung des Geschäftsreisenden gegen das Geschäft und seinem Wunsch, diesem Alltag zu entfliehen, frei zu sein. Kafkas Erzählführung führt eindringlich vor Augen, dass Gregor, die Tatsache im Körper eines Käfers gefangen zu sein, als weniger bedrohlich empfindet, wie die Tatsache, dass er seinen Frühzug verpasst hat. Selbst in der Gestalt des Ungeziefers versucht er noch die Erwartungen der Familie und des Prokuristen zu erfüllen:

„Übrigens, noch mit dem Achtuhrzug fahre ich auf die Reise[…]“[32],

obwohl sich spätestens das Kofferpacken mit den flimmernden Beinchen als schwierig gestalten sollte. Hier wird deutlich, dass Gregor jeden Gedanken an Freiheit zugunsten der Familie aufgibt. Er ist in einer Spirale von Auflehnung und Bestrafung gefangen, Auflehnung gegen das ihm verhasste Leben und Bestrafung durch den Vater, dessen Ansprüchen er genügen muss, vor dessen Augen er sich, obwohl Gregor der Ernährer der Samsas ist, klein machen muss, um die ursprüngliche, eine patriarchalisch zentrierte Struktur weiterhin aufrecht zu erhalten.

„Gregors zum Ausbruch gelangter Aggressionswille hat in seinem grauenvoll verwandelten Körper Erscheinung genommen.“[33], schreibt Sokel 1956 und kommt zu dem Schluss, „[Die Verwandlung] stell[e] die Vermittlung zwischen dem Auflehnungswunsch und dem Drang nach sofortiger Bestrafung dieses Wunsches dar.“[34].

Es fällt zunehmend schwer sich im Dickicht der Kafka Forschung zu orientieren und die Lesarten, Interpretationsansätze und Rezensionen zu kennen. Das Schlaglicht der Forschung wird niemals den Text in einem einen ganzheitlichen Ansatz beleuchten können, immer nur werden Teile, Symbole herausgelöst und dechiffriert. Die Summe der Teile ergibt aber ,nach meinem Dafürhalten, noch kein Ganzes, so dass es fast scheint als ob,

„Es […]im Wesen von Kafkas unergründlich vieldeutiger Kunst [liegt], dass keine Einzeluntersuchung in der Lage ist, sein vielschichtiges Werk vollständig zu erfassen.“[35]

Um die Überschrift des Leitartikels, Ikone der Moderne, in der Zeitschrift LITERATUREN zu verstehen, muss sich der Leser der Tatsache bewusst bleiben, das der Anteil des über Kafka Geschriebenen, den von Kafka Geschriebenen bei weitem überstiegt. Kann also Kafkas Werk diesen Anspruch erfüllen, oder wird hier ein deutschsprachiger Autor der jüdischen Minderheiten in Prag zu einem künstlich verklärten Menschen der beginnenden Moderne stilisiert? Die Leerstellen, die vom Leser aufzufüllen sind, ziehen sich in wiederholenden Symbolen und Andeutungen durch das gesamte Werk des Autors. Fragmentarisch geblieben sind Romane, wie „Das Schloss“ oder „Der Heizer“; allein „Die Verwandlung“ ist eine der wenigen Erzählungen die Kafka für publizierbar erachtete.

Kann man Erzählung wie eine Novelle lesen, wenn sie auch nicht mehr der klassischen Form entspricht? Die Grundvoraussetzungen sind gegeben. Die eine unerhörte Begebenheit entfaltet sich mit allen Konsequenzen in der Erzählung. Die unerhörte Begebenheit ist die Verwandlung eines kleinbürgerlichen, „schizophren – psychotischen“[36] Angestellten in ein Ungeziefer. Die Metamorphose hält die Erzählung zusammen, alles Geschehen ist auf sie ausgerichtet und Kafka versteht durch sie einen Konflikt darzustellen, dessen destruktives Potential sich aus der Vorgeschichte ergibt, das aber erst durch die Verwandlung ausgelöst wird. Der Wendepunkt offenbart sich, als Gregors Zimmer entsorgt wird, wird doch von Mutter und Schwester im Gleichzug beschlossen, ihn ebenfalls zu entsorgen. Die Mittel die Kafka verwendet dazu verwendet sind literarische Stilmittel der Moderne; innerer Monolog, Verfremdung, Metaphern und szenische Darstellungen, die einem Stummfilm entsprungen wirken. Und so ungezwungen Kafka diese Mittel einsetzt, so schwer fiel es lange Zeit den Rezensenten in der Verwandlung eine Form novellistischen Erzählens zu finden, denn Kafka erweitert die Kategorie der Novelle, indem er sie auf ihren Ausgangspunkt reduziert. So notiert er für den 19.12.1914 in seinem Tagebuch:

„ Anfang jeder Novelle zunächst lächerlich. Es scheint hoffnungslos, dass dieser noch unfertige überall empfindliche Organismus in der fertigen Organisation der Welt sich wird erhalten können, wie jede fertige Organisation danach strebt sich abzuschließen. Allerdings vergisst man hiebei, dass die Novelle […] ihre fertige Organisation in sich trägt, auch wenn diese sich noch nicht ganz entfaltet hat…“[37]

Die Leerstellen in der Erzählung, an denen sich Literaturwissenschaftler, oder auch die Studenten in den Proseminaren, abarbeiten sind demnach nichts als die noch unfertige Organisation der Novelle. Der Dichter nichts anderes als ein Schöpfer, der beobachtet wie sich seine Kreation entfaltet und ihr Geburtshilfe leistet, der sich durch sie neu auszudrücken vermag. Mit dieser Art des Schreibens entsorgt Kafka, wahrscheinlich unbeabsichtigt, die alte Novellentradition. Nicht mehr der Zuhörer wegen wird erzählt. Es wird mit Beginn der Moderne erzählt, um sich auf unbekannte Weise zu formulieren; sich neu zu gebären, durch Worte.

Literaturverzeichnis:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Erklärung:

Hiermit versichere ich, Jan Dahlke, die Hausarbeit ohne Hilfe und in selbständiger Arbeit angefertigt zu haben. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen zitiert und alle Zitate als Solche deklariert.

Braunschweig, den 03.06.2003

____________________________

Jan Dahlke

[...]


[1] Literaturen II, 2003, S.10.

[2] Literaturen II, 2003, S.39.

[3] Franz Kafka, Die Verwandlung, Frankfurt am Main, 1986, S.10. (im Folgenden wird der Titel als Kafka, Verwandlung zitiert)

[4] Kafka, Verwandlung, S.10.

[5] Beißner, Friedrich: Der Erzähler Kafka und andere Vorträge, Frankfurt am Main, 1983, S.42.(im Folgenden wird der Titel, als Beißner, Erzähler zitiert)

[6] Kafka, Verwandlung, S. 23.

[7] Kafka, Verwandlung, S.28

[8] Binder, Hartmut, Motiv und Gestaltung bei Kafka, Bonn, 1966,S.266.(im Folgenden wird der Titel mit Binder, Motiv zitiert)

[9] Kafka, Verwandlung, S.55

[10] Kafka, Verwandlung, S.55

[11] Kafka, Verwandlung, S.55

[12] Binder, Motiv, S.268,f

[13] Fingerhut, Karl-Heinz, Die Verwandlung, Stuttgart, 1994, S.47(im Folgenden wird der Titel mit Fingerhut, Verwandlung zitiert)

[14] Fingerhut, Verwandlung, S.49

[15] Kafka, Verwandlung, S.35

[16] Kafka, Verwandlung, S.26

[17] Kafka, Verwandlung, S.40

[18] Kafka, Verwandlung, S.40

[19] Kafka, Verwandlung, S.41

[20] vgl. dazu weiterführend: Klotz, Volker , Geschlossene und offene Form im Drama, München, 1969 (hier Insbesondere die verzögernde und spannungssteigernde Wirkung des retardierenden Moments in der Struktur des geschlossenen Dramas)

[21] Kafka, Verwandlung, S.55

[22] Fettdruck ist eine Hervorhebung des Verfassers

[23] Kafka, Verwandlung, S.53

[24] Kafka, Verwandlung, S.50

[25] Fingerhut. Verwandlung, S.54

[26] Kafka, Verwandlung, S.55

[27] Kafka, Verwandlung, S.59.

[28] Politzer, Heinz, Franz Kafka, Der Künstler, Gütersloh, 1965 S.116f.(Im Folgenden wird der Titel mit Politzer, Künstler zitiert)

[29] Franz Kafka, Tagebücher, Hrsg.: Koch / Müller / Pasley,, S. 318. (Im Folgenden mit Kafka, Tagebücher zitiert)

[30] Binder, Hartmut, Kafka Handbuch, Bd.2, Stuttgartt,1979, S.154.(Im Folgenden wird der Titel mit Binder, Handbuch zitiert)

[31] Taubert, Hans: Franz Kafka, eine Deutung seiner Werke, Zürich/New York, 1941.S.31f.

[32] Kafka, Verwandlung, S.17f

[33] Sokel, Walter, Kafkas >Verwandlung<: Auflehnung und Bestrafung, 1956,S.277.(im Folgenden wird der Titel mit Sokel, Auflehnung zitert)

[34] Sokel, Auflehnung, S.284

[35] Sokel, Auflehnung, S. 270

[36] Michel, Gabriele: „Die Verwandlung“ von Franz Kafka – psychopathologisch gelesen, S.69.

[37] Kafka, Tagebücher, S.549

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die Verwandlung - Eine Novelle der Moderne?
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
Veranstaltung
Novellen von Goethe und Kafka
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
17
Katalognummer
V110399
ISBN (eBook)
9783640085729
Dateigröße
470 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit geht den Weg über eine formale Analyse der Erzählweise Kafkas, zu möglichen Ansätzen von Interpretationen und endet mit einem eigenen Fazit, in dem die Frage nach der Veränderung der Novellentheorie durch die Verwandlung beantwortet wird.
Schlagworte
Verwandlung, Eine, Novelle, Moderne, Novellen, Goethe, Kafka
Arbeit zitieren
Jan Dahlke (Autor:in), 2003, Die Verwandlung - Eine Novelle der Moderne?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110399

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