Einen bedeutsamen Bereich der Faschismusforschung, vor allem in Anbetracht der derzeitigen Entwicklung der Gentechnologie und Reproduktionsmedizin, bildet seit einigen Jahren die Bestimmung des Verhältnisses von biomedizinischen Wissenschaften und Politik im Nationalsozialismus. Diese Forschungen haben den Nachweis erbracht, dass die biomedizinischen Wissenschaften im Nationalsozialismus, nachdem ihre progressiven Vertreter isoliert oder liquidiert worden waren, weder von der politischen Macht zerstört oder " pervertiert", sondern im Gegenteil von ihr protegiert wurden. Übernahmen sie doch eine gewichtige Aufgabe: die Formung des gesunden, gereinigten und leistungsstarken "Volkskörpers". Dieser Nachweis muss jedoch, soll er für die aktuellen gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen produktiv werden, für die jeweiligen Wissenschaftsdisziplinien zunächst im einzelnen erbracht werden. Für die Eugenik/Rassenhygiene liegt nun eine Studie vor, die dem formulierten Anspruch weitgehend gerecht wird. Weingart, Kroll und Bayertz, deren wissenschaftshistorisch und wissenschaftssystematisch orientierte Untersuchung auf einer mehrjährigen Forschungstätigkeit basiert und den derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aufnimmt, gelingt dies, indem sie Wissenschaften nicht nur als Ideensysteme, sondern eben auch als soziale Organisationen begreifen, deren Bedeutung von der gelungenen strategischen Einschreibung in gesellschaftliche Problematiken bestimmt wird.
Rasse, Blut und Gene
Einen bedeutsamen Bereich der Faschismusforschung, vor allem in Anbetracht der derzeitigen Entwicklung der Gentechnologie und Reproduktionsmedizin, bildet seit einigen Jahren die Bestimmung des Verhältnisses von biomedizinischen Wissenschaften und Politik im Nationalsozialismus. Diese Forschungen haben den Nachweis erbracht, daß die biomedizinischen Wissenschaften im Nationalsozialismus, nachdem ihre progressiven Vertreter isoliert oder liquidiert worden waren, weder von der politischen Macht zerstört oder " pervertiert" , sondern im Gegenteil von ihr protegiert wurden. Übernahmen sie doch eine gewichtige Aufgabe: die Formung des gesunden, gereinigten und leistungsstarken " Volkskörpers" . Dieser Nachweis muß jedoch, soll er für die aktuellen gesellschaftsund wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen produktiv werden, für die jeweiligen Wissenschaftsdisziplinien zunächst im einzelnen erbracht werden. Für die Eugenik/Rassenhygiene liegt nun eine Studie vor, die dem formulierten Anspruch weitgehend gerecht wird. Weingart, Kroll und Bayertz, deren wissenschaftshistorisch und wissenschaftssystematisch orientierte Untersuchung (498) auf einer mehrjährigen Forschungstätigkeit basiert und den derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aufnimmt, gelingt dies, indem sie Wissenschaften nicht nur als Ideensysteme, sondern eben auch als soziale Organisationen begreifen, deren Bedeutung von der gelungenen strategischen Einschreibung in gesellschaftliche Problematiken bestimmt wird (188).
Mit diesem Forschungsansatz vermögen die Autoren die komplexe Geschichte der Eugenik/Rassenhygiene in Deutschland in allen ihren Facetten darzustellen, angefangen von den " Vorlaufentwicklungen der Eugenik" (verfaßt von Bayertz) über die Weimarer Republik (von Kroll) und dem Nationalsozialismus bis hin zu heutigen Entwicklungen im Bereich der Humangenetik (beide Bereiche bearbeitet von Weingart). Besonders hilfreich sind die hierbei immer wieder eingeflochtenen Vergleiche mit der jeweiligen Situation der Eugenik/Rassenhygiene anderer Länder, vorrangig in England und den USA. Wie bekannt sein dürfte, fand die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England von Galton unter der Bezeichnung Eugenik eingeführte neuzeitliche " Wissenschaft vom guten Erbe" (16) in Deutschland durch Ploetz (1895) unter dem Begriff " Rassenhygiene" Eingang in die öffentliche Diskussion. Ein Begriff, so die Autoren, der " für die deutsche Eugenik weithin charakteristisch werden und ihr inhaltliches Schicksal mitbe stimmen sollte" (41). Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang jedoch, daß bei Ploetz das Verständnis von Rassenhygiene nicht jene explizit rassistischen Gehalte der späteren Rassenhygiene aufwies, die von den Verfassern an verschiedenen Stellen als " rassistische Rassenhygiene" bezeichnet wird. In der Weimarer Republik, so ein wesentliches Ergebnis der vorliegenden Studie, fanden forciert politische und ideologische Grabenkämpfe zwischen den " moderaten" Eugenikern, die auch im linken politischen Spektrum angesiedelt waren (z.B. Grotjahn), und den Rassenhygienikern statt. Der rassistische Flügel, der Elemente der Rassenanthropologie in sich aufnahm, erlangte die endgültige Vormachtstellung durch die " Machtergreifung" der Nationalsozialisten. Die Autoren betonen: " So wie ein Teil der Rassenhygieniker ihre professionspolitischen und ideologischen Erwartungen auf die Nationalsozialisten richtete, wandten sich diese zur Legitimationssicherung [...] an die Wissenschaft." (384)
Dies erkläre die " phänomenale politische Wirksamkeit der Rassenhygiene" (254) aber nur unzureichend. Entscheidend sei gewesen, daß sich der Rassenhygiene, die zugleich Wissenschaft und sozialpolitische Bewegung war, im Zuge " technokratischökonomischen Denkens" (ebd.) und des desolaten Zustands der öffentlichen Finanzen in der Weimarer Republik Möglichkeiten boten, die Definitionsmacht sowohl für die Identifizierung von sozialen Problemlagen als auch für deren " Lösung" , nämlich die Ausgrenzung und letztlich Vernichtung der " Minderwertigen" , zu gewinnen.
Die Unterschiede zwischen der Eugenik, " die den politisch motivierten Rassismus ablehnte" (381), und der rassistischen Rassenhygiene seien allerdings nicht überzubewerten, da die Übergänge zwischen beiden fließend und von politisch-taktischen Kalkülen abhängig gewesen seien. Kenntlich daran, daß beide Strömungen von Anfang an durch zwei Vorgehensweisen bei der " wissenschaftlichen Steuerung menschlicher Fortpflanzung" bestimmt waren: die selektionistische oder auch " darwinistischpopulationsgenetische" , welche auf die Umgestaltung gesellschaftlicher Institutionen im Sinne ihrer eugenischen Effizienz abzielte, sowie die " humangenetisch-klinische" , die an individuellen Eingriffen zur Vermeidung von erblichen Krankheiten ausgerichtet war (vgl. 23 f.). Im Nationalsozialismus habe die selektionistische Vorgehensweise Vorrang besessen, da sozialtechnologisch orientiert und daher durchgängig staatliche Sanktionierung voraussetzend; heute jedoch habe das populationsgenetische Modell keine Bedeutung mehr, da durch die Beteiligung der Rassenhygiene an Zwangssterilisation und " Euthanasie" diskreditiert und zudem in demokratisch verfaßten Gesellschaften politisch auch nicht durchsetzbar.
Deshalb könne die Humangenetik, obgleich eugenische Utopien in sich bergend, diese, so Bayertz, Kroll und Weingart, wohl kaum verwirklichen, da ihr hierzu die Legitimation fehle. Die Gefahr bestehe vielmehr darin, " daß die gerade erreichte öffentliche Kontrolle der Forschung und ihrer praktischen Umsetzung wieder ihrer Wirkung beraubt wird, weil uns mit der Nachfrage nach neuen Techniken" , die in der Überschrift des Schlußabschnitts als " individuelle" gekennzeichnet wird, " die Fähigkeit zur Reflexion auf die Wertbezüge verlorengegangen ist, die es uns erlauben, der Realisierung der eugenischen Utopien durch unser eigenes Verhalten zu widerstehen." (684)
Dieser Schlußsatz, abgesehen davon, daß er unseren Erachtens eine gewisse Hilflosigkeit angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Gentechnologie ausdrückt (hingewiesen sei hier auf das von der EG initiierte Forschungsprogramm " Prädiktive Medizin" ; s. Bundestagsdrucksache 11/3555), vermag aus gesellschaftstheoretischer Perspektive wenig zu überzeugen. So richtig es ist, daß heute präventive Strategien den Subjekten mittels Selbstkontrolle aufgeherrscht werden, so ist dies lediglich die eine Seite dieser Maßnahmen. Einbezogen werden sollte, daß andererseits pointiert formuliert bei der Ermittlung und Erfassung der Subjekte diese als Bündel von Risikofaktoren im Fahndungsraster der Humangenetik dekonstruiert werden.
Diese kritischen Anmerkungen sollen keineswegs davon ablenken, daß diese wesentliche Studie zur " Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland" , die ein instruktives Namensund Sachregister beinhaltet, zum Handwerkszeug derjenigen gehören sollte, deren Arbeitsgebiet die Medizingeschichte, die Sozialund Bevölkerungspolitik sowie die Faschismusforschung ist. Zu wünschen ist zudem, daß die Veröffentlichung von den im Bereich der (Human-)Genetik Tätigen zur Kenntnis genommen wird.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Weingart, Peter, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1988)
- Arbeit zitieren
- Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 1989, Rasse, Blut und Gene, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110615