Subjektzerfall in der Großstadtliteratur der Jahrhundertwende am Beispiel des Romans „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von R. M. Rilke


Hausarbeit, 2007

14 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2. Paris um 1900

3. Rilke in Paris

4. Die Figur Malte Laurids Brigge in Paris
4.1. Pariser Handlungen?
4.2. Pariser Beobachtungen und Gedanken
4.3. Daseinsentwurf

5. Wege aus der Krise

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Und schließlich darüber die armierten Blitzableiterballons, die dem Blitz jeden Grund raubten, in ungeschützte Häuser einzuschlagen, und ganz Paris seinen verheerenden Wutausbrüchen entriß.

Allzu gern hätte Michel die Seile abgeschnitten, an denen sie befestigt waren, damit die Stadt unter einer feurigen Sintflut zugrunde gehe! 'Ach! Paris!' rief er mit einer verzweifelten Geste des Zorns.“

Jules Verne, Paris im 20. Jahrhundert Neben Jules Vernes dystopischen Vorstellungen von der Seinemetropole existiert eine Vielzahl von Assoziationen, die das kollektive Gedächtnis beim Gedanken an das „Paris im 20. Jahrhundert“ abrufen kann: das Künstlerparis von Picasso und Berggruen; eine Stätte der Mode- Lifestyle- und Genusswelt allerersten Ranges; die Vorbotin eines modernen, industriell durchdachten Lebensraums.

In Letzterem erkennen wir noch ein anderes Paris – ein hektisches, nervöses, geradezu krankmachendes Paris, eine Lebensmaschine, in der Geburt, Dasein und Tod jeder Form von Privatheit und Subjektivität beraubt sind. Auch der Titelheld in Rilkes 1910 erschienenen „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ wird von der Bipolarität des modernen Paris, dem „Riß zwischen Außen und Innen“[1], erfasst. Er weiß sehr wohl um die beneidenswerte Lage, diese einmalige urbane Konstruktion beobachten und verstehen zu können, doch gleichzeitig richtet ihn die Stadt zugrunde, indem sie mit ihrem Überangebot an Reizen auf seine Lebensperspektive trifft, die mit der modernen Welt unvereinbar ist.

Die „Aufzeichnungen“ stehen damit exemplarisch für dieses Phänomen der Großstadtliteratur um 1900. Die vorliegende Arbeit möchte die Beschaffenheit und die „Unrettbarkeit“[2]dieses lyrischen Ich und den eigentlichen Einfluss des Faktors Großstadt näher vorstellen. Ein Überblick über die historische Realität Paris' bildet den Rahmen der Arbeit, die sich abschließend der Frage nach „Lösungsansätzen“ für den Zerfall des Subjekts widmet.

Um diese Aufgabe im vorgegebenen Umfang auch nur ansatzweise bewältigen zu können, wird auf eine inhaltliche Zusammenfassung des Romans verzichtet und der Text als bekannt vorausgesetzt.

2. Paris um 1900

Der Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich für Paris am ehesten als letzter Abschnitt einer enormen Wachstumsphase charakterisieren. Seit den 1870er Jahren unterzog sich die Stadt den Haussmannschen Um- und Neugestaltungsprojekten (man könnte zu geradezu von „Modernisierungs“-projekten reden), deren Grundgedanken noch auf Ideen des prestigehungrigen Kaisers Napoleon III. fußten.[3]Diese Bauprojekte, die sich teilweise bis in die 1920er Jahre hineinzogen und zu einem wesentlichen Teil das Bild des heutigen Paris prägen, beinhalteten die Neuplanung des Straßensystems, Installation elektrischer Leitungen, den Bau von Plätzen, Märkten sowie Trink- und Abwasserleitungen. Die Einwohnerzahl der Stadt schoss seit Beginn des 19. Jahrhunderts in ungekannte Höhen: Lebten in Paris um 1800 nur 500.000 Menschen, so wurde bereits 1870 die Grenze von 2 Mio. Einwohnern überschritten. Oft wird übersehen, dass Paris auch mit Erreichen seiner größten Flächenausdehnung von 105 km² keine verhältnismäßig „große“ Stadt ist; vielmehr ist der urbane Raum durch die sich dort drängenden über 2 Mio. Bewohner damals wie heute unglaublich „dicht“ (zum Vergleich: Berlin bedeckte bei Erreichen seiner größten Ausdehnung im Jahr 1920 eine Fläche von immerhin 892 km², auf denen jedoch zu dieser Zeit vergleichsweise „wenige“ [4] Mio. Menschen lebten).

Die Lebenswelt des modernen Paris wird jedoch nicht nur durch seine Dichte beeinflusst, sondern zu einem großen Teil durch technische Neuerungen: Die „elektrotechnische Revolution“ brachte den Menschen Licht, Straßenbahn, Telegraph und Telefon, die wiederum das großstädtische Leben nach heutigem Verständnis erst ermöglichten.4Die neuen Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten ließen Entfernungen schrumpfen, die Elektrifizierung sorgte dafür, dass Paris aufhörte des Nachts oder im Winter zu „schlafen“. Berechtigterweise ist in diesem Zusammenhang auch von der „Vernichtung von Raum und Zeit“ die Rede.[5]

Neben den anderen wichtigen europäischen Großstädten wie London oder Wien pflegte Paris die Selbstdarstellung auf mehreren aufwändig organisierten Weltausstellungen in den Jahren zwischen 1855 und 1900, und präsentierte die Errungenschaften in den Bereichen Technik und Kultur, an deren vorderster Front die Stadt sich mit einigem Recht wähnte. Nicht nur die Filmvorführungen der Gebrüder Lumière (1895) oder der Eiffelturm (1889) zeugen von der Befindlichkeit der Metropole am Puls der Zeit; auch die Welt der Künstler und Denker fand hier ein zu Hause. Ein Aufzählung bedürfte einer schier endlos langen Liste – ohne Zweifel würden jedoch in ihr Namen wie die der Kulturkritiker Gautier und Baudelaire, der Schriftsteller Zola, Rimbaud und Mallarmé oder der Künstler Pissarro und Monet auftauchen. Großstadt und Kunst gingen eine besondere Korrelation ein: So findet die Literatur in der Stadt, aber auch die Stadt in der Literatur einen neuen Entfaltungsraum. „Wenn es eine Mythologie der Moderne gibt“, schreibt Lothar Müller, „so ist der Ort, von dem sie erzählt und an den sie gebunden ist, die Großstadt.“

[...]


[1] HELLER, Erich: Nirgends in der Welt sein als innen. Versuche über Rilke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1975, S. 130.

[2] Die Formulierung „unrettbares Ich“ geht auf Ernst Mach zurück; vgl. KIMMICH, Dorothee/WILKE, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. Darmstadt: WBG 2006 (=Einführungen Germanistik), S.42+67f.

[3] Vgl. HESSE, Michael: Paris. Kulturhauptstadt Europas. In: Brockhaus 2003.

[4] Kimmich/Wilke, S.19.

[5] SCHIVELBUSCH, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München u.a., 1977, S.16; zit. nach: Kimmich/Wilke, S.19.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Subjektzerfall in der Großstadtliteratur der Jahrhundertwende am Beispiel des Romans „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von R. M. Rilke
Hochschule
University of Sheffield
Veranstaltung
Einführung Literatur der Jahrhundertwende
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
14
Katalognummer
V110750
ISBN (eBook)
9783640089116
ISBN (Buch)
9783640677825
Dateigröße
555 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Subjektzerfall, Großstadtliteratur, Jahrhundertwende, Beispiel, Romans, Aufzeichnungen, Malte, Laurids, Brigge“, Rilke, Einführung, Literatur, Jahrhundertwende
Arbeit zitieren
Ludwig Andert (Autor:in), 2007, Subjektzerfall in der Großstadtliteratur der Jahrhundertwende am Beispiel des Romans „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von R. M. Rilke, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110750

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