Hansische Handelsgesellschaften: Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was ist das Thema des Textes?
Der Text analysiert die Forschungsgeschichte und verschiedene Ansätze zur Erforschung hansischer Handelsgesellschaften im Spätmittelalter, insbesondere im 14. Jahrhundert. Er vergleicht und kontrastiert die Methoden und Ergebnisse von Friedrich Keutgen (1906) und Albrecht Cordes (1998), die sich beide mit dem Lübecker Niederstadtbuch als Hauptquelle auseinandersetzen.
Welche Hauptquellen werden im Text verwendet?
Die wichtigste Quelle ist das Lübecker Niederstadtbuch von 1311-1361, insbesondere seine „societates“-Abteilung. Zusätzlich werden Handlungsbücher von Kaufleuten, Testamente, Stadtrechtsquellen (Lübeck und Visby) und weitere Stadtbücher herangezogen.
Welche Methoden wenden Keutgen und Cordes an?
Keutgen verwendet eine rechtshistorische Perspektive und vergleicht mittelalterliche Gesellschaftsformen mit modernen Rechtsbegriffen. Er stützt sich dabei auf von Paul Rehme zitierte Auszüge aus dem Niederstadtbuch und Handlungsbücher. Cordes hingegen arbeitet intensiver mit dem Original des Niederstadtbuches und anderen Quellen. Er vermeidet die Übertragung mittelalterlicher Rechtsvorstellungen in moderne Kategorien und konzentriert sich auf eine Beschreibung des mittelalterlichen Gesellschaftshandels.
Welche Arten von Handelsgesellschaften werden von Keutgen identifiziert?
Keutgen unterscheidet das „Sendeve“-Geschäft (Kommissionsgeschäft mit festem Lohn), die Halbgesellschaft (Gesellschaft mit einseitiger Kapitaleinlage und Gewinnbeteiligung), die „wederlegginge“ (Gesellschaft mit zweiseitiger Kapitaleinlage) und interpretiert letztere als eine Form der offenen Handelsgesellschaft.
Welche Kritik wird an Keutgens Ansatz geübt?
Karl Lehmann kritisiert Keutgens Vergleich mit modernen Rechtsbegriffen und seine Interpretation der „wederlegginge“ als offene Handelsgesellschaft. Lehmann argumentiert stattdessen für eine Einordnung als stille Gesellschaft. Generell wird Keutgen vorgeworfen, die Quellenlage unzureichend zu berücksichtigen.
Welche Arten von Handelsgesellschaften identifiziert Cordes?
Cordes unterscheidet das unbenannte Kommissionsgeschäft (selten) und die Widerlegung (Gesellschaft mit zweiseitiger Kapitaleinlage, die weitaus häufiger vorkommt). Er betont, dass die „Widerlegung“ vor allem ein Gründungsakt darstellt und die konkreten Vertragsbedingungen unterschiedlich ausfallen konnten.
Welche Rolle spielt das „Sendeve“-Geschäft nach Cordes?
Im Gegensatz zu Keutgen sieht Cordes das „Sendeve“-Geschäft nicht als eigenständige Gesellschaftsform, sondern als eine Art Zusatzinvestition innerhalb einer bestehenden Widerlegung, bei der der Kapitalgeber allein haftet und profitiert.
Was ist das Fazit des Textes?
Der Text betont die Problematik des direkten Vergleichs von mittelalterlichen und modernen Rechtsbegriffen. Cordes' Ansatz, der sich stärker auf die Quellenlage konzentriert und die Übertragung moderner Begriffe vermeidet, wird als wichtiger Beitrag zur Forschung gewertet. Der Text identifiziert die Widerlegung als zentrale Gesellschaftsform im 14. Jahrhundert, neben einem selten vorkommenden unbenannten Kommissionsgeschäft. Das "Sendeve"-Geschäft wird als Zusatzinvestition innerhalb der Widerlegung eingeordnet.
Welche weiteren Erkenntnisse liefert der Text?
Der Text beleuchtet die Entwicklung der hansischen Handelsgesellschaften im 14. Jahrhundert, die zunehmende Spezialisierung und Differenzierung, sowie die Bedeutung von Handlungsbüchern als Quelle für die Vertragsgestaltung. Er zeigt, wie sich die rechtlichen Statuten aus den Praktiken der Kaufleute selbst entwickelten und nicht von Juristen geschaffen wurden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Erste wissenschaftliche Beschäftigungen mit dem Thema
2 Friedrich Keutgens Formen der hansischen Handelsgesellschaften 1906
2.1 Bemerkungen zu Keutgens Methode
2.2 Das „sendeve“ - Geschäft
2.3 Die Gesellschaft mit einseitiger Kapitaleinlage (Halbgesellschaft)
2.4 Die Gesellschaft mit zweiseitiger Kapitaleinlage („wederlegginge“)
2.5 Hansische Handelsgesellschaften als Offene Handelsgesellschaften
2.6 Kritik an Keutgen und Stagnation in der Wissenschaft
3 Neuste Forschungsergebnisse von Albrecht Cordes
3.1 Bemerkungen zu Cordes’ Methode
3.2 Das unbenannte Kommissionsgeschäft auf Gewinn und Verlust
3.3 Die Gesellschaft mit zweiseitiger Kapitalanlage (Widerlegung)
3.4 Die Funktion des „Sendeve“ – Geschäfts
4 Fazit: Welche Dimensionen von Gesellschaftshandel zur Zeit der Hanse lassen sich angesichts der Quellenlage identifizieren?
5 Literaturverzeichnis
Einleitung
Der hansische Handelskaufmann war bis zum 13. Jahrhundert charakterisiert als gewöhnlicher Warenhändler, der seine Ware noch selbst begleitete. Im Laufe des 13. Jahrhunderts lässt sich jedoch eine Entwicklung verzeichnen, die vor allem in Verbindung mit der Schulentwicklung und der Einrichtung städtischer Bücher steht. Der Gesellschaftshandel tritt nun neben den Kaufmann als Warenhändler. Das Büro wird zum Arbeitsplatz und es wird möglich verschiedene Geschäfte an verschiedenen Orten wahrzunehmen[1]. Bald ist der Gesellschaftshandel in dem Maße etabliert, dass er eine zentrale Rolle im Leben eines Kaufmanns einnimmt. So bildet die Rolle des Handelskaufmanns in der Karriereleiter dessen die direkte Stufe nach der Gesellen- und Lehrzeit. Der Lehrling tritt mit seinem „Meister“ direkt in eine Handelsgesellschaft. Diese erste Gesellschaft bedeutete für den Gesellen den Weg in die Selbstständigkeit, denn hier besteht zum ersten Mal die Möglichkeit für jenen sich einen Kapitalstock anwachsen zu lassen[2].
Gesellschaftshandel trat in unterschiedlicher Form auf, sodass die Wissenschaft, vor allem seit dem später 19. Jahrhundert, sich die Aufgabe gestellt hat, die Dimensionen von Gesellschaftshandel zu erforschen. Zeitlich gesehen bezieht sich die Wissenschaft dabei vor allem auf das 14. Jahrhundert, da für die Zeit davor fast keine Quellen zu den Handelsgesellschaften vorliegen. Die wichtigste Quelle stellt das Lübecker Niederstadtbuch von 1311 – 1361 dar, welches oft als Basis für die Beschäftigung mit den Handelsgesellschaften dient. Es ist das älteste noch erhaltene seiner Art und enthält neben Urkunden über Rechtsgeschäfte aus dem Familien – und Erbrecht vor allem öffentliche Buchungen über Schuldverhältnisse, welche in der „societates“ - Abteilung des Buches zu finden sind. Mithilfe der enthaltenen 284 Einträge lassen sich Rückschlüsse auf die inneren Verhältnisse – vor allem Gesellschaftsgründungen, Gewinnanteile und Bestimmung des Kapitalführers - und Häufigkeiten von Handelsgesellschaften im 14. Jahrhundert ziehen. Aufgrund der zeitlichen und räumlichen Begrenzung dieser wichtigen Quelle müssen Testamente, Handlungsbücher von Kaufmännern und Stadtrechtsquellen als Ergänzungen herangezogen werden.
Jedoch besteht hier, genau wie beim Niederstadtbuch, das Problem, dass alle diese Quellen Schuldverhältnisse aufzeigen, das heißt, es können nur Rückschlüsse über innere Verhältnisse gezogen werden. Über das Außenverhältnis einer Gesellschaft zum „Kunden“ ist nichts bekannt.
Daher kommt es in der Wissenschaft immer wieder zur Vermischung mit Rechtsbegriffen der Neuzeit, sodass Quellenlage und Interpretationsspielraum oft weit auseinander klaffen. Um dieses Problem deutlich zu machen, sollen nach einer kurzen Einführung in die Forschungsgeschichte zwei zentrale Ansätze zur Forschung über hansische Handelsgesellschaften vorgestellt werden – Friedrich Keutgens Ansatz von 1906, der bis heute noch als Standardwerk zitiert wird und die neuesten Erkenntnisse von Albrecht Cordes, der fernab von neueren Rechtsbegriffen, im Gegensatz zu Keutgen, sich wieder verstärkt dem Lübecker Niederstadtbuch annähert. Diese Quelle soll auch in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen, sodass die Ausführungen sich auch verstärkt auf das 14. Jahrhundert beziehen werden. Das Register liegt in abgedruckter Form vor[3].
Bei der Betrachtung der beiden Ansätze fällt auf, obwohl sie beide aus rechtshistorischer Perspektive geschrieben sind und sich im wesentlichen an denselben Quellen orientieren, dass sie die Dimensionen von hansischem Gesellschaftshandel ganz unterschiedlich einschätzen. Ein Grund dafür könnte sein, dass Keutgen im Gegensatz zu Cordes das Lübecker Niederstadtbuch nicht im Original vorlag, sondern lediglich zitierte und ausgewertete Stellen von Paul Rehme. Aber ausschlaggebend ist die Vermischung mit Rechtbegriffen der Moderne, was Keutgens Interpretation durchweg beeinflusst hat.
Am Ende wird zu betrachten sein, welche Dimensionen des Gesellschaftshandels auf Grundlage des Niederstadtbuches klar nachzuweisen sind.
1 Erste wissenschaftliche Beschäftigungen mit dem Thema
Die Wissenschaft begann vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Quellenmaterial zu den hansischen Handelsgesellschaften zu erschließen und es wurde eine Vielzahl von Studien veröffentlicht. Jedoch sollen hier nur vier Studien betrachten werden, die kennzeichnend für die weitere Forschung sein sollten.
Max Weber unterscheidet in seiner Darstellung von 1889 zwei Grundformen von Gesellschaften - familienwirtschaftliche Gesellschaften, die vor allem im Landhandel tätig sind und Gesellschaften auf freier Vereinbarung, die dem Seehandel dienten[4]. Der Fokus bei der Betrachtung der hansischen Handelsgesellschaften wird auf den Gesellschaften, die im Seehandel tätig waren, zu legen sein.
Die erste umfassendste Studie zum Lübecker Niederstadtbuch veröffentlichte Paul Rehme bereits 1894, obwohl er nur ein Viertel der Einträge ausgewertet hat. Er bezeichnet die „societates“ – Abteilung erstmals als Handelsregister, in welches Kaufleute den Abschluss ihrer Handelsgesellschaften dokumentierten, um einen Beweis gegenüber ihren Handelspartnern zu haben. Diese Eintragungen ersetzten quasi den Schuldschein[5].
1904 veröffentlichte Silberschmidt einen längeren Artikel, in dem er die drei italienischen Urformen von Handelsgesellschaften benennt, die sich bis ins 13. Jahrhundert entwickelt haben. Zunächst identifiziert er eine Gesellschaft, bei welcher der Warenübermittler einen festen Lohn bekommt. Beim zweiten Typ, der Commenda, bekommt der Warenübermittler einen Anteil am Gewinn (meistens ein Viertel). Charakteristisch für diese beiden Formen ist, dass jeweils zwei Personen in einer Beziehung stehen, sodass einer das Kapital einlegt und der andere damit Handel treibt, wobei jener entweder Lohn oder einen Gewinnanteil erhält. Bei der dritten südeuropäischen Gesellschaftsform handelt es sich um die „societas maris“, wo nun beide Personen Geld einbringen, sodass ein Gesellschaftsvermögen entsteht, mit dem einer Handel treibt.
Der Gewinn wird gemäß der eingebrachten Kapitalanteile aufgeteilt[6]. Diese italienischen bzw. südeuropäischen Urformen wurden immer wieder als Ausgang für Betrachtungen über hansische Handelsgesellschaften gesehen.
Die wichtigste Studie bisher wurde 1906 von Friedrich Keutgen in der Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte unter dem Titel „Hansische Handelsgesellschaften vornehmlich des 14. Jahrhunderts“ veröffentlicht. Der dreigeteilte Aufsatz ähnelt aufgrund seiner Länge eher einer Monographie und gilt bis heute als vielzitiertes Standardwerk. Der folgende Abschnitt orientiert sich an diesem Aufsatz.
2 Friedrich Keutgens Formen der hansischen Handelsgesellschaften 1906
2.1 Bemerkungen zu Keutgens Methode
Über Friedrich Keutgen ist nur sehr wenig bekannt. Wahrscheinlich wurde er kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts geboren. Er forschte vor allem zur Stadtgeschichte und stand unter dem Einfluss der rechtshistorischen Schule[7].
Sein Beweggrund, sich mit dem 14. Jahrhundert – speziell mit den hansischen Handelsgesellschaften – zu beschäftigen, war, auf die Zeit davor, die aufgrund der Quellenarmut wenig erforscht war, Rückschlüsse zu ziehen. Er bezeichnet das 14. Jahrhundert als „... den Übergang zwischen zwei an Neuschöpf66gen ungemein reichen Epochen: dem 13. und dem ausgehenden 15. Jahrhundert.“[8]
Er wirft der bisherigen Literatur über die hansischen Handelsgesellschaften vor, dass die Autoren sich zur sehr an den südeuropäischen Urformen des Gesellschaftshandels orientieren und befürwortet gleichzeitig einen Vergleich mit modernen Rechtbegriffen des Gesellschaftshandels, jedoch mit dem Hinweis, die mittelalterlichen Gesellschaftsformen nicht in neuzeitliche Rechtkategorien zu übertragen[9].
Zur Bearbeitung des Themas greift Keutgen auf die von Paul Rehme zitierten Stellen aus dem Lübecker Niederstadtbuch zurück[10], also auch er hat das „societates“ – Register nicht im Original und ganzer Fülle eingesehen. Keutgen bezeichnet die Einträge aus der „societates“ – Abteilung im Gegensatz zu Rehme nicht als Handelsregister, aus dem man Aussagen über die Häufigkeit von Handelsgesellschaften treffen könnte, da Einträge nur getätigt wurden, um einen Beweis über Ansprüche gegen einen Handelspartner zu haben, mit dem man gewöhnlich keinen Handel trieb. Keutgen relativiert daher die Aussagekraft des Niederstadtbuches und zieht Handlungsbücher von Kaufmänner heran, in denen er die eigentliche Quelle für die Häufigkeit von Handelsgesellschaften sieht, da dort auch alle Geschäfte mit den Handelspartnern eingetragen wurden, mit denen man regelmäßig verkehrte[11]. Er untersucht besonders die Handlungsbücher von Johann Wittenborch, denen er den ganzen Anhang seiner Studie widmet.
2.2 Das „sendeve“ - Geschäft
Keutgen identifiziert zunächst das Eigengeschäft, auch „sendeve“ genannt[12]. Übersetzt heißt „sendeve“ soviel wie Sendegut, dass heißt ein Kaufmann sendet eine Ware durch einen Diener. Dieser erhält einen festen Lohn, daher entspricht das Sendegutgeschäft prinzipiell der ersten der drei südeuropäischen Formen, wie sie bei Silberschmidt beschrieben sind[13]. Das Sendegutgeschäft ist keine Gesellschaft, denn es gab keinen Dienstvertrag, der Kaufmann übernahm die volle Haftung und der Diener bekam auch keinen Gewinnanteil, sondern einen festen Lohn. Hier liegt auch der Unterschied zur Commenda, wo der Kapitalführende einen Gewinnanteil bekommt. Diese Erkenntnis führt Keutgen weites gehend auf die Eintragungen im Lübecker Niederstadtbuch zurück. Da er nur die zitierten Stellen von Paul Rehme zur Verfügung hatte, identifiziert Keutgen nur in vier Eintragungen das Sendegutgeschäft. Bei diesen Eintragungen ist nie von Gewinnbeteiligung die Rede[14].
Das Sendegutgeschäft läuft nun so ab, dass der Kaufmann dem Diener Kapital gibt und dieser damit in eigenem Namen Handel treibt. Der Kaufmann übernimmt nur die Bezahlung. Daher bezeichnet Keutgen das Sendegutgeschäft als Kommissionsgeschäft. Oft fand diese Form des Handels auch zwischen befreundeten Kaufleuten statt, wobei kein fester Lohn gezahlt wurde, sondern die Leistung vielmehr auf Gegenseitigkeit beruhte.
2.3 Die Gesellschaft mit einseitiger Kapitaleinlage (Halbgesellschaft)
Bevor die eigentlichen Gesellschaften erläutert werden, ist es ratsam einen Blick auf das Wesen und die Vorteile einer Handelgesellschaft zu werfen[15]. Nicht nur dass größere Kapitalien eingebracht werden konnten, auch das Risiko bei Verlust konnte untereinander aufgeteilt werden, was beim Sendegutgeschäft offensichtlich nicht der Fall war. Eine Handelsgesellschaft im Mittelalter bestand meist aus nicht mehr als vier Personen, meistens waren es zwei. Verträge waren immer befristet (auf ein Geschäft oder eine bestimmte Zeit)[16], jedoch kann man annehmen, dass eine Gesellschaft zwischen denselben Personen lebenslänglich abgeschlossen wurden, da dies viele Vorteile für beide Parteien brachte. So konnte das Gesellschaftskapital stets erhöht werden[17]. Weiterhin besaßen die Handelsgesellschaften meist familiären Charakter, wobei ihre Mitglieder nicht selten in verschiedenen Städten wohnten, was die Abrechnung erschwerte. Jede Person hatte die gleichen Rechte und es kam oft vor, dass ein Kaufmann in mehreren Handelsgesellschaften tätig wurde[18].
Der nun erste richtige Gesellschaftstyp nach Keutgen war die „quasi – societas“ oder auch Halbgesellschaft genannt. Diese Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Kaufmann Kapital einbringt und ein anderer damit Handel treibt, jedoch bekommt der Handeltreibende nun einen Gewinnanteil und er wird auch bei Verlust haftbar gemacht.
Die Quellen sprechen zwar alle von Gewinnbeteiligung, die Verlustregelung hingegen tritt nicht auf. Keutgen nimmt jedoch an, dass die Gleichheit von Gewinn und Verlust durch die Formel „in vera societate“, welche den Gesellschaftsvertrag benennt, ausgedrückt wird. Daher schließt er, dass, wenn der Gewinn zur Hälfte geteilt wird, auch der Verlust zur Hälfte von jeder der beteiligten beiden Personen zu tragen ist. Im wesentlichen entspricht die Halbgesellschaft der Commenda, der zweiten südeuropäischen Urform, mit dem Unterschied, dass der Reisende bei der Commenda von Verlust frei ist, er aber auch nur ein Viertel des Gewinns erhält.
2.4 Die Gesellschaft mit zweiseitiger Kapitaleinlage („wederlegginge“)
Diese Geschäftsform tritt am häufigsten auf. Hier bringen beide Geschäftspartner Kapitalien ein, die Geschäfte jedoch werden meist nur von einem geführt[19]. Dass beide Partner Kapital einbringen ergibt sich schon aus der Bezeichnung „wederlegginge“, was soviel heißt wie Widerlegung. So legt ein Kaufmann sein Geld auf den Tisch und der andere „widerlegt“ sein Geld, er legt es also entgegen. Somit entsteht ein Gesellschaftskapital. Ob das Geld geborgt, geerbt oder erworben wurde, ist rechtlich gesehen egal. Geliehenes Geld hatte jedoch den Vorteil, dass es rechtlich besser stand als lediglich zum Handel mitgegebenes, denn der Reisende haftete dafür. Weiterhin war geliehenes Geld ein gutes Mittel, um den Kapitalempfänger an den Kapitalgeber zu binden. Gewinn und Verlust wurden in den meisten Fällen nach Kapitalanteilen aufgeteilt. Im Niederstadtbuch findet sich jedoch noch die Halbierung von Gewinn und Verlust, manchmal auch ohne Berücksichtigung der Verlustregelung. Deshalb schließt Keutgen darauf, dass die Teilungsverhältnisse meist privat ausgemacht wurden.
2.5 Hansische Handelsgesellschaften als Offene Handelsgesellschaften
Nachdem Keutgen den Hansischen Handelsgesellschaften Dauerhaftigkeit bescheinigt hat und damit sie mit Gewerbsgesellschaften vergleicht[20] [21], erklärt er nun, welcher Typ von Gewerbsgesellschaft vorliegt. Wie schon erwähnt befürwortet Keutgen den Vergleich mit neuen Rechtbegriffen[22]. Zu den Gewerbsgesellschaften zählen heute die Offene Handelsgesellschaft, bei der eine gemeinsame Firma vorliegt, alle Mitglieder gleich haften, die Geschäftsführung gemeinsam vollzogen wird, die Kommanditgesellschaft, bei der die Haftung auf die Vermögensanteile beschränkt wird und die Stille Gesellschaft, bei der ein stiller Teilhaber dem Inhaber einer Firma sein kapital gibt, der Firmeninhaber jedoch allein haftet[23].
Keutgen meint vor allem in der „wederlegginge“ eine Offene Handelsgesellschaft zu entdecken. Dabei greift er auf das Merkmal des gemeinsamen Betriebes zurück, den er folgendermaßen erklärt: Es führt zwar einer die waren ins Ausland, während der andere zu hause bleibt, aber der Reisende kauft Waren im Ausland ein, die er seinem Partner zu Hause übergibt und dieser handelt dann mit ihnen.
Was das Fehlen einer Firma angeht, sei das nur eine Äußerlichkeit. Die Handelsmarke einer Handelsgesellschaft könnte jedoch als Vorzeichen einer Firma betrachtet werden[24]. Darin wäre das gemeinsame Auftreten und damit die gemeinsame Haftung aller Teilhaber begründet.
2.6 Kritik an Keutgen und Stagnation in der Wissenschaft
An diesem Punkt, die Hansischen Handelsgesellschaften als Offene Handelsgesellschaften zu bezeichnen, entzündete sich ein Streit unter den Historiker, vor allem Karl Lehmann wurde zu Keutgens Widersacher. Er wirft Keutgen prinzipiell vor, nicht von juristischen Grundbegriffen auszugehen, sondern Begriffe zu verwenden, die seiner „Eigenart“ entspringen[25]. So sieht Lehmann in der „wederlegginge“ keine Offene Handelsgesellschaft, sondern eine Stille Gesellschaft. Demnach ist der Stille Teilhaber derjenige, der zu Hause bleibt, während der andere Handel treibt. Jedoch übt dieser auch Einfluss auf die Geschäftsführung aus[26].
Weiterhin kritisiert er Keutgens Haltung, dass das Vorhandensein einer Firma nichts wichtiges sei. Jedoch können bei einer Offenen Handelsgesellschaft nur alle Teilhaber haftbar gemacht werden, wenn sie entweder gemeinsam nach außen auftreten oder wenn einer unter dem Deckmantel der Firma auftritt. Da der erste Fall bei der „wederlegginge“ nicht zutrifft – da immer einer zu Hause blieb – müsste eine Firma existieren. Bei einer Stillen Gesellschaft gibt es keine Gesellschaftsfirma, was wieder ein Argument dafür ist, die „wederlegginge“ dieser zuzuordnen[27]. Auch in der Handelsmarke sieht Lehmann keine Vorstufe der Firma. Diese sollte eher dazu dienen ein „Gesellschaftsvermögen klarzustellen“. Das würde auch erklären, warum öfters wechselnde Marken benutzt wurden[28].
Seit dieser Diskussion kam die Wissenschaft ins Stocken. Es wurden keine neuen Erkenntnisse gewonnen und man wandte sich aufgrund dessen von der rechtshistorischen Perspektive ab. Somit erklärte die Wissenschaft die Forschung über die Hansischen Handelsgesellschaften auf der Pfingsttagung des Hansischen Geschichtsvereins 1925 für ungelöst und unterteilte nach Keutgen in Sendegutgeschäft, einfaches Geschäft mit einseitiger Kapitaleinlage, Widerlegung mit zweiseitiger Kapitaleinlage und die Offene Gesellschaft, deren Herkunft und Alter man allerdings offen ließ[29].
Lediglich ein Außenseiter mischte sich in die Diskussion um die Hansischen Handelsgesellschaften ein. Gunnar Mickwitz analysierte Revaler Handlungsbücher des 16. Jahrhunderts. Er entdeckte einen neuen Gesellschaftstyp, den er als „Ferngesellschaft auf Gegenseitigkeit“ definierte. Diesen Typ meint er auch häufig im Lübecker Niederstadtbuch zu entdecken[30]. Dabei handelt es sich um ein kommissionsartiges Geschäft, bei dem sich zwei Kaufleute aus unterschiedlichen Städten Waren hin und her schickten oder die Waren ihres Partners absetzten und neue für ihn kauften, ohne dass Provisionen gezahlt wurden. Der gegenseitige Nutzen war genug[31]. So wurden Kommissionsgeschäft und Gesellschaft vereinigt. Die Kaufleute handelten auf gemeinsame Rechnung und erhofften sich eine beständige Vertretung in der jeweils anderen Stadt[32]. Es gab weder Firma noch Personal[33] und Gewinn sowie Verlust wurden gleichsam geteilt[34].
Mickwitz’ Ansatz wurde allerdings nicht weiter beachtet und so kehrte man zu Keutgens Einteilung zurück. So übernahm auch Dollinger Keutgens Formen der Hansischen Handelsgesellschaften in sein vielzitiertes Standardwerk. Erst 1998 machte sich Albrecht Cordes in seiner Habilitationsschrift daran die Quellen neu zu analysieren.
3 Neuste Forschungsergebnisse von Albrecht Cordes
3.1 Bemerkungen zu Cordes’ Methode
Cordes wendet sich in seiner Habilitationsschrift von 1998 nach einer langen Zeit der Stagnation wieder der rechtshistorischen Perspektive zu und beschäftigt sich erstmals seit Rehme intensiv mit dem Lübecker Niederstadtbuch, welches er als Quelle von „unschätzbarem Wert“[35] bezeichnet. Wie schon in der Einleitung gesagt ist das Niederstadtbuch trotz seiner Bedeutsamkeit zeitlich und räumlich sehr beschränkt, sodass Cordes Stadtrechtsartikel (vor allem aus Lübeck und Visby), weitere Stadtbücher und Urkunden, Testamente und Handlungsbücher von Kaufleuten heranzieht. Sein Betrachtungszeitraum zieht sich etwa von Mitte des 13. Jahrhunderts bis ins 16. Jahrhundert hinein, wobei die spätere Zeit durch eine hohe Spezialisierung gekennzeichnet ist und die Betrachtung dieses Zeitraumes den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Um eine Übertragung von mittelalterlichem Recht in geltendes Recht zu vermeiden, benutzt Cordes den Begriff des „Gesellschaftshandels“, der dem heutigen Recht fremd ist. Sein Ziel ist es, mittelalterliches Handelsrecht in der benannten Zeit darzustellen und ferner zu erörtern, ob es überhaupt ein Hansisches Gesellschaftsrecht gab, denn das Hansegebiet erstreckte sich über viele einzelne Rechtsgebiete und da jede Handelsgesellschaft nach dem jeweiligen internen Recht handelte, wurde das Recht eines anderen Rechtsgebietes oft missachtet[36].
Den folgenden Ausführungen soll vor allem die Studie zum Lübecker Niederstadtbuch zugrunde liegen. Andere Quellenanalysen zu rechtlichen Statuten, Testamenten und privaten Urkunden sollen zur Ergänzung dienen.
3.2 Das unbenannte Kommissionsgeschäft auf Gewinn und Verlust
Das Lübecker Niederstadtbuch gliedert sich in zwei Grundtypen – das unbenannte Geschäft, bei Cordes als Kommissionsgeschäft bezeichnet, und die Widerlegung[37]. Das unbenannte Kommissionsgeschäft, was Keutgen als Halbgesellschaft darstellte, kommt nur sehr selten vor, gerade 17 der Einträge beschreiben ein solches. Dies lässt darauf schleißen, dass das Geschäft sehr selten vorkam. Nach 1330 taucht das „Kommissionsgeschäft“ nur noch einmal auf. Charakteristisch ist hier, dass einer das Kapital einlegt und der andere das Kapital führt. Zwei Mal wird gesagt, dass der Kapitalgeber das Geld zurückerhält. Der Gewinn wird in den meisten Fällen halbiert, schwierig ist jedoch die Verlustregelung. Einmal trägt der Kapitalgeber den Verlust selbst, viermal wird er halbiert und siebenmal wird der Verlust gar nicht erwähnt. Die Einträge ähneln sich im Wortlaut. Vielleicht wurde der Gewinn gewohnheitsmäßig halbiert. Der Kapitalgeber musste in diesem Falle jedenfalls aus seinem eigenen Vermögen haften. Dieses Geschäft, war nach lübischem Recht keine Gesellschaft, denn nur einer legte das Kapital ein.
Den Charakter einer Gesellschaft erhält der Eintrag nach 1330 – von 1358. Hier ist es der Wortlaut „contra quas Rodolfus nihil posuit“ – Rodolfus konnte also dem eingelegten Kapital (von Arnold) nichts entgegenlegen. Jedoch wird weiterhin beschlossen den Verlust zu teilen, was nicht typisch für eine Gesellschaft war.[38]
3.3 Die Gesellschaft mit zweiseitiger Kapitalanlage (Widerlegung)
Streng genommen bezeichnet der Begriff der Widerlegung lediglich den Gründungsakt dieser sogenannten „vera societas“, jedoch ist dieser Begriff etabliert, sodass er in der Literatur die Gesellschaft an sich bezeichnet[39]. Wie schon von Keutgen dargestellt, legen zwei Personen oder zwei Parteien ihre Kapitalien zusammen, indem einer sein Kapital dem anderen entgegenlegt. Das Geschäft findet grundsätzlich zwischen genau zwei Personen statt. Es wird genau bestimmt, wer das Geld bekommt, also wer Kapitalführer ist.
Die Widerlegung mag einen familiären Charakter gehabt haben, jedoch kannte das mittelalterliche Recht keine „Familiengesellschaften“. Das bedeutete gleichsam, dass es egal war, woher das Geld kam - es konnte ererbt, geliehen oder Eigenkapital sein. Des weiteren ist es nicht nachzuweisen, ob es eine Hierarchie in der Handelsgesellschaft gab. Das Recht spricht zwar von „Herrn“ und „Knecht“, jedoch ist dies kein Indiz dafür, dass der Kapitalgeber Einfluss auf die Entscheidungen des Handeltreibenden nehmen konnte. Dazu kommt, dass der Kapitalgeber die Abrechnung des Kapitalführers akzeptieren musste, solang dieser dessen Richtigkeit beschwor[40]. Um Abhilfe gegenüber Betrügereien des Reisenden zu schaffen, wurde das „societates“ – Register im Lübecker Niederstadtbuch geschaffen. Möglicherweise ist in dieser Zeit (seit 1311) die Blütezeit der Widerlegung angebrochen, bzw. man ist mittendrin. Denn die Einträge über Widerlegungen sind gekennzeichnet durch einen auffälligen routinemäßigen Wortlaut. Cordes bringt sie auf eine Formel: „A habet x, (oder contra) quas B „sibi“ (lies: „eum“) posuit x (oder 2 x) in (vera) societate“[41]. Weiterhin auffällig ist, dass 90 Prozent der Einträge Widerlegungen beschreiben, wobei die Gesellschaft zumeist als „vera societas“, selten als „societas“ und bei 22 Einträgen gar nicht bezeichnet ist. Eine Unterteilung ist jedoch aufgrund der Gleichartigkeit nicht sinnvoll. Die Häufigkeit dieser Gesellschaft lässt vermuten, dass dies die zentrale Gesellschaftsform zu dieser Zeit war.
Geteilt wurde der Gewinn laut zwei Dritteln der Einträge im Verhältnis 1:1 oder 1:2, egal wie die Kapitalverhältnisse waren – meist waren sie jedoch gleich hoch. Wurde keine Teilungsregel von Gewinn und Verlust festgelegt, berief man sich wahrscheinlich auf das Stadtrecht von Visby, welches auf etwa 1341 datiert wird, also parallel zum Lübecker Niederstadtbuch entstand. Es legt eine Halbierung des Gewinns fest[42]. Der Verlust wurde meist nach „Markzahl“, also nach Kapitaleinsatz geteilt, was sich allerdings auch nur aus dem Stadtrecht von Visby ergibt. In 40 Prozent der Fälle nutzte der Kapitalgeber die Möglichkeit durch Zusatzinvestitionen seinen Gewinn bzw. das Gesellschaftsvermögen an sich zu erhöhen oder zu ermöglichen, dass die Gesellschaft überhaupt zustande kam. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Zum einen kann er zusätzliches Geld „fürlegen“. Dies ist eine Art Darlehen, das der Kapitalgeber dem Kapitalführer mit auf die Reise gibt, wobei der Reisende das Geld auch dann zurückzahlen muss, wenn Verlust gemacht wurde. Eine direkte Bezeichnung existiert im Niederstadtbuch nicht. Eine andere Möglichkeit ist das sogenannte „Vorgeld“, welches der Kapitalgeber in das Gesellschaftsvermögen zahlt, also nicht direkt an den Kapitalführer. Die Rückzahlung wird dementsprechend auch aus dem Gesellschaftsvermögen geregelt. Auch hier ist im „societates“ – Register kein spezieller Begriff zu finden. Jedoch findet sich im Stadtrecht von Visby der Begriff des „Vorgeldes“ in Artikel 2, 28, 3[43]. Beliebt waren auch Schachtelgesellschaften, bei denen mehrere Widerlegungen stattfinden konnten. So fand nach der Widerlegung zwischen zwei Kaufleuten eine weitere zwischen der geschlossenen Gesellschaft und einem Dritten statt. Wollte der Kapitalgeber allein profitieren, nutzte die Möglichkeit des „Sendeve“-Geschäfts. Auf diesen Sachverhalt wird noch gesondert zurückzukommen sein.
90 Prozent der Einträge im „societates“ – Register lassen auf die Kapitalführung durch eine Person schließen, denn beim Eintrag ins Stadtbuch war nur der Kapitalgeber anwesend, der sich mit dem Eintrag gegen seinen Partner absicherte. Auch der Kapitalführer legte öfters eine Urkunde an, um zu dokumentieren, dass der Kapitalgeber ihm keine Weisung gegeben hat[44]. So entlastete er sich von dem eventuellen Vorwurf, Gut in Notsituationen wegen fahrlässigem Handeln verschwendet zu haben. Seit 1340 kommt verstärkt die Variante der Kapitalführung durch alle zum Vorschein, die durch die Wendung „habent simul“[45] (= gemeinsam halten) beschrieben wird. Dies machte eine höhere Kooperation nötig, beispielsweise über die Handelsroute oder den Kapitaleinsatz. Später wurden diese Festlegungen auch in den Registern festgehalten. Keutgen sah hierin eine Offene Handelsgesellschaft. Jedoch fehlt dafür jeder Beleg. Was sich aber erkennen lässt, ist, dass seit 1340 eine gewisse Spezialisierung und Differenzierung einsetzt.
Andere Stadtbücher, beispielsweise das von Stralsund, lassen fast identische Sachverhalte erkennen. Die Widerlegung kommt sehr häufig vor, unter verschiedenen Namen, mit genau zwei Personen, manchmal drei, allerdings spielen die weiteren Möglichkeiten der Kapitalerhöhung eine weniger große Rolle. Auch die Relation der Gewinnverteilung in die Grundtypen 1:1 und 1:2 bestätigt sich[46].
3.4 Die Funktion des „Sendeve“ – Geschäfts
Wie schon angedeutet, kommt dem Sendegutgeschäft im Gegensatz zu Keutgens Analyse eine sehr geringe Rolle zu. Hier gibt der Kapitalgeber zusätzliches Geld „in sendeve“ mit. Dies hatte einerseits zur Folge, dass dieser allein haftete für eventuellen Schaden, aber im Gewinnfall allein profitierte, wohingegen beim Vorgeld und bei der Fürlegung geteilt wurde. Das bedeutet aber auch, dass der Kapitalführer keinen Lohn für diesen Dienst erhält, wie Keutgen es erklärt hat. Natürlich konnte einer privaten Abmachung zur Folge eine Gegenleistung gewährt werden, jedoch gibt es keine schriftlichen Hinweise dafür. Der Kapitalführer bekam im 14. Jahrhundert allgemein bei jedem Geschäft keine zusätzliche Entlohnung für die Mühen seiner Reisen. Dass „sendeve“ auch nicht oft Anwendung fand – vielleicht wegen dem zu hohen Risiko für den Kapitalgeber – lassen die lediglich fünf Einträge im Niederstadtbuch erkennen. Die Alleinhaftung des Kapitalgebers wurde auch später in Lübecker Ratsurteilen bestätigt, unter der Vorraussetzung der Sendegutführer habe das Gut wie sein eigenes betrachtet. Der beklagte Sendegutführer musste dazu lediglich seinen Eid leisten[47].
Das Sendegutgeschäft fand lediglich Anwendung als Kapitalerhöhung durch den Kapitalgeber in einer bereits bestehenden Widerlegung. Das ist daher erklärbar, dass die Einträge über „sendeve“ immer mit einem Widerlegungseintrag erscheinen, quasi als „Nebenabrede“[48]. Isolierte Sendegutgeschäfte existieren in schriftlicher Form nicht.
4 Fazit: Welche Dimensionen von Gesellschaftshandel zur Zeit der Hanse lassen sich angesichts der Quellenlage identifizieren?
Quellen sollten immer möglichst objektiv betrachtet werden. Das bedeutet sie sind vor allem im Zeitkontext zu sehen. Innerhalb der Forschung zu den Hansischen Handelsgesellschaften wurden mittelalterliche Zustände immer wieder mit neuzeitlichen verglichen bzw. sie wurden geradezu in jene übertragen. Die Grenze zwischen Vergleich und Übertragung verschwamm dabei oft. Ziel dieser Arbeit sollte es sein, dieses Forschungsproblem aufzuzeigen. Es wurden zwei Ansätze vorgestellt, denen im Wesentlichen die selben Quellen als Basis zugrunde lagen und auch gleichsam aus rechtshistorischer Perspektive heraus geschrieben wurden. Friedrich Keutgen verfängt sich im Vergleich der alten mit den geltenden Zuständen. Der Vergleich sollte ihm lediglich zum Verständnis dienen[49], jedoch übertrug er – vielleicht unbewusst – alte Zustände in neue. Dies trat vor allem bei seiner Argumentation, dass hansische Handelsgesellschaften Gewerbsgesellschaften[50] sowie die „wederlegginge“ eine Offene Handelsgesellschaft[51], zumindest eine Urform, darstellten, zutage. Hier ist Karl Lehmann Recht zu geben, wenn er den letzten Sachverhalt verneint. Allerdings ist seine Argumentation, die „wederlegginge“ als Stille Gesellschaft zu bezeichnen[52] auch nicht überzeugend. Denn bei allen neuen Rechtsbegriffen aus dem Gesellschaftsrecht muss man bedenken, dass sie ein Außenverhältnis beschreiben. Es muss also ersichtlich sein, wer nach außen haftet – entweder durch Vorhandensein einer Firma oder einer Vertretung. Alle diese Dinge geben die Quellen aber nicht her. Im Gegenteil, alle Quellen, ob Testamente, Urkunden, Handlungsbücher oder Stadtbucheinträge beschreiben Schuldverhältnisse, von denen man lediglich auf innere Verhältnisse schließen kann. Nach außen waren wohl alle Geschäfte und Gesellschaften gleich (aus Sicht der Außenstehenden). Rechtliche Statuten waren auch für den Fall von Streitigkeiten über Schuldverhältnisse geschaffen. Neuzeitliche Begriffe sind also hier fehl am Platze. Rechtliche Statuten der Hansestädte wurden des weiteren auch von den Kaufleuten selbst geschaffen und resultierten aus dem vorher schon praktizierten Gewohnheitsrecht.
Sie dienten lediglich dem Vorteil der Kaufleute – nämlich der Gewinnbeschaffung[53]. Sie wurden also im Gegensatz zum geltenden Recht nicht von Juristen geschaffen.
Das Lübecker Niederstadtbuch gibt im Wesentlichen einen Gesellschaftstyp wieder, der durch Widerlegung gegründet wurde. Ihm kommen verschiedene Namen zu und er zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass genau zwei Personen in die Gesellschaft treten, das Kapital von genau einem geführt wird, die Gewinne meist 1:1 oder 1:2 geteilt wurde, der Verlust wahrscheinlich meist nach Kapitaleinsätzen. Seit 1340 etwa treten die ersten Spezialisierungen auf. Der Kapitalgeber erhöht Investitionen, es werden Schachtelgesellschaften gebildet, was die starren Teilungsschlüssel relativiert. In dieser Zeit nimmt die Bedeutung von Stadtbucheinträgen ab und Handlungsbücher werden zum Synonym einer flexibleren Vertragsgestaltung. Öfters führen jetzt auch alle Gesellschaftsmitglieder das Kapital. Die rechtlichen Statuten waren längst veraltet und man schrieb neue Grundsätze fest. So unterteilte man im 15. Jahrhundert erstmals ins „wederlegginge“ mit einseitiger Kapitalführung und „selschap“ mit zweiseitiger Kapitalführung. Die „Venedysche Selschap“ wurde die erste hansische Außengesellschaft, bei der alle Teilhaber nach außen hafteten.
Neben der Widerlegung ist im 14. Jahrhundert noch ein unbenanntes Geschäft mit einseitiger Kapitaleinlage zu identifizieren. Allerdings tritt es seit 1330 nicht mehr oft auf. Ein möglicher Grund dafür könnte sein, dass man durch eine Gesellschaft (mit zweiseitiger Kapitaleinlage) einfach mehr Kapital aufbringen und somit auch höhere Gewinne erzielen konnte.
Das "Sendeve"-Geschäft, was Keutgen noch als eigenes Geschäft gesehen hat, stellt nach den Ausführungen von Cordes nur noch eine Zusatzinvestition zur Widerlegung dar. Diese Darstellung ist auch glaubwürdiger, denn die Sendegutgeschäfte stehen im Niederstadtbuch immer mit Widerlegungen in einem Eintrag zusammen und würde auch als einzelnes Geschäft nicht sehr attraktiv erscheinen, denn der Kapitalgeber haftet allein.
Es ist also während der Betrachtung der beiden Ansätze deutlich geworden, dass Rechts– und Gerechtigkeitsvorstellungen aus unterschiedlichen Zeiten und Gesellschaften nicht ohne weiteres verbunden werden können. Es gibt im Falle der Hansischen Handelsgesellschaften keine Belege für einen Zusammenhang dieser Art und die Argumente basieren nur auf Mutmaßungen. Albrecht Cordes hat daher der Forschung über die Hansischen Handelsgesellschaften, die lange Zeit das System Keutgens unangefochten ließ, einen wichtigen Beitrag geleistet.
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[53] CORDES (1998), S. 2.
- Arbeit zitieren
- Christian Rau (Autor:in), 2006, Formen der Hansischen Handelsgesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110814