Versuch einer (unprofessionellen) Abschaffung der Zeit


Essay, 2007

13 Seiten


Leseprobe


Versuch einer (unprofessionellen) Abschaffung der Zeit

Die Zeit, dieses neblige, dieses für uns alle so unerklärbare Wesen, Nuss der Denker seit Jahrtausenden, soll sich in dieser kurzen Abhandlung ein weiteres Mal einem Deutungsversuch, oder zumindest der Annäherung an einen solchen, zu unterziehen haben, soll erneut und wieder einmal auf den Prüfstand, den nur allzu gewohnten. Ich meine aber, ja bin übersicher, die Zeit wird auch diesen bescheidenen, wenn auch vom Titel her gewagt klingenden, Angriff ohne merkliche Blessuren überstehen.

Nun denn, du werte Zeit, uneinnehmbares Bollwerk für Philosophen und Naturlehrer seit Ur–Zeiten, gleich zu Beginn sage ich dir einmal, schlankweg und dreist, ins Gesicht (gottlob, du kannst dich ja nicht wehren): Je intensiver ich über dich nachdenke, du wundersam Flüchtige, und vom Kopf auf die Füße wieder stelle, um so mehr erscheinst du mir als ein nicht eigenständiges Wesen, als ein Gehstock, eine Krücke des Menschen und mehr nicht. Ein Gedanken anregendes Kunstgebilde bist du.

Ist dieses zu boshaft formuliert, der Einstieg zu vernichtend? Dann darf, ja muss, ich sogleich versöhnend hinzufügen, eine der größten, der genialsten Stützen der Kultur, und gleichzeitig eine der unentbehrlichsten, stellst du dar doch immerhin.

Aber du kamst spät und ließest dir viel „Zeit“. Erst im letzten Moment tratest du auf den Plan. Denn, und damit sei keine Wertung verbunden, du bist ein Gedankenwerk allein des kultivierten Menschen, und ausschließlich dieser Gruppe, eine Stütze des homo sapiens. Denn je tiefer wir hinabsteigen in den Brunnen der Vergangenheit, um mit Thomas Mann zu sprechen, umso weniger spielst du eine Rolle, und lösest dich auf fast in ein Nichts zuletzt. Nicht nur, weil wir menschheitsgeschichtlich uns rückwärts gesehen immer mehr dem Tiere annähern, dem Lebewesen, das diesen expliziten Begriff naturgemäß in keiner Weise sein Eigen nennt, sondern auch, weil es in jenen Tagen der Geburt des Menschen eines Zeitbegriffes nicht, oder doch kaum bedurfte. In diesem relativ unkomplizierten Gedankenstadium war das Wort, über das wir nachdenken möchten, noch recht unnötig; zumindest in der präzisen, in der bisweilen überpräzisen, bisweilen schon absurd zu nennenden Form unserer Tage. Es fuhr ehedem auf die Minute noch kein Zug von da nach dort, und kein Tarifvertrag beinhaltete eine Arbeitszeit mit exakt so und so viel Stunden. Auch wurde in der Steinzeit zum Beispiel, um noch eine weitere Form der Nutzung des Begriffes hervorzuholen, durchaus kein chronologischer Abriss irgendeiner anderen Epoche herausgegeben. Kein Vor und Danach war in Büchern vonnöten und interessierte irgendjemanden irgendwie. Nichts musste zeitlich gebündelt werden.

Wohl waren die Jahreszeiten schon recht früh in das Bewusstsein des Menschen eingedrungen. Man wusste um das „Wiederkehren einer Zukunft“ als Grundlage für den sich langsam entwickelnden Ackerbau. Gedehnte Zeitordnungen waren bereits in dieser relativen Morgenfrühe des Menschen an der Tagesordnung. Hingegen sind kleinere Stücke des Zeitkuchens, die Stunden etwa, Häppchen der Ewigkeit, im Gegensatz zum groben Wechsel von Licht und Finsternis, Erfindungen des alten, hochstehenden Babel erst. Die Sonnenuhr beendete das Paradies der Glücklichen, denen keine Stunde schlägt...

An dieser Stelle nun möchte ich gerne die Kernthese meiner Abhandlung in den Raum stellen, damit ein jeder folgende Satz, mehr oder minder, an ihr gemessen werde:

Die Zeit, so behaupte ich, ist ein rein gedankliches Phänomen der letzten Jahrtausende - und damit keine Wirklichkeit! Ich lege Wert auf die beiden Worte „rein gedanklich“.

Nun wird der Leser (hoffentlich) hier einwenden, dass die Zeit doch mit oder ohne die Krone der Schöpfung, den Menschen, mit oder ohne seine Gedanken, und unabhängig von jedweden Lebewesen sogar, schlechthin und seit jeher existiert hat, und immer, in welch abenteuerliche Zukunft wir unsere Gedanken auch fliegen lassen, existieren wird. Heute morgen etwa bin ich aufgestanden, und jetzt ist der Tag zu einem guten Teil verflossen. Und von da bis hierher ist doch Zeit vergangen, Ereignisse haben stattgefunden, Dinge haben sich verändert. Das braucht alles seine Zeit. Und in der unumstößlichen Physik gar gilt die These: Geschwindigkeit ist 'Weg durch Zeit'. In der Umkehrung, welch ein Wunder, grüßt und winkt sogar, ganz locker, die Auflösung der Jahrtausendfrage. Jedes Schulbuch liefert die Erklärung: Zeit ist Weg durch Geschwindigkeit. Aber was ist Geschwindigkeit? Nun ja, mit Schwänzen von sich drehenden Katzen ist der Frage doch nicht auf die Sprünge zu kommen. Lassen wir das. Um aber mit den Abläufen der Welt leidlich besser zurechtzukommen, haben wir die fließende, die für uns so unendlich dahinströmende Zeit, aufgespalten, haben sie verteilt auf eine Vergangenheit, auf eine Gegenwart und eine Zukunft. Dreigeteilt wurde das kontinuierlich Fließende durch unser hohes Denken.

Nehmen wir die Gegenwart einmal beiseite, ich werde darauf eingehend zurückkommen, so tun wir uns mit den beiden Eckbegriffen, der Vergangenheit und der Zukunft, noch leidlich gut. Wir wissen im Allgemeinen um ein Vorher und Nachher, im Alltag und auch in der Geschichte, der eigenen als auch großen, der Historie. Lediglich die Unbegrenztheit in beide Richtungen macht uns hier zu schaffen. Niemand, mit Ausnahme sehr religiös veranlagter Menschen, kommt mit den fehlenden Haltepunkten nach hinten und vorne zurecht. Aber was gewesen ist, scheint uns in der Regel mehr oder minder klar. Und was das Kommende sein wird, versuchen wir aus dem Gewesenen eben so gut als möglich vorherzusagen.

Für eine Kommunikation, in welcher der Begriff Zeit erscheint, haben wir uns nun seit langem schon gut handhabbare Stützpunkte, Hilfen ersonnen, haben sozusagen Meilensteine erschaffen, die uns befähigen, unkompliziert und schnell unsere Gedanken zeitlich einzuordnen und an den Anderen weiterzugeben. Diese Hilfen basieren seit den ältesten Hochkulturen im Wesentlichen auf den Bahnen und Drehungen von Himmelskörpern, auf deren Bewegungen also, die wir als Maßstäbe für die Zeit benutzen. Es sind dieses Definitionen, die wir absolut brauchen, um ein Ereignis, das zurückliegt, gemeinsam einordnen zu können. Das war vor einem Monat, vor einem Jahr, das war vor zehn Millionen Jahren. Immer sind unsere sich mit ziemlicher Regelmäßigkeit drehenden Himmelskörper unausgesprochen dabei. Ein Gleiches gilt für über sich zu verständigende Punkte in der Zukunft. Die Himmelsmechanik ist der Maßstab für einen jeden von uns. Auch wenn jemand noch nie von siderischer Umlaufzeit oder von einem Sterntag gehört hat, nutzt er unbewusst stets das Metermaß der rotierenden Kugeln des Alls.

Und nun lassen sie mich ein wenig phantasieren, etwas träumen in Bezug auf elliptischen Taumel und Kreistanz um sich selbst. Übrigens in keiner Weise absurd etwas erfinden, die Gedanken also völlig zügellos schießen lassen. Was ich hier andenke, ist gang und gäbe im All. Ob sich dann Leben auf der Erde in der bestehenden Form entwickelt hätte, darf bezweifelt werden, soll aber hierbei außer Acht gelassen werden.

Was wäre, so frage ich, wenn die Erde damals, in grauer Weltallantike, im Bezug zur Sonne sich zwar nicht der großen Drehung um unser Zentralgestirn enthalten hätte, will sagen, sie drehte sich genau wie jetzt um die Sonne, wenn ihr aber die Eigendrehung, die Drehung um sich selbst, von der Natur nicht mitgegeben worden wäre? Wenn die Erde zur Sonne eine sogenannte gebundene Rotation hätte, so wie der Mond sie im Verhältnis zur Erde hat? Dieses Fehlen der Achsendrehung um die Pole bedingte für unseren Alltag, dass die Sonne dann, wie seltsam, immer an der gleichen Stelle am Himmel stünde, es wäre immerzu Tag. Oder aber, ein wenig unangenehmer, sie wäre stets unsichtbar für einen bestimmten Teil der Menschen, es herrschte dauernde Dunkelheit. Begriffe wie Tag und Nacht wären dann niemals geprägt worden, und auch die Jahreszeiten stünden nicht in unserem Sprachschatz. Wir lebten mit einem praktisch statischen Himmel über unseren Köpfen. Und lediglich auf der Nachtseite der Erde könnten aus einem sich allmählich verändernden Himmel, aus sehr langsam wandernden Sternbildern, die nach einer bestimmten Weile dann wieder gleich aussähen, nämlich nach genau einem Jahr, gewisse Orientierungspunkte für eine äußerst grobe Einteilung der Zeit, für das Jahr gewonnen werden.

Aber der Mensch ist klug und weise, und dem Astronomen wäre es möglich, sich nach anderen, regelmäßig wiederkehrenden Begebenheiten im All umzuschauen. Ob ein Tag, wenn wir ihn dann so noch nennen würden, noch unbedingt die Länge des uns gewohnten Rhythmusgebers hätte, mag dahingestellt sein. Auf den geliebten Begriff würden wir alle jedoch nicht absolut und unbedingt verzichten müssen.

Sollten wir hingegen, und jetzt gehe ich noch einen Schritt weiter, einen recht kühnen allerdings, sollten wir uns mit der Erde aus dem Sonnensystem herausbewegen, würde die Sache alsbald wesentlich heikler sein für unser Thema. Eine Zeiteinteilung wäre dann außerordentlich erschwert. Jedenfalls eine solche, die den Begriff Jahr, abgeleitet von der Himmelsmechanik, benutzt. Und zwar aus dem Grund, weil es in praktikablen Intervallen keine natürlich wiederkehrenden Fixpunkte mehr gäbe. Langsam (sehr langsam) zögen zwar stets neue Sternformationen an uns vorbei, und sie wären auch mehr oder minder noch einzuordnen, aber ihr Anblick wiederholte sich nicht mehr. Eine endlose Phantasie an Bildern und Formen setzte uns eine dunkle Unendlichkeit vor Augen - und schwiege weiterhin. Für eine geregelte Zeitmessung würde nichts mehr angeboten werden, Jahrtausende und länger, bis schließlich eine andere Sonne uns wieder in eine Kreisbahn zwänge. Das natürliche Maß für die Zeit würde verloren gehen. Niemand könnte mehr sagen: Das war vor so und so viel Jahren. Der Begriff wäre nicht mehr existent? Eine Unterhaltung über die Datierung von Ereignissen würde sich als mühsam erweisen:

Wie lange ist das schon her? Ich weiß es nicht, aber sehr lange gewiss, damals gab es noch keine gedruckten Bücher. Und wann war dieses damals? Es war, als Menschen kunstvoll Geschriebenes kopierten. Und seit wann kopierten sie wichtige Werke? ...? Insgesamt ist für einen solchen Zustand also abzuleiten: ein Vor und ein Danach zu benennen ist sehr wohl noch möglich, auch ohne die Leuchttürme des Weltalls, aber eine zeitliche Längenangabe eben nicht. Der Maßstab, der gewohnte, fehlte uns. Ist aber eine zeitliche Längenangabe nicht mehr zur Hand, so können die Zeiten des Vor und des Danach beliebig kurz oder lang gewesen sein, eine Aussage ist nicht zu treffen.

In Ermangelung einer Zeitfestsetzung mittels Gestirnen könnte die Zeit nun aber sehr wohl noch mittels anderer physikalischer Konstanten festgelegt werden. Sie wird es übrigens heute bereits, und zwar sehr, fast unendlich genau, seit vielen Jahren schon. Beispielsweise ist von den Hütern der Zeit beim Bundesamt in Braunschweig die Sekunde definiert mit Hilfe der absolut konstanten Schwingungszahl des Cäsiumatoms. Vom Größten, dem All, haben wir uns somit in das Kleinste alles Denkbaren, in das winzige Atom begeben. Das Gigantische aber unserer eigenen und all der anderen Galaxien hat die Natur mit in sich hineingenommen, hinein in das Bundesamt. Denn seltsamerweise sind die Gesetzmäßigkeiten in den Atomen, die Kreisbahnen von Elektronen um den Atomkern, verwandt mit den Regeln der Bahnen von Erde, von Venus und Pluto um die Sonne.

Bei unserer hypothetischen Überlegung, dem Fehlen der Himmelszeit auf Grund des Adieus unserer Sonne und dem Gebrauch eines Ersatzes durch Atomkundige, dürfen wir nun aber die Sekunde, den Tag, die Woche nicht mehr in der vorhin erwähnten, der althergebrachten Weise benutzen. Die Begriffe wären verschwunden mangels Gestirnsvergleichen. An uns wäre es, andere Einheiten rechnerisch zu definieren. Wir dürften sie ruhig weiterhin etwa Sekunde nennen, aber immer eingedenk der Tatsache, dass wir die Einheiten nicht mehr aufsummieren können. Der gewohnte, der sich unendlich bewährte und angenehme Tag-Nacht-Rhythmus zur Orientierung fehlte. Die Schwierigkeit bestünde also darin, dass die atomaren Schwingungen von sich aus keine größeren Einheiten anbieten. Denn immer nur genau gleich bewegen sich diese zwergenhaften Teilchen, einen Takt nach dem anderen, und kümmern sich in keiner Weise um Übersichtlichkeit, um Zusammenfassung, die wir ja doch so dringend brauchen. Ausschließlich mittels der Bewegungscharakteristika einzelner Atomarten wäre der Zeitbegriff somit zu handhaben. Und es läge an uns, die Schwingungen in praktikable, in überschaubare Einheiten zu bündeln. Wir müssten improvisieren. Zum Beispiel wäre etwa alle zehn Milliarden Schwingungstakte ein Strich auf einem Blatt Papier zu machen, ein Zeichen, das zur Orientierung dienen könnte...

Aber, wie könnte es anders sein, letztlich sollte dem Menschen auch das gelingen. Der Zeitbegriff wäre dann zwar neu definiert, Blöcke anders eingeteilt, aber prinzipiell würden die Messungen weiterhin zur allgemeinen und zur zufriedenstellenden Verfügung aufbereitet und angeboten werden.

Lassen Sie mich darum noch einen Schritt weiter gehen, einen allerdings außerordentlich gewaltigen Schritt. Zuvor jedoch, denn die Ferne ist nicht mehr nötig, dürfen wir wieder ungastliche Raumgefilde verlassen und in unsere vertraute, lieb gewonnenen Planetenbahn, nahe der wärmenden Mutter, zurückkehren.

Nehmen wir einmal an, es gebe keine Menschen mehr. Sie wären verschwunden. Früher oder später wird dieser Zustand ohnehin erreicht werden, wie uns Evolutionsfachleute, Astronomen und auch unser eigenes logisches Denken versichern. Und ich persönlich halte diesen Zustand für den weitaus besten aller möglichen, denn es gab ihn ja bereits, und er wurde von allen, mit Ausnahme einiger nach Kurzweil suchender Götter, als durchaus gut befunden.

Die denkenden und handelnden Wesen, die Menschen, seien also nicht mehr da. Die Frage ist dann, sind wir befugt, auch nun noch den Begriff Zeit in diesen Zustand zu legen?

Natürlich, so schallt es durch den Raum, natürlich, wie bereits weiter vorne schon eingewandt. Es gilt weiterhin das Wesentliche: die Zeit ist unabhängig von Lebewesen! Sie wird lediglich nicht mehr gemessen und registriert, genutzt also. Aber es gibt weiterhin ein Davor und ein Danach, und selbstverständlich – eine Gegenwart. O ja, diesen Begriff habe ich (wie angekündigt) bisher völlig ausgespart. Ich werde aber sogleich eingehend auf das wohl am schwierigsten zu fassenden und zu definierende Worte der Dreiteilung zu sprechen kommen. Zuvor gestatten Sie mir jedoch einige allgemeine, wie ich meine, an dieser Stelle passende, Überlegungen.

Die Zeit kommt aus einer nebulös-vergangenen, rückwärtigen Ewigkeit. Sie hat eine kurze Gegenwartsspanne und geht unmittelbar in eine undefinierbare, unendliche Zukunftsewigkeit über. Die Begriffe der Unendlichkeit, der Ewigkeit sind für uns alle geistig nicht mehr fassbar. Unser Logik hat hier ihre Grenze gefunden und wir schweigen betreten, in diesem Falle auch einmal der klügste Nobelpreisträger (falls er seinen schützenden Formelwald nicht mehr einbringen darf). Oder aber wir spielen dann und wann mit ihnen. Bei Diskussionen in trauter Runde versuchen wir bisweilen, das Ungreifbare zu erhaschen, resignieren aber nach einer Weile nachdenklich oder mit einem Scherz auf den Lippen.

Zwar verkünden Berufsdenker, Astrophysiker, auch Philosophen (von den Geldern der Plaudernden gut besoldet) von Zeit zu Zeit, dass sie den Beginn der Zeit etwa, den Anfang allen Seins, im Urknalle oder ähnlich angedachten Gegebenheiten nunmehr zweifelsfrei gefunden hätten. Das sei wissenschaftlich oder durch den Logos allein, oder gar durch beides, endlich doch nunmehr erwiesen und werde heute von allen ernstzunehmenden Fachleuten nicht mehr in Frage gestellt. Aber sind die mathematisch-physikalischen, human-gedanklichen Erkenntnisse und Bemühungen der größten Wissenschaftler aller Jahrhunderte auch hoher Anerkennung wert, so wissen diese Gelehrten doch genauso wenig über eben diese letzten Fragen, und die Zeit gehört dazu, wie wir alle es tun. Sie wissen nichts. Sie spekulieren, wie wir alle. Was allerdings, ich eifere ja hier ihnen nach, durchaus wohl tut und Freude bereitet. Dies füge ich bescheiden und gerne ein.

Der einzige Unterschied ist, und ich erachte diesen keinesfalls als gering oder spotte gar darüber, dass die professionellen Denker, verfallen der Droge Zahl, auf einer wesentlich höheren Ebene nichts wissen, keine Vorstellung haben über das Unwissbare, als wir Liebhaber-Weisen es vermögen. Und wenn auch jemand kundtut, er könne sich einen gekrümmten Raum vorstellen, oder er sehe ein, dass alle Materie in einem unendlich kleinen Punkt vereint gewesen sei, ja rechnerisch gesehen sein muss, so scheint mir dieses stark unglaubwürdig. Denn dieser Mensch mag ausgezeichnet in Mathematik, der von Menschen geschaffenen, künstlichsten aller Hilfswissenschaften sein, er hat aber vom Prinzip her kein anderes Hirn als alle anderen Menschen auch, und er gehorcht, dieses ist das entscheidende Wort, er gehorcht den gleichen Lebens- und damit Naturgesetzen wie wir alle. Er hat sich lediglich, und das scheint mir der Grund der meisten in diese Richtung tendierenden Aussagen zu sein, er hat sich lediglich, unbewusst zumeist, eine andere, oder vielleicht auch eine erweiterte, Form der Religion geschaffen. Die uralte Sehnsucht des Menschen, das Bedürfnis nach einem Anfang (weniger zumeist nach einem Ende) wurde von ihm der modernen Wissenschaft überantwortet.

Sein Wandeln in diesem Zauberreich mag das „Träumen“ in höchstem Grade oft bereichert haben. Mittels seiner Gedanken und Werke wurden vielleicht Theorien und Weltbilder entwickelt oder gestürzt, und Interessantes und intellektuell äußerst Bemerkenswertes geschaffen, auf welches wir bitte nicht verzichten möchten. Die gleiche Sehnsucht aber nach Endgültigem ist ihm inne, so wie jedem einfacher denkenden Menschen auch. Und nur das unendliche Verlangen, dass es doch letztlich einen Anfang gegen haben muss, lässt manchen diesen Beginn dann auch finden.

Der großartige englische Astrophysiker Fred Hoyle, der übrigens den Begriff Big-Bang (ironisch gemeint allerdings) kreiert hat, sagte einmal: Der Urknall ist der moderne Mythos von der Entstehung der Welt.

In meiner intellektuellen Bescheidenheit gegenüber gerade diesem Wissenschaftler darf ich hier mein kleines Abschweifen beenden.

Wenn ich nun zum Versuch einer Beschreibung der Gegenwart komme, und damit zum Zentralpunkt meiner Überlegungen, so darf ich Sie bitten, nicht sofort und vehement und überkritisch dagegen zu halten. Nicht, wie es nur zu natürlich und dem Wesen eines interessierten Lesers gemäß ist, sich in der Aufgabe oder Lust sich zu ergehen, Unlogiken oder gar offensichtliche Fehler zu suchen, und auch zu finden. Ich gestehe, die nun folgenden Gedanken sind sehr seltsam, auch für mich. Ich versuche sie immer festzuhalten, und manchmal habe ich das Gefühl eines Durchbruches, einer Endgültigkeit. Einen Augenblick später aber ist der Gedanke wieder weggeflogen, so wie ein Vogel, der auf der Hand sitzt und den man nicht halten kann. Ansatzweise jedoch nimmt die Idee dann und wann Formen an, stärkere Forme jedenfalls als sie das Wort Unendlichkeit, was Zeit oder Raum betrifft, für mich bisher hervorbringen konnte.

Meine Behauptung ist diese: Es gibt, was unser Thema anbelangt, nichts in der Welt außer einem einzigen, stets gleichen, absoluten Zustand. Das heißt, es gibt keine Vergangenheit, und es gibt keine Zukunft, beides ist unexistent. Einzig und allein ist ein einziges statisches Sein, eine singuläre, absolute Gegebenheit, sonst nichts.

Dieser seltsame, eigentlich nicht vorstellbare, Zustand ist nun aber nicht von einer sehr kurzen Spanne, wie man meinen sollte. Nicht recht flüchtig und schnell vergehend. Schon gar nicht in Millisekunden oder ähnlichen Werten mess- und einteilbar. Ja, er ist nicht einmal von einer unendlich kurzen Dauer. Denn die Worte Dauer und Spanne beinhalten immer wieder unausgesprochen den Terminus Zeit. Darf ich meine These darum noch anders formulieren, noch radikaler? Es gibt keine Zeit. Es gibt dieses Phänomen nicht nur vor dem gedachten Urknall nicht, wie Astrophysiker oft ins Feld führen, sondern der Inhalt dieses Begriffes ist unexistent, völlig sinnlos.

Mir ist nun der Einwand, der nach kurzer Reflexion hier offen auf der Hand zu liegen scheint, geläufig und diskussionswürdig, der Einwand, dass, wenn es schon keine Zeit geben soll, es doch wenigstens, im Gegensatz zu meinem postulierten statischen, verschiedene Zustände geben muss. Schließlich war soeben ein anderer Zustand als er nun ist. Auch werden morgen die Dinge sich von heutigen unterscheiden, und somit ist der Hinweis auf lediglich einen einzigen und dazu noch statischen Zustand falsch.

Meine Ansicht aber ist, dass das, was wir gemeinhin als Vergangenheit oder Zukunft bezeichnen, genau so wie die Zeit selber, nicht existent ist. Nie gewesen ist und auch nie kommen wird, zu keiner „Zeit“. Ich werde sogleich meine seltsame Behauptung zu erläutern versuchen. Bei der Zukunft, dieses noch vorweg und ohne große Argumentation, bei ihr sind wir bedeutend eher geneigt, sie als niemals existent, als rein gedanklich, als Phantasie fast hinzunehmen. Aber die Vergangenheit ist für uns mit so vielem angefüllt, dass sie unmöglich geleugnet werden kann.

Ich darf nun versuchen, meine Theorie an einigen Beispielen darzulegen: Vor einer Stunde habe ich mit meinem Freunde philosophiert, und dabei vielleicht ein Glas Wein getrunken. Ich bin mir dieser Tatsache bewusst und habe sie noch genau in meinem Kopf. Ja, es mag sogar ein Foto von der Situation mit uns beiden geben. Wir haben hier also reinste und sinnfälligste Vergangenheit vor uns. Hier aber beginnt meine Skepsis, mein Einwand: Die Erinnerung an das Ereignis, das Bewusstsein an diese Vergangenheit, ist ein aktueller Zustand in meinem Hirn. Die vermeintliche Vergangenheit des Weintrinkens ist reinste Gegenwart, in meinem Kopfe. Wenn sie wollen auch in meinen Gedanken, was aber dasselbe ist. Eine Situation, in der wir beide uns zuprosten, gibt es nicht. Und das vermeintliche, unbestechliche Foto gar ist noch deutlicher als Gegenwart zu erkennen. Es ist Farbe auf Papier, jetzige Farbe auf jetzigem Papier.

Und unternähme ich alle Anstrengung der Welt, der ganze Vorgang ist realiter nirgendwo zu finden, denn wir haben immer und ewig nur den einen einzigen, den momentanen Zustand zur Verfügung und sonst gar nichts, wo und wie wir auch suchen nach Anderem. Einen Zustand, und nun wird es recht schwer verständlich, Sie verzeihen, auch für mich, einen Zustand also, der keinem Wechsel und keiner Veränderung unterliegt. Er ist da, und außer ihm existiert nichts. Kein Vor und kein Danach und keine Veränderung, die ja zumindest Davor voraussetzt, und die zumindest einen Vergleich braucht.

Sie haben soeben (um einmal wieder die althergebrachte Ausdrucksweise zu benutzen, denn sie wurde vom Menschen nicht umsonst in seiner Entwicklung geschaffen. Ohne sie wäre kein höherstehend-geregeltes Leben möglich. Wir brauchen die praktische Zeit), Sie haben also soeben eine Seite dieser Abhandlung umgeblättert und dann weitergelesen, so wie man es immer tut. Nun, wo ist dieses Umblättern? Zeigen Sie es mir. Zeigen sie es in irgendeiner Form. Es ist nicht da! Und wird erst recht nie da sein, nicht in alle Ewigkeit, Amen. Nur in ihrem Hirn sind mehr oder minder flüchtige molekulare Verbindungen, die ein Seitenumblättern beinhalten, wenn sie denn abgetastet werden, sind Neuronen, Gedanken auch, wenn Sie wollen, die aber nichts mit einer Vergangenheit oder Zukunft zu tun haben, sondern gleichfalls nur gegenwärtig sind, die reinstes Jetzt darstellen, und sonst gar nichts. Alle Überlegungen, und mögen sie noch so weit in eine Vergangenheit oder Zukunft schweifen, sind ein gegenwärtiger Zustand. Und Dinge, die „soeben“ an einem anderen Ort gelegen haben sollen, liegen dort nicht. Nichts in der Welt macht sie dort liegen. Hier ist das vorbeifahrende Auto, einzig hier, sonst ist es nirgendwo. Es war auch nirgendwo anders und wird nirgendwo anders sein. Ein ´War' und ein ´Wird´ ist nur in meinem Hirn, und zwar jetzt ist es in meinem Hirn.

Gleiches gilt naturgemäß auch für die uns umgebenden oder sich irgendwo befindenden, und im Verhältnis zur nahen Umgebung stillstehenden Gegenstände, für Dinge jedweder Art, für tote Sachen. Sie scheinen dem Auge solide, beständig, dauerhaft, und haben praktisch eine Gegenwart und eine Vergangenheit zugleich in sich. Sie erzaubern eigentlich ein noch größeres Wunder, als philosophische Überlegungen es im Allgemeinen fordern. Jedoch weiß bereits jeder Hobbyphysiker, dass die Grundbausteine des scheinbar so stabil im Zimmer ruhenden Tisches eine permanente Bewegung aller aufgeregtesten Charakters durchführen, einen atomaren Dauertanz. Und darin sind sie gleichfalls auf einen einzigen Zustand fixiert. Ob tote oder lebendige Materie, oder die weiche, die zweifelhafte Übergangsform, ist für unser Gedankespiel hier völlig unbedeutend.

Darf ich versuchen, auch in meinem eigenen Interesse, für mein Verständnis des schwierigen Gegenstandes, die Sache noch deutlicher, noch eindringlicher zu formulieren? Niemand auf der Welt hat bisher eine Vergangenheit (eine Zukunft ja ohnehin nicht) auch nur einmal vorweisen können. Wir alle haben in und um uns nichts anderes als stets die reinste Gegenwart und behaupten trotzdem felsenfest, dass es eine solche Vergangenheit gibt. Jeglichen Beweises müssen wir schuldig bleiben. Wir „lügen“ uns etwas vor. Und warum...?

Zusätzlich, um dem Problem nicht ganz so hilflos gegenüber zu stehen, sprechen wir noch von einer Zeit, die nur vorwärts und niemals zurückgeht. Wir vermischen also Zeitliches mit Räumlichem.

Ein praktisches, hier im Moment leicht durchzuführendes Experiment, mag meine These ein letztes Mal untermauern:

Ich betrachte meine auf dem Tisch ruhende linke Hand, schaue ein paar Momente auf diesen dort liegenden Körperteil, fixiere ihn einige Sekunden lang und grabe ihn so deutlich in mein Bewusstsein. Dann verschiebe ich die Hand ziemlich schnell ein Stück nach außen - und betrachte die leere Stelle. Mein Gehirn sieht die Hand durchaus (auch) noch an dieser ersten Stelle. Es sieht sie dort aber mit seinen aktuellen Neuronen im Schädelgewölbe. Denn nie und nimmer ist dort meine Hand (ein Zurückrutschen ist selbstverständlich keine Lösung.) Sie ist, und mehr bietet die Welt nicht an, ist an der jetzigen Stelle und immer nur an einem Ort. Der einzige Zustand ist der, der ist. Und davon gibt es logischerweise nur einen einzigen. Die Neuzeit, die Steinzeit, die Urzeit, alle sind Teil der Gegenwart, weil es eben, wie man es auch wendet und bedenkt, mit oder ohne Mensch, nichts Anderes als diesen unwandelbaren Zustand gibt. Ein Vor und Danach, Zeit genannt, ist (aktuelle) Phantasie. Anfang und Ende sind gegenstandslos. Wir alle sind Teil einer stehenden Ewigkeit...

Der Anlass für meine philosophisch-physikalische Gymnastik war, die einfach jedem Menschen innewohnende Unfähigkeit, sich die Unendlichkeit, die nach vorne vor allem, sich vorstellen zu können. Ich wollte diese Richtung ein wenig entschärfen, sie zumindest ansatzweise handhabbar machen. Dieses tat ich durch ihre Ausschaltung. Die nach hinten gewandte genießt ja ohnehin im Allgemeinen weniger Aufmerksamkeit, ist die Stiefschwester beider, eben weil in Bezug auf unsere eigene Existenz in dieser Richtung ohnehin nichts mehr zu ändern ist. Alles in allem, ich komme besser mit dem gesamten Phänomen zurecht, wenn ich die beiden entgegengesetzt laufenden Einbahnstraßen, jene unfassbaren Wege, auf einen einzigen Platz in der Mitte des Dorfes zurückführe; wenn ich einen überschaubaren Mittelpunkt schaffe, etwas, das mir, und vielleicht auch Anderen, stets gegenwärtig ist. Solch eine Beschränkung scheint mir unserer (vielleicht nur momentanen?) menschlichen Begriffsfähigkeit der Ewigkeit gegenüber hilfreich und angemessen. Dabei habe ich allerdings, man verzeihe, im Grunde nur die eine Krücke durch eine andere (etwas bessere?) ersetzt. Ein Mensch bin ich eben, mehr nicht.

Nun denn, du werte Zeit, bist du mir Gram ob meines Versuches dich hinwegzudenken? Oder dir die Arme nach rechts und links zu stutzen etwa, selbstredend rein gedanklich nur? Ich tat es einfach so, ohne dich zu fragen. Denn niemals sprichst du ja zu uns oder trätest anders in Kontakt, du große Schweigerin. Aber meine Gedanken nahmst du doch geduldig auf, und tatest sie in dein bereitgehaltenes, unerschöpfliches Füllhorn der Fragen, das du großzügig anbietest, immer und immer wieder. Wie könntest du verärgert sein, du Zeitlose? Abhaken und legen auf den Stapel der Stotterer und Stammler wirst du den kleinen Angriff, den ich wagte gegen dich. Und wirst harren auf weitere belustigende Dinge, die dich erreichen werden, geschaffen von Denkern auf Steckenpferden bis hin zu den Lauschern der Fanfaren Stockholms, von allen, die da suchen, dich doch zu erhaschen einmal, so, wie du es gewohnt bist sei alters her. Du hast ja Zeit dazu.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Versuch einer (unprofessionellen) Abschaffung der Zeit
Autor
Jahr
2007
Seiten
13
Katalognummer
V110933
ISBN (eBook)
9783640090624
ISBN (Buch)
9783640267897
Dateigröße
394 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Überarbeitet im Februar 2009
Schlagworte
Versuch, Abschaffung, statische Gegenwart, Ewigkeit, Vergangenheit, Zukunft, Zeit
Arbeit zitieren
Werner Müller (Autor:in), 2007, Versuch einer (unprofessionellen) Abschaffung der Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110933

Kommentare

  • Gast am 5.11.2007

    Wo stammt die Idee her ?.

    Ich finde diesen Ansatz zum Umgang mit dem unbegreifbaren Begriff ´Zeit´ durchaus interessant, und vor allem neu, oder? --- Zumindest habe ich noch nirgendwo eine ähnliche Herangehensweise gefunden. Wer mir Anderes mitteilen kann, der teile es mir bitte mit ... !

    Rheinhard E.

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Titel: Versuch einer (unprofessionellen) Abschaffung der Zeit



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