Rainer Werner Fassbinders "Angst essen Seele auf" – Ein Melodram?


Hausarbeit, 2003

23 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG
1.1. Ein ambivalentes Werk
1.2. Das Vorbild: „All that heaven allows“ von Douglas Sirk
1.3. Wesentliche Unterschiede im Plot

2. HAUPTTEIL
2.1. Schlüsselsequenz Nummer 1: Der Anfang
2.2 Schlüsselsequenz Nummer 2: Höhepunkt und Umschlagpunkt
2.3 Schlüsselsequenz Nummer 3: Ende

3. FAZIT

LITERATURVERZEICHNIS

„Angst essen Seele auf“ von Rainer Werner Fassbinder

- Ein Melodram?

1. EINLEITUNG

1.1. Ein ambivalentes Werk

Demjenigen Zuschauer, der den hier diskutierten Film ohne Vorkenntnis sieht, erscheint es möglicherweise erstaunlich, dass „Angst essen Seele auf“ im Kino- oder Fernsehprogramm stets unter der Genrebezeichnung Melodram gehandelt wird. „Fassbinder?“, mag er sich fragen, „was hat der den mit Melodramen am Hut?“

Vielleicht hat man „Angst essen Seele auf“ auch schon in der dritten Wiederholung im Fernsehen gesehen und kann sich ob dieser Zuschreibung trotzdem noch wundern. „Das das sind einfache Leute, das ist schnörkellos... Ein Melodram? Dafür hat der Film doch zu wenig Glamour, Musik, Kitsch!“

Aus dieser (banal formulierten) Problemstellung soll hier eine wissenschaftliche Auseinandersetzung in Form einer Filmanalyse entstehen, die die scheinbar disparaten Schlagwörter Fassbinder/politischer Autorenfilm/Lehrstück und ‚unpolitisches‘ Melodram damit vereinen will, indem sie diese in ihrer filmischen Mischung untersucht.

Melodram und Lehrstück – wie passt das zusammen?

Das Melodram ist eine Gattung, in deren Zentrum die emotionale Gewalt von großen Gefühlen steht. Im klassischen Sinne ist es unpolitisch, eskapistisch, emotional: „Man weint“. Und so durchlebt man den Schmerz über gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, die der sehnsuchtsvollen Erfüllung von Liebe im Weg stehen, im Kino und geht relativiert und erleichtert zurück auf die Straße, ins eigene, weit weniger schmerzvolle Leben.

Das Lehrstück (ursprünglich eine Bezeichnung Bertolt Brechts für eine Gruppe kleinerer Dramen aus den Jahren 1929/30, die einer marxistisch-leninistischen Gesellschaftslehre verpflichtet waren1 ) hingegen hat Erziehungscharakter, es geht um Aufklärung und Belehrung. In dem politischen Filmtypus wird die erzählte, private Geschichte eines Einzelnen ins allgemein Soziale objektiviert. An vereinfachten Modellsituationen und Lehrsätzen sollen soziale und gesellschaftliche Missstände anschaulich gemacht, bestenfalls zur Rebellion gegen diese angeregt werden.2 „Man denkt“.

Beide Genres haben jedoch etwas gemein: eine gewissen Eindimensionalität der Weltbetrachtung. So sind die Charaktere zumeist simplifiziert, auf den ersten Blick ist erkenntlich, ob es sich um ‚gutes oder böses‘ Filmpersonal handelt.3

Fassbinder jedenfalls hat in seiner Genremischung ein reichlich bipolares Werk geschaffen, für dieses „eine Handlung mit der Klarheit einer Fabel und der emotionalen Wucht einer Tragödie konstruiert“.4

Im Hauptteil der Hausarbeit soll bewiesen werden, dass Fassbinder typisch melodramatische Motive, Themen und Strukturen hier in eine andere Formensprache übersetzt hat. Diese Formensprache kopiert zwar einige Stilmittel der melodramatischen Mise en Scène (namentlich die des Regisseurs Douglas Sirk, siehe unten), nutzt aber im Wesentlichen direktere und aggressivere Mittel. Was sich vor allem in der wahrgenommenen Schnörkellosigkeit – still und ohne Pathos – in der theatralisch-starren Wirkung des Films niederschlägt.

Es ist aber nicht nur die Mise en Scène, die sich von bisher bekannten Mustern unterscheidet; nicht alle von Fassbinder inszenierten Motive sind durchweg melodramatisch. Einige sind gar den ‚Spielregeln‘ des Melodrams gegenläufig.

Ziel dieser Arbeit soll es sein, anhand von Schlüsselsequenzen eine Übersicht über die Motive zu schaffen, die für oder gegen ein Melodram sprechen. Des Weiteren sollen für das Lehrstück charakteristische Momente zur Sprache kommen.

1.2. Das Vorbild: „All that heaven allows“ von Douglas Sirk

Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“, das international als Schlüsselfilm des Neuen Deutschen Films angesehen wird, orientiert sich an einem der großen Hollywood-Melodramen der Fünfziger Jahre: „All that heaven allows“ von Douglas Sirk. Der deutsche Autorenfilmer war Ende 1970 erstmalig in Berührung mit dem Werk des Filmemachers gekommen. Dieser hatte sich bereits

- noch als Detlef Sierck – im Deutschland der 30er Jahre als UFA-Regisseur von Zarah Leander-Filmen etabliert, und über biografische Umwege schließlich in Hollywood mit so opulenten wie kommerziell erfolgreichen Technicolor- Melodramen einen Namen gemacht.

Fassbinder zeigte sich von da an als glühender Verehrer des bis dato häufig verkannten Filmemachers. Zwar erkannten schon die Filmer und Filmkritiker der Nouvelle Vage seine spezifische, von Intellektualismus geprägte Handschrift, doch blieb seine symbolträchtige Gesellschaftskritik am mittelständischen Amerika, die er durch die Ironie der Übertriebenheit evozierte, der cineastisch nicht vorgebildeten Zuschauermasse unter dem Eindruck von Farben, Dekor und Tränen vorenthalten.

Fassbinder in einem Essay über Sirk:

Sirk hat Filme gemacht, Filme mit Blut, mit Tränen, mit Gewalt, Haß, Filme mit Tod und Filme mit Liebe. Sirk hat gesagt, man kann nicht Filme über etwas machen, man kann nur Filme mit etwas machen, mit Menschen, mit Licht, mit Blumen, mit Spiegeln, mit Blut, eben mit all diesen wahnsinnigen Sachen, für die es sich lohnt. Sirk hat außerdem gesagt, das Licht und die Einstellung, das ist die Philosophie des Regisseurs. Und Douglas Sirk hat die zärtlichsten gemacht die ich kenne, Filme von einem, der

Menschen liebt und sie nicht verachtet wie wir.5

R. W. Fassbinder sah sich selbst weniger der Tradition des Autorenfilms, wie er von den französischen Regisseuren um die Zeitschrift „Cahiers du Cinéma“ definiert und von den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests nach

Deutschland importiert wurde, sondern der seines „geistigen Vaters“6 Sirk verhaftet, dessen Filme – so Fassbinder – „den Kopf befreien“, und „der es geschafft hat, die Bedürfnisse des (kommerziellen) Systems zu erfüllen und trotzdem persönliche Filme zu machen.“7

Die Filme Fassbinders unterscheiden sich in ihrer Mischung aus Realismus einerseits und Melodramatik andererseits von den Kommerzprodukten der vorherrschenden Filmindustrie, aber auch von dem eher intellektuellen, tendenziell literarischen Neuen Deutschen Film.

Meine Ansicht ist immer die gewesen, daß je schöner und je gemachter und inszenierter und hingetrimmter Filme sind, umso befreiender und freier sind sie.8

Die intensive Auseinandersetzung mit Douglas Sirks Melodramen veranlasste Fassbinder zu einer neuen Schaffensperiode innerhalb seines Lebenswerks, die zunächst „Händler der vier Jahreszeiten“ (1971/72) und als zweiten Film „Angst essen Seele auf“ (1973/74) hervorbrachte. In dieser von seinem Vorbild beeinflussten Phase schuf er noch weitere Filme – „Martha“ und „Effi Briest“ – die sich allesamt um die Unmöglichkeit des unbeschwerten Zusammenlebens von Menschen, des Funktionierens von Beziehungen drehen.

Von Sirk übernahm er nicht nur die melodramatischen Plots, sondern auch einige Stilmittel: das „unwirkliche“ Licht, die auffälligen Kamerabewegungen, das artifizielle Dekor und die theatralische Gebärdensprache, die den Zuschauer trotz der offen gezeigten Emotionen in kritischer Distanz halten.9

1.3. Wesentliche Unterschiede im Plot

„Angst essen Seele auf“ wird zwar oft als Remake des Klassikers „All that heaven allows“ bezeichnet, hält sich aber im wesentlichen nur an die ‚Grundpfeiler‘ des Plots. Sirk schildert die unmögliche Liebe zwischen einer reichen Witwe und ihrem entschieden jüngeren Gärtner, einem kernigen Naturburschen, die schließlich an der Borniertheit der Bewohner der Ostküstenkleinstadt, in deren Gesellschaft sie verkehren, zu zerbrechen droht. Auch bei Fassbinder handelt es sich um ein Liebespaar, das Tabus durchbricht, der Altersunterschied ist hier jedoch wesentlich krasser. Zum einen ist Brigitte Mira, die den weiblichen Part der Emmi verkörpert, um die sechzig Jahre, der Darsteller El Hedi ben Salem („Ali“) wohl ungefähr halb so alt.

Zum anderen radikalisiert der Regisseur, der die unmögliche Liebesgeschichte zudem in die soziale Unterschicht der deutschen Großstadt München verlegt hat, den Konflikt durch eine Zuspitzung der Anfeindungen, die in der hiesigen ausländerfeindlich bis rassistischen Atmosphäre einen guten Nährboden finden.

Dem Alters- und (sozial bedingten) Klassenunterschied des „Originals“ fügt er also noch eine kulturelle Differenz bei, die im späteren Verlauf des Films auch den beiden Protagonisten selber zu schaffen machen wird.

Eine weitere Veränderung des Plots, die Fassbinder vorgenommen hat, ist, dass das Glück des Paares hier durch die Ressentiments der Außenwelt regelrecht erzwungen wird: Gegen (Ausländer-)Hass und (Sexual-)Neid wehren sie sich mit Liebe. Erst als die Umwelt nach einer gemeinsamen Reise wundersam verwandelt scheint, und der Druck nachlässt, treten beziehungsimmanente Probleme auf.

Darauf werde ich im nun folgenden Teil aber noch näher eingehen.

[...]


1 Siehe CD-Rom „Der Brockhaus. multimedial 2002“. Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim. 2001

2 Vgl. hierzu: www.lernort-kino.de. Stand: 22.06.03

3 Vgl. hierzu: www.lernort-kino.de. Stand: 22.06.03

4 Siehe: Elsaesser, Thomas (2001): Rainer Werner Fassbinder. Bertz, Berlin. S. 445.

5 Fassbinder, Rainer Werner (1971): Imitation of Life. Erstdruck in: Fernsehen und Film. Heft 2. S. 8- 13.

6 Siehe Kaes, Anton (1987): Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film. edition text + kritik, München. S. 79

7 Fassbinder in Michael Töteberg (1984) (Hrsg.): Rainer Werner Fassbinder. Filme befreien den Kopf. Fischer, Frankfurt. S. 8.

8 Fassbinder in Michael Töteberg (1984) (Hrsg.): Rainer Werner Fassbinder. Filme befreien den Kopf. Fischer, Frankfurt. S. 8.

9 Vgl hierzu: Kaes, Anton (1987): Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film. edition text + kritik, München. S. 79

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Rainer Werner Fassbinders "Angst essen Seele auf" – Ein Melodram?
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften)
Veranstaltung
Seminar I b: Grundlagen der Medien. Melodram – komparatistisch
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
23
Katalognummer
V110968
ISBN (eBook)
9783640090846
ISBN (Buch)
9783656067948
Dateigröße
721 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rainer, Werner, Angst, Seele, Melodram, Seminar, Fassbinder
Arbeit zitieren
Anna Katharina Eißel (Autor:in), 2003, Rainer Werner Fassbinders "Angst essen Seele auf" – Ein Melodram?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110968

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