Ein Vergleich der Lehren von Shingon und dGe-lugs-pa


Seminararbeit, 2003

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


0. Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Shingon
2.1 Kūkais Leben (774-835)
2.2 Lehrgebäude
2.3 Die zehn Stadien der Erleuchtung
2.4 Praxis

3. dGe-lugs-pa
3.1 Tsong-kha-pas Leben (1357-1419)
3.2 Lehrgebäude
3.3 Stadien der Erleuchtung
3.4 Praxis

4. Schlussbemerkung

5. Literaturverzeichnis

1. Vorwort

Ziel dieser Arbeit ist der Vergleich der japanischen Shingonreligion mit der wichtigsten tibetischen Sekte dGe-lugs-pa in ihrer heutigen Ausprägung. Während erstere als rein esoterisch zu bezeichnen ist, nimmt die Lehre der so genannten Gelbmützen gleich der Tendai - Lehre auch exoterische Standpunkte in sich auf und bietet also innerhalb der Lehre den Boddhisattvaweg („Weg des Erleuchtungswesens“) als Pfad zur Erlösung an (Snellgrove 1987: 407). Gründe für diese Unterschiede sind u.A. die sich erheblich unterscheidenden Überlieferungswege nach Japan und Tibet: Während Chinas Konversion schon im ersten Jahrhundert unserer Zeit begann und der Buddhismus von dort aus im vierten Jahrhundert nach Japan kam, erfolgte die Bekehrung Tibets erst vom siebten Jahrhundert an (Snellgrove 1987: 44) über dessen westliche Nachbarstaaten (Hoffmann 1956: 37) und China, wobei später die Inhalte dieser Überlieferungslinie als minderwertig und die Überlieferungslinie selbst als ausgelöscht angesehen wurden. Der Schwerpunkt des tibetischen Buddhismus liegt schon deshalb auf den Spätformen des indischen Buddhismus, weil überlieferte Übersetzungen genau dann als zum im dreizehnten Jahrhundert vollendeten Kanon zugehörig galten, wenn sie durch einen Sanskrittext belegt werden konnten, welcher für ältere buddhistische Texte oft nicht mehr verfügbar war. Dagegen war man in China und Japan eher geneigt, amoralische Texte als korrumpiert anzunehmen, wohingegen in Tibet problematische Texte durch symbolische Interpretation gesellschaftsfähig gemacht wurden (Snellgrove 1987: 117, 188, 427). Trotzdem sähe das Theoriegebäude einer rein esoterischen tibetischen Lehre nicht wesentlich verschieden von der des Shingon aus[1] ; hier fänden sich jedoch beträchtliche Unterschiede in der Praxis gerade auch durch Laien.

Der Weg dieser Arbeit, obiges Ziel zu erreichen, besteht im Vergleichbarmachen von Lehrgebäude und Praxis beider Lehren, jeweils eingeleitet durch den Lebenslauf des Religionsstifters, dem in beiden Lehren große Verehrung entgegengebracht wird und dessen Lebenslauf somit für eine Darstellung der jeweiligen Religion kaum verzichtbar ist. Ein ausschließlich direktes Vergleichen der Lehren wäre gezwungen, das gleich Scheinende auf diffizile Unterschiede zu prüfen, was weder dem Wesen des Shingonbuddhismus, für dessen Anhänger Anpassung an andere Gebot ist (vgl. Seite 11), noch der vielleicht anders motivierten Politik des Dalai Lamas als dem Oberhaupt der dGe-lugs-pa entspräche (Trimondi und Trimondi 1999: 470-473). Dabei wird, wenn Themen mehrmals vorkommen, vom Text über dGe-lugs-pa auf den Text über Shingon, aber nicht anders herum verwiesen; Texte, die zu Vergleichendes thematisieren, wurden gleichfalls möglichst in die Ausführungen über dGe-lugs-pa-Lehren eingefügt. Zur besseren Vergleichbarkeit der beiden Lehren wurde auf tibetische und japanische Ausdrücke möglichst verzichtet und auf Fachtermini aus dem Sanskrit oder deren Übersetzung ins Deutsche zurückgegriffen. Auf die Beifügung einer Kanji-Liste im Anhang musste ich verzichten, da ich als Student in meinem ersten Sommersemester noch keinen Sprachkurs belegen konnte.

2. Shingon

2.1 Kūkais Leben (774-835)

Kūkai wurde 774 als Sohn von Frau Tamayori und Saeki Tagimi, dessen Clan den atae-Titel lokaler Gouverneure innehatte und eventuell ein Zweig des Ōtomoclans war, geboren. (Die spätere Festlegung seines Geburtsdatums auf den 15.6. diente kultischen Zwecken.) Mit fünfzehn Jahren[2] nahm er bei seinem Onkel mütterlicherseits in der Hauptstadt im heutigen Kyoto Unterricht, der als Lehrer des Konfuzianismus Kūkais Talent erkannt hatte und ihn zu fördern begann. Entsprechend besuchte er mit achtzehn Jahren die höchste Beamtenschule (daigaku). Diese verließ er mit dem Konfuzianismus unzufrieden in einem Alter zwischen 19 und 24 und begann eine Zeit der Wanderschaft und Meditation im Zuge der damaligen Bergasketenbewegung, die sich aus ihrer Ablehnung der Priesteroligarchien Naras entwickelt hatte. Die Wanderschaft muss auch von Studien vermutlich in Nara unterbrochen gewesen sein, insofern sein Erstlings- und Rechtfertigungswerk „Hinweise auf die Ziele der drei Lehren“ (Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus) von großer Belesenheit zeugt. Von der Periode zwischen Kūkais 24 und 31 Lebensjahr ist nur bekannt, dass er in dieser Zeit die Mönchsrobe anlegte.

Kūkai traf vermutlich während seiner Wanderschaft auf die Mahāvairocana-Sutra. Von der Bedeutung dieser Sutra überzeugt vermochte er sie sich doch nicht zu erklären noch jemanden zu finden, der dazu imstande gewesen wäre. Deshalb ersuchte er im Alter von 31 die japanische Regierung um eine staatliche Erlaubnis, sich mit minimaler Unterstützung unbefristet als Student nach China begeben zu dürfen, welche ihm gewährt wurde. Dort traf er nach dreimonatigem Aufenthalt auf den Patriarchen des esoterischen Buddhismus Hui-Kuo, der Kūkai angeblich in der Absicht zum Schüler nahm, durch den hochtalentierten Mann all seine Weisheit seinem alternden Körper zum Trotze weiterleben zu lassen. In dieser Hinsicht ward ihm allenfalls höchster Erfolg beschieden, denn nach nur drei Monaten hatte Kūkai soviel Wissen erlangt, dass er zum achten Patriarchen des esoterischen Buddhismus ernannt wurde. Nach Hui-Kuos Tod überließ Kūkai dessen erstem Schüler I-ming die Verbreitung der Lehre in China und betrat nach 30-monatiger Abwesenheit wieder japanischen Boden, wo er sogleich eine Liste seiner zahlreichen importierten Schriften, die den Anspruch zur Gründung einer neuen Religion implizierte, an den Tenno sandte. Doch erwies sich dieses Ansinnen als problematisch einmal angesichts der Erfahrungen von Nara, die dem gerade an die Macht gekommenen neuen Tenno allzu gegenwärtig waren, und zweitens angesichts des gleichzeitig mit Kūkai nach China gefahrenen Saichōs, dessen ebenfalls auf esoterischen Lehren fußende Autorität durch dieses Schreiben infrage gestellt wurde. Nach dreijähriger Wartezeit jedoch durfte sich Kūkai 809 zu einem Tempel in Takaosanji, einem Vorort von Kyoto, begeben, wo er die Shingonsekte (chin. chen-yen „wahres Wort“) gründete. Schon 810 wurde ihm durch die Gunst des Tennos, der selbst ein namhafter Kunstschaffender war und in Kūkai nicht zuletzt einen großen Dichter und Kalligraphen sah, der wichtigste Tempel Naras Tōdaiji unterstellt. Kūkais Autorität war inzwischen so gewachsen, dass Saichō, der schon nicht umhin gekommen war, um Entleihung von Kūkais mitgebrachten Werken zu bitten, im Jahre 812 von diesem eine Weihe erbat und zusammen mit vielen anderen eine niedere Weihe empfing. Als er Kūkai um die höchste Weihe bat, beschied ihm dieser, dass er dazu wenigstens eines noch dreijährigen Studiums bedürfe.

816 wurde Kūkai gewährt, auf dem Kōya-san (san = Berg) einen Tempel zu errichten, dessen Weihung und Baubeginn 819 erfolgten. Während dieser Zeit wurde er allerdings als hochrangigen Berater an den Hof berufen. Was den Tempel anging, so handelte es sich um ein weitab der Machtzentren gelegenes Plateau, das in Kūkais religiöser Sicht durch acht es umgebende Bergspitzen den achtblättrigen Lotus darstellte, welcher den Körper des Mutterschoßes verkörpert. Innerhalb dieses Plateaus wurde Kongōbuji („Vajraspitzentempel“) errichtet, der den Körper der Weisheit symbolisiert. Auf diese Weise sollte die Tempelanlage die Nichtzweiheit dieser beiden Körper verkörpern. 823 betraute der Tenno kurz vor seinem Rücktritt Kūkai mit der Aufgabe des Aufbaus des Osttempels Tōji in der Hauptstadt. Dies wurde vom neuen Tenno noch untermauert, der erließ, dass in diesem Tempel nur der Shingonschule angehörende Mönche studieren dürfen – eine Neuerung, welche Kūkais Sonderstellung unterstrich. 828 gründete Kūkai in der Hauptstadt die Schule der Künste und Wissenschaften, um die Bildung aller gesellschaftlichen Schichten zu fördern. (Deren nächste überkommene Erwähnung betrifft allerdings ihre Veräußerung 847, so dass über ihre Aktivität nichts bekannt ist.) 831 zwang Krankheit Kūkai zum Rücktritt von allen Ämtern, derer der Hof ihm möglichst viele gegen seinen Widerstand verliehen hatte. 832 begab er sich für den Rest seines Lebens nach Kōya-san, von wo er 834 ein einwöchiges alljährliches Ritual am Hof des Tennos durchsetzte und für Kōya-san staatliche Subventionen erlangte. Im Jahr 835 starb Kūkai nach längerer Nahrungsverweigerung, die im Bewusstsein vermutlich tödlicher Geschwüre erfolgte, am 21.3. im Alter von 62 Jahren (Hakeda 1972: 13-17, 19, 21-24, 26-28, 31-35, 37-50, 54-60).

2.2 Lehrgebäude

Es handelt sich bei der von Kūkai (mehr oder minder, es ist nicht bekannt, wie viel er von Hui-Kuo übernahm) gestifteten Lehre um einen Pantheismus in der Ausprägung eines Tantrismus der rechten Hand[3]. Im Gegensatz zu exoterischen Lehren stellt sie ein unmittelbares Streben nach der Buddhaschaft dar, dessen Wirkung im Hinblick auf die aufgewandte Zeit viel effektiver und auch verhältnismäßig weniger gestört durch eventuelle einst begangene Verfehlungen ist, die eine Erlösung in diesem Leben nicht unmöglich machen können. Der Buddha Mahāvairocana („Große Sonne„) wird als alles umfassende Existenz („Adibuddha“ = Urbuddha) gedacht, den vom dem in ihm natürlich auch enthaltenen Individuum nichts als Bewusstsein trennt. Er hat zwei vornehmlich wichtige Manifestationen. Die erste ist

Mahāvairocana in seiner Manifestation als Körper der Weisheit (angeordnet im Vajra-Mandala):

1. Mahāvairocana (Zentrum): universelle Weisheit des Dharma
2. Akśobhya (Osten): spiegelgleiche Weisheit
3. Ratnasambhava (Süden): Weisheit der Wesensgleichheit
4. Amitabha (Westen): unterscheidende Weisheit
5. Amoghasiddhi (Norden): alles vollendende Weisheit

Die Sinneswahrnehmungskategorien des Erleuchtung Suchenden wandeln sich bei deren allmählicher Erlangung in die den fünf zentralen Buddhas des Mandalas zugeordneten Weisheitskategorien, die dem Menschen innewohnen und das Ziel für die Formung von vier diffizil unterschiedenen Bewusstseinskategorien darstellen. Dabei symbolisiert die Weisheit des Ādibuddhas die Vollendung der anderen Weisheitsformen. Die zweite Manifestation Mahāvairocanas ist

Mahāvairocana in seiner Manifestation als Körper des Mutterschoßes (angeordnet im Lotus-Mandala):

1. der noch unrealisierte Mutterschoß (die noch unrealisierte „Unio mystica“)
2. Mitleid
3. Potenzial
4. Wachstum
5. Schaffenskraft (Hakeda 1972: 83-85)

Der Körper des Mutterschoßes stellt das Erleuchtungselement dar, das in gleichem Maße allen denkenden Lebewesen innewohnt. Die beiden Körper sind nichtzweifach; nur wurde der Körper der Weisheit in der Vajraśekhara-Sutra, der Körper des Mutterschoßes in der Mahāvairocana-Sutra dargestellt. Außerdem besteht eine unterschiedliche Korrespondenz zu den sechs großen Elementen, welche sind:

Erde, Wasser, Feuer, Wind, Raum, Bewusstsein

Die ersten fünf großen Elemente sind der Körper des Mutterschoßes, das sechste große Element ist der Körper der Weisheit. Alle Elemente sind belebt, erschaffen alles und sind gleichzeitig die Erschaffenen, womit sie als Mahāvairocana die Totalität allen Seins und Bewegens des Universums ausmachen (Hakeda 1972: 89) und ihnen derart auch Eigenessenz zugestanden werden kann (vgl. Gundert 1943: 66).

Als weitere Blickweisen auf die Aspekte Mahāvairocanas dienen die vier Mandalas, die natürlich einander innewohnen:

1. Mahā-Mandala: räumliche Ausdehnung, Totalität der fünf ersten Elemente; Gott- heiten (im dargestellten Mandala) sind in menschlicher Form gemalt
2. Samaya-Mandala: Allgegenwart von Mahāvairocanas Absicht, Zuneigung (Mit- leid, Liebe); Gottheiten treten durch ihnen zuzuordnende Symbole in Erscheinung
3. Dharma-Mandala: Sphäre der Wahrheitsoffenbarung, Predigt, Mitteilung, Selbst- offenbarung Mahāvairocanas; Aspekte der Gottheiten werden in Form von Sans- kritsilben visuell wiedergegeben
4. Karma-Mandala: Aktion, alle Bewegungen des Universums; Gottheiten treten als Statuen auf (Hakeda 1972: 90-91; Yamasaki 1988: 134-135)

Die den vier Mandalas innewohnenden Erleuchtungskomponenten wirken in Form der drei Mysterien, welche die transzendenten Funktionen von Mahāvairocanas Körper, Rede und Geist darstellen und im Samadhi („zusammen-stellen“ von Subjekt und Objekt; hohe Stufe der Meditation) erfahrbar sind. Glaube entspringt nur dem Mitfühlen Mahāvairocanas, welches die drei Mysterien ausdrücken. Das gleichzeitige Innewohnen der drei Mysterien in Mahāvairocana und allen Lebewesen ermöglicht den Empfang ihrer Gnade (Hakeda 1972: 91-92). Auf der Ebene der Rede sind sie am unmittelbarsten in den Sutren des esoterischen Buddhismus (insbesondere Mahāvairocana-Sutra und Vajraśekhara-Sutra) manifestiert. Die Formeln, welche die Kernbedeutung der Sutren enthalten, enthalten im höchsten Maße Mahāvairocanas Geist, Mitleid, Wissen und Errettungskraft. Solchermaßen muss also die Rezitation dieser Formeln (auf Sanskrit) den Empfang dieser Gnade erleichtern (Hakeda 1972: 79; Advayavajra 1988: XVI). So erwächst selbst die Kraft einer Silbe, „A“, daraus, dass sie Anfangsbuchstabe der Sanskritworte ādi („Ursprung“) und anutpāda („ungeboren“) ist, die zusammen als ādyanutpāda („Ursprünglich-Ungeborenes“) das Wesen des Universums erfassen, mit dem eins zu werden durch Nachsinnen über Schriftform, Klang und Bedeutung dieser Silbe, die in Korrespondenz zu den drei Mysterien stehen, erstrebt wird (Yamasaki 1988: 83-84).

Die oben ausgeführten Elemente konstituieren

Mahāvairocana als Körper der Sechs Großen Elemente:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dieser Dharmakaya („Körper der Lehre“) hat vier Erscheinungsformen:

1. Dharmakaya im absoluten Status (sich z.B. in Buddhainkarnationen offenbarend)

2. Dharmakaya völliger Glückseligkeit a.) selbstorientierter Körper
b.) teilnehmender Körper (der sich manifes- tiert, um die Fortgeschrittenen zu leiten.)

3. Dharmakaya in Verwandlung (der historische Buddha Śākyamuni)

4. Dharmakaya in Aussendung (die Aspekte Mahāvairocanas in allen Lebewesen)

(Hakeda 1972: 88-83)

Diese ließen sich wiederum den oberen Kategorien – freilich ohne Deckungsgleichheit – zuordnen. Was so gewonnen wird, sind weitere Blickweisen auf etwas, das transzendent ist und die nach Begreifen strebende Vernunft also zum Transzendieren zwingt. Nichtsdestoweniger liegt es schon vor Erlangen der Buddhaschaft teilweise innerhalb des Erkenntnisvermögens dieser ans Individuum gebundenen Vernunft (vgl. auch Yamasaki 1988: 63).

2.3 Die zehn Stadien der Erleuchtung

Zum allgemeinen Lehrgebäude tritt noch eine Abgrenzung zu anderen Lehren, die diesen jeweils ein abgestuftes Verständnis dessen zubilligt, was die einzig zur völligen Erleuchtung führende eigene Lehre voll zugänglich macht, und Individuen Bewusstseinsstadien zuordnet:

1. Ein niedriges, tierisches Bewusstsein (den Höllenwesen, hungrigen Geistern und Tieren, freilich im Menschen, entsprechend) sorgt sich nur um die Erfüllung seiner unmittelbaren Bedürfnisse.
2. Das naive und ignorante Bewusstsein hat das in bloßer Gier und Übermaß liegende Leid gewahrt, auch Nächstenliebe und Rücksichtnahme entwickelt und befolgt die zehn grundlegenden buddhistischen Gebote (vgl. Seite 11). – Innerhalb dieses Bereichs liegt das höchste Stadium säkularer Einsicht wie z.B. des Konfuzianismus.
3. Das furchtlose Bewusstsein eines Kleinkindes zeichnet ein in überzogenem Maße egozentrischer Jenseitsglaube aus. – Hierher gehören Taoismus, Hinduismus, aber auch buddhistische Irrlehren.
4. Trotz Leugnung eines permanenten Ichs werden die fünf Sinneswahrnehmungskategorien (skandhas) Bewusstsein, Form, Empfindung, Wahrnehmung und Impulse noch als existent angenommen. – Hier ist der Śrāvakayāna („Weg der Jünger“, oder „Hinayāna“ = „minderwertiger Weg“) der Jünger Śākyamunis anzusiedeln.
5. Mit der Überwindung des zwölffaltigen Kausalnexus (Ignoranz, Wille, Bewusstsein, Name und Form, Sinnesorgane, Kontakt, Empfindung, Begehren, Greifen, Formung des Seins, Geburt, Alter und Tod) entgeht der Mensch dem Kreislauf des Werdens. Hiermit geht aber eine mangelnde Hinwendung zu den leidenden Lebewesen einher. – Hier sind die Pratyekabuddhas („einsame Buddhas“) anzusiedeln.
6. Mit dem Aufkommen Mahāyāna-Gedankens („Gedanke des großen Weges“) erfolgt die Entwicklung grundsätzlichen Mitleids; das Existierende wird als Bewusstsein wahrgenommen. – Hossō
7. Der Geist überwindet durch die achtfache Negation (z.B. nicht identisch, nicht unterschiedlich) unproduktive Zweifel und erkennt Einheit im Uneinheitlichen und die Leere hinter den Erscheinungen sowie des Geistes selbst. – Sanron
8. Identität von Subjekt und Objekt, des Seienden und Nichtseienden werden als dem individuellen Geiste inhärent und mit ihm eins erkannt. – Tendai
9. Der fortgeschrittenste Geist, den exoterischer Buddhismus gebären kann, ist sich seiner nicht unwandelbaren Natur bewusst und erahnt auch die gegenseitige Durchdringung alles „Seienden“, jedoch dieses nicht als Seiendes, indem er die Negation selbst, die als bisheriges Mittel der Erkenntnis diente, noch nicht überwindet. – Hua-yens Schule
10. Der geheime, vollendete Geist ist Dharmakaya Mahāvairocana, Schöpfer alles Seienden und hat als Einheit von Körper und Geist alle Dualität sowie die Leugnung als Mittel überwunden. Die Einswerdung mit den drei Mysterien ist vollzogen.

(Hakeda 1972: 68-74; Einleitungssatz und ab 7. auch Yamasaki 1988: 101-102)

2.4 Praxis

Shingons Lehre ist esoterisch. Deshalb sollte ihr Vorgänger in China von der Regierung als Geheimbund bekämpft werden und deshalb darf ein Laie sowohl von Teilen der esoterischen Dimension der Theorie als auch von den meisten wesentlichen Teilen der Praxis keine Kenntnis erlangen.

Der praktische Weg zum Erlangen der Erleuchtung „in diesem Leben“ verlangt:

1. Meisterschaft in allem exoterischen und esoterischen buddhistischen Wissen
2. Beachtung von Ordensregeln
3. Meditation

Da alle Ordensregeln auf den zehn grundlegenden Geboten (nicht zu töten, zu stehlen oder Ehebruch zu begehen; nicht zu lügen, zu übertreiben, zu verleumden oder bewusst missverständlich zu sprechen; sich nicht den Perspektiven von Gier, Hass und Vorurteil hinzugeben) fußen, müssen sie eingehalten werden – esoterische wie exoterische. Jene bestehen u.A. darin,

1. nicht den richtigen Weg zu verlassen oder falsches Benehmen zu entwickeln, alle richtigen Lehren zu verfolgen und zu rezitieren, keinesfalls diese in „vollkomme- ne“ und „unvollkommene“ zu teilen und auch nur eine einzige nicht weiter zu verfolgen.
2. nicht das Verlangen nach Erleuchtung zu verlieren, insofern die Mittel zur Er- leuchtung ohne den Erleuchtungsgedanken wertlos werden.
3. die Lehre mit anderen zu teilen und bei dieser Tätigkeit nicht zu dogmatisieren, insofern auch niedere Erkenntnis auf dem zehnstufigen Weg zur Erlösung liegt.
4. sich im Sinne der vier umarmenden Handlungen (Mildtätigkeit, freundliche Rede, gute Taten, Anpassung an andere) zu verhalten.

Es ist nötig, das Samadhi des Mahāvairocana wenigstens dreimal täglich zu üben. Die Annährung daran erfolgt mit Hilfe der vier Mandalas und besteht im Versuch, die drei Mysterien des individuellen Mikrokosmos in Mahāvairocanas Makrokosmos zu integrieren, aliis verbis das Selbst ins SELBST eintreten zu lassen, damit das SELBST ins Selbst eintrete. Dabei wirkt

1. der Körper durch das Sitzen in Meditation und Handgesten (die Finger entspre- chen den fünf ersten der sechs großen Elemente).
2. die Rede durch (bedachte, den Gedanken vertiefende) Rezitation der Textstel- len, denen die höchste Erlösungskraft innewohnt.
3. der Geist durch Denken, Fühlen, Vorstellen, Hören und Ergründen seiner eige- nen Aktivität.

Das Samadhi des Mahāvairocana im Dharmakaya völliger Glückseligkeit wird also grundsätzlich im Hinblick auf alle Mysterien nachgeahmt.

Die Meditation wird auf rituell geweihtem Boden. praktiziert und ist bis ins im Einzelnen zu Denkende streng geregelt. In zeitlicher Abfolge erfolgt:

1. individuelle rituelle Reinigung sowie Weihung des Bodens
2. Evocatio nebst festgelegter Imitatio, deren Höhepunkt im Nicht-mehr- Bewusstsein ihrer selbst liegt
3. graduelle Rückführung der Meditierenden (Hakeda 1972: 87, 93-99)

Die Riten teilen sich in elf staatserhaltende, fünf geheime, außerdem in Initiations- sowie in eine große Zahl gewöhnlicher Riten, welche auch weitgehend profane Zwecke mystisch erfüllen können. Dafür erweisen sich insbesondere die Gottheiten in den Mandalas, die ja nur Aspekte Mahāvairocanas darstellen, auf Gebete hin als hilfreich (Gundert 1943: 71) oder können gar eine mystisch[4] wirkende Teileinheit mit dem Ādibuddha vermittelnd ermöglichen. An deren gleichzeitigem Wert als Vorstufe der Einswerdung mit dem Ādibuddha wird auch die hohe Wertschätzung der Kunst klar, die durch Darstellung dieser Gottheiten im Mandala die nach Erlösung Strebenden ihrem Ziele näher bringen kann. Das schließt auch die Vorstellung mit ein, dass ein Meister der Lehre diese Meisterschaft auch in der Kunst innehat.

Die Initiationsriten sind in solche, die Laien möglich, und solche, die Ordinierten vorbehalten sind, zu teilen. Dabei gibt es ritualisierte, behelfsmäßige, welche heute nicht mehr durchgeführt werden, und rein geistig erfolgende Initiationen in fünf Klassen. Die beiden ersten Initiationen dienen der Einführung in die Shingon-Lehre und sind kaum verbindlicher als z.B. die Heilige Messe im Christentum. Die dritte Initiation (dritter Stufe) gilt Laien, die sich der Lehre widmen wollen und denen dabei innerhalb eines Mandalas eine Gottheit, eine Mudra und ein Meister zugeordnet werden. Die geheimen Initiationen der vierten Stufe gelten Mönchen, wobei die erste Initiation („Dharma-Übertragung“) den Weg zur eigenen Lehrerschaft initiiert. Unter den geheimen Initiationen fünfter Stufe finden sich auch formlose Initiationen wie die „Übertragung von Herz zu Herz“; schließlich finden sich noch hohe Initiationen für die Fortgeschrittensten wie die „Initiation in die Praxis des Studiums“, welche dereinst eine zu gewinnende Diskussion enthielt, welche heute völlig formalisiert worden ist, „da man an den Shingon-Universitäten ohnehin umfassend studieren kann“ (Yamasaki 1988: 190-191).

3. dGe-lugs-pa

3.1 Tsong-kha-pas Leben (1357-1419)

Tsong-kha-pa wurde 1357 als vierter Sohn einer armen Familie im Distrikt Tsong-kha bei Amdo geboren. Von seinem dritten Lebensjahr an wurde er von Don-grup rin-chen, der in seiner Nachbarschaft gelebt und sein Talent erkannt hatte, unterrichtet. Innerhalb kurzer Zeit erfuhr er Initiation in die Tantras Hevajra, Cakrasmavara und Vajrapāni und wurde mit sieben Jahren Novize. Als Tsong-kha-pa sechzehn wurde, befand es sein Lehrer für notwendig, dass er sich zum Studium in die großen tibetischen Klöster begäbe, und arbeitete einen detaillierten Plan aus, in dem ihm besonders das Studium der Lehren Asańgas, Darmakīrtis und Nāgārjunas nahe gelegt wurde. So widmete er sein Studium während der nächsten Jahre in `Bri-gung, Sa-skya, Jo-nang, sNat-t`ang, Lhasa und Yar-klung insbesondere den Lehren des Mahāyāna, wobei er eine in Tibet derzeit unüblich hohe Wertschätzung für buddhistische Logik entwickelte, die er neben den anderen vier Sphären (Vollendung der Weisheit, Nāgājunas „Mittelweg“, Lehre der Nur-Bewusstsein-Schule, Ordensregeln) vorzüglich meisterte. Hinsichtlich der Ordensregeln beschäftigte er sich mit der alten bKa`-gdams-pa-Schule (Hoffmann 1956: 160-162), in deren Tradition seine Lehre derart stand, dass sie sie später in seine eigene Schule absorbieren sollte (Snellgrove 1987: 486). Im Anschluss wandte sich Tsong-kha-pa auch der Esoterik zu und wurde von einem direkten Schüler Bu-stons in das Kālacakra-Tantra eingeweiht. Mit 25 Jahren wurde er Vollmönch. Spätestens von da an begann er seine Lehrtätigkeiten, wandte sich aber gleichzeitig weiter der Esoterik und auch „Hilfswissenschaften“ wie Mathematik, Stilistik und Medizin zu, welchletzterer auch schon früher sein Studium galt. Auch eine vierjährige Klausur fällt in diese Zeit. 1403 beendete er seine in der Tradition Śāntidevas und Atīśas stehende Schrift „Schritte zur Erleuchtung“, in der er Wege zur Erleuchtung für minderwertige, mittelmäßige und überlegene Menschen aufzeigte und wider die Yogis die Unverzichtbarkeit solchermaßen gearteter Wege postulierte. Gleichem Ziele sollte auch sein zweites Hauptwerk „Der große Stufenweg zu den okkulten Wissenschaften“ dienen, das eine zölibatäre Interpretation des Tantrismus als einzig möglich behauptete. Über seinen schriftstellerischen Tätigkeiten lehnte er eine Einladung des Ming-Kaisers Yung-lo an dessen Hof mit Verweis auf sein Alter und seine Unabkömmlichkeit ab; letzterer Grund hatte schon gegen eine früher erwogene Pilgerreise nach Indien entschieden. 1409 hatte sich Tsong-kha-pas Einfluss so vergrößert, dass er Neujahrsfest und sMon-lam („Segenswunsch“), ein großes Gebetsfest zum Wohle aller Lebewesen, zusammenlegen konnte, während dessen die Mönche des gewachsenen Ordens seiner Anhänger dGe-lugs-pa („tugendhafte Leute“) in ihrem Machtzentrum Lhasa die Polizeigewalt übernahmen. Im gleichen Jahr gründete Tsong-kha-pa zusätzlich zu den von seinen Anhängern dominierten ein neues Kloster dGa-ldan, dessen Abt er wurde. Im Jahr 1419 starb er (Hoffmann 1956: 161-166).

3.2 Lehrgebäude

Es handelt sich bei der von Tsong-kha-pa gegründeten Schule um einen Vajrayāna („Vajra-Weg“=Tantrismus) der rechten Hand, der die Beherrschbarkeit esoterischen Wissens als ohne die Meisterung des exoterischen als unmöglich annehmend ein unmittelbares Streben nach Buddhaschaft in diesem Leben nur durch eine Elite als sinnvoll erachtet.

Als Ādibuddha dient Vajradhara („Vajra-Halter“), der aber je nach Tantra manchmal auch unter Namen wie Mahāvairocana, Vajrasattva („Vajrawesen“) oder Vajrapāni („Vajra-in-der-Hand“) in Erscheinung tritt. Die Anordnungen der fünf Tathāgatas („So-Gegangenen/So-gehen-Werdenden“=Buddhas) im Mandala entspricht in Tantras der Yogaklasse, die sich an der so genannten Tathāgata-Familie orientieren, in etwa jener der Mahāvairocanasutra. In den Mandalas der Vajra-Familie, die meist Überlegenen Yoga-Tantras entstammen und sich um Manifestationen Akśobhyas gruppieren, treten hingegen oft Rasende Gottheiten wie Hevajra oder sogar weibliche Gottheiten an die entsprechenden Stellen (Snellgrove 1987: 203-5, 209), was zeigt, dass den tibetischen orthodoxen Religionen mit ihrem weitgehend identischen Kanon bestimmte im Shingon von vornherein nicht vorhandene sexuelle Praxisformen innewohnen[5].

Da jedes Tantra mit nur geringer Übertreibung als Grundlage einer eigenen Religion oder eines bestimmten Aspekts dieser Religion betrachtet werden kann, sind Religionsstifter entweder zu einer scharfen Abgrenzung der verschiedenen Tantras in einer Rangfolge gezwungen, wie sie Kūkai vornahm, indem er die beiden Yoga-Tantras Vajraśekhara-Sutra und Mahāvairocana-Sutra als zwei Seiten der höchsten Erkenntnis bezeichnete und alle anderen Schriften als Vorstufen zu diesen qualifizierte, oder zu einer Gewährung mehrerer privater Akzentuierungen innerhalb einer Religion, wie sie schon Śākyamuni zuließ, der die Erlangung der Buddhaschaft als sowohl durch Meditation als auch durch Gelehrsamkeit möglich betrachtete. Derart verfuhr auch Tsong-kha-pa, dem weniger an der Beseitigung „fehlerhafter“ Doktrin als an der gewissenhaften Umsetzung des innerhalb seines Toleranzspektrums Liegenden gelegen war (Hoffmann 1956: 166).

Die Sinneswahrnehmungskategorien des Erleuchtung Suchenden wandeln sich bei deren Erlangung in die dem SELBST inhärenten Weisheitskategorien. Auch die von drei zu fünf aufgerüsteten Übel Zorn, Irrglaube und Leidenschaft sowie Bösartigkeit und Neid und die fünf Elemente stehen in direkter Korrespondenz zu den fünf Tathāgatas, wobei dem Ādibuddha auf der Ebene der Übel deren durch tantrische Übung erreichtes Resultat, die Glückseligkeit, (Snellgrove 1987: 200-201, 204-205) sowie gegebenenfalls auch das Bewusstsein zugeordnet werden kann. Der Ādibuddha tritt entsprechend nicht als Körper der sechs Elemente in Erscheinung, schon deshalb nicht, weil die vier ersten Elemente als dem Wandel unterworfen und also als ohne Eigenessenz angesehen werden. Jedoch sind auch hier der Körper der Weisheit und der Körper des Mutterschoßes als der Körper grenzenlosen geistigen Potenzials Zustände, mit denen eins werdend der Boddhisattva Erleuchtung erlangt (Tucci und Heissig 1970: 75).

Die vier Mandalas (Mahā-, Samaya-, Dharma-, Karma-) entsprechen denen des Shingon bei allerdings variierenden zentralen Buddhas. Die drei Mysterien dienen, insofern sie die Hauptaspekte der Buddhaschaft darstellen, ebenfalls als Mittel zur Einswerdung mit der Gottheit[6]. Die Rezitation von Mantras hingegen wird theoretisch als etwas mystisches, in praxi aber als etwas rein magisches verstanden, insofern derjenige, der diese Zauberformeln in korrekter Weise ausspricht, damit einen bestimmten Effekt auf magische Weise erzielt, sofern er ein richtiges Verständnis des Gesagten hat. Dieses rechte Verständnis wird aber als durch Initiation und nur durch Initiation erlangbar angesehen, sodass es nicht mehr auf das Bewusstsein des Initiierten bei der Ausführung des nun rein magischen Rituals ankommt. Ohnehin besteht die Initiation nur selten in einer Erklärung, sondern meist in einem bloßen Ritual, sodass die Verständnis der Initiation nicht nur gleicht, sondern durch diese ersetzt wird (Snellgrove 1987: 143-144).

Während die „Dharmakaya in absolutem Status“, „der Verwandlung“ und „völliger Glückseligkeit“ allen buddhistischen Lehren eigen sind, kommt die Unterteilung des „Dharmakaya völliger Glückseligkeit“ in einen sich selbst und einen andere erfreuenden mancherorts vor. In Überlegenen Yoga-Tantras tritt gelegentlich, um die im Tantrismus beliebte Vierfaltigkeit zu gewährleisten, der „Selbstexistente Körper“ oder „Körper der großen Glückseligkeit“ auf, der die Erfahrung der vier Freudenniveaus durch die vier Initiationen widerspiegelt (Snellgrove 1987: 115-116, 251, vgl. auch 248-249). In diesem letzteren Körper verlässt der Ādibuddha seinen absoluten Status und begibt sich in Gesellschaft einer Gefährtin (Glasenapp 1940: 161). Dass dieser dem Buddhismus linker Hand entsprechende „Körper der großen Glückseligkeit“ dem „Dharmakaya in Aussendung“ entspricht, scheint mir unwahrscheinlich. Allerdings ist hervorzuheben, dass in beiden Fällen der Ādibuddha seinen absoluten Status verlässt und sich in einen Status begibt, in dem er mit den Übeln in direkter Verbindung steht. – Einem Anhänger der dGelugs-pa-Schule stehen all diese Betrachtungsweisen offen.

Die Erscheinungsformen Mahāvairocanas als Körper der Weisheit als und Körper des Mutterschoßes, die in ihrer Symbolik als Vajra und Lotus die beiden notwendigen Prinzipien „Mittel zur Erleuchtung“ (insbesondere das Mitleid) und „Weisheit zur Erleuchtung“ (insbesondere Erkenntnis der Leerheit) erkennbar werden lassen, finden in tibetischen Darstellungen nicht die pantheistische Realisierung in einem Gott, der diese Gegensätze zusammenführt, sondern werden in der geschlechtlichen Vereinigung symbolisiert, wenn der Buddha, die Mittel zur Erleuchtung als maskulines Prinzip symbolisierend, sich am Anfang einer Überlegenen Yoga-Tantra mit seiner Weisheitsgefährtin vereinigt (z.B. Snellgrove 1987: 152). Als dritte Komponente ist noch der Erleuchtungsgedanke zu nennen, der in beiden Lehren seinen Ausdruck in Korrespondenz zur wichtigsten Gruppierung im Mandala eines Tantra findet. So finden sich im Lotus-Mandala die Buddhafamilie in Korrespondenz zum Erleuchtungsgedanken, die Lotusfamilie (Boddhisattvas) in Korrespondenz zum Mitleid und die Vajrafamilie (Schutzgottheiten des hinduistischen Pantheon) in Korrespondenz zu den Mitteln (Yamasaki 1988: 143), welches auch die Reihenfolge der Wertschätzung bzw. der Emanation des einen aus dem anderen ist. Tantrische Yogis innerhalb der dGe-lugs-pa-Schule werden diese Reihenfolge jedoch zugunsten der Vajrafamilie (Snellgrove 1987: 242), am Mahāyāna Orientierte zugunsten des Mitleids[7] modifizieren, sodass diese feste Reihenfolge von Emanationen innerhalb der dGe-lugs-pa eher keine Gültigkeit besitzt.

3.3 Stadien der Erleuchtung

Die Stadien der Erleuchtung, wie sie Kūkai aufgezeigt hat, haben in der tibetischen Lehre keine direkte Entsprechung. Die zwei möglichen Parallelen finden sich einmal in einer Auflistung der Wege zur Erleuchtung, die im Gegensatz zu denen im Shingon nicht beliebig aufeinander aufbauen. Diese spiegeln mit Ausnahme der ersten beiden, die in Tibet nicht praktiziert werden, Wege zur Erleuchtung wieder, die sich nur quantitativ hinsichtlich ihrer Dauer unterscheiden. Historisch in entsprechender Reihenfolge entstanden, wurden sie später verschiedener Erkenntnisfähigkeit zugewiesen, um ihre Koexistenz zu erklären:

1. Śrāvakayāna: der Weg der Jünger Buddha Śākyamunis
2. Pratyekabuddhayāna: der Weg der einsamen Buddhas
3. Boddhisattvayāna: der Weg des Boddhisattvas
4. Kriyāyoga: erste Tantraklasse
5. Caryāyoga/Ubhayayoga: zweite Tantraklasse
6. Yoga: dritte Tantraklasse
7. Anuttarayoga: vierte Tantraklasse

Während jeder gläubige Tibeter auf dem Boddhisattvaweg wandelt und sich erst einmal um die ertragreiche Ansammlung guter Taten für eine höhere Wiedergeburt müht, werden die sich kaum zu unterscheidenden Kriyā- und Caryā-Tantras (beide Worte lassen sich mit „Vorgang“ oder „Ritual“ übersetzen) als für Schüler geringer und mittlerer Kapazitäten geeignet angesehen, die Yoga-Tantras den Talentierten und die „Überlegenen“ Yoga-Tantras denen von größter Begabung zugewiesen (Snellgrove 1987: 231-235, 407).

Ein weiterer Vergleichsansatz besteht im zehnstufigen Weg des Boddhisattva, wobei eine elfte Stufe der Buddhaschaft entspräche. Auf diesem Weg erringt der auf ihm Wandelnde durch rationales Begreifen immanenter Wahrheiten (Wayman 1967: 97) Mitleid, ethisch einwandfreies Bewusstsein, Geduld, Eifer und Ähnliches, was ihm dann in den höheren Stufen Zugang zu Erkenntnis gewähren wird[8], sodass z.B. in der achten Stufe, die über die Erkenntnis der Nichtdeterminiertheit des Seienden hinausgeht, eine völlige Loslösung von allem Seienden erreicht wird (Tucci und Heissig 1970: 79). Mit welcher von den Stufen sieben bis neun der Erleuchtungsstadien Kūkais diese Stufe nun korrespondiert, bleibt nur mehr eine theologische Frage.

3.4 Praxis

Die streng geregelte Meditation innerhalb des Klosters ist auch bei dGe-lugs-pa zu finden. Dabei ist der Ansatz der direkten Einswerdung mit der Gottheit ein möglicher neben anderen Ausrichtungen wie z.B. der figurativen Vorstellung mittelbarer Einswerdung in den Überlegenen Yoga-Tantras oder der Meditation über die Leere, welche im Shingon keinen Platz fände. Dabei werden die drei von Kūkai genannten Voraussetzungen Meditation, Beachtung der Ordensregeln und Meisterschaft in allen exo- wie esoterischen Lehren insofern eingeschränkt, als die Ausbildung der verstandesmäßigen, exoterischen Voraussetzungen zwar vollkommen sein muss, aber die Aneignung allen esoterischen Wissens nicht Voraussetzung, sondern höchstens Folge der Erlangung der allwissenden Buddhaschaft ist.

Die geheimen Initiationen in tantrische Rituale sind nicht in solche, die den Laien möglich, und solche, die den Ordinierten vorbehalten sind, unterteilt (Snellgrove 1987: 214). Der Initiierte wird durch die Initiation zum Initiieren befähigt und zur Befolgung bestimmter Gelübde verpflichtet. Die Initiation in jedes beliebige Tantra eröffnet dabei den von diesem Tantra gebotenen Erlösungsweg, auf den sich der nach Erlösung Strebende durchaus beschränken könnte (Snellgrove 1987: 202, 214, 232), wobei natürlich die damit verbundene Dauer des Wegs zur Erlösung variiert. Beim Ritual wird nicht wie im Shingon der das Tantra Durchführende eins mit einer pantheistischen Gottheit, sondern die Gottheiten werden mittels des magischen Rituals in ihre Darstellungsformen im Mandala oder gar in den Durchführenden selbst gezwungen. Dabei bieten die Tantras auch eine reiche Zahl weltlicher Möglichkeiten. Die Magie der Vorgangstantras ist mit der Buddhafamilie als heilender, der Lotusfamilie als weltlichen Erfolg erzielender und der Vajrafamilie als zerstörender verbunden, wobei die Beherrschung der höheren Magieformen die Beherrschung der niederen mit sich bringt. Yoga-Tantras schränken diese Zuordnung zu Familien schon ein und Überlegene Yoga-Tantras verzichten ganz auf sie und befähigen vielmehr zur Beherrschung aller Magieformen, die unter den Oberbegriffen des Beruhigens, Gedeihenlassens, Unterwerfens und Zerstörens zu betrachten sind (Snellgrove 1987: 235-238).

Die wichtigste systematisierte Initiationslinie, die aus Weihen entsprechend des Fortschrittes im Glauben besteht und die von der Initiation in spezielle Tantras zu unterscheiden ist, ist viergeteilt:

1. die Initiation durch das Gefäß, die sich wiederum in sechs ihr untergliederte Initi- ationen teilt
2. die Initiation durch das Geheimnis
3. die Initiation durch die sublime Erkenntnis
4. die Vierte Initiation

Die Initiationen des Gefäßes sind sechs ältere Initiationen, die von den Anhängern Überlegener Yoga-Tantras zu einer einzigen zusammengelegt und zu einer Weihe für die Reinigung des Körpers reduziert wurden, sodass dieser zur Einswerdung mit dem ersten Mysterium des Ādibuddhas vorbereitet wird. Die zweite Initiation, die wie die folgenden Initiationen einer Gefährtin bedarf, ermöglicht die Reinigung von den der Rede anhaftenden Befleckungen und gestattet die Teilnahme am Dharmakaya in völliger Glückseligkeit als teilnehmendem. Die dritte Initiation ermöglicht die Reinigung des Geistes von Befleckung und initiiert die Verwirklichung des unendlichen Potenzials des Körpers des Mutterschoßes. Die Vierte Initiation erwächst unmittelbar aus der dritten und ermöglicht die Reinigung vom Ursprung der Befleckungen, die zur Buddhaschaft führt (Tucci und Heissig 1970: 70-71, Snellgrove 1987: 232, 260-261).

4. Schlussbemerkung

Der obige Vergleich hat die Einschätzung der Welt als real bei Shingon sowie als unreal bei dGe-lugs-pa als wesentlichsten Unterschied aufgezeigt. Auch hat sich Shingons Lehre angesichts nur zweier grundlegender Schriften als weniger heterogen erwiesen. So scheinen der Shingonlehre die in den verschiedenen Tantraklassen inhärenten Gegensätze und die Vielfalt der Initiationen zu fehlen, womit auch eine eher mystische als magische Betrachtungsweise der Riten einhergeht. Weiterhin galt die Sorge Kūkais bei der Weiterentwicklung seiner Lehre fast ausschließlich den letzten Bewusstseinsstufen, während Tsong-kha-pa auch den Zurückgebliebenen Wege zu bereiten bestrebt war.

Ein fruchtbarer Ansatz, um den Vergleich noch vertiefen zu können, bestünde darin zu untersuchen, inwiefern die Übersetzungen desselben Sanskritbegriffes ins Tibetische bzw. Japanische noch dasselbe bezeichnen. Beispielsweise bezeichnet der Terminus „Ādibuddha“ im Shingon alles, in der esoterischsten Auslegung durch die dGe-lugs-pa-Lehre alles außer der Leere; für andere Begriffe müssten solche meist wohl diffizileren Unterschiede, deren Existenz sich bei Erstellung dieser Arbeit andeutete, noch untersucht werden.

5. Literaturverzeichnis

ADVAYAVAJRA (1988): Einführung zur deutschen Ausgabe. In: YAMASAKI, Taikō: Shingon: Japanese Esoteric BuddhismShingon: Der esoterische Buddhismus in Japan. Übersetzt von Sylvia Wetzel. Boston: Shambhala Publications, Inc. S. XV-XVI

GLASENAPP, Helmuth v. (1940): Buddhistische Mysterien. Stuttgart: W. Spemann Verlag.

GUNDERT, Wilhelm (1943): Japanische Religionsgeschichte. Stuttgart: D. Gundert Verlag.

HAKEDA, Yoshito S. (1972): Kūkai: Mayor works. New York, London: Columbia University Press.

HOFFMANN, Helmut (1956): Die Religionen Tibets - The religions of Tibet. Übersetzt von Edward Fitzgerald. Karl Alber Verlag.

JICHENG, Li: Tibetan Esoteric Buddhism, http://omni.cc.purdue.edu/~wtv/tibet/tbuddha.html, Tibet Study Association, (19.09.2003)

SNELLGROVE, David (1987): Indo-Tibetan Buddhism. London: Serindia Publications.

TRIMONDI, Victor und Victoria TRIMONDI (alias RÖTTGEN, Herbert und Mariana RÖTTGEN) (1999): Der Schatten des Dalai Lama. Düsseldorf, Patmos-Verlag.

TUCCI, Guiseppe und Walther HEISSIG (1970). Die Religionen Tibets und der Mongolei. Stuttgart, Berlin. Köln, Mainz: W. Kohlhammer.

WAYMAN, Alex (1967): The Bodhisattva practice according to the lam-rim-chen-mo. In: Tibet Society Newsletter Vol. I, No. 2. Bloomington.

YAMASAKI, Taikō (1988): Shingon: Japanese Esoteric BuddhismShingon: Der esoterische Buddhismus in Japan. Übersetzt von Sylvia Wetzel. Boston: Shambhala Publications, Inc.

[...]


[1] Tibet Study Association, http://omni.cc.purdue.edu/~wtv/tibet/tbuddha.html, 19.09.2003

[2] Nach damaliger japanischer Rechnung war ein Kind zum Zeitpunkt seiner Geburt ein Jahr und unabhängig von seinem eigentlichen Geburtsdatum am Neujahrtag zwei Jahre alt. Dieser Unwägbarkeit wegen werde ich im Folgenden bei allen Altersangaben von diesem System ausgehen (Hakeda 1972: 14).

[3] Hier wurden im Wesentlichen männliche Gottheiten verehrt. Tantrische Religionen der linken Hand bezogen häufig extensiv sexuelle Vereinigungsmystik in ihre Lehren mit ein. Derartige Anflüge stellten, nachdem sie angeblich im 12. Jahrhundert aufgekommen waren, am Kōya-san in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in der Form des Tachikawa-Systems ein ernsthaftes Problem dar, dessen der Shingon-Systematiker Yūkai durch Bücherverbrennungen und ähnliche Maßnahmen Herr wurde (Yamasaki 1988: 45-46).

[4] Der Begriff „mystisch“ wird hier“ als zauberkräftig in der Weise verstanden, dass die Wirksamkeit vom korrekt vollzogenen Ritual und dem damit verbundenen Glauben gleichzeitig abhängt. Eine „magische“ Wirkung wäre hingegen allein von der korrekten, ‚wissenschaftlichen’ Vollziehung des Rituals abhängig.

[5] „Die Lehren der Tachikawa-Schule weisen zwar Ähnlichkeiten mit dem tantrischen Buddhismus der späteren Periode in Indien auf; man geht jedoch davon aus, dass sie sich in Japan ohne indischen Einfluß als Verbindung aus Taoismus, Mikkyo [„Geheimlehre“, hier „Shingon“] und Elementen der Volksreligion entwickelt haben.“ (Yamasaki 1988: 45)

[6] Tibet Study Association, http://omni.cc.purdue.edu/~wtv/tibet/tbuddha.html, 19.09.2003

[7] Theosophy library online, http://theosophy.org/tlodocs/teachers/Chandrakirti.htm, 23.09.2003

[8] Theosophy library online, http://theosophy.org/tlodocs/teachers/Chandrakirti.htm, 23.09.2003

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Ein Vergleich der Lehren von Shingon und dGe-lugs-pa
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Japanologisches Seminar)
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
21
Katalognummer
V110998
ISBN (eBook)
9783640091065
Dateigröße
484 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vergleich, Lehren, Shingon
Arbeit zitieren
Benjamin Brosig (Autor:in), 2003, Ein Vergleich der Lehren von Shingon und dGe-lugs-pa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110998

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