Geographische und geschichtliche Elemente des Ostseeraumes


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

36 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung – die Ostsee als natürlicher und politischer Raum
1.1 Naturraum der Ostsee
1.2 Die Ostseeanrainerstaaten im Kurzvergleich

2. Hauptteil – die Ostsee als geschichtlicher Raum
2.1 Frühgeschichte der Ostsee
2.2 Die Ostsee im späten Mittelalter und in der Hansezeit
2.3 Großmachtansprüche auf die Ostseevorherrschaft

3. Schluß – die Ostsee als Kooperationsraum
3.1 Geschichtliche Gemeinsamkeiten als Grundlage der Ostseekooperation S. 24 3.2 Die Chancen und Perspektiven der Ostseeregion

4. Literaturverzeichnis

Die Ostsee im Überblick

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Karte unter http://www.io-warnemuende.de:20080/forum/de_sb_ostsee.html)

1. Einleitung – die Ostsee als natürlicher und politischer Raum

„Meere und Wasserwege können Kulturen verbinden und Gemeinschaften fördern, genauso wie sie Grenzen bilden können, seien es das Mittelmeer, die Donau, der Rhein – oder die Ostsee. Die gemeinsame Ostseekultur hat sich durch Jahrhunderte entwickelt. Es scheint, als hätten nach dem Fall der Mauer viele unsere gemeinsame, ostseekulturelle Identität wiederentdeckt. Wenn die Blockierungen des Kalten Krieges beseitigt sind und sich damit die traditionellen außen- und sicherheitspolitischen Aufgaben wandeln, kann die kulturelle Zusammenarbeit zwischen den Staaten und Regionen an Bedeutung gewinnen“ (Berner 1996, S. 14).

Diplomaten sprechen so, sie müssen es wohl auch. Wir sollten jedoch Natur und Geschichte des Ostseeraumes einer kritischen, kurzen, Bestand aufnehmenden Betrachtung unterwerfen, bevor wir uns ein Bild über die Chancen und Perspektiven dieses Raumes in Gegenwart und Zukunft machen.

Der Ostseeraum – hier so genannt, weil er das Binnenmeer Ostsee [1] und einen schwer abgrenzbaren Teil des Territoriums der Anrainerstaaten umfaßt – war nie Mittelpunkt einer zumindest bis zu den Weltkriegen eurozentrischen Weltgeschichte, aber auch nicht „ein Nebenschauplatz [...], eine Art Brackwasser“ (Alten 1996, S. 10) im Wind-schatten europ. Geschichte. Wie sehr dieses – geologisch gesprochen – junge Meer (ca. 12000 Jahre) insbesondere zur Hansezeit, während des 30jährigen Krieges und den Nordischen Kriegen Ort politischer, wirtschaftlicher und militärischer Interaktion gewesen ist, soll in unserem Referat hauptsächlich thematisiert werden. Zunächst wird der Blick auf den Naturraum (1.1) und die gegenwärtigen Ostseeanrainerstaaten (1.2) gelenkt: eine Kurzanalyse des Status quo, die notwendig erscheint, wenn zum Abschluß des Referates die geschichtlichen Implikationen (3.1), die Möglichkeiten der Zusammenarbeit und die Entwicklungsperspektiven der Region (3.2) zur Sprache kommen sollen. Damit wird zugleich der Kern und Schwerpunkt unserer Betrachtung ausgeschält sein, denn die Ostsee der Gegenwart und Zukunft ist das Resultat ihrer frühen (2.1), spätmittelalterlichen (2.2) und neuzeitlichen Geschichte (2.3). Aus Gründen der Zeit und des Umfangs muß die Darstellung der Skizze verhaftet bleiben.

Die Ostseegeschichte ist die Geschichte eines vergessenen Raumes, der seit Jahrtausenden menschlich erschlossen und in erster Linie nautisch genutzt wurde. Ungeachtet der Problematik einer historischen Kategorie wie Raum wird die undeutlich abgegrenzte, weit ausgedehnte Ostseeregion hier völlig unpolitisch als Ostsee raum bezeichnet und behandelt. Dadurch ist es möglich, die Geschichtslandschaft Nordosteuropas[2] naturräumlich und zugleich im Kontext europäischer Geschichte zu betrachten.

1.1 Naturraum der Ostsee

Die Ostsee ist ein „intrakontinentales Mittelmeer des nordeurop. Kontinents“ (Westermann Lexikon der Geographie 1970, S. 710)[3] mit einer Gesamtfläche von 412560 km2, einem Wasservolumen von 21631 km3 und einer Durchschnittstiefe von 52 m. Sie erstreckt sich in der Länge über 1300 km (Nord-Süd-Ausdehnung), während ihre größte Breite ungefähr 1000 km (West-Ost-Ausdehnung) beträgt. Dabei wird sie im Süden und Osten vom Norddeutschen Tiefland bzw. dem Baltischen Landrücken umgeben und im Norden und Westen durch die Skandinavische Halbinsel bzw. Jütland vom Atlantischen Ozean getrennt. Die Ostsee kann grob in Kattegat, Beltsee (mit Kieler und Lübecker Bucht), eigentliche Ostsee, Rigaischer, Finnischer und Bottnischer Meerbusen gegliedert werden[4].

Von einer ausführlichen Darstellung der Entstehungsgeschichte müssen wir an dieser Stelle absehen; es sei hier nur darauf hingewiesen, daß die Ostsee „als Folge ehemaliger Inlandeisbedeckung und anhaltender Hebung Skandinaviens“ (Liedtke 1992, S. 620) entstanden ist, als sich am Ende der letzten Eiszeit (Weichseleiszeit vor rd. 13000 Jahren) die Baltische Senke mit Schmelzwasser zu füllen begann. Der so entstandene Baltische Eisstausee erlebte verschiedene Salz- und Süßwasserepochen und wandelte sich vor 4000-5000 Jahren zur Ostsee heutiger Gestalt. Die Ostsee als „eines der größten Brackwassermeere der Erde“ läßt sich auch am „Wasseraustausch zwischen Nord- und Ostsee“ (Matthäus 1992, S. 626) erklären. Insgesamt ist eine natürliche Prägung und Überformung des Ostseeraumes durch die Eiszeit festzustellen[5].

Zahlreiche Inseln befinden sich im westlichen und nördlichen Teil der Ostsee. Die dänischen Inseln wie Seeland, Fünen, Lolland und Falster sind die Reste einer früheren Landverbindung zwischen Norddeutschland und Südschweden. Zentral liegen die historisch bedeutsamen schwedischen Inseln Gotland und Öland, östlicher die baltischen Inseln Ösel, Moon, Dagö und Worms. Entlang der finnischen und schwedischen Küste gruppieren sich unzählige Felseninseln (sog. Schären), die für die nördliche Ostseelandschaft charakteristisch sind. Insgesamt weist die Ostsee eine „Vielzahl ganz unterschiedlicher Küstenformationen – von Förden über Bodden, Kliffs und Steilküsten, Nehrungen, Haffs, Binnenseen und Flußdeltas, Dünenlandschaften, Schären bis zu den Inseln – [...]“ (Liedl/Weber/Witte 1992, S. 14) auf.

Die Ostsee ist ein Meer der Mäßigung und Stille: dem gemäßigten feuchten Klima entsprechen die geringen Oberflächenströme und Windstärken, die zu vernachlässigenden Wasserstandsschwankungen (Tidenhub) und der niedrige Oberflächensalzgehalt. Im Gegensatz zur Nordsee (unter Seeleuten auch Mordsee genannt) ist sie für die nautische Nutzung auch auf dem primitiven technologischen Niveau unserer Vorfahren in früheren Zeiten geeignet. Behindert wurde die Schiffahrt auf der Ostsee seit je her durch die örtlichen unterschiedlichen Eisverhältnisse[6] ; eisfreie Häfen sind in der Geschichte daher oftmals Streitfälle der Großmächte gewesen. Die Schiffahrt, eine menschliche Tätigkeit und Nutzung eines Naturraumes, drängt uns zu einer Betrachtung der Ostsee als Ökosystem und Lebensraum für 85 Mio. Menschen.

Das Ökosystem der Ostsee ist äußerst labil. Eine geringe Artenvielfalt resultiert aus natürlich bedingten und anthropogen bewirkten Umweltstress. Die Ostsee-Umwelt wird insbesondere durch den Schadstoffeintrag aus dem 1,7 Mio. km2 großen hydrographischen Einzugsgebiet der Ostsee, durch die Eutrophierung infolge des Stickstoff- und Phosphoreintrages, durch Überfischung, durch Sauerstoffmangel im Tiefenwasser und durch Temperaturschwankungen in Flußeinmündungen belastet. Zwei Umweltexperten, Sebastian A. Gerlach und Gerhard Kortum, warnten 1992:

„Das Ökosystem Ostsee ist nach heutiger Einschätzung deutlich gefährdeter als das der Nordsee. Hierfür sind die natürlichen Gegebenheiten, insbesondere der geringe Wasseraustausch und die mangelnde vertikale Durchmischung durch Schichtenbildung verantwortlich, die die Selbstreinigungskraft der Ostsee herabsetzen. Anthropogene Belastungen wirken sich daher in der Ostsee gravierender aus“ (Gerlach/Kortum 1992, S. 646).

Den Ostseeschutz haben sich nach den politischen Veränderungen zu Beginn der 90er Jahre nicht allein die Ostseeanrainerstaaten zur Aufgabe gemacht, auch nichtstaatliche, weltweit agierende Umweltorganisationen wie Greenpeace nehmen die Bekämpfung der Meeresverschmutzung sehr ernst (vgl. Leithe-Eriksen 1992, S. 130ff und Lozán/Lampe/Matthäus 1996, S. 291ff). Ein wirksamer Ostseeschutz ist als die wesentliche Voraussetzung einer weiteren touristischen Nutzung dieses einmaligen Naturraumes anzusehen (siehe dazu Breuste 1992, S. 662ff)[7].

Die natürlichen Ressourcen der Ostsee wurden im Laufe der menschlichen Besiedlung vom Wasser aus erschlossen. Schiffahrt war nämlich immer schon zweckgebunden an militärische Expedition und Eroberung, Fischerei und Seehandel. So diente und dient die Ostsee ihren Anwohnern als Kriegsschauplatz, Nahrungsquelle und Wasserstraße gleichermaßen. Der Naturraum der Ostsee in seiner besonderen Ausprägung bestimmte maßgeblich seine Besiedlungsgeschichte und die Entwicklung der Verkehrsbeziehungen. Gute Naturhäfen bei Stockholm, Norrköping, Flensburg, Kiel usw. wurden der Ausgangspunkt mittelalterlicher Städtegründungen; künstliche Häfen entstanden an Flußmündungen (Danzig, Königsberg, Riga u. a.). Örtlich begrenzte Handelsbeziehungen gab es im Ostseeraum wohl schon im dritten und vierten Jahrtausend v. Chr., wie ein vierteiliger Aufsatz Walter Vogels über „Die Entwicklung der Ostseeschiffahrt“ (Vogel 1918b, S. 225) in der Zeitschrift Die Ostsee [8] deutlich macht. Münzfunde römischer, arabischer, deutscher und englischer Herkunft auf der Insel Gotland legen die Ausdehnung kaufmännischer Tätigkeit zu späterer Zeit nahe. Im 8. bis 11. Jahrhundert handelten und raubten die Wikinger auf Nord- und Ostsee. Der Handels- und Schiffsverkehr im Ostseeraum erlebte dann – wie wir noch sehen werden – durch die Hanse und den Deutschen Orden im 13. Jahrhundert eine Blütezeit, die den Verkehr der Nordsee an Bedeutung weit überragte. Er konzentrierte sich auf drei Schwerpunkte: „den Stapelverkehr, den Fischhandel nebst dem damit verbundenen Schonenschen Meßverkehr und die Sundschiffahrt“ (Vogel 1918c, S. 252). Als in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhundert Holländer auftauchten, dominierte die deutsche Kaufmannshanse den Ostseehandel. Sie konnten sich dennoch im 15. Jahrhundert gegen die Hanse durchsetzen und ihre Dominanz der Ostseeschiffahrt bis ins 17. Jahrhundert mit neuen Schiffen (Fleuten) und einer Transportfähigkeit von 7-800000 t ausbauen. Der atlantische Schiffsverkehr im Dienste des Kolonialhandels nahm im 16. Jahrhundert enorm zu (vgl. Vogel 1918d, S. 327). Auch die skandinavischen Länder engagierten sich verstärkt (Schweden, Dänemark), bis Rußland im Laufe des 18. Jahrhunderts zur Ostsee vordrang. Mitte des 19. Jahrhunderts verlor das Ostseegebiet aufgrund des englischen Freihandels seine Bedeutung als „die eigentliche Kornkammer Westeuropas“ (Vogel 1918e, S. 399) an das Schwarzmeergebiet und Nordamerika. Die südlichen deutschen Ostseehäfen wurden im Zuge der Industrialisierung Importplätze für Holz und Erze aus Skandinavien. Die technisch-industriellen Innovationen dieser Zeit wie Eisenbahn und Dampfschiff, die Einrichtungen von Fährlinien, aber auch Kanal- und Brückenbauten wie der Nord-Ostsee-Kanal (1895 als Kaiser-Wilhelm-Kanal fertiggestellt) revolutionierten den Ostseehandel. Für die nördlichen und östlichen Anrainerstaaten blieb die Ostsee trotz des russisch-sowjetischen Aufstiegs als Regionalvormacht der Hauptträger ihres Warenaustausches.

1.2 Die Ostseeanrainerstaaten im Kurzvergleich

Es sind die Anrainerstaaten, die heute wieder zunehmend vom Ostseehandel profitieren:

„Die Ostseeregion, mit Hamburg als einem ihrer Zentren, entwickelt sich dynamisch. Die wirtschaftlichen Fortschritte im östlichen Teil des Mare Balticum sind beeindruckend. Handels und Kapitalströme zwischen den Staaten und Gebieten rund um die Ostsee verstetigen und vertiefen sich“ (Handelskammer Hamburg 2000, S. 3).

Noch einmal scheint es an dieser Stelle geboten, die grundlegende Frage nach dem Ostseeraum anzusprechen. In Ermangelung einer klar abgrenzbaren, eindeutigen Definition des Ostseeraumes wird darunter manchmal

„die Region als eine Interessengemeinschaft der nordischen Staaten, des wiedervereinigten Deutschlands und der baltischen mittel- und osteuropäischen Länder verstanden, die in der Ostsee-Parlamentarischen Konferenz und im Ostseerat der Außenminister ihre politische Interessenvertretung haben“ (ebenda, S. 9).

In diesem Falle müßten wir, um einer solch politischen Definition zu entsprechen, sämtliche Mitglieder des 1992 in Kopenhagen konstituierten Ostseerates Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen, Rußland und Schweden sowie Island (seit 1995) und Norwegen zum Ostseeraum zählen, angesichts des Wassereinzugsgebiets der Ostsee vielleicht sogar Weißrußland. Wir wollen uns aber auf einen Kurzvergleich der eigentlichen vier westlichen (Dänemark, Deutschland, Finnland, Schweden) und fünf östlichen (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rußland) Anrainerstaaten beschränken.

Wenn wir die gegenwärtigen Handelsverflechtungen im Ostseeraum betrachten, dann fällt eine ungleichmäßige Verteilung der Handelsströme ins Auge. Der Gesamtanteil der Ostseeanrainerstaaten am Welthandel beträgt zur Zeit ca. 14 %, wovon 12 % auf die westlichen und 2 % auf die östlichen Staaten entfallen. Dafür weisen die östlichen Anrainerstaaten höhere Wachstumsraten und eine größere Dynamik beim Warenaus-tausch auf. Unbestrittenes Zentrum des Ostseehandels ist Deutschland, als wichtigster Absatz- und Beschaffungsmarkt schlechthin. 35 % der Exporte und Importe der anderen Ostseeanrainerstaaten werden mit Deutschland abgewickelt (vgl. ebenda, S. 33).

Ein Kurzvergleich der Ostseeanrainer in der Gegenwart verlangt freilich mehr als die Darstellung der Ostseehandelsströme. Die wesentlichen geographischen, demographischen und wirtschaftlichen Fakten sollen darum in tabellarischer Form verglichen werden, wobei die Bezüge zum Ostseeraum und deren Geschichte im Mittelpunkt stehen. Danach werden die östlichen Anrainerstaaten, d. h. die baltischen Länder, Polen und Rußland vor allem wegen des Systemwechsels in Osteuropa und des damit verbundenen Transformations- und Demokratisierungsprozesses eingehender behandelt als die skandinavischen Länder und Deutschland.

Kurzvergleich der Ostseeanrainerstaaten[9]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Beginnen wir mit den baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen, deren nunmehr zehnjährige Geschichte mit der Auflösung der Sowjetunion 1990/1991 und der Wiedergewinnung staatlicher Souveränität und Unabhängigkeit einsetzte. Für sie gilt ebenso wie für die Transitionsländer Polen und Rußland, was Klaus von Beyme über die vierte europäische Welle der Demokratisierung durch Systemwechsel geäußert hat:

„Die vierte Transformationswelle wich stark von den herkömmlichen Modellen der Revolution ab [...]. Es gab 1989 keine gut organisierten Gegeneliten, keine Parteien im Untergrund, die für die Übernahme der Regierungsverantwortung von Bedeutung gewesen wären, keine kohärente Gegenideologie. [...] Die Rebellion von 1989 hatte im Gegensatz zu den früheren Systemwechseln eine dreifache Stoßrichtung: (1) gegen die Diktatur, (2) gegen ein ineffizientes Wirtschaftssystem, (3) gegen die Dominanz einer hegemonialen Macht (RWG-Staaten). [...] Die neue Ordnung wurde von sehr ambivalenten Haltungen der Bürger begleitet. [...] Trotz all dieser einmaligen Belastungen erscheinen die Aussichten auf Erfolg in der viertel Demokratisierungswelle nicht ganz so düster wie jene der ersten Transformationswelle nach dem Ersten Weltkrieg“ (Beyme 1994, S. 13ff).

Die Sezession der baltischen Staaten im März (Litauen und Estland) bzw. im Mai (Lettland) 1990 verlief blutig und turbulent. Nach dem Augustputsch 1991 in Moskau wurde die endgültige Unabhängigkeit vollzogen (siehe auch Norgaard 1996). Es blieben tiefe Wunden (ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung als Folge stalinistischer Siedlungspolitik) und Ängste (vor erneuter russischer Okkupation) aus der Zeit unter sowjetischer Herrschaft zurück, ohne deren Berücksichtigung die politische Entwicklung dieser Länder nicht verstanden werden kann (vgl. Lange 1998, S. 6).

Estland ist die nördlichste und jüngste der drei baltischen Republiken. Wirtschaftlich zählt der „Tiger im Baltikum“ (Maier 1998, S. 17) zu den erfolgreichsten Reformstaaten. Die Esten sind kein baltisches, sondern ein finno-ugrisches Volk; sie versuchen an die geschichtlichen und sprachlichen Beziehungen zu Finnland anzuknüpfen. Der von ihnen eingeleitete politische und wirtschaftliche Transformationsprozeß führte trotz häufiger Kabinetts- und Regierungswechsel zu einem stabilen politischen System, zu außenpolitischen Erfolgen (Mitglied der UNO, OSZE seit 1991, im Europarat seit 1993, Freihandelsabkommen mit der EU, NATO-Partnership for peace, Abzug russischer Truppen bis 1994, einziger baltischer Kandidat für die EU-Erweiterung ab 1997) sowie wirtschaftlichen Modernisierungsmaßnahmen. Lettland grenzt im Norden an Estland und im Süden an Litauen, von den 2,5 Mio. Einwohnern sind nur wenig mehr als die Hälfte Letten. Für die am stärksten industrialisierte baltische Sowjetrepublik war der Übergang zur Marktwirtschaft besonders schwierig. Lettland – ebenso wie Estland und Litauen Mitglied der UNO, OSZE und im Europarat – gerät seit 1997 als der schwächste baltische Staat zusehends in das Visier russischer Interessen- und Einflußsphärenpolitik. Grenzfragen und das Problem der russischen Minderheiten werden dabei instrumentalisiert.

Anders dagegen das russisch-litauische Verhältnis. Die Grenze der südlichsten und größten baltischen Republik Litauen zu Rußland ist unumstritten, der Anteil der Russen beträgt 9 %, der Polen 7 %. Geschichtlich bedingt[10] orientiert sich Litauen an dem neuen NATO-Mitglied Polen, enge Freundschaften werden zu den skandinavischen Staaten gepflegt (vgl. Tauber 1998, S. 43ff).

Generell sind sich die baltischen Staaten ihrer Transitlage im Ostseeraum durchaus bewußt, ihre außenpolitischen Zielsetzungen sind auf das westliche Europa, die USA und gegen Rußland gerichtet. Ihre Sicherheitspolitik zielt auf die Vollmitgliedschaft in der NATO ab. Lettland und Litauen sind gewillt, Estland auf dem Weg in die EU nachzugehen. Ökonomisch gestaltete sich der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft unter den typisch baltischen Vorzeichen einer Währungsreform mit fester Dollar- oder DM-Bindung in den Jahren 1992/1993 (Estland: Estnische Krone, Lettland: Lats, Litauen: Litas), der Privatisierung staatlicher Betriebe und der Erschließung neuer Märkte. Erst Mitte der 90er Jahre war nach dem anfänglichen Gesundschrumpfen der Wirtschaft ein Aufschwung in den baltischen Ländern zu verspüren. Hohe Wachstumsraten des BIP, sinkende Inflationsraten und geringe offizielle Arbeitslosigkeit wurden mit sozialen Spannungen und Verwerfungen auf Kosten der Alten, kinderreichen Familien und Frauen jedoch teuer bezahlt. 1995 ging in Lettland die Banka Baltica aufgrund krimineller Kreditgeschäfte und mangelhafter Kontrollmechanismen in Konkurs, wobei jeder vierte Einwohner seine Ersparnisse verlor. Negative Begleiterscheinungen des wirtschaftlichen Wandels sind ferner die Korruption der politischen Klasse und Verwaltung, die Schattenwirtschaft und die Schwarzarbeit (siehe auch Henning 1998, S. 30). In Litauen kennzeichnen die hohe Selbstmordrate, die Verdreifachung der Kriminalitätsrate und die Veränderung der bislang patriarchalischen Sozialstruktur die sozialen Folgen der Transformation.

[...]


[1] In den Ländern Skandinaviens oftmals auch als Baltisches Meer, in England als Baltic Sea bezeichnet.

[2] Klaus Zernack hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, daß die Begriffe Ostseeraum und Nordosteuropa nicht unbedingt kongruent müssen. Der letztere „korrespondiert nomenklatorisch mit Südosteuropa und Ostmitteleuropa, aber weist inhaltlich zugleich auf das Übergangsproblem zwischen Osteuropa und Nordeuropa/Skandinavien hin“ (Zernack 1985, S. 10).

[3] Andere wichtige Nachschlagewerke sind die Brockhaus Enzyklopädie 1972, S. 64ff und zum Vergleich Der Große Brockhaus 1932, S. 843ff. Hilfreich auch ein Steckbrief zur Ostsee des Instituts für Ostseeforschung Warnemünde unter der Internetadresse http://www.io-warnemuende.de:20080/forum/de_sb_ostsee.html.

[4] Tafel 2 im angehängten Abbildungsverzeichnis geht näher auf die natürliche Gliederung der O. ein.

[5] Die paläogeographische Entwicklungsgeschichte der Ostsee ist konzis von Herbert Liedtke (Liedtke 1992) dargestellt worden und ausführlich bei Matti Sauramo (Sauramo 1958) nachzulesen.

[6] In einer der ältesten naturgeschichtlichen Abhandlungen über die Ostsee hat Ernst Boll das Zufrieren größerer Teile der Ostsee vom 14. bis zum 18. Jahrhundert verfolgt. Einleitend schreibt er:
„Das Geschick der Ostsee ist minder glänzend, aber auch minder traurig gewesen. Ihr Einfluß erstreckt sich nicht gleich dem des Mittelmeeres über den ganzen Erdkreis, aber er ist äußerst wohlthätig für den Norden Europas gewesen. Die Küsten des baltischen Meeres waren der erste Punkt wo der Norden und der Süden dieses Erdtheils in Berührung kamen; kaufmännischer Speculationsgeist führte wahrscheinlich schon Jahrhunderte vor Christi Geburt die Phönizier an die preußischen Küsten. Handel, Kultur und Christentum drangen auf dieser weitverzweigten Wasserstraße zuerst in das nördliche Europa ein, und verbreiteten von den Gestaden der Ostsee ihren mildernden, temperirenden Einfluß auf die angränzenden uncultivirten, barbarischen Länder“ (Boll 1847, S. 31f und 60ff).

[7] Unzählige Reiseschilderungen, Routenplaner, Bildbände und Werbebroschüren bezeugen das menschliche Erholungsbedürfnis und das vitale Interesse der Ostseeanrainerstaaten an einer touristischen Entwicklung. Dafür exemplarisch Maier 1995.

[8] Die Ostsee (Zeitschrift für Wirtschaft und Kultur der Ostseeländer) erschien erstmalig am 10. April 1918 und wurde unter unmittelbarem Kriegseindruck von Dr. Richard Pohle u. a. mit dem Ziel herausgegeben, „dem deutschen Volke Aufklärung“ über einen Raum zu verschaffen, um den es sich „vorher zu wenig [...] gekümmert“ hat und dessen anwohnende Nationen und Stämme „ohne Ausnahme dem germanischen Kulturkreis“ (Pohle 1918, S. 1) angehören.

[9] Eine detailliertere Zusammenstellung der Landesdaten findet sich im Abbildungsverzeichnis Tafel 1 und Tabellen. Siehe auch Fischer Weltalmanach 1999, S. 27ff; Alexander Weltatlas 1989, S. 134ff und Handelskammer Hamburg 2000, S. 42ff.

[10] Zur Geschichte Litauens bzw. der baltischen Staaten allgemein siehe The New Encyclopaedia Britannica 1997, S. 695ff.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Geographische und geschichtliche Elemente des Ostseeraumes
Hochschule
Universität Rostock  (Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften)
Veranstaltung
Der Ostseeraum - Politische Systeme und Beziehungen
Note
1,3
Autor
Jahr
2001
Seiten
36
Katalognummer
V11105
ISBN (eBook)
9783638173582
ISBN (Buch)
9783638698177
Dateigröße
764 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ostseeraum
Arbeit zitieren
Christian Schwießelmann (Autor:in), 2001, Geographische und geschichtliche Elemente des Ostseeraumes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11105

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