Was ist kritische Theorie?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

14 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einführung

Anfänge kritischer Theorie
Karl Marx
Das Frankfurter Institut für Sozialforschung

Das „Kriterium“ der kritischen Theorie

Negative Bestimmung

Absolute Wahrheit

Nicht „was“, aber „wie“

Materialismus und negative Dialektik

Der Begriff von Kritik

Kritische Theorie mit Habermas

Resumée

Einführung

In seinem 1937 erschienenen Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie stellt M. Horkheimer die kritische Theorie vor und dabei fest: „Allgemeine Kriterien für die kritische Theorie gibt es nicht“. Um dem hinzuzufügen und damit bereits unausgesprochen einen Wesenszug der kritischen Theorie festzuhalten: „Allgemeine Kriterien für die kritische Theorie gibt es nicht, denn sie [allgemeine Kriterien für eine Theorie] beruhen immer auf der Wiederholung von Ereignissen und somit auf einer sich selbst reproduzierenden Totalität.“1 Damit ist nicht nur ein totalitärer Anspruch einer kritischen Theorie abgewiesen, die sich selbst nicht kritisch ist, in diesem Zitat spiegelt sich kritische Theorie selbst wider. Die kritische Theorie ist nicht mit einer sanften Programmatik besetzt, die sich allenthalben gegen ihre eigenen Autoren zu widersetzen sucht, sondern kritische Theorie ist ein offenes Programm, das als Korrektur der bestehenden Epoche konzipiert ist. Auch der oben zitierte Artikel Horkheimers und das daraus entnommene Zitat sind Korrekturen der Zeit, korrigierende Gegenent-würfe, hier ein Entwurf gegen die traditionelle Theorieform, der sich selbst bewußt ist: kritische Theorie.

Anfänge kritischer Theorie

Karl Marx

Kritische Theorie war als kritische Reaktion, als antagonistischer Reflex, immer schon Mittel gewesen, geistige Inhalte der Gegenwart zu „dekonstruieren“, und fand ihren deutlichsten Ausdruck in Karl Marx’ Schriften, der Methoden kritischer Theorie konsequent gebrauchte und z.B. seine Schriften bereits antithetisch Anti-Düring oder Die deutsche Ideologie nannte. Karl Marx half nicht nur Methoden kritischer Theorie auf die Beine, er entwickelte den Historischen Materialismus, in dessen Fahrwasser der Marxismus entstand, der wiederum für die in diesem Essay vorgestellte kritische Theorie in zweierlei Hinsicht als konstitutiv bezeichnet werden kann.2

Das Frankfurter Institut für Sozialforschung

Konstitutiv, einmal, weil Horkheimer 1930 die Leitung eines Instituts übernahm, dessen bisheriger Forschungsprogramm an marxistischer Theorie orientiert war. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung war 1922 auf Initiative von Felix Weil gegründet worden, „einem jungen und reichen jüdischen Wissenschaftler mit starker Bindung an den marxistischen Radikalismus“3. Forschungsintention des Instituts war es, die Intentionen der gescheiterten Revolution von 1918 zu konservieren, die „revolutionäre Botschaft […] heil durch alle Gefahrensituationen zu bringen“4. So formulierten Horkheimer/ Adorno 1944 ganz in dieser Tradition in der Dialektik der Aufklärung: „Wenn die Rede heute an einen sich wenden kann, so sind es weder die sogenannten Massen, noch der Einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher ein eingebildeter Zeuge, dem wir es [die Erinnerung an ein aktives Proletariat als Adressat einer revolutionären Theoriebildung] hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht.“5

Das Institut war von Felix Weil auf Jahre hin mit den nötigen finanziellen Mitteln ausgestattet, und unter dem ersten Direktor des Instituts, Carl Grünberg, „widmete es sich der Sammlung empirischer Daten über die deutsche Abeiterbewegung, der Erforschung der Marxschen Theorie und der Veröffentlichung von Studien zu sozialen Problemen“.6 Mit Horkheimer änderte sich die Programmatik, er setzte zum Institutsleiter berufen andere Akzente. Horkheimer trug ein Konzept vor, das die Mitarbeit verschiedener Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachrichtungen an einem Projekt vorsah. Dieses Projekt selbst war an der Theorie Marx’ von Anfang an orientiert, insofern wirkte die Marxsche Theorie in zweiter Hinsicht konstituierend. Trotz einiger Revisionen blieb die Theorie Marx’ für die kritische Theorie brauchbar, wenn dies Programm auch nicht mehr so offen zu Tage trat, wie das noch 1937 der Fall gewesen war. So schrieb Adorno 1944 von einem „verleugneten Klassenverhältnis“7 an so unauffälliger Stelle, daß allzuleicht darüber hinweggelesen wird: in einem resignativen Aphorismus über Harmlosigkeit.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte sich die Ausrichtung des Instituts für Sozialforschung geändert. Die Theoretiker verabschiedeten sich von der „hergebrachten marxistischen Theorie“8, die den Eintritt des Sozialismus als Gesetz ansah. Die Frankfurter Theorie suchte Abstand zum Marxismus, der die Gültigkeit objektiver Gesetze proklamierte, sie war aber „ keine Revision der Marxschen Theorie, sondern ihre Anwendung auf sich selbst, ihre kritische Durcharbeitung mit ihren eigenen Mitteln, […] ihre Selbstreflexion“.9 Weil die Arbeiterbewegung den Nationalsozialismus nicht verhindert hatte, der positive Sozialismus in immer weitere Ferne rückte, revidierten die Frankfurter die Forschungsintention des Instituts hin zu einer Analyse des Faschismus mit Marxscher Theorie und der Selbstanwendung der Theorie von Marx auf sie selbst.

Das „Kriterium“ der kritischen Theorie

Dennoch hielt Horkheimer 1937 noch an der Prognose eines notwendigen Kollapes des Kapitalismus fest, und formulierte ein „Existentailurteil“ über die kapitalistische Gesellschaft. Das Existentialurteil „besagt grob formuliert, daß die Grundform der historisch gegebenen Warenwirtschaft, auf der die neuere Geschichte beruht, die inneren und äußeren Gegensätze der Epoche in sich schließt, in verschärfter Form stets aufs neue zeitigt und nach einer Periode des Aufstiegs, der Entfaltung menschlicher Kräfte, der Emanzipation des Individuums, nach einer ungeheuren Ausbreitung der menschlichen Macht über die Natur schließlich die weitere Entwicklung hemmt und die Menschheit einer neuen Barbarei zutreibt.“10 Hier findet sich noch die marxistische Geschichtsphilosophie mit ihrer dialektischen Perspektive auf die geschichtsimmanenten Widersprüche als eigentliche Hemmnisse einer evolutionären Entwicklung der Gesellschaft. Die Frankfurter sperrten sich jedoch dagegen, sich dem orthodoxen Marxismus einfach anzuschließen, und die Theoretiker um Horkheimer verabschiedeten sich schließlich auch von dieser Prognose über die kapitalistische Gesellschaft. Dennoch ist die kritische Theorie an die dialektisch-materialistische Philosophie angelehnt, wenn sie sie auch modifiziert und teilweise mehr der Hegelschen Philosophie entspricht, als der Marxschen.11 Ihr materialistischer Dialektikbegriff zeigt sich z.B. darin, daß sie die Dialektik nicht als Idee betont, die sich im „Allerrealsten“ bis zu ihrem ideellen Selbstbewußtsein vollendet, sondern sich ihr Dialektik als eine methodische Perspektive auf die Welt erschließt. Die Wirklichkeit wird so als veränderlich begriffen, und die Theorie möchte aufgrund dieser Perspektive die Veränderlichkeit nicht lose-chaotisch geschehen lassen, sondern philosophisch-theoretisch dahin gelangen, der gesellschaftlichen Entwicklung Orientierungspunkte, einen theoretischen Unterbau zu geben. Die kritische Theorie ist eine „utopische“, insofern sie sich nicht damit begnügt, den Status quo zu analysieren, sondern daran interessiert ist, Mißstände und unversöhnte Widersprüche zu beseitigen resp. aufzulösen, und die Protagonisten der kritischen Theorie das Bedürfnis artikulieren, innere d.h. gesellschaftliche Zerrissenheit zu versöhnen. Kritische Theorie ist die utopische Perspektive der Versöhnung und von daher die Perspektive der Vernunft.12

Versöhnt sind die Widersprüche im Motiv einer freien Gesellschaft. „Die Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation“ wird von Horkheimer als ein Ziel „menschlicher Aktivität“ bezeichnet.13 Herbert Marcuse nennt dies wiederkehrende Motiv der kritischen Theorie „die Sorge um den Menschen“14, um schließlich für die Philosophie allgemein zu formulieren: „Wenn die Philosophie therapeutisch würde, käme sie wirklich zu sich selbst.“15 Die Idee der kritischen Theorie ist progressiv auf eine klassenlose Gesellschaft ausgerichtet und steht damit in der sozialistischen Denktradition des 19. Jahrhunderts. Kritische Theorie ist emanzipatorisch.

Wenn Horkheimer von einem Existentialuteil spricht, das die kritische Theorie über die kapitalistische Gesellschaft fällt, und gleichzeitig der kritischen Theorie „Kriterien“ abspricht, so widerspricht er sich. Die kritische Theorie ist laut Horkheimer ein „einziges entfaltetes Existentialurteil“16 über die Gesellschaft und somit auch ein Kriterium der kritischen Theorie, in dem sich kritische Theorie wiedererkennt. Horkheimer begreift in seinem oben zitierten Aufsatz das Existentialurteil selbst noch als die Konstante der kritischen Theorie, die marxistische Weissagung des Kapitalismus als Selbsthemmnis ist Dreh- und Angelpunkt der kritischen Theorie. Außer dieser Verankerung verändert sich kritische Theorie ständig, muß sich verändern, weil sich ihr Gegenstand, die Gesellschaft, ständig verändert. Aber auch sie bleibt ihrem „Dreh- und Angelpunkt“ immer treu, den die kritische Theorie konstant negiert: der kapitalistischen Warenwirtschaft. Später erschloß sich die kritische Theorie (z.B. Friedrich Pollock), daß der Kapitalismus nicht notwendig in sich zusammenbrechen muß. Damit wurde das Existentialurteil über die Gesellschaft obsolet.17 Wird jedoch vom Inhalt des Existentialurteils abstrahiert, kann wieder eine Konstante oder ein Kriterium der kritischen Theorie gewonnen werden. Ein Existentialurteil richtet sich gegen alles, über das es richtet, der Gegenstand wird in seiner Wesenheit negiert. Und daß kritische Theorie den Standpunkt kritischer Negativität gegenüber der kapitlastischen Wirtschaftsweise zu ihrem obersten Denkprinzip erhob18, bleibt einziges „Kriterium“ der kritischen Theorie, auch wenn das Existentialurteil verworfen werden mußte.

Negative Bestimmung

Aufgezogen wird der Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie in der Abgrenzung zur „traditionellen Theorie“. Mit diesem Begriff faßt Horkheimer die Theorietradition seit Descartes zusammen. Die Theorie nach dem Verständnis der traditionellen Theoretiker ist „eine systematische Verknüpfung von Sätzen in der Form einer systematisch einheitlichen Deduktion“19. Aus Tatsachen werden induktiv Sätze gebildet, Hypothesen aufgestellt, die logisch und widerspruchslos miteinander verknüpft, ein Satzsystem, eine Theorie bilden. Tendenz dieser Theorie, nach der sich z.B. die Naturwissenschaften aufbauen, ist es, die Zahl der Sätze zu minimieren, um die ganze Welt aus einigen wenigen Prämissen ableiten zu können. Das hat die Formalisierung des Gegebenen in mathematische Zeichen zur Folge. Damit ist Traditionelle Theorie der positivistische Versuch, mit methodischen Axiomen ein systemisches Netz aufzuspannen, in das sich die Wirklichkeit verfangen soll. Dabei bildet die Theorie die Welt als System ab, und liefert damit an Aussagen über das Wesenhafte der Welt nur ihr eigenes Konzept: das ist die „sich selbst reproduzierende Totalität“ einer Theorie, die für sich Kriterien angeben möchte. Die traditionelle Theorie ist aufgrund ihrer Kriterien gegenüber einer anderen Gesellschaft mit anderen Prämissen, mit anderen Bedürfnissen, als Natur zu beherrschen, nicht reaktionsfähig. Ab diesem Punkt wird das System der traditionellen Theorie totalitär. Die Veränderung der Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der der Gedanke an die Selbstbestimmung der Menschen bereits selbst Tradition geworden ist, erfordert eine andere Herangehensweise an sich selbst, als die der traditionellen Theorie, und dem nachzugeben ist die Kreation der kritischen Theorie. Die kritische Theorie läßt sich nicht mehr mit den Begriffen der traditionellen Theorie beschreiben, es sind keine „Kriterien“, nach denen sich die Frankfurter Schule der kritischen Theorie richtet, sondern grundlegend und leitend bleibt für die kritische Theorie, die Idee einer vernünftigen Gesellschaft und die Betroffenheit, in keiner vernünftigen Gesellschaft zu leben.20 Die lebendige wie die gesellschaftliche Welt sträuben sich nach Auffassung Horkheimers der mathematsierenden und formalisierenden Logik, lebendiges geht in der Zahl nicht auf, bleibt der Zahl äußerlich, die Zahl ist dem Leben diametral entgegengesetzt. Um dennoch Wahrheit über eine gesellschaftliche Wirklichkeit widerzugeben, die das Lebendige in sich aufhebt, entwirft Horkheimer die kritische Theorie, die ihrem Gegenstand angemessen philosophieren soll, und somit nicht in der descarteschen Tradition stehen kann. Die Vorgehensweise der Abgrenzung ist eine Methode der kritischen Theorie: Abgrenzung heißt hier negative Bestimmung.

Horkheimer negiert allgemeine Kriterien der kritischen Theorie, versucht im Sinne der traditionellen Theorie keine Bestimmung der kritischen Theorie. Horkheimer kritisiert nach ihrem Selbstverständnis die traditionelle Theorie und betreibt damit kritische Theorie ohne aber allein in einer kritischen Wendung zu verharren und wird damit positiv. Er bestimmt, wie Theorie nicht sein will durch kritische Theorie, die ihrer selbst angemessen bleibt. Das Angeben allgemeiner Kriterien aus der kritische Theorie abgeleitet werden kann, ist das Konzept der traditionellen Theorie, und das kritische der kritischen Theorie ist das selbstreflexive Moment, das totalisierende Kriterien verbietet. Böte kritische Theorie Kriterien, wäre sie traditionelle Theorie, und müßte einmal sich selbst nur noch reproduzieren, wie sich das Existentialurteil über die kapitalistische Gesellschaft im Marxismus nur noch selbst reproduziert.

Absolute Wahrheit

Horkheimer sieht die absolute Wahrheit als nicht bestimmbar an, wohl aber als vorhanden. Alle formulierten Wahrheiten sind relative Wahrheiten und eine Annäherung an die absolute Wahrheit ist nur über die negative Bestimmung möglich: „Die Idee der Wahrheit […] ist [bei Horkheimer] von der ,regulativen Idee’ der absoluten Wahrheit [geleitet], deren Verbindlichkeit sich, trotz der Einsicht in ihre letzte positive Unerfüllbarkeit, in der argumentativen Kraft bestimmter Negation erweist“21. Horkheimer charakterisiert die Unaussprechbarkeit: „Das Ziel, das [das kritische Denken] erreichen will, der vernünftige Zustand, gründet zwar in der Not der Gegenwart. Mit dieser Not ist jedoch das Bild ihrer Beseitigung nicht schon gegeben. Die Theorie, die es entwirft, arbeitet nicht im Dienst einer schon vorhandenen Realität; sie spricht nur ihr Geheimnis aus.“22 Dieser „vernünftige Zustand“ ist vielmehr eine positive Bestimmung, und in ihr drückt sich eine antizipierte Wahrheit aus. Horkheimer unterscheidet zwischen dem „hypothetischen Charakter“ der traditionellen Theorie und der „Gewißheit“ des kritischen Denkens23. Gewiß ist sich der Kritiker in der negativen Bestimmung, hierin zeigt sich die „argumentative Kraft der regulativen Idee der absoluten Wahrheit“. Horkheimer hält auch positiv nicht für wahr, ist sich aber gewiß: Die „Funktion des Denkens“ ist es beispielsweise, die Zwecke des Ganzen zu den eigenen zu machen und diese im Ganzen wiederzuerkennen: „Die Menschen gelangen im geschichtlichen Gang zur Erkenntnis ihres Tuns und begreifen damit den Widerspruch in ihrer Existenz.“24 An einer anderen Stelle begreift Horkheimer „die höchste Stufe des Glücks“ wie folgt: „Die Selbstanschauung der Vernunft, die für die alte Philosophie die höchste Stufe des Glücks bildete, ist im neueren Denken in den materialistischen Begriff der freien, sich selbst bestimmenden Gesellschaft umgeschlagen.“25 Als wie absolut werden diese Gewißheiten von Horkheimer begriffen? Horkheimer, der privat Anhänger der „geschichtsfeindlichen, pessimistischen und gütigen“26 Philosophie Schopenhauers war, die er als „objektiver Idealismus“27 der sinnstiftenden „Verklärung“28 Hegels entgegenstellt, Horkheimer, in dessen Arbeitszimmer ein Bild dieses Antipoden Hegels über dem Schreibtisch hing, leugnet die Bestimmbarkeit einer absoluten Wahrheit, und stellt „Gewißheiten“ auf, die den Schein tradierbarer Wahrheiten besitzen. Handelt es sich hier um einen durch und durch widerspruchsvollen Geist? Gewiß nicht. Der Widerspruch läßt sich dahingehend auflösen, daß selbst diese „tradierbaren Gewißheiten“ nur relative Wahrheiten eines nicht absoluten philosophischen Systems sind, aber der Wahrheit philosophisch näher als die „Hypothesen“ der traditionellen Theorie. „Höchste Stufe des Glücks“ ist also ein Relativismus, „Funktion des Denkens“ eine Annäherung an die absolute Wahrheit des wahreren einen philosophischen System gegenüber dem unwahreren anderen philosophischen System, das über formale Logik nur zu „Hypothesen“ gelangt. „Gewißheit“ ist die kritische Entgegnung zur „Hypothese“ des traditionellen Denkens, wobei die Gewißheit noch der empirischen Überprüfung entbehrt, wie sich alle politischen Überzeugungen nur in der Praxis bewahrheiten können.29

Nicht „was“, aber „wie“

Es kann nicht bezeichnet werden, was die kritische Theorie ist, nur wie sie ist und tatsächlich lassen sich alle Bestimmungen Horkheimers allein unter ein „Wie“ subsumieren. Subjekt des kritischen Denkens ist das Individuum in seinen wirklichen Beziehungen. Hier zeigt sich: Horkheimer sagt nicht, was dieses Subjekt ist, sondern wie dieses Subjekt ist, es ist in seinen wirklichen Beziehungen und über diesen Zugang stellt sich das „Was“ ein. Trotzdem müßte einfach gesagt werden, das Subjekt der kritische Theorie ist der Mensch, aber damit ist alles und nichts gesagt, weil verschiedene Menschen verschiedene Anschauungen darüber haben, was der Mensch ist, und die Bestimmung der kritischen Theorie, was ein Mensch ist, sich nicht positivistisch bestimmen läßt, sondern sich mimetisch liest. Die Mimesis der kritischen Theorie, was der Mensch ist, kann Horkheimer nicht explizieren, ohne dieser Mimesis Gewalt anzutun. So beschreibt er ihn durch das „Wie“: in seinen wirklichen Beziehungen mit anderen Individuen. Mit dem Problem der positiven Bestimmung wird eine Crux der traditionellen Theorie angesprochen: die, etwas habhaft werden zu wollen, was sich der Methodik selbst entzieht. Indem z.B. versucht wird, etwas wie den Menschen mit positivistischen Tatsächlichkeitsbegriffen „habhaft“ zu werden, nämlich zu bestimmen, wird ein Teil des Wesens des Menschen abgeschnitten und dieses Abgeschnittene ist für den Menschen wesentlich: Er wird reproduktiv als etwas erfaßt, das es zu beherrschen gilt, und nicht selbstreflexiv als etwas, das selbst nicht beherrschen will.

Materialistisch ist die kritische Theorie, insofern sie die großen philosophischen Themen wie Freiheit oder Glück nicht wie der Deutsche Idealismus in einem aller Welt entzogenen Individuum verwirklicht findet, sondern ihr Subjekt hat im „bestimmten Individuum in seinen wirklichen Beziehungen“, in den Beziehungen des Individuums mit der es umgebenden, materialen Welt. Die deutschen Idealisten entdeckten die Freiheit im abgeschlossenen Universum der sich selbst zugewandten Subjektivität, ohne sich mit den Hindernissen zu beschäftigen, die die materiale Welt dieser Freiheit entgegensetzte.30 Ansatz der materialistischen Theorie ist es, die Umstände, die einer Verwirklichung von Freiheit oder Glück entgegenstehen, zu erkennen, und auf die „wirkliche Welt“ einzuwirken, bis sich Zustände entwickelt haben, die der Freiheit des „bestimmten Individuums“ nicht mehr hinderlich sind. Und Werkzeug, um auf die Welt einzuwirken ist die Kritik, verstanden als die dialektische Art der Kritik der politischen Ökonomie.31

Materialismus und negative Dialektik

Ein Hinweis auf die dialektische Betrachtungsweise der kritischen Theorie ist die Formulierung: „im neueren Denken umgeschlagen“.32 Hier findet sich die Abgrenzung zur individualistischen, „alten“ Philosophie des Deutschen Idealismus („im neueren Denken“), und findet sich der im Hegelschen Sinne dialektische „Umschlag“, der positiv die Geschichte zum „Allerrealsten“ vorantreibt. Hier also die Abgrenzung zum Marx, der provozierte, ganz im Sinne der kritischen Theorie, indem er das Gegebene als das „wahre Wesen der Welt“33 proklamierte, dort die Aufnahme Marx’schen Denkens, der sich von der monadischen, individualistischen Denkweise des Deutschen Idealismus abwandte, und die Wahrheit in die materialistische Welt der Beziehungen verwirklichen wollte: die Methode der kritischen Theorie ist die der dialektischen negativen Bestimmung: negative Dialektik.

Der Begriff von Kritik

Kritik ist nur dann wirkungsvoll, wenn Kritik den Gegenstand berührt. Basiert die Kritik auf Vorstellungen, die keinen Eingang in das Kritisierte finden können, bleibt Kritik folgenlos. Gegenstand der kritischen Theorie ist die Gesellschaft oder genauer: sind die Momente der Gesellschaft, die kritisch veränderbar sind. Die kritische Theorie ist u.a. kritisch, „indem sie das, was gesellschaftlich ‘der Fall’ ist […] an dem mißt, was sie selbst zu sein beansprucht, um in diesem Widerspruch zugleich die Potentiale, die Möglichkeiten der Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuspüren“34. Z.B. ist die kritische Theorie auf diese Art kritisch in der Betrachtung der traditionellen Theorie. Anspruch der Wissenschaften ist es Wahrheit zu produzieren. Solange sich die traditionelle Theorie nicht ihrer Funktion in der Gesellschaft inne wird, sind ihre Ergebnisse jedoch unwahr. Wahr wird Theorie mit ihrer Verwirklichung, und sich der Bedeutung eines verwirklichten Forschungsergebnisses für das Ganze nicht bewußt zu sein, heißt, sich der Wahrheit für den Menschen oder das Ganze nicht bewußt zu sein. Nur im Bewußtsein, daß zwischen ihrem Selbstverständnis und der Wirklichkeit eine Lücke klafft, wird sich traditionelle Theorie in diesem Sinne der Kritik ändern. Die kritische Theorie hat ihren Gegenstand berührt, wird wirksam, wirklich. Damit ist eine Veränderung in Richtung der vernünftigen Zustände geschehen, die im Interesse der kritischen Theorie liegt, in Richtung jener vernünftigen Zustände, die positiv unbestimmt bleiben müssen, weil nicht gesagt werden kann, wie vernünftige gesellschaftliche Zustände letztgültig aussehen werden. Und in der Unangebbarkeit des unbedingt Richtigen liegt der Grund für die dialektische Methode der negativen Bestimmung.

Kritische Theorie mit Habermas

Allein ein Punkt ist der kritische Theorie immanent, es ist die Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung der gesellschaftlichen Zustände zu einem Besseren und in diesem Sinne ist auch die Tradition einer kritischen Theorie zu verstehen, in der die Frankfurter Schule steht. Insoweit ist auch Habermas kritische Theorie. Auch spiegelt sich in Habermas Theorie immer noch die „argumentative Kraft der negativ Bestimmung als ,regulative Idee’ absoluter Wahrheit“. Seine Theorie des kommunikativen Handelns ist die konsequente Ausarbeitung dieser regulativen Idee absoluter Wahrheit. Eine Wahrheit, die sich dadurch bestimmt, daß sie in einer zwanglosen Kraft des Arguments besteht ist gerade diese argumentative Kraft der bestimmten Negation. Auch in diesem Sinne steht Habermas in der Tradition der Frankfurter Schule. Allerdings hat er den Boden des Marxschen Dialektik verlassen, wenn er kritische Theorie kommunikationstheoretisch zu begründen versucht, und damit den sog. ‘linguistic turn’ zu bewältigen sucht. Linguistic turn meint den Umbruch von einer bewußtseins- zu einer sprachbasierten Philosophie. Die Theorie der Frankfurter Schule ist weder sprach- noch bewußtseinsbasiert, vielmehr handelt es sich hier im Blickwinkel der analytischen Philosophie: die letzte Determination des Menschen ist die Geschichte, wie Geschichte (nun unter dem Blick der Frankfurter Schule) Sprache dialektisch formt, Geschichte als Summe einzelner Handlungen, und daß Handeln Sprache transzendieren und neu begründen kann, Handeln eine Sprache ist, die von der Wortsprache nicht erreicht wird.35 Dennoch hat Habermas sich auch das Moment einer vernünftigen Gesellschaft bewahrt. Er geht hegeliansich von an sich vernünftigen Zuständen aus, die also für Vernunft offen stehen. Verändert werden die Zustände über eine kommunikative Vernunft: der argumentativen Kraft des besseren Arguments in einem ideel herrschaftsfreien Diskurs. Dahingehend wirkt Kommunikation weltverändernd im Sinne der kritischen Theorie. Die kommunikative Vernunft begnügt sich erst, wenn die Zustände vernünftig geworden sind.

Resumée

Die kritische Theorie ist ein Programm, dessen Programmatik sich nur schemenhaft angeben läßt. Jeglicher Versuch, die Programmatik inhaltlich zu füllen bleibt mit ihr unidentisch, ist nach traditionellen Kriterien zum Scheitern verurteilt. Dennoch: Die kritische Theorie wirkt wie ein Sturm der sich auf genau der anderen Seite abspielt, als die Seite der Assoziation, die sich mit dem Wort „Sturm“ in diesem Zusammenhang einstellt: die, an die faschistische Zeitschrift Der Stürmer.36 Es ist „ein progressives Gefühl“, das im Jüdisch-heiligen sich verortet. Die kritische Theorie ist insofern eine wissenschaftliche Heilslehre, die auf eine eigentümliche Weise sich der Dinge annimmt und wie eine unerwartete Bewegung, die Dinge nach ihren eigenen jedem zugänglichen, aber nicht einsichtigen Gründen bewegt. Die Zugänge habe ich in dieser Arbeit aufgezählt. Es sind Momente von Vernunft, Dialektik, Negativität. Hinter diesem Zugang gerät man in den sanften „Sturm“ der kritischen Theorie. Der Sturm ist sprach-los, nicht aber stimm-los, und insofern ist die kritische Theorie nicht begrifflich zu bestimmen. Die Zeit hat die Sprache verlernt zu sprechen, in der kritische Theorie vermittelt werden könnte. Und so muß sie sprachlos bleiben.

Literaturverzeichnis:

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia., Frankfurt am Main 1999. (Abkürzung im Text: MM)

Habermas, Jürgen et al.: Gespräche mit Herbert Marcuse., Frankfurt am Main 1978. (Gespräche)

Horkheimer, Max: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung., in: ders.: Sozialphilosophische Studien., Frankfurt am Main. (LdSph)

Horkheimer, Max: Nachtrag., in: ders. Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze., Frankfurt am Main 1992. (Nachtrag)

Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie., in: Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze., Frankfurt am Main 1992. (TKT)

Marcuse, Herbert: Philosophie und kritische Theorie., in: ders. Kultur und Gesellschaft I., Frankfurt am Main 1965. (PKT)

Müller-Dohm, Stefan: Die Soziologie Theodor W. Adornos. Eine Einführung., Frankfurt/ New York 1996.

Türcke, Christoph (Hrsg.): Perspektiven kritischer Theorie., Lüneburg 1988. (Perspektiven)

Türcke, Christoph/ Bolte, Gerhard: Einführung in die kritische Theorie., Darmstadt 1994. (Einführung)

Wiggershaus, Rolf: Die Frankfuter Schule., München 1997. (Wiggershaus)

[...]


1 TKT, S. 258. Abkürzungen: siehe S. 14 dieser Arbeit..

2 Bezieht sich diese Arbeit speziell auf die Theorie der Frankfurter Schule, dann spreche ich im bestimmten Artikel von der kritischen Theorie, bezieht sie sich auf kritische Theorie überhaupt, dann ohne Artikel.

3 Gespräche, S. 122.

4 Wiggershaus, S. 53.

5 DA, zitiert nach Gespräche, S. 56.

6 Gespräche, S.122.

7 MM, S.22.

8 Gespräche, S. 123.

9 Einführung, S. 14.

10 TKT, S. 244.

11 vgl. z.B. LdSph.

12 zum Begriff der Vernunft siehe: Gespärche, S. 32.

13 TKT, S. 229.

14 vgl. PKT, S. 110.

15 DEM, S. 213.

16 TKT, S. 244.

17 Vgl. Gespräche, S.17 und TKT, S. 255f.

18 vgl. Gespräche, S.121

19 Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik, Halle 1929, S. 89; zitiert nach TKT, S. 207.

20 Nicht eigentlich die Idee einer freien Gesellschaft ist für die kritische Theorie leitend, für die kritische Theorie ist die Wahrheit leitend. Die Idee einer freien Gesellschaft ist für Horkheimer aber wahr und kann in einem traditionellen Kontext als leitend bezeichnet werden.

21 TKT, S. 293.

22 TKT, S. 233f.

23 Vgl. TKT, S. 222.

24 TKT, S. 229.

25 Nachtrag, S. 265.

26 LdSph, S.37.

27 LdSph, S. 37.

28 LdSph, S. 36.

29 vgl. TKT, S. 238.

30 vgl. PKT, S. 109.

31 vgl. Perspektiven, S. 223.

32 siehe weiter oben, S. 8.

33 vgl. Perspektiven, S.293.

34 Theodor W. Adorno: Einleitung in die Soziologie. Zitiert nach: Stefan Müller-Dohm: Die Soziologie Theodor W. Adornos. Eine Einführung., Frankfurt/ New York 1996, S.16.

35 vgl. Gadamer

36 vgl. DA, S. 157: „Die wogenden Ährenfelder am Ende von Chaplins Hitlerfilm desavouieren die faschistische Freiheitsrede. Sie gleichen der blonden Haarsträhne des deutschen Mädels, dessen Lagerleben im Sommerwind von der Ufa photographiert wird.“

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Was ist kritische Theorie?
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
14
Katalognummer
V111168
ISBN (eBook)
9783640092574
ISBN (Buch)
9783640139699
Dateigröße
470 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Theorie
Arbeit zitieren
Mirko Bialas (Autor:in), 2001, Was ist kritische Theorie?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111168

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