Der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa vollzogene Übergang vom Feudalismus zur kapitalistisch geprägten Wirtschaftsordnung hatte weitreichende sozioökonomische Implikationen, die in besonderem Maße die Arbeitsmärkte und damit auch die Arbeitnehmer betrafen. Diese sahen sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal in größerem Umfang dem Phänomen der Erwerbslosigkeit ausgesetzt, die aber nur einen Vorgeschmack auf die im frühen 20. Jahrhundert grassierende Massenarbeitslosigkeit darstellen sollte. Um dieser Problematik Herr zu werden und die Auswirkungen auf das einzelne Individuum möglichst sozialverträglich zu gestalten, mussten sich die politischen Entscheidungsträger erstmals mit der Frage nach adäquaten Konzepten zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit sowie zur Gewährung von Lohnersatzleistungen auseinandersetzen, da die bis dahin in einigen Ländern Europas vertretene Auffassung, dass Arbeitslosigkeit einzig und allein in individuellem Fehlverhalten begründet liege, vor dem Hintergrund des Ausmaßes der Erwerbslosigkeit nicht mehr aufrechterhalten werden konnte.
Ziel dieser Seminararbeit ist es, zunächst einen Überblick über die Entwicklung der Arbeitsmärkte in Deutschland und Österreich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg zu geben, wobei neben dem Ausmaß der Arbeitslosigkeit auch die getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Erscheinung sowie zur sozialen Absicherung der Erwerbslosen diskutiert werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Situation
2.2. Vom Ersten Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise: Die Jahre 1914 bis 1929
2.3. Von den Auswüchsen der Weltwirtschaftskrise zum Zweiten Weltkrieg: Die Jahre 1930 bis 1939
3. Die Entwicklung der Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit
3.1. Deutschland
3.2. Österreich
4. Die Entwicklung der Lohnersatzleistungen für Erwerbslose
4.1. Deutschland
4.1.1. Armenpflege
4.1.2. Die Arbeitslosenunterstützungen der Gewerkschaften und Arbeitgeber
4.1.3. Die Grundsatzdebatte über die zukünftige Form der öffentlichen Arbeitslosenfürsorge
4.1.4. Von der Kriegswohlfahrtspflege zur obligatorischen Arbeitslosenversicherung
4.2. Österreich
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa vollzogene Übergang vom Feudalismus zur kapitalistisch geprägten Wirtschaftsordnung hatte weitreichende sozioökonomische Implikationen, die in besonderem Maße die Arbeitsmärkte und damit auch die Arbeitnehmer betrafen. Diese sahen sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal in größerem Umfang dem Phänomen der Erwerbslosigkeit ausgesetzt, die aber nur einen Vorgeschmack auf die im frühen 20. Jahrhundert grassierende Massenarbeitslosigkeit darstellen sollte. Um dieser Problematik Herr zu werden und die Auswirkungen auf das einzelne Individuum möglichst sozialverträglich zu gestalten, mussten sich die politischen Entscheidungsträger erstmals mit der Frage nach adäquaten Konzepten zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit sowie zur Gewährung von Lohnersatzleistungen auseinandersetzen, da die bis dahin in einigen Ländern Europas vertretene Auffassung, dass Arbeitslosigkeit einzig und allein in individuellem Fehlverhalten begründet liege, vor dem Hintergrund des Ausmaßes der Erwerbslosigkeit nicht mehr aufrechterhalten werden konnte.
Ziel dieser Seminararbeit ist es, zunächst einen Überblick über die Entwicklung der Arbeitsmärkte in Deutschland und Österreich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg zu geben, wobei neben dem Ausmaß der Arbeitslosigkeit auch die getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Erscheinung sowie zur sozialen Absicherung der Erwerbslosen diskutiert werden.
2. Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Situation
2.1. Vom Feudalismus zum Kapitalismus: Die Entwicklung bis 1914
Mit der Einführung der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1871 und der damit einhergegangenen Abschaffung des Zunftzwangs stand es erstmals allen Reichsbürgern in Deutschland offen, die Produktion eines jeden Gutes in jeder beliebigen Menge aufzunehmen (vgl. Niess 1979, 23).
Die Etablierung der kapitalistischen Produktionsweise förderte jedoch auch die ihr innewohnenden Nachteile zutage, wobei die Entstehung von Erwerbslosigkeit in größerem Umfang zu den auffälligsten Erscheinungen gehörte. War die erste Phase der Industrialisierung noch von einem Wechselspiel zwischen kurzfristiger Arbeitslosigkeit und Arbeitskräfteknappheit gekennzeichnet, manifestierte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend ein Arbeitskräfteüberhang, der mit einer Arbeitslosenquote von 6,3 Prozent im Jahre 1892 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde nicht nur dieser Wert übertroffen – 1901 waren durchschnittlich 6,7 von 100 Arbeitern erwerbslos –, sondern auch eine neue Ära eingeläutet; denn von nun an waren in Deutschland stets mehr als ein Prozent der abhängig Beschäftigten ohne Arbeit. In den darauffolgenden Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges pendelte sich die Arbeitslosenquote bei gut zwei Prozent ein, mit einem Minimum von 1,2 Prozent im Jahr 1906 und einem maximalen Wert von 2,9 Prozent in den Jahren 1908 und 1913 (vgl. Niess 1979, 29, 31-32).
Die hauptursächlichen Antriebskräfte dieser Entwicklung resultierten unmittelbar aus der seit 1871 bestehenden Gewerbefreiheit. Zum einen kam es in Folge des Übergangs zur kapitalistischen Produktionsordnung zu Rationalisierungsmaßnahmen, welche die Arbeitsproduktivität schneller als das Produktionsvolumen ansteigen ließen und damit zur Freisetzung von Arbeitskräften führten (vgl. Niess 1979, 29-32). Zum anderen bedingte die Tendenz zur Monopolbildung Einschränkungen der Produktion, um einen höheren Anteil des Gewinns über den Preis zu erzielen, was sich jedoch nachteilig auf den Beschäftigungsstand auswirkte (vgl. Niess 1979, 22).
Trotz dieser für damalige Verhältnisse durchaus weiten Verbreitung der Erwerbslosigkeit muss konstatiert werden, dass ein derart niedriges Niveau nach dem ersten Weltkrieg nicht mehr erreicht wurde.
Diese Feststellung behält auch bei der Betrachtung der Habsburgermonarchie ihre Gültigkeit, deren Erwerbslosenquote sich zwischen 1900 und 1913 in einer Bandbreite von 3 bis 5,6 Prozent bewegte (vgl. Butschek 1992, 46).
2.2. Vom Ersten Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise: Die Jahre 1914 bis 1929
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte in Deutschland eine Verschärfung der Situation auf dem Arbeitsmarkt zur Folge. Waren 1913 durchschnittlich nur knapp drei Prozent der Arbeitnehmer ohne Beschäftigung, erhöhte sich dieser Wert im Durchschnitt des Jahres 1914 auf 7,2 Prozent. Diese Entwicklung ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen: So bedingte der so genannte „Kriegsstoß“, also die plötzliche Abnahme der Nachfrage nach Gütern zivilen Nutzens bei einer nicht in gleichem Umfang zunehmenden Nachfrage nach Rüstungsgütern, einen Kapazitätsüberschuss im produzierenden Gewerbe, dem mit der Freisetzung von Arbeitskräften begegnet wurde. Des Weiteren litten viele Betriebe wegen des bestenfalls nur eingeschränkt zur Verfügung stehenden zivilen Transportsystems unter Rohstoffmangel und waren daher zur Drosseldung der Produktion gezwungen. Schließlich darf die Tatsache, dass sich die Einberufung vieler für die Produktion wichtiger Facharbeiter nachteilig auf das Produktionsvolumen ausgewirkt hat, nicht unterschätzt werden. Jedoch bewirkte die im Verlauf des Krieges eingetretene Umstellung der Produktion auf militärisch relevante Güter einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosenquote, die 1917 nur noch ein Prozent betrug.
Mit dem Ende des Krieges änderte sich das Bild hingegen schlagartig: Betrug die Arbeitslosenrate im Durchschnitt des Jahres 1918 noch vergleichsweise moderate 1,2 Prozent, waren im letzten Quartal desselben Jahres bereits 5,2 Prozent der Erwerbsbevölkerung ohne Arbeit. In den darauf folgenden Jahren entspannte sich die beschäftigungspolitische Situation wieder etwas und erreichte 1922 mit einer Arbeitslosenquote von nur 1,5 Prozent ihr vorläufiges Minimum. Verantwortlich für diese Entwicklung zeichnete sich unter anderem die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzende Inflationskonjunktur, die in der sich nach Kriegsende entwickelnden Hyperinflation (1923: 105,8 Millionen Prozent) und den damit verbundenen Reallohnsenkungen begründet liegt. Zwar gelang mit Hilfe der 1923 initiierten Stabilisierungspolitik die Überwindung dieses Teufelskreislaufs, doch war dies nicht ohne erhebliche Anpassungsmaßnahmen in der deutschen Wirtschaft möglich, in deren Folge die Arbeitslosenquote mit 13,5 Prozent im Jahre 1924 schwindelerregende Höhen erreichte und auch in den Folgejahren immer wieder zweistellige Werte annahm (vgl. Niess 1979, 33-35).
Neben diesen Anpassungsmaßnahmen trug auch der Umstand, dass die deutschen Unternehmen die Produktion nach US-amerikanischem Vorbild zu umstrukturieren begannen, um gegenüber der technisch überlegenen Konkurrenz aus dem Ausland nicht ins Hintertreffen zu geraten, zu der unbefriedigenden Arbeitsmarktentwicklung bei. Die dafür notwendigen Rationalisierungsmaßnahmen, die fast ausschließlich mit ausländischem Kapital finanziert wurden, bedingten zudem einen massiven Konzentrationsprozess, dem viele kleine und mittlere Unternehmen zum Opfer fielen und damit der skizzierten Arbeitsmarktentwicklung weiter Vorschub leisteten (vgl. Niess 1979, 36).
Die Entwicklung auf dem österreichischen Arbeitsmarkt in den Jahren 1914 bis 1929 weist durchaus einige Parallelen zu jener in Deutschland auf. Auch das Habsburgerreich sah sich durch die einsetzenden Kriegshandlungen einem Kriegsstoß ausgesetzt, der kurzfristig eine Erhöhung der strukturellen Arbeitslosigkeit nach sich zog. Die im Jahre 1915 einsetzende Kriegskonjunktur glich in ihrem Verlauf und in ihren Auswirkungen ebenfalls der nahezu zeitgleich ablaufenden, durch eine Ausweitung der militärischen Produktion ausgelösten wirtschaftlichen Erholung im Deutschen Reich. So betrug die österreichische Arbeitslosenquote 1916 nur noch 2,3 Prozent, verglichen mit 3,1 Prozent 1913 (vgl. Butschek 1992, 472). Die Tatsache, dass die Rüstungsaufwendungen seitens des Habsburgerreichs überwiegend mit Hilfe der Notenbank, also über die Ausweitung der Geldmenge, finanziert wurden, wirkte sich negativ auf das Preisniveau aus. Zwar bedienten sich auch die übrigen Kriegsparteien dieses Mittels, aber in weit geringerem Umfang als dies auf österreichischer Seite der Fall war (vgl. Butschek 1992, 69-70). Der Anstieg der Verbraucherpreise um das 15-fache während des Krieges nahm sich jedoch im Vergleich zu der 1921 eingetretenen Hyperinflation moderat aus. Allein im August 1922 stiegen diese gegenüber dem Vormonat um 124 Prozent (vgl. Butschek 1992, 69). Diese Entwicklung fand mit der Gewährung einer internationalen Anleihe im Jahre 1922 im Rahmen der so genannten „Genfer Sanierung“ und der Umsetzung der daran geknüpften haushaltspolitischen Restriktionen ein Ende (vgl. Butschek 1992, 69-70).
Obgleich sich Österreich nach 1918 zahlreichen Problemen ausgesetzt sah, bewirkte die anziehende konjunkturelle Entwicklung der Nachkriegsjahre – 1921 (1922) stieg das reale BNP, wenn auch von einem sehr niedrigen Niveau aus, um 10,7 Prozent (9 Prozent) (vgl. Butschek 1992, 68) und expandierte jährlich, abgesehen von einer kurzen Stabilisierungskrise im Jahre 1923 bis 1929, mit einer realen Rate von 4,8 Prozent (vgl. Butschek 1992, 72) - , dass sich auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt kurzzeitig entspannte.
Hatte die Arbeitslosenquote im ersten Nachkriegsjahr (1919) mit 8,3 Prozent (vgl. Butschek 1992, 472) einen neuen Höchststand markiert, sank dieser Wert bis auf 1,1 Prozent im Jahre 1921 (vgl. Butschek 1992, 472) und damit auf das zyklische Minimum ab. Trotzdem muss konstatiert werden, dass, obschon sich die wirtschaftliche Entwicklung in Österreich relativ günstig ausnahm, die arbeitsmarktpolitische Belebung, mehr noch als in Deutschland, größtenteils ausblieb.
Neben diesen Problemen, die sowohl Deutschland und Österreich als auch eine Reihe anderer europäischer Staaten betrafen, musste sich Österreich zudem mit einigen spezifischen Angelegenheiten auseinandersetzen. So hätte beispielsweise das Auseinanderbrechen des Habsburgerreichs an sich keine Schwierigkeiten bereitet. Jedoch errichteten die Nachfolgestaaten hohe Zollmauern, um den Aufbau eigener Industrien zu fördern. Die im österreichischen Kerngebiet verbliebenen Industrien – vor allem die Eisen- und Metallindustrie – waren auf die Versorgung eines Marktes von 50 Millionen Menschen ausgerichtet und fanden sich plötzlich in einer Situation wieder, in der der Heimatmarkt nur noch 6,5 Millionen Menschen umfasste. Da auch der Export in westeuropäische Länder wegen des Erstarkens des Autarkiegedankens keine Alternative darstellte, versuchten die österreichischen Unternehmen, sich durch Rationalisierungsmaßnahmen der neuen Situation anzupassen. Der Anstieg der Produktion pro Beschäftigtem in der Stahlindustrie von 115 Prozent in den Jahren 1922 bis 1929 ist ein eindrucksvoller Beleg dieser Entwicklung (vgl. Stiefel 1979, 18-19).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich sowohl in Deutschland als auch in Österreich die Zahl der Arbeitslosen nach dem Ersten Weltkrieg bis 1929 drastisch erhöhte, wobei Österreich über den gesamten Zeitraum tendenziell höhere Arbeitslosenraten aufwies (vgl. Stiefel 1979, 20; Butschek 1992, 472; Niess 1979, 235-236). Damit hatte sich die Hoffnung, nach dem Krieg möglichst schnell zu den relativ geordneten Verhältnissen der Vorkriegszeit zurückkehren zu können, nicht erfüllt (vgl. Stiefel 1979, 14).
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- Arbeit zitieren
- Matthias Reith (Autor:in), 2007, Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt I: Von der Vollbeschäftigung zur Weltwirtschaftskrise, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111207