Inhaltverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Genese des Zionismus
3 Die Leninistische Periode
4 Lebensverhältnisse der russischen Juden bis 1917
5 Kommunismus vs. Zionismus
6 Exkurs: Stalinistischer Antizionismus
7 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Der Drang nach Erez Israel (das Land Israel) zurückzukehren herrscht in der jüdischen Gemeinde schon seit mehr als 2500 Jahren vor. Seitdem der Tempel in Jerusalem 586 v. u. Z. zerstört und das jüdische Volk aus Israel ins babylonische Exil gezwungen wurde, ist der Wunsch nach einer Rückkehr ins heilige Land, welches seit der römischen Zeit Palästina heißt, in der Geschichte des jüdischen Volkes allgegenwärtig. Nachdem die Römer 70 n. u. Z. den Tempel wiederum zerstörten und die Juden in der Folgezeit ihr Heil in der Diaspora suchten, wandelte sich die Rückkehr nach Palästina zum utopischen Wunschtraum, jedoch blieb das heilige Land für die meisten Juden einer der wichtigsten Orientierungspunkte ihrer jüdischen Identität in der Fremde. Innerhalb der nahezu zwei Jahrtausenden währenden Zeit in der Diaspora, bildeten sich sodann verschiedene politische wie auch religiöse Bewegungen, innerhalb des jüdischen Volkes, heraus, jedoch hat keine nationale Bewegung die Geschichte des jüdischen Volkes so nachhaltig verändert, wie die des Zionismus. Theodor Herzl schrieb am 3. September 1897 in sein Tagebuch, dass mit dem absolvierten und gleichzeitig ersten Zionistenkongress in Basel der Judenstaat gegründet wurde. Was zu diesem Zeitpunkt noch absurd schien sollte sich schließlich im Mai 1948 verwirklichen, als David Ben Gurion die Unabhängigkeitsurkunde verlas. Wobei der in Basel eingeschlagene zionistische Weg hierfür eine außerordentliche Rolle spielte.
In meinen Untersuchungen zum Zionismus werde ich mich in den folgenden Ausführungen dem Thema des Gegensatzes zwischen dem Zionismus und dem russischen Kommunismus der Oktoberrevolution 1917 widmen. Dabei erarbeite ich als ersten Punkt ein allgemein gehaltenes ideologisch fundiertes Bild beider Strömungen. Anschließend skizziere ich die politischen wie sozialen Vorbedingungen der russischen Juden vor 1917, um ein klares Bild für die Ursachen einer aufkeimenden nationalen Bewegung zu zeichnen, um schließlich im letzten Teil meiner Arbeit, auf der einen Seite die Gründe für eine Emigrationsbewegung nach Palästina, seitens der russischen Juden, darzustellen und auf der anderen Seite die sowohl in der ideologischen Struktur, sowie in der revolutionären Realität verhafteten Kontroverse zwischen dem Zionismus und dem leninistischen Kommunismus herauszuarbeiten.
2 Die Genese des Zionismus
Wie die meisten modernen Nationalismen hat auch der Zionismus ein Entstehungsmythos. Derselbe hat meist die Aufgabe die Einzigartigkeit der nationalen Bewegung herauszustellen und gleichzeitig den Bogen zu spannen zu einer neu geborenen Wirklichkeit, welche sich auf undenkliche Vorzeiten zurück bezieht. Im Bezug auf den Zionismus lägen seine Ursprünge im jahrhundertealten Sehnen nach Zion und die Rabinnen der biblischen Zeit wären seine Pioniere gewesen. Dies klingt etwas paradox, da die zionistische Bewegung in ihrer geschichtlichen Laufbahn von den orthodoxen Rabinnen hartnäckig abgewehrt und nicht anerkannt wurde.[1] Vom Mythos zu historischen Fakten gelangen wir bei der Betrachtung der Vorgeschichte des jüdischen Nationalismus in der Diaspora und ihrer Bedeutung für das 19. und 20. Jahrhundert. Die zahlreichen Projekte für die Errichtung eines Judenstaates entsprangen seit dem Mittelalter nicht etwa einer religiösen Strömung, sondern einzelner Personen. Die messianische Bewegung um den falschen Messias Jakob Frank, welcher glaubte man könnte die Erlösung erzwingen oder der Glaube an Sabatai Zwi, welcher predigte man sollte das Böse auf der Welt durch Infiltration überwinden, strahlten nicht nur auf die jüdische Haskala und den Weg zur Assimilation aus, sondern auch auf das Nationaljudentum und den Zionismus. Der vorherrschende Wille die Heilsentwicklung zu beschleunigen, verstärkte sich im 19. Jahrhundert noch. Die sozialen und politischen Umwälzungen während der Industrialisierung veränderten die Haltung der Juden, sowie auch die Haltung der nichtjüdischen Umwelt. Die Gleichstellung der Juden wurde vorwiegend mit der Forderung nach Aufgabe ihrer jüdischen Eigenständigkeit und Kultur verknüpft. Wenn auch nicht evident, aber klar nachvollziehbar, entstand aus diesem Umstand heraus ein Prozess unterschiedlicher Judenstaatsprojekte. Diejenigen, welche die Juden als nicht integrierbar ansahen, wollten sie in einem eigenständigen Staat zusammenfassen. Wobei andere Strömungen eher messianischer Natur waren. Wenn es gelänge die Juden wieder in ihrem angestammten Staat anzusiedeln, werde endlich die Erlösung der Welt eintreten.
Auch auf jüdischer Seite überwog nun vermehrt die Einsicht man könne die Not der Juden nicht mit rein philanthropischen Mitteln lösen. So proklamierte Mordechai Immanuel Noah zu verschiedenen Zeitpunkten zwischen 1818 und 1844 einen unabhängigen und freien Judenstaat in den USA. Auch der deutsche Kaufmann Bernhard Berend hatte 1832 die Vereinigten Staaten von Amerika im Sinn, als er den Bankier Amschel Mayer Rotschild dazu bewegen wollte Grundbesitz in Amerika zu kaufen, auf welchem der Staat der Juden entstehen hätte können. In seiner 1862 erschienenen Schrift „Rom und Jerusalem“ brachte Moses Hess zum Ausdruck, dass der einzige Weg aus der Not die nationale Rückbesinnung und die Bildung eines Judenstaates sei.[2] Der wohl bekannteste und gleichzeitig auch offizielle Begründer des Zionismus ist jedoch Theodor Herzl. Mit seiner Schrift „Der Judenstaat, Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“ begann eine neue Epoche des Zionismus. Herzl schlug vor die Judenfrage, durch eine Konzentration eines möglichst großen Teils der jüdischen Bevölkerung in einem Staat, zu lösen. Obwohl schon vor Herzl gleiche Parolen und Ideen vorgetragen wurden, stilisierten sich seine Schrift, sowie er sich selbst zur Avantgarde der zionistischen Bewegung. Er fand schnell Anhänger, vor allem durch die nationaljüdische Studentenbewegung in Wien, sowie die Chowewe Zion. Mit der Einberufung des ersten Zionistenkongresses und eines Zentralorgans in Form des Wochenblattes „Die Welt“ in Wien, entstand eine Eigendynamik. 1897 wurde in Basel Herzl zum Vorsitzenden des Kongresses gewählt und gleichzeitig mit dem offiziellen Programm der Grundstein für die zionistische Zukunft gelegt. Mit dem Leitsatz, „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“, war somit auch das angestrebte Ziel klar festgelegt.[3] Obwohl 1902 eine kleine Kursänderung Herzls, im Bezug auf die Frage der Heimstätte den Kongress spaltete,[4] setzten sich die anfangs formulierten Anschauungen durch und die folgenden diplomatischen Bemühungen, sowie die regelmäßig abgehaltenen Kongresse, dienten weiter dem vorgesetzten Ziel.[5]
3 Die Leninistische Periode
Die postmarxistische Epoche war ist in Russland klar durch einen Mann und seine Ideologie geprägt worden, durch W. I. Lenin. Mit seiner ersten wichtigen Schrift „Was tun“ leitet Lenin 1902 einen Prozess des Umsturzes im russischen Zarenreich ein, welcher mit der Oktoberrevolution 1917 seinen Höhepunkt erreicht.[6] Im September 1917 kam Lenin zu dem endgültigen Schluss, dass die bolschewistische Partei durch den Aufstand zur Macht kommen müsse. Nachdem am 23. Oktober die Parteileitung annähernd einstimmig Lenins Gedanken in eine Resolution verpackte, wurde am 7. November des gregorianischen Kalenders die Übergangsregierung Kerenski, durch einen unblutigen Aufstand der Bolschewiki, gestürzt.[7] Die Machtübernahme des bolschewistischen Flügels der Sozialdemokraten Russlands, stand unter dem ideologischen Einfluss von Lenins Schrift „Staat und Revolution“. Das schon im September 1917 verfasste Werk beinhaltete Lenins Darlegung der vermeintlichen Auffassung Marx und Engels über das Ende des bürgerlichen Staates und die Machtübernahme des Proletariats. Lenin sah in den Gedanken seiner Vordenker einen geschichtlichen Auftrag, welcher die Zerschlagung des bürgerlichen Machtapparates vorsah, um gleichzeitig einen Neuaufbau der Verwaltung und Armee durch das Proletariat umzusetzen. Der neu gebildete Sowjetstaat nach Lenin, hatte jedoch nichts mehr mit der Pariser Kommune gleich, welche Marx und Engels als Vorbild diente. Marx hatte immer das Ziel vor Augen eine stetig wachsende demokratische Gleichheit herbeizuführen, wobei dieses Ziel bei Lenin keinen Platz mehr fand. Durch die Erfahrungen der Revolutionen von 1905 und der Februarrevolution 1917, steuerte Lenin nicht auf eine Diktatur des Proletariats, sondern, wie sich später herausstellte, auf eine Diktatur der Partei zu. Er fordert nach der Enteignung der Kapitalisten müssen alle Bürger zu Arbeitern und Angestellten eines großen Syndikats, nämlich des Staates, werden. Die gesamte Arbeit muss dem wahrhaft demokratischen Staat, dem Staat der Arbeiter- und Soldatendeputierten untergeordnet werden. Auch wenn diese Formulierung das Wort demokratisch enthält kann die Forderung nach einer Diktatur der Partei in Lenins Worten nicht überhört werden.
Wichtige Grundsatzfragen wurden von ihm dementsprechend eindeutig beantwortet. Sollte die Partei die Kulturautonomie der Nationalitäten anerkennen oder sollten die Belange dem Klasseninteresse untergeordnet werden? Diese Frage führte ihn auch zur Frage, wie denn der Staatsaufbau gestaltet werden sollte? Sollte es eine Konföderation souveräner Staaten geben und sollten sie das Recht haben aus dem Bund auszutreten? Seine Antworten hierzu waren negativ gegenüber jeder Forderung nach Autonomie.[8]
4 Lebensverhältnisse der russischen Juden bis 1917
Als es Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, aufgrund einer Agrarkrise, zu einer Landflucht seitens der Juden kam veränderte sich die Lage innerhalb der jüdischen Gemeinde drastisch. Es kam zu einem harten Konkurrenzkampf zwischen alteingesessenen und zugezogenen Juden, um die wenigen Erwerbsstellen in Handwerk und Handel. Die Masse der Juden verelendete zusehends. Es entstand eine Polarisierung zwischen Großunternehmer und den so genannten „Luftmenschen“, welche sich meist als Tagelöhner verdienten. Der wachsende jüdische Bevölkerungsanteils bewirkte das Aufstreben neuer antijüdischer Ressentiments, welche sich in Boykottbewegungen oder in einem Verdrängungswettbewerb bei den Großunternehmern äußerten. Diese Dynamik erreichte ihren Höhepunkt als die Schuld an der Ermordung des Zaren Alexander II. 1881, den Juden zugeschoben wurde.[9] Es kam zu blutigen Pogromen, welche in der Folgezeit teilweise sogar seitens der Zarenherrschaft unterstützt und gefördert wurde. Die Verschlechterung der Lage des Judentums in Russland und die erlassenen Sondergesetze führten zu einer weiteren Proletarisierung der jüdischen Massen.[10] Im zaristischen Russland lebte nun zur Wende zum 20. Jahrhundert etwa die Hälfte der jüdischen Weltbevölkerung, was einer Zahl von 5,2 Millionen Juden entsprach. 94 % hiervon lebten im so genannten Ansiedlungsrayon, wo sie sich nach den rechtlichen Verschärfungen überhaupt nur niederlassen durften. Die angesetzten Siedlungs- und Berufsbeschränkungen, die rechtliche Diskriminierung, wachsender Antisemitismus und die relative Trennung der Lebenssphären von Juden und Nichtjuden förderten die Fokussierung auf die jüdische Tradition und verstärkte das nationale Bewusstsein[11], sowie die rasche Verbreitung radikaler politischer Ideen innerhalb der jüdischen Gemeinde. Hierbei sind zwei Richtungen zu nennen, welche sich vor allem in der Einschätzung des Antisemitismus unterscheiden. Eine dieser Strömungen hielt den Antisemitismus für unausrottbar und wollte das Problem durch einen Auszug aus den betroffenen Gebieten lösen. Diese Bewegung, unter dem Wortführer Leo Pinsker, war bereits ein Vorläufer des politischen Zionismus.[12] Den gesellschaftlichen, sowie konstitutionellen Antisemitismus bekämpfte eindeutig und prinzipiell, wie keine andere revolutionäre Gruppe, die SDAPR. Sie verurteilten auf ihren 2. Parteitag 1903 die vom Zarenreich geschürte Pogromstimmung und fanden unter anderem beim Bund Unterstützung. Lenin, welcher ein Mitbegründer der SDAPR war, betonte immer wieder seiner Ablehnung gegenüber der Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung. „Die jüdischen Arbeiter leiden nicht nur unter dem allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Joch, das sie als eine rechtlose Nationalität niederdrückt, sondern außerdem unter einem Joch, welches sie der elementarsten Bürgerrechte beraubt.“ Allerdings versicherte Lenin, dass der Antisemitismus nach der erfolgreichen Revolution keine Zukunft mehr in Russland habe.[13] Aufgrund des wachsenden nationalistischen Gedankenguts und der einhergehenden Bewegungen sah Lenin die Notwendigkeit sich selbst zur Nationalitätenfrage zu äußern. Hierzu entwickelte er sein „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, welches bereits in §9 des ersten Programms der SDAPR niedergeschrieben wurde. Mit diesem Paragraphen wurde das „Recht auf nationale Selbstbestimmung“ in Form der „völligen Freiheit der Agitation für die Abtrennung und die Lösung der Frage über die Abtrennung durch Referendum der betreffenden, d. h. der unterdrückten Nation“, versprochen. Folgt man jedoch seinen folgenden Ausführungen, wird evident, wie nutzlos und leer dieser Rechtsanspruch tatsächlich ist. Dieser Paragraph gewährt nur die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung, jedoch muss die Parteiführung die Forderung nicht zwangsläufig unterstützen. Außerdem stellt er im gleichen Atemzug das Interesse des Sozialismus höher als das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Wenn man nun Lenins eigentlichen Gedankengang, nämlich die sozialistische Weltrevolution, als einziges und unersetzbares Ziel fixiert, wird schnell klar, dass im Falle einer Entscheidung die Forcierung des Sozialismus im Vordergrund gestanden hätte.[14]
5 Kommunismus vs. Zionismus
1913 schließlich erschien, auf Lenins Anregung hin, Stalins Abhandlung „Die nationale Frage und die Sozialdemokratie“. Mit dieser Schrift sollte die Haltung der SDAPR zur Nationalitätenfrage greifbar gemacht werden. Stalin liefert eine Nationendefinition, welche den Gegensatz zwischen Zionismus und Kommunismus klar zu Tage fördert.[15] „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.“[16] Schnell wird ersichtlich, dass diese Definition nicht recht zur Situation der Juden in der Diaspora passen will. Wenn man den Ausführungen Stalin folgt liegt der Verdacht nahe, diese Abhandlung könnte genau diesem Zweck gedient haben. Stalin führt nämlich als erste Gruppe, welche nicht in das Raster fällt, die Juden an.[17] „Was für eine jüdische Nation ist das beispielsweise, […] deren Mitglieder einander nicht verstehen […], in verschiedenen Teilen des Erdballs leben, einander niemals sehen werden, niemals, weder im Frieden noch im Krieg, gemeinsam vorgehen werden.“[18] Sie seien somit keine wirkliche Nation.[19] Als schließlich Lenin die Macht in Russland erlangte, wurde der Konflikt der beiden Strömungen akut. Was führte nun während der revolutionären Realität zu der Entscheidung vieler Juden die Strapazen und Gefahren der Umsiedlung nach Palästina auf sich zu nehmen? Man muss sich den sozialen Charakter der meisten Auswanderer vor Augen führen, um dies verstehen zu können. Soziologisch gesehen waren die meisten Teilnehmer und Pioniere der dritten Alija (Auswanderung) Kleinbürger, welche wohl als ihr höchstes Gut die Freiheit und Unabhängigkeit von einem Herren definierten. Lenins Ziel jedoch war es allen und jeden abhängig zu machen, was einen unüberbrückbaren Gegensatz darstellte. Die von Lenin so ersehnte sozialistische Weltrevolution ließ offensichtlich keinen Platz für eine andere universelle Bewegung wie die des Weltzionismus.
Somit wurde, noch unter der leninistischen Doktrin einer siegreichen Weltrevolution, versucht den Zionismus durch Verbote und Verhaftungen zu unterbinden, welche die zionistischen Juden zwar in ihrer Arbeit behinderten, jedoch befreiten sie die Bewegung auch von überschwänglichen autonomistischen Illusionen und führte ihnen die leninistische Machtpolitik klar vor Augen. Auch wurde die anfängliche autonomistische Hoffnung der Zionisten in den russischen Randgebieten, vor allem in der Ukraine, welche sich durch legitimierte Ministerien mit Vollmachten für ihre Minderheiten nährte, durch die Oktoberrevolution zunichte gemacht. Die Bolschewiki besetzten das Land und nahmen den Zionisten die Wahl zwischen einem Autonomismus in der Diaspora und den Aufbau einer eigenen Nation quasi aus der Hand. Die folgenden Pogrome durch rivalisierende Generäle in der Ukraine drängten die Zionisten schließlich dazu ihren Traum einer eigenen Nation unter der Schirmherrschaft der Balfour Deklaration in Palästina zu suchen. Diese Ereigniskette fand mit der dritten Alija der Hechaluz Bewegung ihren Ausdruck. Angesicht der Systemveränderungen, des Bürgerkrieges und dem Blutbad durch die aufkeimenden Pogrome in der Ukraine entschieden sich schließlich[20] 35 000 Juden[21], da sie keine annehmbare Zukunft mehr für sich in der Sowjetrepublik Lenins zu finden hofften, fortan ihr Heil in Erez Israel zu suchen.[22]
6 Exkurs: Stalinistischer Antizionismus
Interessanterweise liefern Lenins Ideen dem späteren Antizionismus und den faschistischen Bewegungen des 20 Jahrhunderts ideologisches Material. Obwohl Lenin nie eine antisemitische noch antizionistische Polemik verwendete, sind einige Gemeinsamkeiten zu erkennen. Lenin will, wie auch der Antisemitismus die kapitalistische Gesellschaft erklären woraus zwangsläufig eine thematische Nähe entstehen muss. Dabei ist die Personifizierung des Kapitalismus für Lenin ein unersetzbares Mittel zur Legitimation des eigenen Herrschaftsanspruches und zur Formierung der Bevölkerung unter der neuen Staatsmacht. Um dem Klassenfeind ein Gesicht zu verleihen bezichtigt Lenin Bankiers und Kapitalisten, der Steuerung der Regierungen und Beherrschung der Presse und Kultur. In seinem Argumentationsstrang findet sich auch der Klassengegensatz von produktiver Arbeit und Schmarotzertum, wobei hier schon die Wortwahl eine Nähe zum Antisemitismus deutlich macht, wieder. Seine Ausführungen schreibt er 1916 in einer Kampfschrift gegen den „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ nieder. Als Vorbild zieht er John Hobson heran und argumentiert, dass der Imperialismus eigentlich ein Verlustgeschäft sei, jedoch einige Finanzkönige ihre gut organisierten Geschäftsinteressen über die der Nation stellen.[23] „Es gibt keinen, Krieg keine Revolution und keinen anarchistischen Mord der für diese Bande keinen Gewinn abwürfe.“[24] Diese Verschwörungstheorie ist bei Hobson eindeutig antisemitisch gefüllt, denn er benennt die Schuldigen, nämlich die Juden. Lenin übernimmt seine komplette Argumentationsstruktur bis hin zur Wortwahl ohne jedoch die Parasiten rassisch zu definieren. Lassen sich somit einige Affinitäten und Nähen zu antisemitischen und nationalistischen Denkmustern ausmachen, darf das leninistische Denken jedoch nicht mit Antisemitismus gleichgesetzt werden, dazu bestehen zu viele graduelle wie qualitative Unterschiede. Allerdings schufen der Charakter und die Struktur der leninistischen Ideologie eine klare Ausgangsbasis für den späteren Antizionismus unter Stalin.[25]
7 Fazit
Somit schien es zu Beginn der Oktoberrevolution als würde sich eine Liberalisierung des jüdischen Lebens in Russland einstellen, um die zaristischen Ressentiments in die Geschichte zu verbannen. Jedoch ließen sich die nationalen Strömungen der jüdischen Gemeinde, allen voran der Zionismus, nicht mit der universellen leninistischen Ideologie vereinbaren. Lenins anfängliche Versprechungen die Juden von ihrem Joch zu befreien wurden zu diesem Zeitpunkt hinfällig als die Nähe zur Macht und das unumschränkte Ziel seine Handlungen determinierten. Jedoch sollten die jüdischen Pioniere, mit der Staatsgründung Israels, einen späten Sieg erringen.
Literaturverzeichnis
Thomas Haury: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002.
Shlomo Na’aman: Marxismus und Zionismus, Tel Aviv 1997.
Peter Brod: Die Antizionismus- und Israelpolitik der UdSSR. Vorraussetzungen und Entwicklung bis 1956, Baden-Baden 1980.
J.M. Bochenski: Marxismus – Leninismus. Wissenschaft oder Glaube, München 1974.
Arthur Rosenberg: Geschichte des Bolschewismus, Frankfurt am Main 1974.
Heiko Naumann: Der erste Zionistenkongress von 1897. Ursachen, Bedeutung, Aktualität, Basel 1997.
Johann Maier: Judentum. Glauben, von A bis Z. Geschichte und Kultur, Freiburg 2001.
Gideon Shimoni: Die Entstehung des Zionismus, in: Judentum und Christentum (Band 1). 100 Jahre Zionismus. Von der Verwirklichung einer Vision, Ekkehard W. Stegemann (Hrsg.) , Stuttgart 2000.
Stalin, Josef Wissarionowitsch: Werke 2, Berlin 1950ff.
Jüdisches Lexikon (Band IV/2 S-Z). Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Dr. Georg Herlitz (Hrsg.), Königstein 1982.
Neues Lexikon des Judentums (hrsg.) Prof. Dr. Julius H. Schoeps, München 1992.
[...]
[1] Gideon Shimoni: Die Entstehung des Zionismus, in: Judentum und Christentum (Band 1). 100 Jahre Zionismus. Von der Verwirklichung einer Vision, Ekkehard W. Stegemann (Hrsg.) , Stuttgart 2000, S. 41.
[2] Heiko Naumann: Der erste Zionistenkongress von 1897. Ursachen, Bedeutung, Aktualität, Basel 1997, S. 3-5.
[3] Georg Herlitz: Zionismus, in: Jüdisches Lexikon (Band IV/2 S-Z). Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Dr. Georg Herlitz (Hrsg.), Königstein 1982, S. 1588.
[4] Johann Maier: Judentum. Glauben, von A bis Z. Geschichte und Kultur, Freiburg 2001, S. 439.
[5] Georg Herlitz: Zionismus, S. 1588.
[6] J.M. Bochenski: Marxismus – Leninismus. Wissenschaft oder Glaube, München 1974, S. 32.
[7] Arthur Rosenberg: Geschichte des Bolschewismus, Frankfurt am Main 1974, S. 141f.
[8] Shlomo Na’aman: Marxismus und Zionismus, Tel Aviv 1997, S. 189f.
[9] Naumann: erste Zionistenkongress, S. 6f.
[10] Peter Brod: Die Antizionismus- und Israelpolitik der UdSSR. Vorraussetzungen und Entwicklung bis 1956, Baden-Baden 1980, S. 23f.
[11] Thomas Haury: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002, S. 211.
[12] Brod: Antizionismus- und Israelpolitik, S. 24.
[13] Haury: Antizionismus, S. 212.
[14] Haury: Antizionismus, S. 217f.
[15] Ebenda: S. 223.
[16] Stalin, Josef Wissarionowitsch: Werke 2, Berlin 1950ff, S.274.
[17] Haury: Antizionismus, S. 224.
[18] Stalin: Werke, S. 276.
[19] Haury: Antizionismus, S. 224.
[20] Na’aman: Marxismus, S. 195-197.
[21] Wolffsohn, Michael, Prof. Dr.: Alija, in: Neues Lexikon des Judentums (hrsg.) Prof. Dr. Julius H. Schoeps, München 1992, S. 28.
[22] Na’aman: Marxismus, S. 195-197.
[23] Haury: Antizionismus, S. 248f.
[24] Hobson, John Atkinson: Der Imperialismus, Köln/Berlin 1968, S. 300.
[25] Haury: Antizionismus, S. 250-252.
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- Bernhard Ulrich (Autor:in), 2007, Die Oktoberrevolution 1917 - Kommunismus vs. Zionismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111237