Eine Aufnahme von Michael Praetorius' "Ach mein Herre, straf mich doch nicht" und ihre historisch-aufführungspraktischen Implikationen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

23 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhalt:

I. Einleitung

II. Fragen der historischen Aufführungspraxis

III. Der musikgeschichtliche Rahmen

IV. Syntagma musicum

V. Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica

VI. "Ach mein Herre, straf mich doch nicht"

VII. Die Aufnahme

VIII. Anwendbarkeit auf andere Komponisten

Quellen- und Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen einer einführenden Veranstaltung zur historischen Aufführungspraxis entstanden, im Zusammenhang mit einem Referat über Michael Praetorius' Syntagma musicum. Die zentrale Frage war, ob und inwieweit diese Schrift Hilfen zur Aufführung von Praetorius' und möglicherweise auch anderer Werke gibt.

Da Praetorius sich stark auf Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica bezieht, lag es nahe, ein Stück dieses Werkes heranzuziehen. Erreichbar war lediglich eine Aufnahme, erschienen in Vivarte und 1996 eingespielt von Musica Fiata und La Capella Ducale unter der Leitung von Roland Wilson. Interessant war an letzterer auch, dass mit der Aussage auf der Hinterseite "Roland Wilson setzte die festliche Musik Praetorius' mit seinen beiden Alte-Musik-Ensembles eindrucksvoll in Originalklang um" ein charakterischer Umgang mit Geschichte zu finden ist, den Stefan Kunze mit "erschlichene[...] Authenzität" bezeichnet (Kunze 1983, 121).

Das Stück "Ach mein Herre" wählte ich schließlich, da es in allen Quellenarten auftaucht und verschiedene Besonderheiten vereinigt: Zum Ersten ist es in der Gegenüberstellung von Werken und Arten in der Gesamtausgabe vorhanden, hat vor und im Notentext umfangreiche Hinweise zur Aufführung und hat zumindestens eine vorherige Analyse erfahren (in Forchert 1959). Zum Zweiten ist es mit hohem affektiven Gehalt, häufigen Tempowechseln, den Echoeffekten und der Anwendung einer Vielzahl verschiedener Gestaltungsmittel vor allem aus der neuen italienischen Schule eines der eigenwilligsten Stücke Praetorius' und kann als Extrembeispiel gut zur Verdeutlichung verwendet werden.

II. Fragen der historischen Aufführungspraxis

Gutknecht umreißt im MGG-Artikel zur Aufführungspraxis (Gutknecht 1994) als wesentliche Aspekte Probleme der Notation von Tonhöhe, Dauer, Dynamik und Artikulation, Tempo, Phrasierung und Rhythmus, Fragen der Verzierungen und Improvisationselemente, des Instrumentariums und dessen Spielweise, sowie Aspekte wie "Verwendung der menschlichen Stimme solistisch und im Ensemble; klangliche Gegebenheiten [...]; Stimmtonhöhe und Stimmsysteme; die Besetzung vokaler und instrumentaler Ensembles, deren Anordnung und Leitung bei Aufführungen [...]" (Gutknecht 1994, 954-955).

Von den zu verwendenden Referenzen, die er im Weiteren aufzählt, kommen hier Notentext, Instrumentallehre / Traktat und eine klangliche Interpretation, die CD-Aufnahme, in Frage, zusätzlich zu bisheriger Forschung.

Von den speziell zum 17. / 18. Jahrhundert formulierten Problematiken interessieren vor allem die Fragen der Instrumentierung und der Ornamentik, auch wenn "deren Lösung nicht allein mit Hilfe zeitgenössischer Theoretika zu bewerkstelligen ist" (Gutknecht 1994), der Ausführung des Generalbasses und der originalen Aufführungsanlässe.

Vor allem der letztere Punkt ist vom Standpunkt einer angestrebten Originaltreue aus von weittragender Bedeutung, da beispielsweise allein die Rezeption einer Aufnahme weit von der Rezeptionsrealität der Entstehungszeit entfernt ist. Aber auch ohne Aufnahme ist die Aufführung funktional gebundener Musik außerhalb des ursprünglichen Rahmens vom angesprochenen Standpunkt aus ein elementarer Bruch.

III. Der musikgeschichtliche Rahmen

Die allgemeine Bewegung, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts schrittweise auch nach Deutschland die Umwälzungen der italienischen Musikpraxis und –theorie brachte, stellte vor allem die Kirchenmusiker vor verschiedene Widersprüchlichkeiten. Stand Praetorius zum Beispiel schon vor seiner Begeisterung für das italienische Vokalkonzert zwischen der Tradition des Gregorianischen und der des mehrstimmigen lutherischen Chorals, vermehrten sich mit der Einbeziehung neuer musikalischer Mittel auch die gestalterischen Variationsmöglichkeiten. Dabei ist die funktionale Bindung des italienisch geprägten Spätwerks, größtenteils für höfische Festlichkeiten geschrieben, nicht unmittelbar 'Klärung' der Frage, welche Musik wo angemessen ist. So kommt es bei Praetorius in Syntagma musicum zu weitflächigen Auseinandersetzungen etwa mit der Beziehung zwischen weltlicher und geistlicher Musik – in diesem Zusammenhang ist auch die Einleitung zu den Polyhymniae"Weltliche Regierung und Gottes Dienst" aufschlussreich.

Verbunden mit dem Erstarken der Generalbass-Spielweise setzte auch ein Umdenken im rhythmischen Denken ein. Die Abkehr von mensuraler zu taktgebundener Zählung ging einher mit vielen Umstellungen in der Notation. Die dabei auftretenden Inkonsistenzen treffen auch auf neuentwickelte Praktiken wie Verzierungsformen zu, so dass auch hier ein großes Bedürfnis nach Systematisierung entstand. Resultat sind eine Vielzahl von Traktaten sowohl von italienischen als auch von deutschen Autoren. So fertigte Praetorius umfangreiches Material an, um Übergänge zu neuen Praktiken zu ebnen. Andere betroffene Bereiche sind Instrumentation, Ensemblegrößen und –aufstellungen.

Die Folge ist, dass abgesehen von den einbezogenen Texten keine stilistische Einheitlichkeit zu finden ist, vielmehr eine Vielzahl unterschiedlichster Gestaltungsmittel, im weitesten Sinne auch ein Abbild einer innerlich zerrissenen Zeit, deren Widersprüche in einen dreißigjährigen Krieg führten.

IV. Syntagma musicum

"Eine echt barocke und echt deutsche Planung, mit ihrem Hang zur selbstvergessenen Hingabe, zur Grenzenlosigkeit, zum Machtrausch und zur Selbstdarstellung." (Blume 1935, 322). So charakterisiert Friedrich Blume das Schaffen Praetorius', speziell die Sammlungen des Spätwerks. Auch wenn hier die Schaffung eines historischen Typus gemäss des Zeitgeists Ziel der Formulierung war - am Ende des Artikels spricht Blume denn auch von "Herrenmenschentum" - so sind doch zwei widerstrebende Elemente zu finden, die charakteristisch für den Wandel der Zeit Prätorius' scheinen: das arbeitsame Streben nach Ordnung und der Ausbruch in Leidenschaftlichkeit, das Binden an religiös-puritanische Autoritäten und das Streben nach expressiver und monumentaler Äusserung. So wie sich diese Widersprüche in der Biographie Prätorius' angelegt finden - der gescheiterte Wunsch, Bruder und Vater in den theologischen Beruf zu folgen, die demütige Annahme des Kantorenberufs und seine schrittweise Vereinnahmung durch weltliche Höfe - so ist Syntagma musicum in seiner Ausgestaltung sehr vielgesichtig. Wie Forchert in seinem Vorwort zur Neuausgabe 2001 jedoch klarmacht, ist es zwar Folge und Ausdruck "immer umfassender werdende[r] Kompositionspläne" (Forchert 2001, VI), aber in seiner Anlage deutlich strukturiert und auf spezielle Leserschichten ausgerichtet. Die Entscheidung, Prätorius mehr als nach Ordnung oder mehr als nach Ausdruck Strebenden anzusehen, dürfte auch für die Herangehensweise an Aufführungen grundlegend sein.

Der Aufbau von Syntagma musicum legt das Erstere näher: Im ersten der geplanten vier Teile, der als einziger auf Latein geschrieben wurde, setzt sich Prätorius grundlegend mit Bedeutung und Berechtigung von Musik auseinander, betrachtet den Unterschied zwischen weltlicher und geistlicher Musik und bezieht dabei verschiedene theologische Diskussionen ein. Als Leser kommen schon der Sprache wegen nur Gelehrte in Frage.

Mehr auf musikalische Handwerker ausgerichtet, was Instrumentenmacher und Instrumentisten beinhaltet, führt der zweite, diesmal deutsche Teil als "Organographia" sämtliche Prätorius bekannte Instrumente auf, dazu Informationen zu Bauweise, Umfängen, Stimmungen und Sonderformen speziell bezüglich des 16. Jahrhunderts. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Orgeln, im Anhang befinden sich auch Dispositionen deutscher Orgeln sowie ein Theatrum Instrumentorum mit maßstabsgetreuer Abbildung der Instrumente. Prätorius weist auch auf die zunehmende Klangvereinheitlichung im beginnenden 17. Jahrhundert hin, die mit der Ausbreitung des Generalbassprinzips zu tun hatte.

Teil 3 und der geplante, aber nicht ausgeführte Teil 4 war gedacht für Komponisten und Musikliebhaber, ebenfalls auf Deutsch geschrieben und eine Bilanz aus Praetorius’ Erfahrungen mit Aufführungen eigener Werke mit verschieden zusammengesetzten Ensembles. In den neun Teilen behandelt er grundlegende Terminologien, die Problematik der Übertragung von Mensuralnotation zu taktgebundener Generalbass-Schreibweise verbunden mit einer Generalbasslehre, Grundkenntnisse zum italienischen Vokalkonzert, aufführungspraktische Hinweise zu mehrchörigen Motetten und Konzerten, speziell zu den eigenen Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica, und schließlich Anweisungen zur Ausbildung von Sängerknaben.

Zu den aufführungspraktischen Hinweisen gehört auch eine Systematisierung der Konzertkompositionen in 12 Arten der Besetzung und der dritten, solistischen Art in neun Manieren, die er in den Polyhymniae in verschiedenen vokalen und instrumentalen, solistischen und chorischen Varianten umsetzt.

Ebenso ist die Ordnung der Instrumente in Fundament- und Ornamentinstrumente, die Praetorius in Anlehnung an Agazzari und Giacobbi vornimmt, sowie die Zuordnung von Chor und Instrumentenfamilie bei Mehrchörigkeit für die Aufführungspraxis von wesentlichem Informationsgehalt.

V. Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica

Wie bereits angedeutet, handelt es sich bei diesem Werk um eine pädagogisch anmutende Zusammenstellung von geistlichen, mehrstimmigen Konzertgesängen mit Instrumental­begleitung in verschiedenen Besetzungen und Gestaltungsvarianten. Dabei fügte Praetorius neben der Abhandlung und Systematisierung in Syntagma musicum verschiedene Ordnungs- und Aufführungshilfen ein:

Dazu gehört in erster Linie die Ordinantz (Praetorius 1930, XII-XVI) mit allgemeinen Hinweisen zur Aufführung, ein Index mit Zuordnung der Einzelstücke zu den Arten und Manieren in Syntagma musicum III (ebenda, XVII), ein Speculum Harmonicum mit Auflistung aller Stücke der Polyhymnia Panegyrica nach Stimmen- und Choranzahl sowie Besetzung und schließlich die detaillierten Angaben sowohl in Syntagma als auch zu Beginn jeden einzelnen Stückes.

Zu den vielen Angaben in der Ordinantz gehört zum Ersten die Feststellung der vielfältigen Möglichkeiten der Aufführung, in dem Sinne, dass durch das jeweils Mögliche, d.h. die Beschränktheit der Mittel, Anpassungen und Varianzen notwendig werden. Da aber abgesehen davon eine Vielseitigkeit der Formen zu finden sei, „alß ist daselbst gnugsamer und gründlicher Bericht zu befinden“, nebst Generalbassanweisung „für guthertziger Cantor und Musicus Ausbildung“ (Praetorius 1930, XII).

Daraufhin unterscheidet Praetorius Concertat-Stimmen, die als essentia totius Cantilenae vernehmlich sein und das Werk dirigieren sollen, und Instrumental-Stimmen, die als Adjuvanten "einen zierlichen / lieblichern und völligern prechtigern Chor zu machen" haben, also klangliche Stütze leisten. Hier ist wieder an die Unterscheidung von Fundament- und Ornamentinstrumente in Kapitel vier des dritten Teils in Syntagma musicum III zu denken: Erstere sollen den klanglichen Corpus und damit die Harmonie tragen, indem sie alle Stimmen zusammenfassen. Dazu gehören Orgeln, Positiv, Regal, Clavicymbel; auch Spinette, Lauten, Theorben, Doppelharfen, große Zithern, Lyren usw. für leise Musik, für laute Musik sind diese als Ornamentinstrumente einzusetzen. Jene haben nur eine Stimme und dienen zum ‚scherzenden’ oder kontrapunktierenden Umspielen der Prinzipalstimmen. Nur letztere sind dann im Notentext ausgeschrieben, die Gesamtheit der Instrumentalstimmen müssen aus den Clavibus signatis (Praetorius 1930, XXXI-XXXIII) erschlossen werden.

Weiterhin meint Praetorius, dass der Generalbass bei zwei oder drei instrumentalisierten Stimmen zu schwach sein kann und dann zur Verstärkung Bassinstrumente braucht oder eine zusätzliche Gesangsstimme bekommen kann, weshalb auch in diesen Fällen ein schriftartlich abgesetzter Text bei der Bass-Stimme zu finden ist.

Als letzten hier zitierten Punkt führe ich noch die Empfehlung bei kleinen Räumen an, dass Saiteninstrumente weggelassen oder weitflächig verteilt werden, damit der klare Klang der Concertat-Vokalstimmen bewahrt bleibt.

Ist also beispielsweise die Frage der klanglichen Präferenz diejenige, die man an Praetorius hier stellt, scheint die Klarheit der Rahmenstimmen als konstitutives Element die Antwort zu sein.

VI. "Ach mein Herre, straf mich doch nicht"

In der Übersicht zu den Arten ist "Ach mein Herre, straf mich doch nicht" als II. Art aufgeführt. Dazu schreibt Praetorius in Syntagma musicum III (Praetorius 2001, 172f):

"In dieser Andern Art / müssen vier Knaben gegen einander uber / oder wohin es sich füglich schicken wil / gestellt werden: Also das der Erste / welcher die Orgel verordnet / gar allein anfahe; darnach alßbald der Ander; hernacher der Dritte; und entlich der Vierde / (so bey den plenum chorum Musicum, chorum pro Capella gestellet werden mus) ein jeder das jenige/so in seiner Stimme gefunden wird/ fein rein / frisch / deutlich und wolvernemblich singe: und die Noten gleichsamb außspreche. Darauff respondiert alßdann der ganze Chorus Vocalis & Instrumentalis und die Orgel / welches von den Italiaenern / wie droben angezeigt / concerti Ripieni, daß ist Chorus oder Concentus plenus, der volstimmige Chor genennet / und von andern mit dem wort Omnes oder Tutti bezeichnet wird."

Im Folgenden empfiehlt er, dass jedem Knaben zur Stabilisierung ein Regal, ein Positiv, ein Clavicymbel, eine Theorbe oder eine Laute zugeordnet werden soll und dass dazu eine Bass-Stimme zu jeder einzelnen Knabenstimme kommt. Die Orgel, der ja auch ein Knabe zugeordnet ist, soll nur leiseste Register ziehen, so eine gedackte 8-Fuß-Pfeife im Rückpositiv oder Oberwerk, und sehr langsam intonieren, bis zur Chorus-Stelle, an der ein schärferes (nicht ein volles) Register und ein schnelleres Tempo angebracht wäre.

Für die letzteren Stellen pflegte Praetorius jedem Knaben zudem Diskant-Geigen, Cornetto und Block- oder Querflöte hinzuzufügen, seien aber nicht genug Instrumentisten vorhanden, um dann noch den Chorus abzudecken, soll man diese lieber zusammenfassen und an einem anderen Ort als den Vokalchorus platzieren.

Bei reichlich vorhandenem Instrumentarium ergeben sich weitere Möglichkeiten: So kann dem ersten Knaben bei der Orgel eine weitere Capella Fidicinia beigegeben werden, sogar aufstockt um Posaunen, was eine lautere Registrierung bzw. Spielstärke in Orgel und Lauten erfordert.

Zu der Frage der Knaben wird zusätzlich gesagt, dass bei Mangel an gut ausgebildeten mit Tenoristen oder gar Instrumenten wie Cornetto oder Violine ausgetauscht werden kann, da bei zumindestens zwei singenden Diskanten genug Textverständnis bleibe und das Echoprinzip gewahrt bleibt.

Schließlich erlaubt Praetorius in diesen textreichen und oft längeren Kompositionen bei der Anwendung in der Kirche die Weglassung des einen oder anderen Verses.

Zu diesen reichhaltigen Angaben kommen noch fünf Einzelangaben in der Notenausgabe. Zu Punkt 1 meint Praetorius (Praetorius 1930, 644):

"In diesem sind die drei Dicant ganz und gar auf ein Echo gerichtet / also / daß sie einander respondiren, und bisweilen abbrechen: darum müssen sie auch also moderiret werden / wie im XXV. XXX. und andern mehrern erinnert ist: Also / daß der erste Cantus gar frisch und stark / der ander etwas stiller / und der dritte gar gelinde / wie ein Echo, so von weitem langsam hernach antwortet: Oder man kann also mit Moderirung der Stimmen variiren, als ich es mit f. und p. (forte, pian,) dabei notiret."

Des Weiteren deutet er auf die Ausschreibung der instrumentalen Mittelstimmen "um der jungen Organisten willen" hin, die in kleineren Räumen weggelassen werden können oder weit von den Knaben entfernt sein müssen. Er möchte auch die erste und dritte Stimme einander gegenüber haben, die zweite jedoch beim Choro Adultorum; der Ripieno-Teil sollte doppeltes Tempo sein.

Schließlich fordert Praetorius noch besondere Sorgfalt für die Worte 'und sehr erschrecken' und 'plötzlich', um beim gleichzeitigen deutlichen Absetzen von Instrumenten und Stimmen der gewünschte Effekt der Aussage erreicht wird.

In Bezug auf "Ach mein Herre" behandelt Forchert eingehender die Frage des Textes und seiner kompositorischen Umsetzung. Er stellt dabei die drei Psalmenkompositionen ohne cantus firmus heraus (neben "Ach mein Herre", 6. Psalm auch aus den Polyhymnia "Siehe, wie fein und lieblich", 133. Psalm sowie die Einzelkomposition "Das ist mir lieb", 116. Psalm), da hier "der Komponist der Sprache direkt gegenüber tritt und sie nicht nur, wie in den c.f.-Kompositionen, durch das Medium eines musikalischen Gebildes erlebt" (Forchert 1959, 163).

Abgesehen von der ersten Hälfte des vierten Verses wurde der Text vollständig übernommen, nach Forchert legt er wegen seines hohen Affektgehaltes, der sehr persönlichen Perspektive und eigenwilliger sprachlicher Ausdrücke eine monodische Vertonung nahe. Und so begegnet Prätorius dieser Vorlage "mit allen Mitteln [...], die er in der neuen italienischen Kunst kennengelernt hat: reichliche Anwendung von Koloraturen, Echomanier, vorgeschriebener Wechsel schneller und langsamer Teile", dazu "Anwendung der Falsobordontechnik und die madrigalistische Schilderung von textlichen Einzelheiten" (Forchert 1959, 166). Forchert hebt vor allem die Verbindung monodischer Gestaltung mit Mehrstimmigkeit hervor, hauptsächlich durch das Mittel des Echos, auch wenn aus seiner Sicht eine Überfrachtung der gestalterischen Mittel deren Wirkung einschränkt.

Die Gefahr der Zersplitterung des Textsinns durch die kanonartige Durchführung der Hauptstimme in den Echostimmen sieht Forchert durch die Vermeidung der Kadenzschlüsse der Hauptstimme in den Nebenstimmen reduziert, da so die Aufmerksamkeit zum nächsten Teil weitergetragen werde. Auch Details der melodischen Linie wie auch der Verzierung weisen viele Einflüsse der italienischen Monodie und Madrigalkunst auf, sodass viele aufführungspraktische Erkenntnisse in Bezug auf sie auch hier eingebracht werden können. Starke, expressive Dynamikwechsel, harmonische Rückung und die Mehrchörigkeit des zweiten Teils verstärken noch den Eindruck einer Komposition, die erheblich von der lutherischen Choraltradition abweicht.

VII. Die Aufnahme

Zur Herangehensweise an dieses Werk äußert sich Roland Wilson im Booklet zur CD.

Der Gedanke einer Rehabilitierung des verkannten Meisters Praetorius ist von Anfang an vorherrschend. So betont Wilson die zeitliche Gleichzeitigkeit der Psalmen Davids von Heinrich Schütz (1619) mit den Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica, während Praetorius in Dresden als Kapellmeister von Haus zu Haus Schütz’ offizieller Vorgesetzter war.

So sieht Wilson in der einseitigen Rezeption Praetorius' als Autor der Syntagma musicum sein kompositorisches Schaffen verdeckt und seine Anerkennung als einen der größten Komponisten des 17. Jahrhundert verhindert, "whose works merit revival not just on account of the impressive polychoral writing and colourful instrumentation but also because of their expressive content" (Wilson 1997, 15).

Als kompositorische Grundlage sieht auch Wilson eine Kombination von Luther-Chorälen mit neuen Charakteristiken der italienischen Musik, die Praetorius sich durch eine umfangreiche private Sammlung italienischer Handschriften und Drucke angeeignet hatte. Zu finden seien diese Einflüsse in üppig verzierten Gesangslinien vom Basso continuo begleiteter Voci concertati, unabhängigen Instrumentalchören, oft als Sinfonien in Vor- oder Zwischenspielen, sowie Echoeffekte und zahlreiche Ritornelle. Den hohen expressiven Gehalt führt Wilson auch auf die kriegsbedrohte Zeit zurück, denen Praetorius "Solennische Friedt- und Freuden-Concert" entgegensetzen wollte. Wie auch Forchert sieht Wilson die meisten Möglichkeiten zur expressiven Ausdeutung in den Stücken ohne cantus firmus, wobei er den Begriff der Modernität dieser Gestaltung heranzieht.

Speziell zum hier thematisierten Stück schreibt er auf Seite 16:

„The first part of the other freely composed piece, Ach mein Herre, straf mich doch nicht, is essentially a monody with a double echo (a manuscript version of this piece gives an alternative version with just a solo tenor) and contains even more vivid word-painting, with frequent changes of tempo and dynamic combining with the echoes to produce a picture of a mind in absolute despair. Indeed, this composition must surely rank as one of the most moving pieces of the 17th century.”

Gerade die von ihm selbst hervorgehobenen gestalterischen Mittel resultieren nach Wilson in einer publikumswirksamen Emotionalität, die auch mit starken Einbringen der individuellen Persönlichkeit des Komponisten zu tun habe:

„In performance his music often seems somehow to transcend the written notes, and - although his incredible imagination for spatial and sound effects obviously plays an important role in this - it is not just compositional mastery but perhaps his personal identification with the text […]” (ebenda, 17)

Von einer Auflistung der beteiligten Musiker zur Reformationsjahrhundertfeier in Dresden 1617 leitet Wilson die grundsätzliche Aufstellung für die Aufnahme ab, das heißt “11 Instrumentisten / 11 Cantoribus / 3 Organisten / 4 Lautenisten / 1 Thiorbisten / 5 Discantisten / mit abwechslung allerley sorten von herrlichen Instrumenten / mit zweyen Orgelwerken / 2 Regalen / 3 Clavizymbeln” (ebenda, 18), so sei auch zweifache Besetzung des Cappellchors möglich.

Zu den umfangreichen und teils widersprüchlichen Informationen, die zu den Stücken zu finden sind, meint er, dass „[a]nyone performing this music is confronted with such an incredible amount of information, not to mention the countless possibilities and sometimes apparent contradictions, that it seems almost counterproductive.“

Offensichtlich wurden alle hier behandelten Primärquellen bei der Erarbeitung der Aufführung einbezogen, so folgt etwa aus der veranschlagten Vielfalt der Instrumentation der Einsatz von heute weniger bekannten Instrumentenvarianten wie stille Zinken, Violinen mit Messingsaiten, Kontrabass-Posaunen, Großbass-Dulzian, Bandora und Cister. Ebenfalls nach Praetorius' Anweisung wurde die Capella Fidicinia möglichst abwechslungsreich umgesetzt, mit Streichern, Lautenconsort, Posaunenquartett, um Oktave vertieften Sopranpart, englisches Consort mit Flöte, Lauten und Streichern.

Zu dieser instrumentalen Quellensuche gehörte es auch, bei Unmöglichkeit der Aufnahme an einer Orgel des Wolfenbüttler Hoforgelbauers Esaias Compenius mit Regalen und Positiven mit offenen und gedackten Pfeifen zumindestens Klangähnlichkeit umzusetzen. Compenius war bis 1613 Kollege von Praetorius und arbeitete sowohl mit an dessen Organographia als auch an dem Werk "Von Probirung der Orgeln". Auf Grund dieser engen Verbindung wurde denn auch der Stimmton der Compenius-Orgel übernommen (a' = 467 Hz). Die Notengrundlage war die Originalausgabe von 1619 (es wird nicht klar, ob die aufgearbeitete Fassung der Gesamtausgabe eine Rolle spielte).

Das Ziel, so schließt Wilson ab, sei es gewesen, "to emphasize the affect of the individual piece" (ebenda, 20), einer Aussage, die den Worten Praetorius' entsprechen: "Also ist eines Musicanten nicht allein singen, besondern künstlich und anmütig singen: Damit das Hertz der Zuhörer gerührtet / und die affectus beweget werden / und also der Gesang seine Endschafft / dazu er gemacht / und dahin er gerichtet / erreichen möge" (Praetorius 2001, III, 229).

Wie sieht nun die darauf aufgebaute Aufnahme aus?

Die erste Information, die dahingehend konret zu "Ach mein Herre" gegeben wird, ist die Aufstellung. Leider werden die Sänger nur dem Namen nach aufgeführt und nicht nach ihrer Stimme, was wenig hilfreich ist, wenn es denn um historizierende Aufführung geht. Wurde die Aufstellung gemäß der Vorschriften von Praetorius ausgeführt, so steht tatsächlich Cantus 1 nahe der Orgel, mit den angesprochenen Violinen und der Capella. Auch ist jedem "Knaben", hier Frauenstimmen, eine Chitarrone 'zur Stabilisierung' zugeordnet. Der Chorus Adultorum ist hier mittig zwischen Cantus 1 und Cantus 3, letzterer gegenüber Cantus 1, Cantus 2 nimmt die Position des 'Vierden' nahe des 'pleni chori Musici' ein. Eine zweite Orgel, Cornett und Posaunen werden für das Ripieno eingesetzt.

Hier wird nun die Frage der Knabenstimmen berührt. Die Abhandlung "Instructio pro Symphoniacis. Wie die Knaben / so vor andern sonderbare Lust und Liebe zum singen tragen / uff jetzige Italianische Manier zu informiren / und zu unterrichten seyn", die den Abschluss der Syntagma musicum bildet, gibt beredt Auskunft, wie wichtig Praetorius der Einsatz von Knabenstimmen war. Auch die häufigen Hinweise auf die zarten Stimmen und die spätere Komposition Puercinium bezeugen, dass es nicht einfach nur zeitgenössische Praxis, sondern klarer kompositorischer Wunsch Praetorius' war, diese hier eingesetzt zu sehen. Doch schon der Hinweis im Abschnitt zur zweiten Art, dass auch Substitute erlaubt seien, zeigt die Schwierigkeiten, die Praetorius bei der Umsetzung zumindestens erwartete, wenn sie nicht sogar eher der Alltag waren.

So ist auch die Aussetzung einer Basismelodie ohne die vielzähligen Verzierungen möglicherweise Ausdruck des Kompromisses, der auch zu Praetorius' Zeit in diesem Punkt eingegangen werden musste. Dass auf dieser Aufnahme allerdings ein für seine Zeit unmöglicher Klangkörper gewählt wurde, indem Frauen kirchliche Gesänge umsetzen, zeigt ebenso, dass selbst in historizierendem Gewand die Anpassung an jeweils normale Aufführungspraktiken stattfindet, so wie von Praetorius gefordert.

Eine zweite Angabe, die vor dem Hören bereits einen Eindruck vermittelt, ist die Angabe der Länge. Mit 10'36 ist die Aufführung ein wenig kürzer als von Praetorius veranschlagt, was überraschenderweise nachvollzogen werden kann. Die funktionale Einbindung der Vokalwerke machten eine Genauigkeit der Zeitangabe notwendig, die für andere Werke bis ins 20. Jahrhundert ungewöhnlich blieb.

Johnston macht in seinem Artikel folgende Rechnung auf (Johnston 1999, 100f): Praetorius gab zu den Nummern 24, 25 und 30 genaue Zeitangaben (1/4 Stunde, Anderthalb Viertelstunde und halbe Stunde), dazu wie gewöhnlich die Anzahl der Tempora, nämlich 152, 241 und 320. So lässt sich für 10 Tempora eine ungefähre Länge von einer Minute errechnen. Umgerechnet über die Analogie Tempora = Brevis, Tactus = Semibrevis, Minima = Viertelnote kommt Johnston also auf ein Normalzeitmaß von 40 Schlägen pro Minute.

Auf direkten Weg lassen sich die 127 Tempora des Stückes auch so umrechnen, dass die Gesamtdauer etwa 12 min 42 sec ist. Doch gerade die häufigen Tempowechsel und der angestrebte Ausdruck legen eine solche minutiöse Auffassung nicht nahe. Daher ist eher an eine allgemeine Orientierung zu denken, die einen langsamen Grundschlag voraussetzt, um Verzierungen und Kontraste besser ausarbeiten zu können (siehe auch folgendes Kapitel).

Diese allgemeinen Orientierungen müssen auch bei der weiteren Bewertung der Aufnahme im Vordergrund stehen. Dafür beziehe ich die Kriterien ein, die Robert Unger im Kapitel "Aufführungspraktische Ausrichtung der Mehrchörigkeit bei MPC" (Unger 1940, 35-174) ausarbeitete und die sich teilweise mit den bei Gutknecht genannten decken.

1. Der Vorrang der Vokalstimmen bei der Besetzung der Stücke

Ich führte bereits einige Hinweise auf die Priorität von Gesang und Text aus, so auf Seite 6 die Anweisung Praetorius' den Generalbass bei Bedarf mit einer Vokalstimme zu verstärken (auch "Ach mein Herre" hat den angesprochenen hinzugefügten Text) und bei kleinen Räumen durch Zurücknehmen der Streichergruppe die Concertat-Vokalstimmen zu erhalten. Unger erwähnt außerdem den Nachdruck, mit dem Praetorius das achte Kapitel in Teil 3 des Syntagma musicum III beendet (Praetorius 2001, 197):

"Vor allen dingen aber ist dieses in acht zu nehmen / daß ja die Chori Instrumentales nicht zu nahe bey ihre zugehörige Concertat-Stimmen gestellet/und dadurch die Cantores mit ihren Stimmen (daran zum allermeisten gelegen) obscutiret unnd nicht wol gehöret werden."

Ein wichtiger Aspekt dieser Hervorhebung ist die Frage der Textverständlichkeit, deren Implikationen im folgenden Punkt nochdeutlicher werden.

In der vorliegenden Aufnahme gewährleisten die sängerische Leistung und die langsame Tempogebung die Textverständlichkeit und auch in den Ripieno-Stellen ist die Instrumentation ausgewogen, so dass die Vokalstimmen Vorrang haben. Da zudem die Stimmen für die 'dünneren' Stellen des zweiten Teils mittig zwischen den Instrumentalchören aufgestellt sind, ist dahingehend jegliche Vorstellung Praetorius' erfüllt.

Es zeigt sich jedoch eine spezifische Problematik, die stark die Ferne zur 'originalen' Situation zeigt. Der klangliche Ausgleich zwischen Instrumental- und Vokalstimmen ist hier eher eine Frage von Mikrofonposition und Abmischung. Desto schwerer wirkt bei der vorliegenden Aufnahme, dass der Echoeffekt auch durch Distanz vom Mikrofon hergestellt und verstärkt wird, aber die Generalbassbegleitung natürlich weiterhin in Mikrofonnähe bleibt, nicht zurückgenommen wird und damit nicht nur teilweise verdeckt, sondern auch die musikalische Kommunikation gewissermaßen gestört wird.

2. Einbeziehung der Gemeinde als aktiv mitwirkender Klangkörper

Wieder ist es die angesprochene "Admonitio", in der ein zentraler Hinweis gegeben wird (Praetorius 2001, 169-170):

"Die deutschen Gesänge sind im Anfang meistenteils von mir dahin gerichtet gewesen, daß das Volk und die ganze Gemeinde in der Kirchen zugleich mit darein singen könnten."

Unger arbeitet diesbezüglich Beziehungen von Wortbedeutung und Klangwirkung, musikalischer Aufführung und geistlicher Erziehung nach der lutherischen Tradition aus, die in dieser Arbeit nicht bedeutend sind. Dennoch zeigt dieser Punkt gut, vor allem unter Einbeziehung von Textbedeutung, welch grundlegender Unterschied zur zeitgenössischen Aufführung gemacht wird durch eine totale funktionale und kontextuelle Verschiebung, die konzertante Aufführung und erst recht Aufnahmen mit sich bringen. Dass Wilson den Wirkschwerpunkt der Stücke, auch in Anlehnung an Äußerungen Praetorius', auf die emotionelle Bewegung der Zuhörer legt, nimmt dem Werk einen Großteil seiner intendierten (nämlich der religiös-erzieherischen) Aussage, ist aber vielleicht der größte gemeinsame Nenner mit Praetorius' Publikum.

3. Der Gebrauch der Instrumente

Gerade im Bereich der Instrumentation lassen sich die von Wilson angesprochenen widersprüchlichen Aussagen finden. So legen seine Bemerkungen zur eigenen Praxis in der II. Art nahe, neben der Orgel eine Geigenkapelle zur Begleitung der Knabenstimmen einzusetzen, weswegen die hier als Ornamentinstrumente gewählten Chitarrone zusammen mit dem Viola da gamba-Generalbass nicht seiner 'Vorschrift' entsprechen. Doch zum Einen spricht er gleichermaßen von der Funktion der Geigen, nicht nur die Knabenstimmen zu verstärken, sondern auch einem ungeübten Organisten mit Mittelstimmen zu behelfen und zum Anderen ist einer seiner Schwerpunkte die instrumentale Vielfalt, mit der die Aufmerksamkeit des Publikums aufrecht erhalten werden soll.

Spricht letzterer Punkt offensichtlich für eine Anpassung der Ausführung an das jeweilige (und damit auch heutige) Publikum, so ist dieser Punkt auch unabhängig davon im weiteren Verlauf der Aufnahme gewährleistet. So kommt für die leisen drei- bis vierstimmigen Stellen im Ripieno-Teil eine reine Orgelbegleitung zum Einsatz, was die instrumentale Farbe schlagartig ändert und auch zum ersten Teil kontrasiert.

Bedenklich bleibt weiterhin, dass "[i]n der II. Art [...] das Mitspielen der Ornament-Instrumente ausdrücklich den Tuttistellen vorbehalten [ist]" (Unger 1940, 121).

Was wirkt nun schwerer?

4. Freizügigkeit und Gebundenheit bei Einrichtung und Ausführung

Ich lasse zwei Punkte bei Unger aus und ziehe mit seinem letzten ein Fazit.

Denn hier definiert Unger einen Leitfaden für die Einscheidung der Frage, inwieweit Praetorius' Ausführungen zu folgen ist:

"Die Großzügigkeit, mit der MPC scheinbar althergebrachte Handwerksregeln behandelt und die Freizügigkeit, die dem Kapellmeister bei Einrichtung seiner Kompositionen eingeräumt ist, findet ihre Grenzen in der Gebundenheit an die leitende Idee, die dem Schaffen des Meisters zugrunde liegt: Stärkst mögliche Erfassung und seelische Beeindruckung der Hörergemeinde im Sinne der "Concio im Cantio". Was der musikalische Führer als sicheren Weg zu diesem Ziele hin erkannt hat, das teilt er in ausführlichen Werkanweisungen dem Musiker seiner Zeit mit. Trotz der häufigen Versicherung, daß er "damit niemanden vorgreifen wolle", legt er aber offensichtlich Wert darauf, daß seine oft weitläufigen Ausführungen gebührend in Obacht genommen werden."

Folgt man Unger in dieser Ansicht, so lässt sich diese Aufnahme als gelungene Annäherung an Praetorius' Werk sehen, als eine unter vielen, wenn auch nicht unbegrenzt möglichen.

VIII. Anwendbarkeit auf andere Komponisten

In diesem Kapitel setze ich mich in erster Linie mit den Gedanken auseinander, die G. S. Johnston 1997 zu einer Anwendung von Prätorius' theoretischen Schriften auf die historische Aufführungspraxis der Werke Heinrich Schütz' formulierte. Johnston äussert sich zu Beginn zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten am Beispiel der Psalmen Davids bzw. dem Spätwerk Prätorius': "Schütz entschied sich für die Komposition von Motetten, Prätorius hingegen zog strophische Choralvertonungen vor. Überdies bemühte sich Prätorius um die Beteiligung der Kirchengemeinde am Choralgesang, wohingegen die Kompositionen von Schütz mit dem Ausschluss der Gemeinde fast katholisch anmuten." (Johnston 1987, 99-101). Gemeinsam wären aber die Entstehungszeit bei räumlicher Nähe (Wolfenbüttel / Dresden), die mehrchörige Anlage und damit verbunden die Orientierung an zeitgenössischer italienischer Musik (vor allem Giovanni Gabrieli). Zudem habe es in Dresden, Magdeburg und Bayreuth persönlichen Kontakt und Zusammenarbeit gegeben. (ebenda) Hier ist noch hervorzuheben, wie oben bereits ausgeführt, dass beide sich im Spannungsfeld zwischen der lutherischen kirchen­musikalischen Tradition und neün, italienischen Kompositionsprinzipien befanden und einen Mittelweg suchten.

Johnston beschäftigt sich im Folgenden mit Fragen des Tempos, der Dynamik und der Verzierungstechnik; den besonders aufschlussreichen Bereich der Instrumentation und des Gesangs hält er anscheinend für ausreichend geklärt, denn "[d]ie meisten Aufführungen sind von hoher musikalischer Qualität: die Vokaldarbietungen sind rein und ausdrucksvoll, die alten Instrumente werden meisterhaft gespielt [...], der Sinn für das Zusammenspiel im Ensemble in jeder Hinsicht professionell." (Johnston 1987, 99).

In Bezug auf das Tempo macht er die Vergleichbarkeit an der Ähnlichkeit von Ausserungen beider und an einer vermutlichen zeitgenössischen Praxis fest. So ist die Vorschrift langsamer Ausführung wegen des kirchlichen Rahmens und zu Gunsten der textlichen Verständlichkeit bei beiden zu finden. Prätorius fügt dem jedoch speziell in Polyhymnia Caduceatrix genaü Tempora-Angaben hinzu - die darauf aufbaünden Berechnungen von Aufführungszeiten habe ich schon ausgeführt. Da aber weitere theoretische Schriften ähnliche Aussagen aufweisen und es "dem im siebzehnten Jahrhundert gängigen Ruf der deutschen Musik als schwerfällig und ernsthaft" entspricht (Johnston 1987, 101), kann Anwendbarkeit dieser Angaben auch für Schütz bejaht werden.

Folgt man der Frage der Tempoänderungen, müsste in gleicher Weise eine Übereinstimmung von Werk oder Äusserungen Schütz', Werk oder Äusserungen Prätorius', Angaben zeitgenössischer theoretischer Schriften und allgemeinen Erkenntnissen über die Zeit zur Formulierung eines Urteils gesucht werden. Johnston begnügt sich in Bezug auf Schütz hier mit der Behauptung: "Es gibt viele Stellen in den Psalmen Davids und in anderen Werken von Schütz, die sich mit den hier erwähnten Werken des Prätorius und den daraus zitierten Passagen vergleichen liessen." (Johnston 1987, 104).

Bei der Frage der Verzierungen ist die Querverbindung dichter, indem die pädagogische Vorschrift einer Einarbeitung sowohl des simplen als auch des verzierten Stimme bei beiden aufgefunden wird und aus einem dichten Netz von Traktaten über reiche Anwendung, unter anderem vom Schütz-Schüler Christoph Bernhard, dessen Erfordernis auch für Schütz annehmen lässt. Hier vermutet Johnston auch eine Verbindung mit langsamer Tempogebung, die eine reichhaltige Ausschmückung erst ermöglicht.

Des Weiteren zitiert er die allgemeinen Bemühungen um Variationsreichtum, der sich in Prätorius' Schriften ebenso finden lässt wie in der einfachen Betrachtung der Verschiedenheit in der Zeit vorhandener Ensembles, sicherlich auch "aus der Not geboren, aber viel öfter, wie es scheint, durch eine Liebe zu vielfältigen Variationen und stetiger Erneuerung entstanden ist." (Johnston 1987, 105)

Betrachtet man, trotz des Mangels an direkten Äusserungen Schütz' und der in diesem Artikel eher oberflächlichen Einbeziehung seiner Werke in die Argumentation, das so beschriebene Netz an Informationen, gefestigt vor allem durch Prätorius' umfassende Abhandlungen mit ihrer starken Verbindung zu seinen Werken, kann die anvisierte Übertragung auf die Aufführung von Werken Schütz' durchaus akzeptiert werden.

Problematisch bleibt denn letztendlich auch eher Johnstons fast dogmatische Entscheidung der vitalen, nicht zu entscheidenden Frage nach Authenzität und musikalischer Qualität: "Das alles bestätigt uns in der Meinung, dass dies die Art und Weise ist, in der die Musik von Schütz zu Gehör gebracht werden soll." (Johnston 1987, 99).

Denn das Ziel, darin stimme ich Stefan Kunze zu, kann nicht in der "'originalen' Klangerscheinung" liegen, "deren Rekonstruktion in Wirklichkeit eine Fiktion ist" (Kunze 1983, 120). Authenzität besteht nur in dem Moment der Aufführung, mit allen Elementen, die dabei zum Tragen kommen. Dazu gehört auch die darin ausgedrückte Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit. Schließt man also die Möglichkeit, die Legitimität einer spezifischen Aufführungsvariante aus, liegt darin eine Positionierung zum Umgang mit dem zeitlich Entfernten und dessen Bedeutung für das Jetzt. Und darüber lässt sich reden.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Blume, Friedrich: Das Werk des Michael Praetorius. I. Der Plan, Zeitschrift für Musikwissenschaft 17, 1935, S. 321-331

Forchert, Arno: Das Spätwerk des Michael Praetorius. Italienische und deutsche Stilbegegnung (Berliner Studien zur Musikwissenschaft 1), Berlin 1959

Forchert, Arno: Artikel Michael Praetorius, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil, Bd. 13, Kassel 2005, Sp. 884-892

Gutknecht, Dieter: Artikel Aufführungspraxis, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 1, Kassel 1994, Sp. 954-986

Johnston, Gregory S.: Michael Praetorius und die Aufführungspraxis, in: Ingeborg Stein (Hrsg.): Rezeption alter Musik. Kolloquium anläßlich des 325. Todestages von Heinrich Schütz vom 1. bis 3. Oktober 1997, Bad Köstritz 1999, S. 99-108

Kunze, Stefan: Musikwissenschaft und musikalische Praxis. Zur Geschichte eines Mißverständnisses, in: Alte Musik. Praxis und Reflexion (Sonderband der Reihe "Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis), Winterthur 1983

Praetorius, Michael: Polyhymnia Caduceatrix et Panegyrica (Gesamtausgabe, Bd. 17), Wolfenbüttel-Berlin 1930

Praetorius, Michael: Syntagma musicum I-III, (Faksimile-Reprint von 1614-1619), Kassel 2001

Unger, Robert: Die merhchörige Aufführungspraxis bei Michael Praetorius und die Feiergestaltung der Gegenwart, Gießen 1940

Wilson, Roland: Booklet zur CD „Praetorius. Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica. Solennische Friedt- und Freuden-Concert“, Vivarte S2K 62929, 1997

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Eine Aufnahme von Michael Praetorius' "Ach mein Herre, straf mich doch nicht" und ihre historisch-aufführungspraktischen Implikationen
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Institut für Musikwissenschaft)
Veranstaltung
Historische Aufführungspraxis
Note
1,5
Autor
Jahr
2006
Seiten
23
Katalognummer
V111511
ISBN (eBook)
9783640095629
ISBN (Buch)
9783656073642
Dateigröße
405 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Eine, Aufnahme, Michael, Praetorius, Herre, Implikationen, Historische, Aufführungspraxis
Arbeit zitieren
Enrico Ille (Autor:in), 2006, Eine Aufnahme von Michael Praetorius' "Ach mein Herre, straf mich doch nicht" und ihre historisch-aufführungspraktischen Implikationen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111511

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