Die Machtlosigkeit der Familientraditionen in der Moderne

Thomas Manns "Buddenbrooks" und Resat Nuri Güntekins "Yaprak Dökümü" im Lichte der Komparatistik


Masterarbeit, 2021

294 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


İÇİNDEKİLER

KISALTMALAR

ÖZET

ABSTRACT

EINLEITUNG

TEIL 1: VERGLEICHENDE LITERATURWISSENSCHAFT (KOMPARATISTIK)
1.1. Definition und Funktion der Komparatistik
1.2. Konturen der Komparatistik
1.2.1. Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
1.2.2. Komparatistik als Vergleich der Literaturen
1.2.3. Komparatistik als grenzüberschreitende Disziplin
1.2.3.1. Interdisziplinarität
1.2.3.2. Interliterarische Beziehungen und Zusammenhänge
1.2.3.3. Intertextualität
1.2.3.4. Interkulturalität
1.3. Die Fachgeschichte und Hauptrichtungen der Komparatistik
1.3.1. Französische und Amerikanische Komparatistik
1.3.2. Marxistische Komparatistikschule
1.3.3. Die Komparatistik in Deutschland
1.3.3.1. Goethes Konzept der “Weltliteratur”
1.3.4. Die Komparatistik in der Türkei

TEIL 2: DER FAMILIENBEGRIFF AUS VERSCHIEDENEN DISZIPLINEN
2.1. Definition des Begriffs Familie
2.2. Anthropologie der Familie
2.2.1. Entwicklung der Familie
2.2.1.1. Familie im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland
2.2.1.2. Familie im 19. und 20. Jahrhundert in der Türkei
2.3. Familie aus sozio-kultureller Sicht
2.3.1. Traditionen als wesentlicher Bestandteil der Familie
2.3.1.1. Familientraditionen in Deutschland
2.3.1.2. Familientraditionen in der Türkei
2.3.2. Familienformen
2.3.2.1. Der Wandel der Familienformen in Deutschland
2.3.2.2. Der Wandel der Familienformen in der Türkei
2.4. Der Familienbegriff aus rechtlicher Sicht
2.4.1. Deutsches Familien- und Eherecht
2.4.2. Türkisches Familien- und Eherecht
2.5. Der Familienbegriff aus religiöser Sicht
2.5.1. Die Ehe und Familie im Christentum
2.5.2. Die Ehe und Familie im Islam
2.6. Familie in der Literatur
2.6.1. Das Familienverständnis in der internationalen Literatur
2.6.2. Das Familienverständnis in der deutschsprachigen Literatur
2.6.3. Das Familienverständnis in der türkischen Literatur

TEIL 3: MODERNE DICHTUNG UND BIOGRAFISCH- LITERARISCHE GEGENÜBERSTELLUNG DER AUTOREN
3.1. Überblick über die moderne Dichtung und den Begriff “Die Moderne”
3.1.1. Der Moderne – Begriff und deren Abgrenzung
3.1.1.1. Abgrenzung zwischen den Bedeutungsebenen der “Moderne”
3.1.2. Zur modernen Dichtung der Jahrhundertwende und des 20. Jahrhunderts
3.1.2.1. Moderne Dichtung in Deutschland
3.1.2.2. Moderne Dichtung in der Türkei
3.1.2.3. Das Phänomen der Verwestlichung im modernen Roman
3.2. Biografie und Werke Thomas Manns in Anbetracht der modernen Dichtung
3.2.1. Die Einflüsse der modernen Dichtung auf Thomas Mann
3.2.1.1. Das bürgerliche l’art pour l’art: T. Manns Kritik an der Bürgerlichkeit und an ihrem paradoxalen Kunstverständnis
3.3. Biografie und Werke Reşat N. Güntekins in Anbetracht der modernen Dichtung
3.3.1. Die Einflüsse der modernen Dichtung auf Reşat N. Güntekin

TEIL 4: EINE KOMPARATISTISCHE ANALYSE DER WERKE
4.1. Buddenbrooks – im Überblick
4.1.1. Überblick über das Werk
4.1.1.1. Narrative Verfahren in Buddenbrooks
4.1.2. Inhaltsangabe des Werkes
4.1.3. Charakterisierung der Figuren der ersten Generation
4.1.3.1. Monsieur Johann Siegmund Buddenbrook sr
4.1.3.2. Madame Antoinette
4.1.4. Charakterisierung der Figuren der zweiten Generation
4.1.4.1. Johann Siegmund Buddenbrook jr. (Jean)
4.1.4.2. Elisabeth (Bethsy) Buddenbrook
4.1.5. Charakterisierung der Figuren der dritten und vierten Generation
4.1.5.1. Thomas Buddenbrook
4.1.5.2. Antonie (Tony) Buddenbrook
4.1.5.3. Christian Buddenbrook
4.1.5.4. Clara Buddenbrook
4.1.5.5. Hanno Buddenbrook
4.1.6. Charakterisierung der angeheirateten Figuren
4.1.6.1. Bendix Grünlich
4.1.6.2. Gerda Arnoldsen
4.1.6.3. Alois Permaneder
4.1.6.4. Sievert Tiburtius
4.2 . Yaprak Dökümü – im Überblick
4.2.1. Überblick über das Werk
4.2.1.1. Narrative Verfahren in Yaprak Dökümü
4.2.2. Inhaltsangabe des Werkes
4.2.3. Charakterisierung der Yaprak Dökümü Figuren
4.2.3.1. Ali Rıza Bey
4.2.3.2. Hayriye Hanım
4.2.3.3. Şevket
4.2.3.4. Fikret
4.2.3.5. Leyla
4.2.3.6. Necla
4.2.3.7. Ayşe
4.2.4. Charakterisierung der angeheirateten Figuren
4.2.4.1. Ferhunde Hanım
4.2.4.2. Abdülvehap Bey
4.2.4.3. Tahsin Bey
4.3. Komparatistischer Vergleich der Werke
4.3.1. Vergleich der Figuren
4.3.2. Ehefrauen / Ehemänner
4.3.3. Vergleich der Familienstrukturen
4.3.4. Die verfehlte Verwestlichung und die Bürgerlichkeit als Hindernis zur Selbstbestimmung
4.3.5. Destruktive Macht der kapitalistischen Modernisierung
4.3.6. Vergleich der Familientraditionen und Rituale

FAZIT

LITERATURVERZEICHNIS

KISALTMALAR

bzw.: beziehungsweise

d. Ä.: der Ältere

d. h. : das heißt

etc. : et cetera

geb. : geborene

jr. : junior

o. Ä. : oder Ähnliches

o.D. : ohne Datum

sr. : senior

u. a. : unter anderem

Sakarya Üniversitesi

Sosyal Bilimler Enstitüsü Tez Özeti

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ÖNSÖZ

Lisans eğitimimden bu yana bana ilham kaynağı olan, desteğini hiçbir zaman esirgemeyen sevgili Doç. Dr. Funda KIZILER EMER’e birikimiyle ve değerli görüşleriyle bu çalışmadaki katkıları ve desteği için teşekkürlerimi sunuyorum.

Ailemiz her birimizin hayatında tartışılmaz önemli bir rol alır. Huzurlu ve mutlu bir aile ortamını sunmak elbette ilk başta anne ve babanın elindedir. Bana bu çalışmam için motivasyon kaynağı olan aileme, eğitim hayatım boyunca beni maddi ve manevi destekleyen, bu çalışma esnasında beni daima sabırla ve anlayışla karşılayan sevgili Annem ve Babama teşekkürlerimi sunmayı borç bilirim.

Merve CİHANGİR

26/ 07/ 2021

EINLEITUNG

In einem Zeitalter der Neudefinition und Neuordnung verfasst der deutsche Schriftsteller Thomas Mann seinen Familienroman Buddenbrooks- Verfall einer Familie. Eine Familie, die gezwungen ist, sich von dem bisherigen Ideal des Bürgertums zu lösen und den entscheidenden Schritt in die Moderne zu wagen, steht in dem Roman von Thomas Mann im Mittelpunkt. Zweifellos soll sich durch die Jahrhundertwende um 1900 auf sozialer und kultureller Ebene sowohl in der Türkei als auch in Deutschland einiges ändern. Insbesondere durch neue naturwissenschaftliche Ansätze und Tendenzen, wie beispielsweise die Relativitätstheorie (1905) Einsteins, werden die Weltauffassung und das Selbstbild der Menschen erschüttert. Indes sollten sich grundlegende Begriffe wie Familie, Tradition, aufgrund der rapiden Modernisierung des Zeitalters, einer Reformation unterziehen. Jedoch stellt sich die Frage, inwiefern diese Umstellung sich auf die Familientraditionen der deutschen und türkischen Kultur ausgewirkt hat. Das moderne Zeitalter trieb die Menschen zunehmend in Metropolen, folglich sollten sich traditionelle Werte und Normen einer Reform unterziehen. Der zweite zu untersuchende Roman Yaprak Dökümü stammt von Reşat Nuri Güntekin, welcher ebenfalls den Verfall einer Familie im modernen Istanbul, der sogenannten Batılılaşma Dönemi (Periode der Verwestlichung) porträtiert. Beide Werke weisen Kontextanalogien im Bereich der Familientraditionen, der zunehmenden Modernisierung und nicht zuletzt im Motiv der Dekadenz auf.

Die vorliegende Studie soll sich mit der zunehmenden Machtlosigkeit der Familientraditionen durch Aufkommen der Moderne anhand der Fallbeispiele Thomas Manns Buddenbrooks (1901) und Reşat Nuri Güntekins Yaprak Dökümü (1930), sowohl interkulturell als auch interdisziplinär auseinandersetzen. Hierbei sollen Untersuchungen der Familiensoziologie der türkischen und deutschen Kultur einen erheblichen Beitrag zum Verständnis leisten. Besonders das Ansehen der Familien und ihre gesellschaftliche Position, ist mit der Zugehörigkeit zur Bourgeoisie und Aristokratie eng verknüpft und soll sich im Verfall verdeutlichen. Bei beiden Werken handelt es sich um eine Familienchronik, die sich insbesondere mit dem Übergang zur Moderne befasst und ferner die daraus resultierenden Probleme reflektiert. Ebenso ist die Suche nach der Identität in beiden Werken durch den Übergang in die Modernität gekennzeichnet. Trotz dessen ist jedoch der Verfall der beiden Familien unmittelbar der unaufhaltsamen Macht der Moderne gegenübergestellt, und soll das Familienverständnis beider Familien in seinen Grundfesten erschüttern.

Thema der Forschung

Im Zeitalter der Modernisierung bedingt durch gesellschaftliche, historische, kulturelle und wissenschaftliche Umstände unterliegt auch das Konzept der Familie einer Neudefinition, was sich auch bei Thomas Manns‘ Buddenbrooks herausstellen soll. Traditionen büßen ihre allgemeingültige Kraft ein, was nicht zuletzt mit dem Modernisierungsprozess des 20. Jahrhunderts zusammenhängt. Wenn man sich anfangs noch an den Standesidealen der Ehrlichkeit, Tugend und Pflichterfüllung orientiert, lösen sich mit Einsetzen der Moderne die Ideale wie: “Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Tugend Pflichterfüllung” (Kurzke, 1997, S. 47) auf. Stattdessen etabliert sich das, was ursprünglich noch als Laster angesehen wurde: “Faulheit, Verschwendung, Liederlichkeit, Lasterhaftigkeit, Unzuverlässigkeit, Lebensgenuß, Romanlesen und Müßiggang” (Kurzke, 1997, S.47). Folglich stehen Familientraditionen der Macht der Moderne wehrlos gegenüber, da eine Bourgeoisie im ursprünglichen Sinne durch die Umstände des 20. Jahrhunderts nicht mehr möglich war. Thomas Mann kritisiert gerade die vorherrschenden bürgerlichen Tugenden, die oftmals als scheinheilig entlarvt wurden. Der Volksmund spricht in diesem Zusammenhang auch von einem “Spießbürger” (Kocka, 1988, S. 15), welcher die gesellschaftlichen Sitten, Ansichten und Traditionen vorbehaltlos annimmt und nicht hinterfragt, da er sich der Tradition zu beugen hatte (Kocka, 1988, S.15). Fachspezifisch handelt es sich hierbei um den Philister, einen “engstirnige[n] Mensch[en]” (Wahrig, 2001, S. 975). Daraus resultiert, dass Ansichten und Traditionen wie anfangs bereits erwähnt, im Laufe der Zeit einer Neudefinierung unterzogen werden, die Buddenbrooks sowie die Familie aus dem Roman Yaprak Dökümü sind zwei deutliche Beispiele, die den Übergang in die Moderne /in diesem Sinne verdeutlichen. Im modernen İstanbul zeigt sich die Europhile, welche auch in Yaprak Dökümü ihre Folgen hinterlässt. Dem gegenüber steht das starre Moralverständnis des Familienvaters Ali Rıza Bey, welcher sich durch seinen konservativen und autoritären Charakter dem Modernisierungsprozess zu widersetzen versucht. Er beharrt auf die Vererbung eines sauberen Namens und die Wahrung der Familientraditionen, trotz der aufkommenden Batılılaşma – Begeisterung (Europhile) in der Türkei. Die besagte Begeisterung wird jedoch missverstanden, soziale Norm- und Wertesysteme unterliegen derweilen einer harten Probe. Insbesondere die Türkei ist daher auch von der verfehlten Verwestlichung (Yanlış Batılılaşma)1 betroffen. Das Familienhaus als Symbol der Geborgenheit und Tradition, kann der aufkommenden Metropolisierung, den wissenschaftlich sowie technologischen Entwicklungen und nicht zuletzt der Werte- und Normreformation nicht standhalten. Somit mündet das Ende jener Familie im unaufhaltbaren Verfall der Familientradition infolge der Macht der Moderne.

Aufbau der Forschung

Die Vergleichende Literaturwissenschaft soll im ersten Teil der vorliegenden Forschung eine besondere Bedeutung zugesprochen werden. Zunächst erweist es sich als eine Notwendigkeit die Zugehörigkeit und Beziehung der Komparatistik zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft einer Prüfung zu unterziehen. Relevante Begriffe wie Interdisziplinarität, Intermedialität und Interkulturalität sollen nicht nur definiert, sondern im Hinblick auf ihre Bedeutung innerhalb der Komparatistik durchleuchtet werden. Auch der Historik wird in diesem Rahmen eine besondere Beachtung geschenkt, da diese sowohl die Vorläufer der expliziten Institutionalisierung des Faches erklärt als auch die Unterteilung in die französische, amerikanische, marxistische und deutsche Schule beinhaltet. Auf dieser Grundlage soll ein Überblick über die internationale Literatur und die Bedeutung des Weltliteraturkonzeptes wiedergegeben werden. Der zweite Teil setzt sich auf soziologisch-historischer Ebene mit dem Bild der Familie auseinander. Nach einer interdisziplinären Definition des Begriffs erfolgt ein Überblick über die Anthropologie der Familie. Anschließend wird die Familiengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Deutschland und der Türkei umrissen. Um einen möglichst interdisziplinären Überblick über die Familienbilder zu verschaffen, werden diese zunächst auf religiöser und rechtlicher und anschließend auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene definiert. Dem Untersuchungsschwerpunkt entsprechend, erfolgt eine besondere Berücksichtigung des Traditionsverständnisses der Familien. Im dritten Teil sollen die Biografien der Autoren Thomas Mann und Resat Nuri Güntekin unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftspolitischen Umstände ihrer Zeit hinreichend dargestellt werden. Es folgt ein Überblick über die Einflüsse auf die Autoren, begleitet durch kurze Anmerkungen zu ihrem literarischen Schaffen. Um den Begriff der Moderne nicht zu missdeuten, erweist es sich als notwendig das neuzeitliche bzw. moderne Denkmuster von der literarischen Moderne abzugrenzen. Besonders im ausgehenden 19. Jahrhundert gehen die Meinungen in Europa auseinander, jene die das 20. Jahrhundert mit Fortschrittsoptimismus und Begeisterung entgegenblicken und andere die sich der Endzeit- und Untergangsstimmung hingeben. Auf dieser Grundlage sollen die historischen Ereignisse ebenso eine wichtige Rolle einnehmen, wie das Krisenbewusstsein des modernen Subjekts und die daraus resultierenden Folgen für das Literaturverständnis. Derweilen steht das Osmanische Reich vor seinem Ende, die territoriale Zerstückelung und der Machtverlust angesichts der Technologisierung, Urbanisierung sowie Industrialisierung des Westens begründet nicht nur das Ende eines erschöpfenden langen Jahrhunderts, sondern auch das alltägliche Ende des Imperiums. Die einzige Rettung zeigt sich in der Verwestlichung des Staatsystems. In diesem Rahmen sollen die historischen Umstände des Osmanischen Reiches bis hin zur Ausrufung der Türkei zur Republik stets begleitend aufgegriffen werden, dies soll sich in dem Überblick über die Ansätze der modernen türkischen Literatur verdeutlichen. In Anlehnung an den Forschungsschwerpunkt dieser Arbeit, wird das Motiv der Modernisierung bzw. verfehlten Verwestlichung auf die gesellschafts- und kulturspezifische Bedeutung im türkischen Roman überprüft. Der letzte Teil dieser Studie soll zunächst einen Überblick über den Inhalt der Werke Buddenbrooks und Yaprak Dökümü geben, anschließend sollen die Figuren der beiden Romane gegenübergestellt und in Anlehnung an den soziologischen, historischen und epochenspezifischen Ergebnissen der vorangegangenen Kapitel verglichen werden. Die Orientierung erfolgt hierbei stets an der Modernisierung, dem Verlust des Traditions- und Moralverständnisses, sowie der Kontextanalogie des Verfalls.

Hypothese und Zielsetzung der Forschung

Die vorliegende Arbeit soll sich in grenzüberschreitender Perspektive mit der Machtlosigkeit des traditionellen Familienideals gegenüber der skrupellosen Modernität und dem Aufkommen der neuen Ideale beschäftigen und diesbezüglich folgenden Fragestellungen eine Antwort liefern:

Inwiefern beeinflussen die Umstände des 20. Jahrhunderts die Familientraditionen in Buddenbrooks und Yaprak Dökümü?

Welche Rolle spielen die kulturellen und historischen Aspekte bei dem Niedergang der beiden Familien?

Wie gestaltet sich die Loslösung und Abkehr von bürgerlichen Werten in Buddenbrooks und die Hinwendung zur Europhile in Yaprak Dökümü?

Wie wirken sich finanzielle Umstände auf der Grundlage des Kapitalismus sowie materielle Einstellungen der Figuren auf das Familienleben aus ?

Wie gestaltet sich die Macht des Geldes im Gegenzug zum Familienzusammenhalt und zur Moral?

Besonders im Zeitalter der fortgeschrittenen Technologien, des Weltverkehrs und vor allem der seit dem Jahr 2020 andauernden Pandemiesituation zeigte sich erneut die besondere Stellung der Familie in unserem Leben. Sie ist das was uns zu dem macht, was wir sind, formt unsere Wertvorstellungen, ist ausschlaggebend für unser Weltbild und gewissermaßen auch unsere Zukunft. Auf dieser Grundlage ist es uns ein Bedürfnis durch die vorliegende Studie, die besondere Stellung und Tragweite der Familien hervorzuheben. Die Thematik der vorliegenden Studie ist nach heutiger Situation nicht allzu fremd, Familienkonzepte sind stets dynamisch, sie unterliegen einer stetigen Neukonstruktion sei es durch gesellschaftliche, kulturelle oder globale Faktoren. Reşat Nuri Güntekin schafft durch sein Portrait der osmanischen Familie rund vierzig Jahre nach dem Erscheinungsdatum der Buddenbrooks ein Werk, dass durch gesellschaftliche Umstände, Familienbindungen, Traditionen und nicht zuletzt durch Verfallssymptome deutliche Analogien zum Werk Manns darstellt. Dies legt den Verdacht nahe, dass die Autoren, bedingt durch historisch- politische Umstände der Jahrhundertwende, das Familienkonzept in Gefahr gesehen und die literarische Gestalt verliehen haben. Ferner ist es ein Anliegen durch den komparatistischen Vergleich zu beweisen, dass sich zwei Kulturen trotz ihrer geografischen Entfernung nicht allzu sehr unterscheiden und außerdem das Fremde möglicherweise bekannter ist, als erwartet. Vor allem durch die komparatistische Forschungsmethode ist ein bescheidener Beitrag zum Völkerverständnis beabsichtigt, in der Vorurteile gegen das andere Land, durch Neugier am Vergleich mit dem anderen Land ersetzt worden ist.

Methode der Forschung

Im Volksmund wird häufig diskutiert “man solle nicht Äpfel mit Birnen vergleichen … Warum aber sollen Äpfel und Birnen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen, nicht vergleichbar sein?” (Zemanek, 2012, S. 8). Letztere Frage sollte durch die folgende Studie Recht behalten: Aus welchem Grund sollte keine komplexe Beziehung zwischen fremdsprachigen Texten bestehen, die sich auf der Basis des Kontexts und ferner dem sozio- kulturellen Hintergrund derart gleichen? Es sei darauf hingewiesen, dass die Redewendung des Volksmundes: “Man solle nicht Äpfel und Birnen vergleichen” (Zemanek, 2012, S. 8), außer Acht lässt, dass Äpfel und Birnen sich dahingehend gleichen, als dass sie der Lebensmittel- Kategorie des Obstes angehören. Auf dieser Grundlage ist stark anzunehmen, dass es annähernd möglich ist Vergleichsbeziehungen herzustellen, obgleich kein explizit nachweisbarer Kontakt zwischen den Autoren oder den Werken besteht. Die Methoden des historisch-typologischen sowie thematischen Vergleichs wurden angewandt, da sie sich auf das Phänomen des Verfalls der Institution Familie in verschiedenen Ländern, während der von der Moderne dominierten historischen Periode konzentrierten. Die Methodik der komparatistischen Analyse möchte sich in diesem Zusammenhang als äußerst fruchtbar erweisen, da sie durch ihre interdisziplinäre Ausrichtung den Forschungsraum erweitert und demnach ein breites Spektrum an Untersuchungsmethoden darbietet. Die Untersuchung dieser Studie soll dem Ansatz der Komparatistik entsprechend in grenzüberschreitender Perspektive erfolgen und beide Kulturelemente vergleichend darstellen. In diesem Rahmen sei angemerkt, dass historisch, politische und gesellschaftliche Umstände das Werk der Autoren Mann und Güntekin beeinflusst haben. Es liegt der Verdacht nahe, dass sowohl Mann als auch Güntekin unter dem Einfluss der Jahrhundertwende standen und ihren Werken eine deutliche Gesellschaftskritik zu entnehmen ist. Der Vergleich soll sich vorwiegend an Kontextanalogien orientieren, jedoch auch charakterspezifische Merkmale der Figuren auf Ähnlichkeit und Unterscheidungen aufgreifen. Eine besondere Stellung wird in diesem Rahmen dem Familienmotiv, der Abschwächung des Traditionsverständnisses und dem Einfluss der Moderne eingeräumt.

Die vorliegende Studie orientiert sich durch die grenzüberschreitende Vergleichsmethode sowohl an historischen als auch soziologischen Aspekten der Gesellschaft, indes vereint sie die Methoden der Hermeneutik, Rezeptionsästhetik sowie die leser- und autorbezogene Methodik und wendet diese gesamtübergreifend in einer eklektischen Forschungsweise an.

Stand und Relevanz der Forschung

In der vorliegenden Studie, welche die Grenzen der türkischen und deutschen Literatur sowie Kultur überschreitet, ist es unausweichlich, bei der Betrachtung des Forschungsstandes, die Ergebnisse sowohl in der Türkei als auch in Deutschland zu berücksichtigen. Folglich wurden Recherchen zum Forschungsstand in zwei Kategorien aufgeteilt:

A) Bei der Betrachtung des Forschungsstandes in der Türkei ließ sich feststellen, dass der Thematik dieser Arbeit nur mäßig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

1. Wissenschaftliche Arbeiten, welche die Werke Buddenbrooks und Yaprak Dökümü vergleichend untersuchen: Es lässt sich lediglich eine ähnliche Arbeit aus dem Jahre 1989 festhalten Frauenbild und Erziehung – eine vergleichende Arbeit zu Thomas Manns‘ Buddenbrooks und Reşat Nuri Güntekins Yaprak Dökümü von Kadriye Öztürk. Die Autorin befasst sich in dieser Untersuchung mit dem Frauen- und Erziehungsbild der beiden Romane im interkulturellen Kontext. Da sich der Fokus dieser Arbeit, an dem Frauen- und Erziehungsbild orientiert, werden das Familienideal und die Wertvorstellungen des 20. Jahrhunderts, lediglich kurz umrissen. In diesem Sinne scheint der Begriff der Familientradition besonders um 1900 unter Berücksichtigung der beiden Werke, noch ungeklärt.
2. Vergleichende Arbeiten mit einer ähnlichen Thematik: Eine ähnliche Arbeit mit dem Fokus auf dem Bild der Familie und der Gesellschaft der Werke Buddenbrooks von Thomas Mann und Cevdet Bey ve Oğulları (Herr Cevdet und seine Söhne) wurde im Jahre 2010 unternommen. Die beiden Werke wurden hinreichend im Hinblick auf ein breites Spektrum der Familien und gesellschaftlichen Aspekte vergleichend dargestellt. Jedoch wurde in dieser Arbeit auf die Methodendarstellung zu Anfang der Arbeit (Komparatistik) gänzlich verzichtet. Zwar handelt es sich thematisch um einen ähnlichen Untersuchungsgegenstand, jedoch soll die vorliegende Arbeit durch ausführliche Ausarbeitung der Methodik, ein Ansatz des Vergleiches im Hinblick auf das Familienbild der Moderne bieten. Ungeachtet dessen, handelt es sich bei dieser Arbeit bei dem Vergleichswerk zu den Buddenbrooks, zwar um ein türkisches, jedoch völlig anderes Werk.
3. Vergleichende Darstellung der Buddenbrooks zu anderen Werken, jedoch keine thematischen Parallele zum Familienideal des 20. Jahrhunderts:

Eine vergleichende Untersuchung über die Romane Oblomov von I.A. Goncharov; Buddenbrooks von Thomas Mann; und Cevdet Bey ve Oğulları von Orhan Pamuk (2019) von Nergis Karaca, untersucht im Hinblick der Literaturpsychologischen Methode oblomovische Figuren. Die Autorin setzt hierbei den Schwerpunkt auf einzelne Figuren und ihre Charaktermerkmale, die sich zu gleichen scheinen. Zwar wurde in diesem Sinne das Werk Buddenbrooks aus einer vergleichenden Perspektive betrachtet, jedoch soll sich diese Arbeit gänzlich von dem komparatistischen Vergleich der Werke Yaprak Dökümü und Buddenbrooks in Hinblick auf die Forschungsmethodik und Thematik, unterscheiden.

B) Die Recherche in Deutschland ergab folgende Ergebnisse:

Untersuchungen mit ähnlicher Thematik (eine Auswahl):

2016 unternimmt Stefanie Poschen eine ähnliche Untersuchung, die jedoch wie bereits der Titel aussagt, Die Macht der Familientradition bei Thomas Mann. Tony Buddenbrook auf dem Weg in die Ehe mit Bendix Grünlich mit dem Titel der vorliegenden Studie kontrastiert. Während sich Poschen mit der „Macht“ der Familientraditionen in Manns Werk auseinandersetzt, untersucht die vorliegende Studie die „Machtlosigkeit“ unmittelbar in Folge des Modernisierungsprozesses der Jahrhundertwende. Ferner setzt die Autorin ihren Schwerpunkt auf die Thematik der Ehe, eine Parallele zu der vorliegenden Studie herzustellen ist, zumindest auf thematischer Ebene obsolet. Aus methodischer Sicht unterscheidet sich diese Studie dahingehend, dass sie die Forschungsmethode der Komparatistik heranzieht. Katja Ferschen unternimmt eine Untersuchung mit dem Titel: Thomas Manns "Buddenbrooks" und die Ideologie der immanenten familiengeschichtlichen Entwicklungsdynamik (o.D.), eine Parallele zur vorliegenden Arbeit zeigt sich durch den Schwerpunkt der Familiengeschichte, jedoch soll sich diese Studie durch den komparatistischen Vergleich von der Ferschens grundlegend unterscheiden. Ähnliches ist bei Heide Lutosch im Jahre 2007 der Fall, entscheidend ist jedoch, dass Lutosch durch ihre Studie: Ende der Familie – Ende der Geschichte. Zum Familienroman bei Thomas Mann, Gabriel García Márquez und Michel Houellebecq einen ähnlichen Vergleich unternimmt, wie es in unserer Studie der Fall ist. Die Vergleiche unterscheiden sich lediglich in Ihrer Wahl des Bezugstextes, die Thematik unserer Studie zielt ebenfalls auf eine Art „Ende der Familie“ ab. Michael Vogtmeier unternimmt 1987 folgende Analyse Die Familien Mann und Buddenbrook im Lichte der Mehrgenerationen, Familientherapie. Untersuchungen zu Thomas Manns Buddenbrooks – Verfall einer Familie.

Untersuchungen mit ähnlicher Methodik (eine Auswahl):

Yan Baoyus Studie mit dem Titel Buddenbrooks ein deutscher „Hohn Lou Meng“? – Ein komparatistischer Versuch an zwei zeitlich und kulturräumlich verschiedenen Romanen: Thomas Manns „Buddenbrooks“ und „Der Traum der Roten Kammer“ von Cao Xueqin“ aus dem Jahre 1991 weist besonders auf methodologischer Ebene eine Ähnlichkeit zu unserer Studie auf. Eine ähnliche Untersuchung stammt von Stefan Buchenberger aus dem Jahre 2004 Verfall zweier Familien; Tanizaki Junichirôs Sasameyuki und Buddenbrooks; ein Vergleich. Ebenfalls auf der Grundlage zweier Familien- Fallbeispiele unternimmt der Autor einen komparatistischen Vergleich. Sina Eck vergleicht schließlich im Jahre 2016 Die Jünglingsfiguren Felix Krull, Tonio Kröger und Hanno Buddenbrook vor dem Hintergrund der Dekadenzthematik. Eine komparatistische Analyse Festhaltung der apollinischen Existenz oder unabwendbarer Einbruch von Chaos und Barbarei ?, auch hier zeigt sich die Analogie der Methodik zur vorliegenden Studie.

Diese Studie unterscheidet sich von den bisher genannten Arbeiten durch eine detaillierte methodologische Erläuterung, eine interdisziplinäre sowie grenzüberschreitende Forschungsvorgehensweise und nicht zuletzt durch die erstmalige Vergleichskonstellation der Buddenbrooks und Yaprak Dökümü im Rahmen der Familienthematik.

TEIL 1: VERGLEICHENDE LITERATURWISSENSCHAFT (KOMPARATISTIK)

1.1. Definition und Funktion der Komparatistik

“Gleichnisse dürft ihr mir nicht verwehren. / Ich wüßte mich sonst nicht zu erklären” Johann Wolfgang v. Goethe (https://www.aphorismen.de/zitat/80734; 2018)

Die Vergleichende Literaturwissenschaft, bildungssprachlich auch als Komparatistik bezeichnet, beschäftigt sich im Allgemeinen mit der Methodik des Vergleichs zweier oder mehrerer Komponenten und bewegt sich hierbei jenseits von kulturellen, sprachlichen, disziplinären und nationalen Grenzen. Als Teildisziplin der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft kurz AVL, versucht sie durch ihre internationale Ausrichtung Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszustellen, um somit zu einem übergreifenden, transnationalen Erkenntnisgewinn zu gelangen. Sie löst sich von den Schranken der Nationalphilologie und arbeitet stets interdisziplinär, aus diesem Grund wird sie auch oft als fruchtbare Wissenschaft bezeichnet. Zum einen lassen sich die Untersuchungsschwerpunkte der Komparatistik nur schwer eingrenzen, ferner setzt sie durch ihre Mannigfaltigkeit einen hohen Anspruch an ihre Wissenschaftler, sie müssen sich sowohl in kulturellen, sprachlichen und internationalen Phänomenen zurechtfinden und Beziehungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden herstellen können. Doch was bedeutet dies konkret, was ist das für eine Wissenschaft, die sich von den Konventionen der Nationalphilologie löst und ihren eigenen Weg geht? Einen ersten Anhaltspunkt bezüglich der Definition des Begriffs soll von Wilpert (1979) in seiner Definition zur Komparatistik geben:

Vergleichende Literaturwissenschaft oder Komparatistik greift über die nationalen Schranken der literarischen Entwicklung hinaus auf die Weltliteratur aus, erfaßt alle übernationalen u. internationalen literarischen Phänomene, die sich aus einer einzelnen Nationalliteratur heraus nicht erklären lassen, und untersucht das hist./ diachron. und regional/ sychron. Austauschverhältnis und geschichtliche Zusammenwirken der verschiedenen Nationalliteraturen. (S. 877)

Dem obigen Zitat zufolge ist die Erschließung der Literatur durch die Grenzen der Nationalliteraturen nur bedingt möglich, da sie es nicht ermöglicht Sachverhalte in einem transnationalen Zusammenhang zu erfassen. Dies soll zweifelsohne nicht bedeuten, dass eine Deutung literarischer Phänomene durch die Methoden der Nationalphilologien nicht oder ungenügend zur Erfassung beiträgt, die Komparatistik ist nicht als Ersatz- sondern eher als Ergänzungsdisziplin zu verstehen, sie verspricht eine offenere Perspektive. Demnach sind für den Komparatisten die Neugierde und Offenheit gegenüber dem Fremden und synthetisches Denken von besonderer Bedeutung (Schmeling, 2013, S. 234). Auch Zemanek (2012) teilt die Auffassung Wilperts, bezüglich der begrenzten Möglichkeiten der Nationalliteraturerschließung: “Keine Nationalliteratur erschließt sich allein aus sich selbst, ohne den Blick auf die anderen” (S. 9) sie verweist hierbei darauf, dass Texte in Beziehung zu transnationalen Produktionen stehen können, da kulturelle Inhalte im Rahmen der Komparatistik eine bedeutende Rolle spielen und in einer Wechselbeziehung zueinanderstehen. Ferner weist Zemanek darauf hin, dass sich Komparatisten nicht ausschließlich auf den Vergleich von Texten beschränken, sie machen nur zu gern Gebrauch von Nachbarsdisziplinen wie: der Kunst-, der Medien-, Theaterwissenschaft, aber auch der Politologie, der Psychologie oder auch der Religionswissenschaft, wodurch sie verschiedene Ansätze in einer interdisziplinären Untersuchung vereint (Zemanek 2012, S. 12). Aus diesem Grund ist der Spielraum der Vergleichende Literaturwissenschaft derart groß, dass weder eine Eingrenzung noch eine einzige Definition zum Verständnis ausreichen könnte. Sie ist eine Wissenschaft, in welcher Interdisziplinarität, interkulturelles Literaturverständnis und besonders internationale Ausrichtungen eine bedeutende Rolle spielen. Grabovski (2011) sieht dies ähnlich, er verweist hierbei besonders auf die Bedeutung von Literaturübersetzungen, die stets Nationalgrenzen überschreiten: “Die Vergleichende Literaturwissenschaft untersucht Literatur als internationales Phänomen: Literatur wirkt über Länder-, Kultur- und Sprachgrenzen hinweg, kann nicht nur dort, wo sie entstanden ist, gelesen werden, sondern auch anderswo, vor allem, wenn sie übersetzt ist” (S. 20). Trotz Nationalphilologien, wie beispielsweise die Germanistik, Romanistik oder Turkologie, betont Grabovski die Notwendigkeit der Komparatistik aufgrund ihrer Fähigkeit diese in Beziehung zu setzen, “bei denen der Vergleich als Medium der Erkenntnisgewinnung in den Vordergrund tritt” (Lampart, 2013, S. 263). Corbineau- Hoffmann (2004) definiert den Gegenstandsbereich der Komparatistik wie folgt:

Die Komparatistik beginnt dort, wo die anderen Philologien enden; sie setzt grenzüberschreitend ein, wenn die Nationalphilologien an ihre Grenzen stoßen. Ist schon der Fremdsprachenphilologe in anderen Ländern zu Hause, scheint der Komparatist ein Weltbürger zu sein, dessen Heimat überall dort ist, wo es Literatur gibt. (S. 12)

Demnach ließe sich behaupten, dass es sich um eine Art Schichtwechsel zwischen Nationalphilologen und Komparatisten handelt, da letztere gerade dort übernehmen, wo die Nationalphilologen an das Grenzgebiet ihrer Literatur stoßen, dies unterstützt den bereits erwähnten Gedanken der Komparatistik als Ergänzungsdisziplin, den wir zu Anfang des Kapitels aufgeführt haben. Hugo Dyserinck beschreibt die Fähigkeit der Wahrnehmung mehrerer Perspektiven und somit die erweiterte Sichtweise der Komparatisten als die sogenannte supranationale Betrachtungsweise:

Es handelt sich um jene von Nationalphilologien grundsätzlich abweichende supranationale Betrachtungsweise, die eben an keinen einzelliterarischen Bereich gebunden ist und die sich eines Kategoriesystems bedient, das auf den besonderen Charakter einer multinationalen Einheit diverser Literaturen ausgerichtet ist ….Dabei lässt sie nicht zuletzt die Tatsache zum Tragen kommen, dass dieses literarische Geschehen sich nun einmal in Formen vollzieht, die- um gleich die wichtigsten Extreme zu nennen – vom rein Ästhetischen bis zum bewußt politisch Engagierten reichen können. Daher ist die Komparatistik sich von Anfang an auch ihrer besonderen Bedeutung für jene Prozesse bewußt gewesen, die man unter dem etwas vagen Begriff ‚Völkerverständigung‘ zusammenzufassen pflegt. (Dyserinck zitiert nach Kızıler Emer, 2019, S. 162)

Somit sieht Dyserinck durch die supranationale Betrachtungsweise eine Aussicht auf eine Völkerverständigung, die sich demnach durch die Erweiterung der Sichtweise und der Loslösung von nationalphilologischen Konventionen, verwirklichen ließe. Ein ähnlicher Ansatz lässt sich auch in dem Konzept der Weltliteratur von Goethe nachweisen, nach Corbineau- Hoffmann (2004) hat dieser folgenden Vorstellung von der völkerverbindenden Methode:

Die Begriffsprägung [Weltliteratur] steht im Zusammenhang mit den völkerverbindenden, transnationalen Ideen des späten Goethe. 'Weltkommunikation", "Weltverkehr", "Weltfrömmigkeit" und "Weltbildung" (im Gegensatz zu Nationalbildung) sowie schon ältere "Weltbürger" (Kosmopolit) gehören zu Goethes Zukunfts- und Wunschvorstellungen. (S. 19)

Zwar handelt im Fall Goethes lediglich um einen Vorläufer, beziehungsweise einen Ansatz der Komparatistik, der aus einem berühmten Gespräch mit P. Eckermann (1937) stammt, jedoch zeigt sich, dass sich durchaus Parallelen zum vagen Völkerverständigungs- Gedanken Dyserincks nachweisen lassen. Beide Ansätze zielen auf eine Beziehungsherstellung der Völker und stellen eine “kognitive Brücke zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen unterschiedlichen Kulturen, unterschiedlichen Literaturen, Disziplinen oder Künsten” (Schmeling, 2013, S. 234) dar, wodurch die Komparatistik “jedenfalls strukturell, die Funktion einer ‚Beziehungswissenschaft (Schmeling, 2013, S.234) erfüllt. Die Geburtsstunde der Komparatistik ist umstritten, Dyserinck ist der Ansicht, dass das “Interesse am vergleichenden Betrachten” bereits erfolgen sollte als “Menschen angefangen haben, sich über Literatur zu äußern …” (Dyserinck zitiert nach Kızıler Emer, 2019, S. 159). In der Tat handelt es sich um eine Wissenschaft, die ihre Ursprünge bereits in der Antike hat. Kızıler Emer betont, dass Frankreich zwar einen bedeutenden Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Komparatistik beigetragen habe, jedoch die eigentlichen Vorläufer der Vergleichenden Literaturwissenschaft aus Deutschland stammen, wie beispielsweise Johann G. Herder (1744-1803), August Wilhelm Schlegel (1767-1845) und dessen Bruder Friedrich Schlegel (1772-1829) und nicht zuletzt Johann Wolfgang von Goethe (1749- 1832).

1.2. Konturen der Komparatistik

Die Konturen der Komparatistik zeichnen sich durch die Säulen der Allgemeinen Literaturwissenschaft und der Vergleichenden Literaturwissenschaft aus. Was anfangs als eine diffuse Wortkonstellation aufgefasst werden kann, wird im akademischen Gebrauch oftmals als AVL abgekürzt und wenig hinterfragt. Allgemeine Literaturwissenschaft ist heute als gesamtübergreifender Begriff anzusehen, welcher vorzugsweise methodologische, theoretische und dichtungsbezogene Inhalte verkörpert (engl. general literature, comparative literature theory, comparative criticism, ndl. Allgemene literatuurwetenschap, frz. littérature générale usw.) (Zymner & Hölter, 2013, S. 5). Die Vergleichende Literaturwissenschaft, sowohl interkulturell als auch interdisziplinär ausgerichtet, befasst sich wie der Name unschwer erkennen lässt primär mit dem Vergleich (frz. littérature comparée, eng. comparative literature, ndl. Verglijkende literaturwetenschap, spran. Literatura comprada) (Zymner & Hölter, 2013, S. 17).

1.2.1. Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft

Eine Abgrenzung der Allgemeinen und der Vergleichenden Literaturwissenschaft, ist freilich nicht ohne weiteres herzustellen, da zwar die Allgemeine Literaturwissenschaft gewissermaßen ohne die Komparatistik weiter bestehen kann, letztere jedoch von der Allgemeinen abhängig ist. Corbineau- Hoffmann (2004) spricht in diesem Zusammenhang von einem “gegenseitige[n] aufeinander- Angewiesen- Sein” (S.14). Da das Fach heutzutage sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern eine hohe Popularität genießt, wird sie auch an den Universitäten als Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft kurz AVL benannt. Auch wenn der Begriff heute nur wenig Diskussionsspielraum bietet, zeigt sich in der Historik, eine umstrittene Meinung bezüglich der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Der tschechisch- amerikanische Literaturwissenschaftler René Wellek (1903-1995) setzte sich beispielsweise für die Aufhebung der Trennung der Allgemeinen und der Vergleichenden Literaturwissenschaft ein: “The artificial demarcation between ‚Comparative‘ and ‚General‘ Literature should be abandoned” (Wellek zitiert nach Corbineau- Hoffmann, 2004, S. 13). In Frankreich zeigt sich die Unterteilung der littérature générale und der sogenannten littérature comparée. Der französische Literaturwissenschaftler und Komparatist Paul Van Tieghem (1871-1948) “versteht unter ‚littérature générale‘ die Untersuchung von Strömungen und literarischen Erscheinungen, die nationale Grenzen überschreiten; die ‚littérature comparé‘ hingegen betrachtet einzelne Nationalliteraturen im Vergleich” (Corbineau- Hoffmann, 2004, S.13). Eine einfache und mit Verlaub einleuchtende Definition stammt von Richard Anthony Sayce: “‘General Literature‘ … the study of literature without regard to linguistic frontiers … ‚Comparative Literature‘… the study of national literatures in relation to each other” (Sayce zitiert nach Corbineau- Hoffmann, 2004, S. 13). Der Unterschied ist klar, die Allgemeine Literaturwissenschaft befasst sich jenseits jeglicher Sprachgrenzen mit literarischen Phänomenen, während die Vergleichende Literaturwissenschaft die Relationen der Nationalliteraturen untersucht. Zemanek (2012) skizziert dies genauer, während die Allgemeine Literaturwissenschaft sich in Anlehnung an “wissenschaftstheoretischen und methodischen Grundlagen der Literaturwissenschaft” (S.13) unter anderem mit “literaturtheoretischen Problemen… theoretischen Aspekten literarischer Produktion und Rezeption- jenseits der Partikularität einzelner Literaturen” (Zemanek, 2012, S.13) beschäftigt, vergleicht die Vergleichende Literaturwissenschaft “verschiedene Nationalliteraturen, literarische Epochen und Gattungen sowie Einzelwerke und deren Übersetzung“ (Zemanek, 2012, S.13) unter anderem widmet sie sich „interkulturellen Fragestellungen… vergleicht Literatur mit anderen Künsten und Medien” (Zemanek, 2012, S. 13). Das Resümee ist klar, der wohl entscheidendste Unterschied zwischen Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft ist die Instanz des Vergleichs. Die Relation der Allgemeinen und der Vergleichenden Literaturwissenschaft ist indes eine wechselseitige, sie impliziert eine Abhängigkeit, die sich wie folgt erklärt: “Die Allgemeine Literaturwissenschaft zieht Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen vergleichender Analysen; so befördert die Vergleichende Literaturwissenschaft die allgemeine Theoriebildung, während sie zugleich von ihr profitiert, indem sie sich auf allgemeintheoretische Prämissen beruft” (Zemanek, 2012, S. 13).

1.2.2. Komparatistik als Vergleich der Literaturen

“ce n’est que par une comparaison que nous connaissons précisément la vérité”2

Réne Descartes (Descartes zitiert nach Zelle, 2013, S. 130)

Bereits zu Anfang des Kapitels wurde die Bedeutung des Vergleichs im Rahmen der Komparatistik besonders hervorgehoben. Der Vergleich ist als unverzichtbares Element der Vergleichenden Literaturwissenschaft zu benennen, welches sich zur Aufgabe macht, Unterschiede und Parallelen literarischer Phänomene herauszustellen. So ist auch Zemanek (2012) der Ansicht, dass Arbeitspraktiken der Komparatisten “auf dem Prinzip des Vergleichs” (S.14) basieren und definiert dies wie folgt:

‚Vergleich‘ meint Feststellung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, mit dem Ziel, die jeweilige Eigenart der verglichenen Phänomene herauszustellen und das Verhältnis der beiden ebenso wie das darin enthaltene Allgemeine zu erkennen. Der Vergleich hat grundlegende Funktion für ästhetische Urteilsbildung. (Zemanek, 2012, S. 18)

Demzufolge trägt die Komparatistik einer von der Nationalliteratur unabhängigen Betrachtungsweise bei, hierbei liegt der Fokus nicht ausschließlich auf den Analogien der literarischen Produktionen, da zu beachten ist, dass auch die Diskrepanz aufgrund der verschiedenen Autoren, ihrer Kultur- und Weltauffassung, historische und soziologische Elemente eine bedeutende Position innerhalb der Komparatistik einnehmen. Dem etymologischen Ursprung der Komparatistik zufolge, zeigt sich nach Zelle (2004/ 2005), dass der Begriff auf das lateinische Verb comparare zurückzuführen ist (S. 14). Dies erinnert unmittelbar an die Komparatistik, wobei das Suffix -istik auf die Wissenschaftlichkeit der Disziplin hinweist. Während im französischen Sprachraum das Verb comparer und im englischen compare bevorzugt wird, nutzt man im Spanischen das Verb comparar, auffallend ist hierbei, stets derselbe Wortursprung des Lateinischen. Dies zeigt sich auch bei den Vergleichsinstanzen: Grob ausgedrückt, beinhaltet ein Vergleich zwei Komponenten und eine verbindende Instanz. Fachspezifischer ausgedrückt: Man unterscheidet zwischen dem comparandum dem Verglichenen und dem comparatum dem Vergleichenden, die verbindende Instanz wird als teritum comparationis bezeichnet. Angewendet auf die Literaturwissenschaft bedeutet dies folgendes: Während das comparandum den Ausgangstext bzw. Prätext darstellt, handelt es sich bei dem comparata um den Vergleichstext, die vermittelnde Instanz teritum comparationis wäre in diesem Fall beispielsweise der Vergleichsstoff (Corbineau- Hoffmann, 2004, S. 45). Auf dieser Grundlage spricht Corbineau- Hoffmann (2004) von der besonderen Stellung des Kontextes: “Die Komparatistik vergleicht, was den Vergleich erst fruchtbar macht: das Verschiedene; sie betrachtet aber auch, was ihn überhaupt ermöglicht: die Analogie; beide Perspektiven fügt sie zusammen unter dem allgemeinen Aspekt einer Kontextualisierung im Zeichen der Fremdheit” (S. 45). Die besondere Rolle des Kontextes ergibt sich gerade aus der Natur des Vergleiches, welcher erst durch den Ansatz von Gemeinsamkeiten und Unterschieden erfolgen kann. Die Schwerpunktsetzung des Kontextes ist zweifelsohne dem Komparatisten überlassen, jedoch ist es die grundlegendste Eigenschaft des Vergleichs nicht zuletzt die Polarisierung als auch die Analogie zweier Vergleichsinstanzen auf der Basis des Kontextes herzustellen. Das Vergleichsmodell in der Komparatistik ist zunächst binär aufgebaut, es beinhaltet den genetischen und den typologischen Vergleich. Manfred Schmeling (1943-) erweitert diese in Vergleichende Literaturwissenschaft 3 (1981) auf fünf Vergleichstypen. Paul Van Tieghem bietet den ersten Ansatz für die Grundidee des genetischen Vergleichs, obgleich er sich spezifisch mit direkten und indirekten Einflüssen auseinandersetzt, die von einem Werk auf das andere ausgehen, legt er jedoch die Grundlage für Viktor M. Žirmunskij (1891-1971) und Dionýz Ďurišin (1929-1997). Der genetische Vergleich untersucht, wie auch die Namensgebung, abgeleitet von dem griechischen Begriff genesis 4 „Erzeugung, Ursprung“ (Wahrig, 2001, S. 538) erahnen lässt, den Ursprung literarischer Beziehungen und Zusammenhänge. Unterschieden wird zwischen den „genetischen Beziehungen bzw. Kontaktbeziehungen“ und den “typologischen Zusammenhängen” literarischer Phänomene (Zelle, 2013, S. 130). Die genetischen Beziehungen werden einerseits durch externe und andererseits durch interne Kontakte untersucht. Die externen Kontakte stellen einen “literarischen Informationsaustausch” (Zelle, 2013, S. 130) dar, welche unter anderem durch Berichte, Mitteilungen, Übersetzungen etc. hergestellt werden können. Die „internen“ Kontakte hingegen untersuchen die Wirkung eines Werkes A auf ein Werk B, dies geschieht oftmals dann, wenn sich zwei Autoren kennen: “Sie lesen voneinander, tauschen sich über literaturästhetische Fragen aus, kennen die Werke des jeweils anderen” (Grabovski, 2011, S. 79) . Dies ist beispielsweise bei Thomas Mann und Hermann Hesse der Fall, es geht hierbei im Erkenntnisgewinn primär um den Einfluss, den jener Autor auf den anderen hat und wie sich dies im jeweiligen Werk des Autors niederschlägt. Typologische Zusammenhänge hingegen sind breiter gefasst, sie untersuchen gerade die Verbindungen, die nicht durch eindeutige Kontakte (interne u. externe) nachweisbar sind. Dies ist beispielsweise bei der literarischen Verschiebung der Epochen der Fall. Die Epoche der Aufklärung setzt beispielsweise in Deutschland bereits um 1650 ein, während sie in Österreich, Frankreich und unter anderem England erst Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzt. Demzufolge ist es durchaus möglich, dass die Vorgänger einen Einfluss auf die Werke der Nachfolger haben können. Genannt wird dieses Konzept auch der historisch- typologische Vergleich und wurde seitens Viktor M. Žirmunskij formuliert. Eine “zeitlich[e], räumlich[e] und sprachlich[e]” (Grabovski, 2011, S. 87) Beziehung muss demnach anders als im genetischen Vergleich nicht nachgewiesen werden, genauer: “Die Vergleichsobjekte müssen in keiner aktiven Beziehung zueinanderstehen, oder gestanden haben” (Grabovski, 2011, S.87). Somit ist der typologische Vergleich gezwungen durch die mangelnden rapports de fait Tatsachenbelege, sich in disziplinärer Hinsicht zu erweitern, um Analogien zwischen den zwei Vergleichsobjekten herstellen zu können. Dionýz Ďurišin kategorisiert den typologischen Vergleich wie folgt: A) Gesellschaftlich – typologische Parallelen, welche sich überwiegend gesellschaftliche Elemente der literarischen Produktionen berücksichtigt. B) Literarisch – typologische Parallelen, die überwiegend Gattungsspezifische Faktoren berücksichtigen (ähnlich wie in dem genannten Beispiel der Epochenverschiebung) und C) Psychologisch – typologische Parallelen, die psychologische Faktoren von historischen Ereignissen berücksichtigt (bsp. Weltkriege) (Zelle, 2013, S. 131). Wir wollen es vorerst bei dieser groben Einteilung belassen, dazu später mehr in à 1.2.3.1. Manfred Schmeling (1981) erweitert in Anlehnung an Ďurišin die Vergleichstypen in fünf Kategorien: A) Den monokausalen Vergleich, “der auf einem direkten genetischen Bezug zwischen zwei oder mehreren Vergleichsgliedern beruht” (S. 12), formuliert Schmeling in Anlehnung an die sogenannte französische Schule und deren positivistische Ausrichtung, welche sich vor allem an den bereits erwähnten Tatsachenberichten rapports de fait orientiert. Schmeling (1981) nennt in diesem Zusammenhang konkrete Beispiele wie Heinrich Heines Verhältnis zu Lord Byron (1903) oder Der junge Herder und Shakespeare (1930) (S.12). B) Bei dem zweiten Vergleichstyp bestehe “ein kausaler Bezug zwischen zwei oder mehreren Werken unterschiedlicher Nationalität” (Schmeling, 1981, S. 12), ferner wird hierbei der erste Vergleichstyp mit den Elementen des außerliterarischen und historischen erweitert. Dabei geht es weniger um die Einflußforschung, sondern eher um die “Projektion auf die übergreifenden historischen Bedingtheiten” (Schmeling, 1981, S. 12), hierbei dient die Reptionsforschung “produktive Rezeption” (Schmeling, 1981, S. 12) dem Erkenntnisgewinn. C) Der dritte Vergleichstsyp orientiert sich weder an innerliterarischen noch außerliterarischen Vergleichspunkten, sondern “basiert auf Kontextanalogien” (Schmeling, 1981, S. 14), beispielsweise gesellschaftlich, soziologisch, kulturhistorische Zusammenhänge. Diesen Vergleichstyp knüpft Schmeling an den typologischen Vergleich Žirmunskijs, dazu später mehr in à 1.4.3. Während D) der vierte Vergleichstyp einein “ahistorischen Standpunkt” (Schmeling, 1981, S. 16) einnimmt und ein vorwiegend “strukturalistisches Interesse am literarischen Produkt” aufweist, handelt es sich bei E) dem fünften Vergleichstyp, um die vergleichende Literaturkritik (Schmeling, 1981, S. 16): “Eine solche Meta-Kritik beinhaltet ‚nicht nur den kritischen Vergleich und das Abwägen verschiedener Methoden innerhalb einzelner nationaler Entwicklungen sondern den Vergleich als literturkritischer Methoden auf internationaler Basis” (Strelka zitiert nach Schmeling, 1981, S.17). Ungeachtet der Unterscheidung des fünften von den übrigen vier Vergleichstypen, ist dem obigen Zitat zu entnehmen, dass freilich auch die vergleichende Literaturkiritik ein wesentlicher Bestandteil der Komparatistik ist. Schmeling formulierte den fünften Vergleichstyp in Anlehnung an den amerikanischen Literaturkritier René Wellek (1903-1995). Kurzum: In der Komparatistik ist der Vergleich ein wesentlicher Bestandteil der Forschung. Grundsätzlich besteht ein Vergleich aus zwei Komponenten und dem Vergleichsstoff des teritum comparationis, welches ermöglicht Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszustellen. Der Vergleich findet sich nicht ausschließlich in der Wissenschaft, sondern ist bereits seit der Antike ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens. Beenden wir diesen Abschnitt der Studie, wie wir ihn begonnen haben, nämlich mit den Worten René Descartes (1596-1650): “ce n’est que par une comparaison que nous connaissons précisément la vérité” (Descartes zitiert nach Zelle, 2013, S. 130).

1.2.3. Komparatistik als grenzüberschreitende Disziplin

Die Komparatistik hat eine Entwicklung inne, die den Rahmen ihres Forschungsgegenstandes erweitert hat, in diesem Zusammenhang spricht man von einem sogenannten Paradigmenwechsel der Komparatistik, genauer: einer Erweiterung des Forschungsfeldes, unter der Inbezugnahme neuer Themen, Methoden und Ansätzen. Dies hängt unmittelbar mit der Fachgeschichte der Vergleichenden Literaturwissenschaft zusammen, was anfangs noch abgelehnt bzw. kritisiert wurde, hat sich im Laufe der Zeit und durch die neueren Theorien und Ansätze verschiedener Komparatisten zu einem unverzichtbaren Bestandteil entwickelt. Zwar soll die Fachgeschichte à 1.3. in diesem Zusammenhang einen detaillierteren Überblick bieten, jedoch erweist es sich vorab als unausweichlich, die wesentlichen Bestandteile des Paradigmenwechsels, nämlich die Interdisziplinarität, Interliterarischen Beziehungen und Zusammenhänge, Intertextualität, Interkulturalität und Intermedialität zu skizzieren:

Gegenwärtig befindet sich die Komparatistik in einer rasanten Umbruchsphase. In einem historischen Paradigmenwechsel erweitert das Fach seinen traditionellen Horizont und lässt die einseitige Betonung der großen west- europäischen Literaturen hinter sich. … Vielleicht ähnelt die Komparatistik den gegenwärtigen Broadway- Spielplänen, die seit Jahren von glitzernden Neuinszenierungen einschlägiger Musical- Klassiker beherrscht werden: plus ça change, plus c'est la mêmes shows? (Damrosch, 2014, S. 157)

1.2.3.1. Interdisziplinarität

Der Komparatist überschreitet nicht nur jegliche National- und Sprachgrenzen, sondern ist auch in anderen Disziplinen zuhause. Auch wenn gerade diese Eigenschaft besonders im amerikanischen Raum vehement kritisiert wurde, ist es heute gerade der grenzüberschreitende Charakter der Komparatistik, der den Reiz der Disziplin ausmacht. Folglich versteht sich die Vergleichende Literaturwissenschaft als interdisziplinär, sie steht stets in einer Wechselbeziehung zu ihren Nachbarsdisziplinen wie der Psychologie-, der Politik-, Religion-, Medienwissenschaft u.a. ausschlaggebend für die interdisziplinäre Forschungsausrichtung ist nach Zemanek (2012) die Analogie der Kontexte (S. 54). Konstantinović beschreibt die Beziehung der Komparatistik zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen als “transliterarische[er] Zusammenhänge” (Konstantinović zitiert nach Corbineau- Hoffmann, 2004, S.229), demzufolge schränkt die Vergleichende Literaturwissenschaft ihre Wissenschaftler nicht ein, im Gegenteil sie öffnet ihnen einen größeren Untersuchungsspielraum, auch wenn dies nicht immer in der Fachgeschichte der Fall war:

Im Zuge einer schrittweisen Öffnung für die Nachbarsdisziplinen interagierte die Komparatistik zuerst vornehmlich mit der Geschichtswissenschaft und der Philosophie, dann zunehmend mit Soziologie, Anthropologie und Ethnologie sowie gleichzeitig mit der Kunstwissenschaft und der Medienwissenschaft auseinanderzusetzen begann. (Zemanek , 2012, S. 12)

Keineswegs sind hierbei ausschließlich die Sozial- und Geisteswissenschaften gemeint, seit geraumer Zeit steht die Komparatistik auch in Wechselbeziehung mit den Naturwissenschaften, dies hängt nicht zuletzt mit den individuellen Schwerpunktsetzungen der Komparatisten zusammen. In diesem Zusammenhang beschreibt Zemanek (2012) die Komparatistik als “Brücke[n] zwischen verschiedenen Disziplinen” (S. 54).

1.2.3.2. Interliterarische Beziehungen und Zusammenhänge

Einflüsse kennen wir nicht nur aus dem Alltag, auch in der Literatur- besonders in der Vergleichenden Literaturwissenschaft wurden Einflüsse eingehend untersucht. Werke berühmter Dichter, sind oftmals gar nicht so unterschiedlich wie man glaubt. Gründe dafür können unter anderem direkte Kontakte zwischen zwei Autoren sein, was nicht zwingend der Fall sein muss, oder es handelt sich um ähnliche “Voraussetzungen der literarischen Produktion und Rezeption” (Zemanek & Nebrig, 2012, S. 259). Interliterarische Beziehungen und Zusammenhängen sind demnach Einflüsse und Wirkungen von literarischen Werken untereinander: “Einflüsse können von einzelnen Werken oder Autoren ausgehen, können sich aber auch ausgehend von Gattungen, innerhalb bestimmter Epochen, oder auch zwischen verschiedenen Ländern vollziehen” (Corbineau- Hoffmann, 2004, S. 116). Der Ausdruck Einfluss ist demnach übergreifend, und im Falle des typologischen Vergleichs aus dem „Allgemeinen – heraus“ zu begreifen. Beispielsweise handelt es sich im Folgenden um einen literarischen, bzw. gattungsspezifischen Vergleich: “Zur Zeit des Fin de Siecle findet ein Einfluß der lyrischen Gattung auf das Drama statt” (Corbineau- Hoffmann, 2004, S. 116). Der Einfluss im Rahmen des genetischen Vergleiches setzt im Gegensatz dazu eine Wirkung voraus, demnach entstehen Beziehungen daraus, “daß ein Autor das Werk eines Autors kennt und (unter Umständen) das eigene Werk durch diese Kenntnis beeinflusst wird” (Corbineau- Hoffmann, 2004, S. 94) . Der Autor A liest das Werk von Autor B, folglich steht B unter dem Einfluss von A, und produziert ein literarisches Produkt . Dem Beispiel lässt sich also entnehmen, dass der Einfluss, sich unmittelbar in einer literarischen Produktion des Beeinflussten zeigen kann, jedoch nicht zwangsläufig muss. Das literarische Ergebnis wäre demnach die Wirkung. Was wir versucht haben zum besseren Verständnis lapidar darzustellen, untersucht Diyonz Ďurišin in seiner Studie Die wichtigsten Typen literarischer Beziehungen und Zusammenhänge komplexer, indem er versucht eine Antwort darauf zu formulieren, wie Ähnlichkeiten zwischen zwei Werken entstehen. Hierbei bezieht er sich auf genetische Beziehungen (oder Kontaktbeziehungen) und typologische Zusammenhänge:

Wir nutzen dabei die Möglichkeiten aus, die uns der Bedeutungsunterschied der Wörter ‚Beziehung‘ (inhaltlich konkreter, enger) und ‚Zusammenhänge‘ (inhaltlich allgemeiner) bietet. Enthüllen Analogien typologischen Charakters allgemeine Zusammenhänge zwischen den Literaturen, so bilden verschiedene Arten von Kontaktwirkungsformen die Grundlage für die Bestimmung konkreterer und engerer Beziehungen zwischen den zu vergleichenden Erscheinungen. (Ďurišin, 1980, S. 92)

Der Unterschied ist klar: genetische Kontaktbeziehungen sind enger gefasst, da sie von indirekten und direkten Kontaktmomenten der Vergleichsobjekte ausgeht, typologische Zusammenhänge hingegen sind breiter gefasst.

1.2.3.3. Intertextualität

Die Intertextualität meint allgemein ausgedrückt die literarische Methode der Bezugnahme eines Textes, auf einen Prätext. Der Begriff ist nicht etwa erst seit seiner expliziten Begriffsbestimmung im Jahre 1967 eine gängige Methode der literarischen Referenz, sondern seit geraumer Zeit fester Bestandteil der Literaturwissenschaft. Bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts wenden unter anderem James Joyce, Thomas Mann, Ezra Pound u.a. die Methode der Intertextualität an. Zur expliziten Begriffsbestimmung kommt es erst, nachdem Julia Kristeva (1941-) die sogenannte Dialogizitätstheorie von Michail M. Bachtin (1895-1975) ausweitet und schließlich von Intertextualität spricht. Diese definiert sie wie folgt: “tout texte se construit comme mosaı¨que de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte” ( Kristeva zitiert nach Broich, 2007, S. 175) Kristevas Definition zufolge ist Intertextualität ein Mosaik bestehend aus Zitaten, jene Texte sieht sie als Verweis auf einen anderen. Eine metaphorische Definition dazu legt Roland Barthes (1915-1980) dar, indem er die Intertextualität als chambre d’e´chos bezeichnet. Es handelt sich nach Barthes Vorstellung um einen Raum, in welchem unzählige Texte einem Echo gleichend widerhallen (Broich, 2007, S. 176). Den bisherigen Ansätzen der Intertextualität steht eine gesamtübergreifendere Definition des Begriffs gegenüber: Gerard Genette (1930-2018) ersetzt in seinem Werk Palimpsestes. La litterature au second degre (1982) (Palimpeste. Die Literatur auf zweiter Stufe) den Terminus Intertextualität, durch den Begriff des Palimpestes (May, 2012, S. 107). Grabovski (2011) definiert den Begriff wie folgt: “Ein Palimpsest ist eine Manuskriptseite, die immer wieder beschrieben wird, nachdem die jeweils ältere Textschicht von der Seite entfernt oder überschrieben wurde” (S. 115). Auf dieser Grundlage entwickelt er schließlich den gesamtübergreifenden Begriff der Transtextualität welchem fünf Typen untergeordnet sind, Grabovski (2011) fasst diese wie folgt zusammen:

1. Die Intertextualität beschreibt die Präsenz eines Textes in einem anderen. …
2. Die Paratextualität meint jene Texte, die einem Text beigefügt, mitunter untergeordnet sind: Vorworte, Nachworte, Titel, Fußnoten, Anmerkungen, Klappentexte usw.
3. Die Metatextualität beschreibt die kommentierende Eigenschaft eines Textes, etwa wenn er sich auf einen anderen bezieht, diesen aber nicht explizit nennt.
4. Die Hypertextualität … bezeichnet einen Text, der aus einem, mitunter vor diesem verfassten hervorgegangen ist…
5. Die Architextualität schließlich meint nicht die Beziehungen zwischen Texten untereinander, sondern möchte zum Ausdruck bringen, dass Texte übergeordneten Kategorie werden können … (S. 116).

1.2.3.4. Interkulturalität

Interkulturalität ist spätestens seit der Migrationspopulation zu Anfang des 20. Jahrhunderts, besonders in Deutschland ein relevanter Begriff zur Beschreibung der Kulturellenüberschneidungssituation der Eigen- und Fremdkultur. Tausende Menschen waren aufgrund politischen, wirtschaftlichen, oder auch globalen Zusammenhängen gezwungen ihr Heimatland zu verlassen. Zum besseren Verständnis bietet es sich an den Begriffsaufbau zu studieren: Das Präfix inter stammt aus dem Lateinischen und steht für “zwischen, unter” (Wahrig, 2001, S. 685), das Nomen Kultur beschreibt “lat. Cultura “Landbau, Pflege (des Körpers u. Geistes)” ferner ist es die “Gesamtheit der geistigen u künstlerischen Ausdrucksformen eines Volkes” (Wahrig, 2001, S. 787). Aus der Kombinatorik ergibt sich demnach ein Bedeutungsinhalt, der einen Zustand zwischen zwei Kulturen impliziert. Genauer: Interkulturalität ist das Zusammenspiel bzw. das Ergebnis der Interaktion zweier Kulturen, geprägt durch die Eigen- und Fremdkultur. Kultur beschreibt Terry Eagleton als : “Komplex von Werten, Sitten und Gebräuchen, Überzeugungen und Praktiken, die die Lebensweise einer bestimmten Gruppe ausmachen” ( Eagleton zitiert nach Hofmann, 2006, S. 10). Demnach handelt es sich bei der Interkulturalität um “kulturelle Synkretismen (Vermischungen) ” (Kretschmar, 2012, S. 150) von Wertvorstellungen, Lebensweisen und Gebräuchen etc. zweier Kulturen. In diesem Zusammenhang wird auch oft, besonders in der Literatuwissenschaft, von einer Hybridiserung oder auch dem Dritten Raum gesprochen. Der Terminus Hybridisierung geht auf Homi K. Bhabha zurück und beschreibt das Ergebnis des Kulturkontaktes von Kultur A im Zusammenspiel mit Kultur B, demnach formen zwei Kulturen einen kulturellen Raum (Dritter Raum), welcher eine neue Kultur darstellt (Kretschmar, 2012, S. 150). Besonders im Rahmen der Komparatistik nimmt die Interkulturalität einen besonderen Stellenwert ein, da sie eine Grenzüberschreitung per se vorschreibt und ferner eine interkulturelle Kompetenz abverlangt. Kretschmar (2012) argumentiert, dass jene Interkulturalitätstherien auf der Grundannahme des Konstruktivismus basieren und bezeichnet Kultur, als ein primär sprachlich erzeugtes, medial vebreitetes und sozialtradiertes Konstrukt (S.151). Die Literaturwissenschaft weise demnach durch ihre Reflexion von kulturellen Identitäten und Diffrenzen eine Wechselbeziehung zur Kultur auf (Kretschmar, 2012, S. 151). Diese Annahme soll durch das folgende Zitat bestätigt werden:

Der kulturelle Wert des literarischen Textes … ergibt sich aus seiner Mehrfachcodierung innerhalb einer plural verstandenen Welt. So bietet der intertextuell geprägte Umgang mit literarischen Texten ein Modell und Trainingsfeld für den Umgang mit mehrfach codierten, komplexen Identitäten – imaginären Gemeinschaften- , die sich innerhalb des pluralen Bezugrahmens ‚Welt‘ ansiedeln. (Bronfen & Marius zitiert nach Hofmann, 2006, S. 13)

Gemeint ist hierbei durch den Begriff der Mehrfachcodieung, besonders die Bedeutung der Literaturwissenschaft als “multiperspektivische, ambivalente und vieldeutige” (Hofmann, 2006, S. 13) Vermittlerrolle innerhalb verschiedener Kulturen. Kurzum: Die Interkulturalität ist ein wesentlicher Bestandteil der Komparatistik, da sie den Vorgang kultureller Hybridisierungsprozesse untersucht und innerhalb der Literaturwissenschaft reflektiert. Sie ist ein Ergebnis der Vermischung von Werte-, Religions-, Sitten- und Überzeugungskonzepten zweier bzw. mehrerer Kulturen.

1.3. Die Fachgeschichte und Hauptrichtungen der Komparatistik

Corbineau- Hoffman (2004) teilt die Fachgeschichte der Komparatistik in drei Kategorien ein:

“Die Praxis der vergleichenden Literaturbetrachtung

Die theoretischen Überlegungen im Zusammenhang mit dem Vergleich Die Vergleichende Literaturwissenschaft als akademische Disziplin” (S.66)

An dieser chronologischen Einteilung wollen wir uns bei der Veranschaulichung der Fachgeschichte orientieren. Wir erwähnten bereits ansatzweise, dass Hugo Dyserinck den Literaturvergleich dort einordnet “da Menschen angefangen haben, sich über Literatur zu äußern…” (Dyserinck zitiert nach Kızıler Emer, 2019, S. 159), woraus sich erahnen lässt, dass die Praxis des Literaturvergleichs ihre Wurzeln in der Antike hat: “In der antiken Literatur sind Vergleiche zwischen Autoren oder einzelnen literarischen Texten ein wichtiges Verfahren der ästhetischen Reflexion” (Lampart, 2013, S. 263). Kennzeichnend für die aufgeführte These ist der Vergleich zwischen den antiken Griechen und Römern, letztere haben anderen Kulturen ein hohes Interesse gegenübergebracht und waren sich ferner ihrer Ähnlichkeit zu den Griechen bewusst (Corbineau- Hoffmann, 2004, S. 67). Zu den ersten Vergleichen, die sich einem komparatistischen Ursprung zuordnen lassen, zählen unter anderem Werke von Johann Elias Schlegel (1719- 1749), Johann Gottfried Herder (1744-1803), Gottfried Ephraim Lessing (1729-1781), August Wilhelm Schlegel (1767- 1845) und vor allem Mme de Staël (1766-1817)5. Eine zentrale Rolle für den Literaturvergleich spielt im 18. Jahrhundert besonders Johann Gottfried Herder, der durch seine Werke Über deutsche Literatur (1765-68), Volkslieder (1778/79) und Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten (1781), die “Grundlagen für ein Verfahren des Literaturvergleichs, bei dem kulturelle und historische Einzigartigkeit von literarischen Texten in den Vordergrund gerückt wird” (Lampart, 2013, S.273) legt, und “auf der Grundlage eines möglichst differenzierten Vergleichs einzelner Texte aus einzelnen nationalen und Kulturellen Traditionen …das ästhetische Ideal der Schönheit” (Lampart, 2013, S. 273) hervorhebt. Nicht zuletzt durch seinen Begriff des Volksgeistes, wird Herder trotz der bedeutenden Rolle Frankreichs im Rahmen der Komparatistik, als eigentlicher Vorläufer der Komparatistik arriviert:

Herder charakterisiert Nationen als Kollektivindividuen, ausgestattet mit quasi personalen Eigenschaften wie Gesinnung, Geist, Seele, durchdrungen mit einem alle verbindenden „Volksgeist“. Herder betont allerdings die Gleichberechtigung aller Nationen. Ohne ein ‚Gefühl der Billigkeit gegen andere Nationen‘ … Wird auch anfänglich noch ganz kosmopolitisch in jedem ‚Volksgeist‘ allgemein Menschliches gesucht und anerkannt, lehrt dann doch die deutsche Romantik, zu den ‚Wurzeln des eigenen Wesens‘ zurückzugehen . (Kızıler Emer, 2019, S. 153; Linder, 2002, S. 27-28)

Auch bei Gotthold Ephraim Lessing lassen sich durch seine Briefe die neueste Literatur betreffend (1759-1765) und Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766), sowohl deutliche Spuren eines international ausgerichteten Literaturinteresses, als auch eine Grundlage des Vergleichs verschiedener Künste nachweisen, somit wende er nach Lampart (2013) nun das Vergleichsprinzip auf andere Künste an, mit dem Ziel deren jeweils spezifische Qualitäten produktionsästhetisch – in Bezug auf Verfahren der Nachahmung- zu beobachten, aber vor allem wirkungsästhetisch zu bestimmen (S. 272). Johann Elias Schlegel, Onkel der Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel, unternimmt mit seinem Werk Vergleich Shakespeares und Andreas Gryphs eine vergleichende Literaturbetrachtung mit den Worten: “Wir wollen also den Shakespeare und den Gryph mit einander vergleichen, und so wohl das Gute, als die Fehler derselben gegen einander halten. Und dies soll geschehen, indem wir den Caesar des ersten und den Leo Armenius des andern untersuchen” (Schlegel zitiert nach Corbineau- Hoffmann, 2004, S.73). Dem obigen Zitat ist deutlich zu entnehmen, dass es sich bei dem Vergleich, um einen international ausgerichteten Versuch einer Gegenüberstellung im Sinne der Komparatistik handelt. Sein Neffe August Wilhelm Schlegel unternimmt postum ebenfalls einen literarischen Vergleich vor Comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d’Euripide (1807), Corbineau- Hoffmann (2004) betont, dass Schlegel nicht nur Euripides und Racine miteinander vergleicht, sondern dass der Literaturhistoriker und Übersetzer ebenfalls “allgemeine Überlegungen zur Tragödie” (S.74) anstellt und sich auf “die Griechen und Römer einerseits, auf Shakespeare, den Modernen, andererseits“ (S.74) bezieht. Den entscheidenden Schachzug in die Komparatistik unternimmt nach Rüdiger, Mme de Staël mit ihrem Werk De l’Allemagne (1810): “Die Komparatistik, wie man das neue Fach auch in deutscher Sprache zu bezeichnen pflegt, ist also eine Tochter der Romantik und geht unmittelbar auf die Anregungen der Madame de Staël zurück” (Rüdiger zitiert nach Kızıler Emer, 2019, S. 160). Corbineau- Hoffmann (2004) sieht dies ähnlich, sie fügt außerdem hinzu, dass Mme de Staël und ihr Reisebegleiter August Wilhelm Schlegel einen inoffiziellen französisch- schweizerischen und Deutschen Beginn einer Komparatistik instigieren (S. 74). Da es sich bei De l’Allemagne um eine Wahrnehmung aus der französischen Sicht handelt, ist die Studie nicht ausschließlich als rein komparatistischer Vorläufer zu sehen, sondern durchaus auch als eine Inspiration für die Imagologie6, einer Teildisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft, die sich mit dem Bild des fremden Landes auseinandersetzt, zu verstehen. Diese wird unter anderem auch als komparatistische Imagologie bezeichnet und wird oft mit Jean M. Carré (1887-1958), René Wellek (1903-1995) (besonders dessen Kritik) und Hugo Dyserinck (1927-2020) verbunden, näheres dazu in à 1.4.4.

1.3.1. Französische und Amerikanische Komparatistik

Bevor es zur endgültigen Institutionalisierung des Faches Komparatistik kommt, handelt es sich besonders in Frankreich um einige Ansätze, die zwar Bausteine zum Fach fundieren, jedoch kein eindeutiges Konzept darstellen. Klar ist, dass bereits vergleichsspezifische Studien im Rahmen des Fremdkontextes unternommen wurden, jedoch die Terminologie littérature comparée sich in Frankreich vorerst in Form wissenschaftlicher Veröffentlichungen und Vorlesungen generiert. Freilich weiß sich die Komparatistik nicht ausschließlich in der Literaturwissenschaft zu etablieren „La littérature comparée n’est pas la comparaison littéraire“ (Carré zitiert nach Zelle, 2004/2005, S.15), dies zeigt sich vor allem in der vergleichenden Anatomie Geroges Curviers (1769-1832) Leçons d’anatomie comparée (1800-1805), wodurch der Terminus littérature comparée in Anwendung auf die Literaturwissenschaft, erstmals an Bekanntheit erlangte. Ihm folgten die “Anthologie Cours de littérature comparée (1804) von François Noël und Guislain François Marie Joseph de La Place sowie in Jean- François Sobrys Poétique des arts, ou Cours de peinture et de littérature comparée (1810)” (Solte-Gresser, 2013, S. 25).

Ab dem 19. Jahrhundert erweist sich die Nationalliteratur als unzureichend, die zunehmende Beschränkung habe eine verengte Sicht zur Folge, da Literaturbeziehungen sowohl aus nationaler als auch aus internationaler Perspektive zu betrachten seien und die Nationalphilologie dafür keinen Raum biete (Corbineau- Hoffmann, 2004, S. 76). In Frankreich leisten unter anderem Abel Francois Villemain (1790-1870) und Jean- Jacques Ampere (1800-1864) die Vorarbeit zur Komparatistik als akademische Disziplin. Villemain hält 1828 die Vorlesung Examen de l’fluence exercee par les ecrivains francais du XVIIIe siecle sur les litteratures entrageres et l’esprit europeen. Die Antrittsvorlesungen Vergleichende Geschichte der Literaturen (1830) und De la litterature francaise dans ses rapports avec les litteratures etrangeres au moyen age gehalten von Jean-Jacques Ampére (1800-1864) skizzieren “das Programm einer vergleichenden Literatur- Philosophie- und Politikgeschichte” (Solte-Gresser, 2013, S. 25). Demzufolge ist die bedeutende Rolle Frankreichs nicht zu leugnen, sie ist zwar die Heimat der Komparatistik, da bereits früh fachspezifische Vorlesungen gehalten wurden, jedoch wurde der erste Lehrstuhl für die AVL 1861 in Italien seitens Francesco de Sanctis (1856-1883) an der Universität Neapel eingerichtet. Einen Lehrstuhl für Komparatistik gibt es in Frankreich erst seit 1897 an der Universität Lyon, unter der Professur von Joseph Texte (1865-1900) (Corbineau- Hoffmann, 2004, S.80).

Joseph Texte … sieht im Kosmopolitismus und Internationalismus die Voraussetzungen für die Betrachtung einer europäischen Literatur, die er vor allem gegen die französische Vorliebe für die Antike und die Klassik setzt. Textes Aufmerksamkeit gilt eben auch der modernen Literatur, vor allem aber der vergleichenden Sicht auf die europäischen Literaturen. (Grabovski, 2011, S. 203)

Hierbei bezieht er sich nicht ausschließlich auf das Konzept der Weltliteratur nach Goethe, sondern übernimmt auch die Gedanken seines Lehrers Ferdinand Bruntière (1849-1906) im Sinne der europäischen Literaturgeschichte. Das Fach erlangt in Frankreich erst mit der Übernahme Fernand Baldenspergers (1871-1958), dessen Wechsel an den Lehrstuhl der Sorbonne in Paris, und ferner unter der Mitarbeit seiner Schüler Paul Hazard (1878-1944) und Philippe Van Tieghem (1839-1914) der Gründung des Institut des Littératures Modernes et Comparées, die internationale Popularität, die sie heute genießt (Corbineau- Hoffmann, 2004, S. 82).

Infolge einer zunehmenden Institutionalisierung der Vergleichenden Literaturwissenschaft, treten besonders methodologische Ansätze aus Frankreich, den Vereinigten Staaten der ehemaligen Sowjetunion (UdSSR) und Deutschland hervor. Es bietet sich an, hiebei zunächst die französische Schule in ihren Grundzügen zu umreißen:

Für viele ist das Ursprungsland der Komparatistik zweifelsohne Frankreich, dies hängt unmittelbar nach der Institutionalisierung des Faches, mit der sogenannten französischen Schule (école française) zusammen, zu deren Gründungsvätern unter anderem Fernand Baldensperger (1871-1958) und seine Schüler Paul Van Tieghem (1871-1948) und Paul Hazard (1878-1944) gehören (Corbineau- Hoffmann, 2004, S. 82). Nach dem frühen Tod Joseph Textes im Jahre 1900 wird der Lehrstuhl in Lyon von Baldensperger übernommen. Die eigentliche akademische Tradition der „Littérature comparée“ zeigt sich nach Corbineau- Hoffmann (2004) erst mit dem neugeschaffenen Lehrstuhl in Sorbonne, welchen Baldensperger und seine Schüler zur wichtigsten Lehr- und Forschungsstätte der Komparatistik machen, nämlich dem Institut des Littératures Modernes et Comparée (S. 82). Die französische Schule ließe sich in zwei Grundphasen einteilen, die erste Phase ist geprägt durch die positivistische Ausrichtung Baldenspergers, welche sich mit der Einflussforschung interliterarischer Phänomene auseinandersetzt “Der Fokus ist also gerichtet auf Einflüsse, die in einem bestimmten Text nachweisbar sind, bzw. aus solche, welche von einem bestimmten Werk widerum auf andere ausgehen” (Solte-Gresser, 2013, S. 27).Van Tieghem unterteilt die Einflussforschung in die Bereiche “Biographie und Gesamtwerk des Autors sowie Entstehungsgeschichte und Wirkung des einzelnen Werkes” (Van Tieghem zitiert nach Solte-Gresser, 2013, S. 27). In diesem Zusammenhang weist Baldensperger in Litterature comparee. Let mot et a chose (1921) darauf hin, dass ein Vergleich den gemeinsamen Charakter zweier Phänomene und deren Verwandschafts- und Entwicklungsbeziehung aufzeige, die bis dahin als fremd bekannt seien:

[...]


1 Gemeint ist hierbei der türkische Terminus Yanlış Batılılaşma, welcher die Folgen der ersten Adaptionsversuche der westlichen Kultur im Osmanischen Reich meint. Der Begriff wird in der Literatur des 19. sowie aufkommenden 20. Jahrhunderts häufig als Motiv aufgegriffen und zeigt die negativen Auswirkungen, die eine plötzliche Modernisierung in der bisher strikt konservativen Gesellschaft hat.

2 Nur durch den Vergleich können wir die Wahrheit erkennen.

3 Dazu ausführlich: Schmeling, M. (1981). Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis. Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion.

4 Der griechische Ausdruck genesis wurde im deutschen als Genetik abgeleitet, und ist eine “Wissenschaft von der Entstehung der Organismen; (i.e.S.) Lehre von der Vererbung; Sy. Erbbiologie, Vererbungslehre …” (Wahrig, 2001, S. 538). Im Falle des genetischen Vergleichs wird es jedoch nicht mit der Biologie verbunden, die sogenannte Vererbung aus dem Bereich der Biologie wird im komparatistischen Rahmen als Einfluss bzw. Ursprun g verstanden.

5 Um den Umfang dieser Studie nicht zu sprengen, wurde die Aufzählung der komparatistischen Arbeiten reduziert. Für eine sowohl detaillierte als auch chronologische Auflistung sieheà (Corbineau- Hoffmann, 2004, S.84-87).

6 Für eine ausführliche Beschreibung der Imagologie im Rahmen der Komparatistik siehe: Kızıler Emer, F. (2012). Die Imagologie als Teilbereich der Komparatistik. Uluslararası Avrasya Sosyal Bilimler Dergisi, 3 (8), 1-17.

Ende der Leseprobe aus 294 Seiten

Details

Titel
Die Machtlosigkeit der Familientraditionen in der Moderne
Untertitel
Thomas Manns "Buddenbrooks" und Resat Nuri Güntekins "Yaprak Dökümü" im Lichte der Komparatistik
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
294
Katalognummer
V1117239
ISBN (eBook)
9783346481832
ISBN (Buch)
9783346481849
Sprache
Deutsch
Schlagworte
machtlosigkeit, familientraditionen, moderne, thomas, manns, buddenbrooks, resat, nuri, güntekins, yaprak, dökümü, lichte, komparatistik
Arbeit zitieren
Merve Cihangir (Autor:in), 2021, Die Machtlosigkeit der Familientraditionen in der Moderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1117239

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