Systemische Onlineberatung?!

Neue Wege der Nähe durch videobasierte Onlineberatung in Zeiten der Pandemie und Überlegungen zur Verknüpfung dieser mit einer systemischen Beratungshaltung


Bachelorarbeit, 2021

171 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Theoretischer Teil

1. Einleitung
1.1 Anlass und Relevanz der Thematik
1.2 Aufbau der Arbeit

2. „Systemisch“, „Online“ und „Beratung“? - Thematische Einordnung
2.1 Beratung
2.2 Onlineberatung
2.3 Was bedeutet „systemisch“?
2.4 Systemische Beratung

3. Grundlagen systemischer Beratung und Therapie
3.1 Geschichtliche Entwicklung, Erkenntnistheorie und Konstruktivismus
3.2 Systemische Praxis
3.3 Haltung in systemischer Praxis
3.4 Methodenkoffer
3.4.1 Zirkuläres Interview
3.4.2 Aufstellungsarbeit
3.4.3 Reframing
3.4.4 Weitere Werkzeuge
3.5 Zwischenfazit

4. Rahmenbedingungen der Onlineberatung
4.1 Entwicklung von Digitalisierung und Kommunikation in der Beratung
4.2 Formen der Onlineberatung
4.3 Textbasierte Onlineberatung
4.3.1 E-Mail
4.3.2 Chat
4.4 Videobasierte Onlineberatung
4.4.1 Aktueller Forschungsstand und Annahmen
4.4.2 Vor- und Nachteile
4.4.3 mediengestützter Einsatz von Werkzeugen und Methoden
4.5 Rechtlicher Rahmen in der Onlineberatung
4.6 Abgrenzungsversuch zur Psychotherapie und Online-Psychotherapie
4.7 Zwischenfazit

Empirischer Teil

5. Empirische Untersuchung
5.1 Erhebungsmethode
5.2 Auswertungsmethode
5.3 Auswahl und Vorstellung der interviewten Personen
5.4 Ablauf der Interviews

6. Auswertung der Interviews
6.1 Begegnungskontexte und Einschätzung der Onlineberatung
6.1.1 Chancen
6.1.2 Herausforderungen
6.1.3 Unterschiede f2f/online
6.1.4 Rechtliche Rahmenbedingungen
6.2 COVID und Onlineberatung
6.3 Systemische Beratung
6.3.1 Haltung und Verständnis
6.3.2 Methoden und Werkzeuge
6.3.3 Veränderungen durch COVID
6.4 Systemische Onlineberatung
6.5 Chancen und Herausforderungen
6.6 Methoden und Werkzeuge
6.7 Resümee und ausblickende Einschätzungen

7. Diskussion

Literaturverzeichnis

Anhang

Anhang 1: Abstract

Anhang 2: Interviewleitfaden

Anhang 3: E-Mail

Anhang 4: Einverständni serklärung

Anhang 5: Transkriptionsregeln

Anhang 6: Codebuch

Anhang 7: Person A

Anhang 8: Person B

Anhang 9: Person C

Anhang 10: Person D

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Einsatz von Medien im Videoberatungsgespräch (Engelhardt & Engels, 2021:20 in Anlehnung an Engelhardt, 2021)

Theoretischer Teil

1. Einleitung

1.1 Anlass und Relevanz der Thematik

Vor dem Hintergrund der anhaltenden Coronapandemie hat sich das gesamtgesellschaftliche Leben in Deutschland sowie weltweit grundlegend verändert. Eine neue, potenziell tödlich verlaufende Viruserkrankung mit unterschiedlichsten Mutanten stellt die Wissenschaft vor ungeklärte Fragen, zwingt die Politik zu schnellen Handlungen und wirkt sich unmittelbar auf das scheinbar gewöhnliche und routinierte Leben aller Mitmenschen aus. „Die Welt steht nicht still, aber im Moment scheint sie die Drehrichtung zu ändern - nicht zurück, sondern irgendwie anders (Ende der Metapher)“ (Simon, 2020:14). Kontaktbeschränkungen, Hygieneverordnungen, politische Entscheidungen über die temporäre Schließung verschiedenster Geschäfte sowie kultureller und sozialer Begegnungsstätten wurden unter anderem als Maßnahmen ergriffen, um der unkontrollierten Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus entgegenzuwirken. Die COVID-19 Pandemie kann rückblickend auf das letzte Jahrhundert als die schwerwiegendste Pandemie bezeichnet werden. Einschneidende Auswirkungen auf die Wirtschaft und das individuelle und gesellschaftliche Wohlbefinden haben die allgemeine Gesundheit und Gesundung der Bevölkerung auch aus politischer Sicht wieder in den Vordergrund gerückt (OECD/European Union, 2020b).

Lesende1 dieser Arbeit können somit ein individuelles Erleben mit der aktuellen pandemischen Lage verbinden und erfahren unterschiedlichste Einschnitte in die selbstwirksame Gestaltung des alltäglichen Lebens in dieser Zeit. Dies können Abläufe und Strukturen sein, die weggebrochen sind oder einen anderen Weg eingeschlagen haben, Kontakte oder Rahmen, die einst Halt, Sicherheit und Zuversicht impliziert haben, oder die Tatsache, dass es dem Menschen nicht möglich ist,ein Ende der pandemischen Krisensituation abzusehen (Wenzel, Jaschke & Engelhardt, 2020:47).

In Bezug auf die Coronapandemie hat sich auch das psychische Wohlbefinden in der Gesellschaft grundlegend verschlechtert und psychosoziale Belastungen sind gestiegen (Eichenberg, 2021 : 195). Viele europäische Länder haben schnell auf die veränderten Umstände reagiert und neue Wege gefunden, die Gesundheitsversorgung zu erweitern und der Bevölkerung weiterhin Zugang zu Beratungs-, und Therapieangeboten zu ermöglichen. Es wurden vermehrt Telefonhotlines eingerichtet, Onlineberatungsangebote expandiert oder nach Wegen gesucht, wie weiterhin ein sicherer persönlicher Kontakt stattfinden kann (OECD/European Union, 2020a:65; 67).In Bezug auf die Onlineberatung schrieb Engelhardt bereits im Jahre 2018, dass rückblickend aufdie letzten 20 Jahre kein Feld der Sozialen Arbeit solch dynamischer und technischer Entwicklung und Veränderung unterlag. Sie betont auch, dass sich die gesamte Soziale Arbeit durch stetige Digitalisierung und Mediatisierung in einem Wandel befindet und hinsichtlich der Onlineberatung weitere Entwicklungen, beispielsweise neue Technologie,Medien oder veränderte gesetzliche Vorgaben, zu erwarten sind(2018:157).

Bereits vor der Pandemie war ich mir sicher, eine Arbeit mit systemischem Schwerpunkt zu schreiben. In meiner Schulzeit haben wir, dank unserer Lehrerin, welche uns mit ihrer systemischen Haltung begegnete, diverse Einblicke in die systemische Schuleim Klassenkontext erleben und selbst erproben können. Dies erzeugte eine unglaublich gute, reflektierte und konstruktive Arbeitsatmosphäre sowie einen offenen Umgang in der Gruppe - eine besonders prägende Zeit, die mich motiviert hat, weiterhin in Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld zu treten.

Daher wurde entschieden die Themen der Onlineberatung und der systemischen Beratung in der vorliegenden Arbeit zu verknüpfen. Vorerst war die Überlegung, sich in dieser Arbeit auftextbasierte Beratungsangebote zu fokussieren, da der Großteil der Onlineberatungsliteratur textbasierte Präsentationsformate untersucht. Während der Akquiseder Expertinnen und Experten und der Durchführung der Interviews hat sich jedoch herausgestellt, dass es wesentlich bedeutsamer sein könnte, die videobasierte Beratung in den Vordergrund der Untersuchung zu rücken. Textbasierte Onlineberatungsangebote sind schon deutlich „eingespielter“ und werden daher in geringerem Umfang behandelt.

Da zum gewählten Thema der systemischen (videobasierten) Onlineberatung kein umfassendes Repertoire an Literatur oder Forschungsergebnissen zur Verfügung steht, erfolgt in dieser Arbeit zunächst eine systematische Erschließung der systemischen Beratung sowie der (videobasierten) Onlineberatung. Im empirischen Teil werden diese Bereiche erneut aufgegriffen und versucht eine Verknüpfung zwischen diesen zu erstellen. Zur Eingrenzung und Orientierung werden im Theorie- und Praxisteil die folgenden zentralen Fragestellungen geklärt und beantwortet:

1: Was sind die Bestandteile der aktuellen Onlineberatungspraxis und welche Veränderungen lassen sich vor dem Hintergrund der Pandemie erkennen? Wie werden diese Veränderungen in der Praxis umgesetzt und hinsichtlich ihrer Chancen und Herausforderungen eingeschätzt?
2:Was sind zentrale Aspekte einer systemischen Berufspraxis und inwiefern spielt die Haltung eine Rolle?
3: Inwiefern kann eine systemische Berufspraxis in der (videobasierten) Onlineberatung Anwendung finden und welche Chancen und Herausforderungen werden bezüglich der Übertragung auf die digitale Praxis erlebt?

Die Fragestellungen eins und zwei beziehen sich auf den theoretischen und empirischen Teil der Arbeit. Die dritte Fragestellung bezieht sich hauptsächlich auf den praktischen Teil dieser Arbeit, da für die Beantwortung keine, bis wenig Literatur zur Verfügung steht und daher versucht wird,aus der Empirie Rückschlüsse zu ziehen.

1.2 Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit ist in zwei größere Abschnitte gegliedert. Der Theorieteil beinhaltet zunächst Definitionsversuche sowie Einführungen in relevante Themengebiete, um der Leserschaft einen Überblick über die breite Thematik darzubieten. Nach den Definitionsversuchen werden Grundlagen der systemischen Beratung und Therapie erläutert und im Anschluss werden die Rahmenbedingungen der Onlineberatung thematisiert. Hierbei werden jeweils relevante geschichtliche Eckpunkte und Variablen miteinbezogen. Im Abschnitt der Onlineberatung werden text- und videobasierte Präsentationsformate aufgegriffen, um den Lesenden das „Möglichkeitenspektrum“ der Onlineberatung zu veranschaulichen. Außerdem wird auf die rechtlichen Rahmenbedingungen eingegangen, welche insbesondere im Hinblick auf Datenschutz und Datensicherheit von personenbezogenen Daten im Internet aufgearbeitet werden und bedeutsam für jegliche Präsentationsformate der Onlineberatung sind.

Der empirische Teil beinhaltet eine qualitative Forschung zu dem theoretisch aufgearbeiteten Themenspektrum und versucht die Themenbereiche unter Einbezug aller Fragestellungen miteinander in Verbindung zu setzen. Hierzu wurden vier Fachkräfte akquiriert, welche in diversen Berufsfeldern tätig sind. Daher können sie unterschiedliche Einblicke in ihren Berufskontext geben und differenzierte Erfahrungen und Einschätzunghinsichtlichder Themengebietegeben.Die Interviews werden nach der Auswertung diskutiert.

2. „Systemisch“, „Online“ und „Beratung“? - Thematische Einordnung

2.1 Beratung

Beratung -was ist das eigentlich? Unter diesem Begriff kann sich wahrscheinlich jede lesende Person etwas vorstellen. Die Begrifflichkeit der Beratung allein zeugt nicht von hoher semantischer Bestimmtheit, denn Vorstellungen von Beratung umfassen unterschiedliche, meist unpräzise Inhalte, Handlungspraxen, Bedeutungsrahmen sowie Vorstellungen der kommunikativen und beruflichen (kooperativen) Aktivität (Engel, 2019:83). Bezogen auf die Soziale Arbeit stellt die Beratung eine essenzielle Handlungsform dar und wird in diversen Arbeitsfeldern und Settings Sozialer Arbeit durchgeführt (Albrecht, 2017:46).

Durch kulturelle Formen der Interaktion und Kommunikation geprägt, wird heute in vielen Bereichen Rat gegeben (Engel, 2019:83). Wendt schreibt der Beratung „Reflexions-, Bildungs-, und Entwicklungsarbeit“ (2017:83) zu. Die Bandbreite reicht von alltäglichen hin zu hochprofessionalisierten institutionalisierten Beratungen, welche eingebettet in informelle sowie formelle Settings sein können. Vey beschreibt die „gemeinsame Beratung“ als Situation zwischen ratsuchender und beratender Person, welche oftmals auch in einer familiären oder freundschaftlichen Umgebung zu findenist (2016:17). Beratung in ebendiesen Kontexten, welche teilweise von (sehr) enger Nähe geprägt sind, kann zur Über- oder Unterforderung der ratsuchenden Person führen, denn oftmals lassen Gesprächsbeteiligte ihre eigenen Einschätzungen über die Lösungskompetenzen und die dazugehörigen Ressourcen desGegenübersnichtaußen vor. Daher kann es für Menschen in ratsuchenden Situationen durchaus hilfreich sein, einen Rat bei neutralen Dritten zu suchen, insbesondere in Situationen, wo die Beratung innerhalb des Familien- und Freundeskreises nicht ausreichend oder sich zunehmend „im Kreise zu drehen“ scheint. Somit sind Handlungsaufträge, welche beratende Funktionen haben, in unterschiedlichen Kontexten zu differenzieren(ebd.).

Der Ausgangspunkt eines professionellen Handlungsauftrages ist der Mensch, welcher einen Rat sucht, der zu dem Zeitpunkt nicht in seiner „Ausstattung“ vorhanden ist oder abgerufen werden kann, und der aktuell nicht über jene Ressourcen verfügt, sich diesen selbst zu beschaffen (Wendt, 2017:83). So wird erneut die Semantik der Beratung aufgegriffen, bei der zwischen einer Beratung bei Einzelproblemen, welche durch das Repertoire der beratenden Person oder mit Beihilfe des Internets beendigt werden, und der Beratung von Menschen in prekären Lebensabschnitten, in denen die Lebensführung methodisch reflektiert und perspektivisch begleitet werden könnte, unterschieden werden kann (ebd.:83-84).

Unter dem englischen Counseling können diverse Begriffe wie beispielsweise Beratung, Supervision, Coaching zusammengefasst werden (Schubert, Rohr & Zwicker-Pelzer, 2019:21). Unterschiedliche Bereiche der Beratung (Lebenswelt/ Familie und Arbeitswelt/Beruf) sind den Handlungswissenschaften zuzuordnen und finden einen gemeinsamen Nenner in ihren Strukturprinzipien (ebd.).Man stelle sich also ein Haus mit verschiedenen Korridoren und Türen vor, welche mit verschiedenen Begriffsbezeichnungen ausgewiesen sind. Hinter jeder Türe findet sich einFormatvon Beratung wieder. Differenziert werden kann zwischen den Beratungsansätzen. Beratungsformen können sich verschiedener Ansätze bedienen (u.a.: Beratung nach kognitiven-behavioristischen Modellen, psychoanalytisch orientierte Beratung, systemische Beratung, lebensweltorientierte Beratung, klientenzentrierte Beratung, feministische Beratung), diverse Beratungsfelder abdecken (u.a.: schulpsychologische Beratung, Familienberatung, Paarberatung, Lebensberatung, Sucht- und Drogenberatung, Trennungs- und Scheidungsberatung, Schwangerschafts­konfliktberatung, Schuldnerberatung) und dabei zahlreiche Methoden heranziehen2 (Nestmann, Engel & Siekendiek, 2004). Das Setting der face-to-face Beratung (f2f) zeichnet aus, dass Ratsuchende eine räumliche Anlaufstelle aufsuchen und für die Inanspruchnahme einer Beratung somit eine physikalische Distanz überwinden müssen. Die Bereitschaft und das Vorhandensein der Zeit, die dafür aufgewendet werden muss, kennzeichnen sich ebenfalls als Merkmale (Thiery, 2018:3).

2.2 Onlineberatung

Einhergehend mit dem gesellschaftlichen und technischen Wandel verändern sich simultan die Medien, deren allgemeine Nutzung sowie deren Gebrauch hinsichtlich der Onlineberatung (Hintenberger & Kühne, 2009:13). Insbesondere vor dem Hintergrund der Coronapandemie musste auch die Beratungslandschaft in Zeiten von Social Distancing überwiegend Brücken hin zur Nutzung digitaler Beratungsformate schlagen. Hintenberger & Kühne stellen fest, dass sich jedwede analoge Angebote auch in der digitalen Nutzung in Verbindung mit ergänzenden Präfixen wiederfinden. Demnach wird der Begriff „Beratung“ durch „E-“, „Online-“, „Tele-“, oder „Cyber-“ Beratung erweitert. Letzteres bezieht sich nicht nur auf die psychosoziale Beratung, sondern auch auf andere Instanzen (Shopping, Banking, Sport, Schule et cetera [etc.]) (ebd.: 16), bei denen hinsichtlich der Kundschaft-, Schulkinder-, oder Klientelbetreuung auch die ursprünglich präsente Beratung im Geschäft, der Schule oder der Praxis durch digitale Realisierung im Internet oder zumindest mediatisiert stattfindet (Engelhardt, 2018:13).Eine erste Abgrenzung wird gezogen, indem diese Arbeit ausschließlich auf Beratung in systemischen psychosozialen (online) Kontexten eingehen wird. Außerdem wird eine weitere Abgrenzung zu automatisierten Beratungssoftwares (z.B.: Apps/Chatbots3 ) gezogen, bei welchen ratsuchende Personen auf ihr Anliegen softwaregesteuerte Antworten unter Einsatz künstlicher Intelligenz durch virtuelle Personen präsentiert bekommen (ebd.:14). Die Gemeinsamkeit aller Beratungsangebote ist trotzdem das Internet, welches als primär dezentrale Konstante fungiert und somit Hauptreferenz für obig Genanntes darstellt (Hintenberger & Kühne 2009:16-17).

Generell finden sich in der Literatur eine Vielzahl an Definitionsversuchen, welche sich in ihrer Detailliertheit bezüglich verschiedener Formate der Onlineberatung unterscheiden. Folgend werden der Leserschaft einige allgemeine Definitionen von Onlineberatung dargeboten, welche in Kapitel 4 hinsichtlich der textbasierten und videobasierten Onlineberatung nochmals spezifiziert aufgegriffen werden.

Nach dem Definitionsansatz von Engelhardt findet Onlineberatung durch die Vermittlung des Internets statt und greift dabei auf die Nutzung digitaler Medien zurück, welche für die Gestaltung von Kommunikationsprozessen unausweichlich sind (2018:16). Bei der Betrachtung dieser Definition ist zu erkennen, dass sie tendenziell allgemein formuliert ist und im Detail wenig weiterführende Charakteristika der Onlineberatung herausstellt. Jedoch werden jegliche Präsentationsformate der Onlineberatung inkludiert.

Die Präambel der Deutschen Gesellschaft für psychosoziale Onlineberatung (DGOB) beinhaltet im Vergleich zum vorangegangenen Definitionsversuch genauere Spezifikationen der Onlineberatung. Besonders betont wird die Niederschwelligkeit des Angebotes, die Möglichkeit des zeitlich unbestimmten Zugriffs durch das Internet, zudem die weitestgehende Wahrung der Anonymität und Ermöglichung der Verschlüsselung personenbezogener Daten. In einer Gesamtbetrachtung würden oben genannte Variablen der internetgestützten Onlineberatung zur Ergänzung herkömmlicher Beratungsangebote dienen (DGOB e.V., 2020). Dieser Definitionsversuch ist in der Betrachtung tendenziell der textbasierten Onlineberatung zuzuordnen, die DGOB betont jedoch, dass das prototypische Medium der Onlineberatung die Schrift sei und gesprochene Sprache eher in f2f Beratungssettings verwendet würde. Die videobasierten Formate sollen dadurch jedoch nicht unterschlagen werden. Der gemeinsame Nenner beider Präsentationsformate ist, dass alleMedien, sei es nun eine Plattform,die audio-visuellen Videochat oder Chat- oder E-Mail-Beratung anbietet, aufProgramm Codes basieren, welche wiederum auf einer Schrift beruhen (Thiery, 2018:8-9).

Ferner untergliedert die DGOB Onlineberatung, ähnlich wie in der obigen Unterscheidung von Nestmann, Engel & Siekendiek, in Formate (u.a. Beratung, Supervision) und Methoden (u.a. systemische Methoden, klientenzentrierte Gesprächsführung). Bedeutend ist jedoch das Setting in dem Beratung online stattfindet. Explizit werden hier zwei Präsentationsformate unterschieden: schriftgestützte und audio-visuelle Formate. Unter letzterem ist die videobasierte Onlineberatung zu verstehen. Webbasierte E-Mailberatung, Chat- und Forenberatung sind den schriftgestützten Präsentationsformaten zuzuordnen (DGOB, online). In beiden Präsentationsformaten der Onlineberatung begegnen sich Menschen in virtuellen Räumen des Internets, welches eine durchaus reelle Begegnung ermöglicht (Engelhardt, 2018:15).

Zuletzt ist jedoch die Relevanzdes Versuchs einer begrifflichen Einordnung in Frage zu stellen. „Unter Beratung im Internet oder Onlineberatung kann man einfachste faktenbezogene Informationsanfragen ebenso subsumieren wie die mailbasierte Begleitung von Personen mit suizidalen Absichten. Beides findet unter dem Begriff „Beratung“ online statt und definiert Eckpunkte eines höchst diversen interaktiven und kommunikativen Kontinuums“ (Engel, 2019:9). In der Auseinandersetzung mit dieser Diskussion schließt sich die Arbeit tendenziell der Schlussfolgerung von Engelhardt & Storch an, welche abschließend die Einordung diverser Begrifflichkeiten hinter die Tatsache der tatsächlichen Implementierung stellen. Letztere beinhaltet die Essenz von vielseitigen Kompetenzen der beratenden Personen, für die Letztere ausgebildet werden sollten, um den Möglichkeiten der erweiterten Beratungslandschaft gerecht zu werden. Dahingehend sollten Beratungs-Curricula revidiert und expandiert werden, um Berater und Beraterinnen durch Aus- und Weiterbildung die Kompetenzaneignung jeglicher digitaler Beratungsformate zu ermöglichen (2013:10). Bestehende Aus-und Weiterbildungen beziehen sich größtenteils auf die Inhalte und Kompetenzen der textbasierten Onlineberatung4. Bereits vor einer Dekade stellte Brunner heraus, dass bis dato keine eigenständige Theorie für die Grundlagen der Onlineberatung und deren praktischer Anwendung etabliert ist (2009:27). Ob und inwieweit eine theoretische Grundlage in der Wissenschaft erarbeitet wird, aus welchen Einflussfeldern (Kommunikationstheorien, Medienwissenschaften, Medienphilosophie, Medien­psychologie, Psychotherapie, Beratung, Soziale Arbeit [Brunner, 2009:27]) sich diese bedient und inwiefern Erfahrungswerte der breit erforschten f2f Beratung hinzuspielen, ist nicht zu sagen. Es ist jedoch festzuhalten, dass die Onlineberatung, welche überwiegend textbasiert arbeitet, bis dato in ihrer Anwendung etablierter ist und die Wissenschaft über deutlich mehr Erfahrungswerte verfügt als über die videobasierten Präsentationsformate der Onlineberatung.

2.3 Was bedeutet „systemisch“?

Die Begrifflichkeit „systemisch“ kann auf das Wort „System“ zurückgeführt werden, hat einen griechisch-lateinischen Ursprung und bedeutet „das Zusammengestellte“ (Hollstein-Brinkmann, 1993:20). Ein System beschreibt damit ein aus verschiedenen Elementen bestehendes beziehungsweise zusammengestelltes Konstrukt, in welchem die Verhältnisse der Elemente untereinander sowie die Wechselwirkungen der Elemente zueinander betrachtet werden können (ebd.). Schlippe und Schweitzer ergänzen, dass sichdas System in seiner Gesamtheit von seiner Umgebung abgrenzen lässt. Ein System als solches zu bestimmen, stellt sich jedoch als diffizil dar, da dieses abhängig von der subjektiven Einschätzung der beobachtenden Person ist und entsprechend variieren kann. Systeme werden also konstruiert, indem beobachtende Personen diesen scheinbar reale Funktionsweisen, Abhängigkeiten, Wechselwirkungen und Zusammenhänge zuschreiben (Hollstein-Brinkmann, 1993:24). Schlippe und Schweitzer betonen den erkenntnistheoretischen Wert des systemischen Blicks, der nicht versucht, zu beschreiben, „was dort wirklich ist“, sondern was die Person erkennen kann(2016:31).

2.4 Systemische Beratung

Von einer systemischen Praxis wird gesprochen, wenn Berufspraxen eine systemische Haltung (Kapitel 3.4) aktiv einnehmen, unabhängig davon, in welcher Disziplin diese eingesetzt wird. Sollte das Ziel der eingesetzten Arbeitsform sein, sich mit Menschen auseinanderzusetzen und mit ihnen gemeinsam Lösungen und Strategien für wahrgenommene Probleme zu elaborieren, sprechen Schweitzer und Schlippe von systemischer Beratung (2016:31).

Für die systemische Beratung bedeutet dies, dass beratende Personen als beobachtende Individuen selbst zum Teil des Systems werden und demnach die einzelnen Systemelemente beschreiben können. Dabei können sie weder auf Objektivität noch auf intuitiver Lenkung beharren. Anstatt Fachkräfte für die als Problem gesehene Sachezu sein, sind sie vielmehr Fachkräfte, um hilfreiche Prozesse in Gang zu setzen, indem sie Dialoge ermöglichen, in denen verschiedene Wirklichkeitskonstruktionen beschrieben und die Entwicklung anderer angeregt werden (Schlippe & Schweitzer, 2016:95). „Es wird versucht, im therapeutischen Dialog wertschätzende Beschreibungen für Störungen und Symptome zu finden, Blockaden bei Nutzung bereits vorhandener Lösungsressourcen zu überwinden und diese Ressourcen (wieder) neu zu entdecken und zu nutzen“ (ebd.:2016:201). Dieses Zitat impliziert, dass die Haltung des beratenden Individuums von einer wertschätzenden Grundhaltung sowohl gegenüber der ratsuchenden Person als auch gegenüber dem Anliegen geprägt ist. Dabei wird in therapeutischen sowie beraterischen Kontexten der Fokus nicht daraufgelegt, was umgangssprachlich als „Problem“ oder „Schwierigkeit“ betitelt oder als „dysfunktional“ bezeichnet wird. Stattdessen wird versucht, Beschreibungen und Erklärungen zu finden, die bestehende Handlungsräume, beispielsweise durch Reaktivierung vorhandener Ressourcen der Ratsuchenden, erschließen, um diese dann zu explorieren und zu erweitern.

3. Grundlagen systemischer Beratung und Therapie

In den folgenden Kapiteln werden der Leserschaft Grundlagen der systemischen Therapie und Beratung nähergebracht. Um potenzielle Verwirrung zu nehmen, da in dieser Arbeit von systemischer Beratung und/oder Therapie gesprochen wird, ist anzumerken, dass die Mehrzahl der Literatur Material aus therapeutischen und beraterischen Kontexten heranzieht. Diese Literatur wird trotzdem vor dem Hintergrund verwendet, dass diese Aspekte auch in der nicht-klinischen und nicht­therapeutischen Arbeit im Dialog über menschliches Problemempfinden Anwendung finden. Die Arbeit schließt sich der Auffassung von Watzlawick, Weakland & Fisch an: „unserer Meinung nach ist klinische Arbeit nur eine Sparte des viel weiteren Gebiets der Problemlösung“ (2020:157).

Hierbei wird zu Beginn ein etwas umfassenderes Bild über die geschichtlichen Hintergründe und grundlegenden Theoriediskurse (Kapitel 3.1) geboten. Das Kapitel wird zum Verständnis der Hintergründe von Haltungen, der Ideen und Positionierungen in der systemischen Praxis angeführt. Anschließend wird der Fokus auf die systemische Haltung gelegt (Kapitel 3.2 f.). Abgeschlossen wird das dritte Kapitel mit einem thematischen Input in Form eines Methodenkoffers und einem Zwischenfazit (Kapitel 3.4 ff.).

3.1 Geschichtliche Entwicklung, Erkenntnistheorie und Konstruktivismus

Die historische Entwicklung des Systemdenkens hängt unmittelbar mit einer Erkenntnis zusammen, die unter anderem von verschiedenen Naturwissenschaftlern wie Varela, Maturana und von Foerster gewonnen wurde. Diese haben herausgefunden, dass psychotherapeutische Prozesse fernab des mechanistischen Verständnisses der Naturwissenschaften als soziale Phänomene betrachtet werden können. Als Konsequenz wurde sich mit dem steigenden Wachstum von psychotherapeutischen Angeboten von individuumszentrierten Sichtweisen abgewandt, da diese in ihrem Verständnis oftmals an lineare Mechanismen angelehnt waren (Ludewig, 2018:59).

In der therapeutischen Praxis zeigte sich diese Entwicklung zuerst in der Familientherapie in den 1950er Jahren. Trotz einiger früher Pioniere5 wurden zu dieser Zeit erstmals traditionelle einzel- und gruppenpsychologische Settings mit Betroffenen verlassen, um die Arbeit mit dem sozialen Umfeld der Betroffenen zu ergänzen. Resultierend wurde die Arbeit mit Paaren und Familien in die therapeutischen Settings integriert. In der Folge hat sich die Familientherapie seitdem durch viele verschiedene Einflüsse weiterentwickelt (Schlippe & Schweitzer, 2016:32). Die systemische Therapie bediente sich wenige Jahre später an den Grundlagen der Familientherapie (Ludewig, 2018:59).Letztere ist der begriffliche Vorläufer der heutigen systemischen Therapie, wobei die Bezeichnungen teilweise synonym verwendet werden.

Der Hintergrund systemischer Therapie und Beratung kann zum Teil durch einen Blick auf die Bedürfnisse der Klientel begründet werden. Lieb zieht heran, dass Therapierende der damaligen Zeit oftmals auf Klientel trafen, welches zu wenig Geld für langwierige Therapien nach psychoanalytischen Ansätzen hatte oder deren Probleme in schwerwiegende soziale Umstände gebettet waren (2014:16). Schumacher hingegen begründet den wachsenden Bedarf an Therapieplätzen durch zahlreiche traumatisierte Soldaten des zweiten Weltkrieges (2016:27). Somit wurde problematisches Verhalten Einzelner nicht ausschließlich durch individual­psychologische Paradigmen begründet, vielmehr wurden systemische Konzepte, unter Einbezug der Umwelt und der Familie der Patienten und Patientinnen, zur Erklärung von Verhalten und Symptomen herangezogen. Interventionsformen inkludierten demnach alle beteiligten Systeme (Lieb, 2016:16). Ab den 1960er Jahren wurden erkenntnistheoretische Werte aktiv in die therapeutische Arbeit miteinbezogen, welche nachhaltig nicht nur die Therapie in Familiensystemen, sondern auch die mit Einzelpersonen oder Gruppen weiterentwickelten. Es begann ein Prozess der Ablösung von „[.] bestehenden individuumszentrierten und pathologieorientierten Denkschemata [.]“ (Schlippe & Schweitzer, 2016:33). Resultierend daraus wurden psychotherapeutische Prozesse als soziale Phänomene verstanden und die Probleme, die ein Individuum zur Therapie oder Beratung bewegten, als ein sich veränderndes kommunikatives Geschehen angenommen.

In den kommenden Abschnitten werden der Leserschaf bedeutsame systemische Theoriediskurse dargeboten, auf welche moderne Theorien systemischer Beratung und Therapie bis heute zurückgreifen. Die Theoriebildung ist von interdisziplinärer Vielfalt geprägt und wird hier zum Verständnis lediglich in Kürze dargestellt.

Zur Entstehung früher familientherapeutischer Therapietheorien bietet Ludwig von Bertalanffy das metatheoretische Korrelat (Ludewig, 2018:62). Der Biologe verwendete den Begriff der Systemtheorie erstmals in seiner Allgemeinen Systemtheorie. Der Schwerpunkt seiner Forschung zentrierte sich auf naturphilosophische Fragestellungen. Hierbei setzt von Bertalanffy eine transdisziplinäre Betrachtung imHinblick auf die Theorien lebender Systeme ein, die Wissenschaften wie die Biologie, Psychologie, Soziologie und Philosophie miteinschließen. Die Entstehung der „General Systems Theory“ basiert unter anderem auf der Kritik desdamals konventionellen physikalisch-mechanistischen Weltbildes und betrachtet Systeme als offen, mit sich gegenseitig bedingenden Dynamiken in Ordnung und Organisation sowie im Austausch mit der Umwelt (Levold & Wirsching, 2020:47). Die Sichtweise auf das damalige Weltbild lässt sich mit folgender Aussage anschaulich beschreiben: „Alles bleibt so wie es ist, es sei denn, irgendjemand sorgt dafür, dass es verändert wird“ (Simon, 2000:29). Aus systemisch-kybernetischer Betrachtung ist jedoch nicht die zuvor beschriebene Statik der Ordnung, sondern die stetige Bewegung aller lebenden Systeme bestimmend: „Alles verändert sich, es sei denn, irgendwer oder -was sorgt dafür, dass es so bleibt“ (ebd.:29). Letzteres beschreibt ebenfalls das Konzept der Autopoiesis, der Selbsterschaffung sowie - erhaltung lebender Organismen, auf welche im Verlauf dieses Kapitels noch eingegangen wird.

Auch der Anthropologe Gregory Bateson hat mit seinem Engagement in Forschungsprojekten einen bedeutsamen Beitrag für die Entwicklung systemischer Beratung und Therapie, insbesondere mit Forschungen zum Thema therapeutischem Nutzen kybernetischer Überlegungen, beigesteuert. Als Mitwirkender der Macy- Konferenzen6 rückten seine Interessen bezüglich sozialer Systeme und deren Prozesse in das kybernetische Blickfeld. Maßgeblich wurde auch die Schismogenese7 durch Bateson geprägt. Simon und Stierlin führen außerdem an, dass Bateson's Gedankengut ein Wechsel der Paradigmen, vom linearen Ursache-Wirkungs-Denken hin zum bis heute für die systemische Praxis wirkungsvollem, zirkulären Denken darstellt (1995:99). Die Zirkularität ist ein Hauptinteressengebiet der von Norbert Wiener (ebenfalls Mitwirkender der Macy-Konferenzen) begründeten Kybernetik, welche die Steuerungs-, und Regelungsmechanismen in Maschinen und Menschen untersucht. In dieser Relation fällt ein Fokus auf die wechselseitige Bedingung verschiedener Variablen, also Elemente in Systemen, die sich in ihrem Verhalten in diverser Art und Weise zirkulär zueinander verhalten (beispielsweise aufrechterhalten, verändern) (ebd.:393).

1959 gründete der US-amerikanische Psychiater und Psychotherapeut Don Jackson das Mental Research Institute (MRI), in dem er mit seinen Mitarbeitern Gregory Bateson, Jay Haley, John Weakland und später mit weiteren Mitarbeitenden (unter anderen Virginia Satir und Paul Watzlawick) (Schlippe & Schweitzer, 2016:44) die Kommunikationsprozesse zwischen schizophrenen Patientinnen und Patienten und Familienangehörigen beobachtete und erforschte. Das MRI kann inder Retrospektive als daserste familientherapeutische Weiterbildungsinstitut betrachtet werden, welches durch Mitwirkende aus multiprofessionellen und transdisziplinären Kontexten die Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung nachhaltig beeinflusst hat (Levold & Wirsching, 2020:53). Eine bis heute für die Entwicklung der Familientherapie bedeutende, jedoch empirisch nicht belegte Hypothese ist die Doppelbindungs-Hypothese8, welche sich an dem ersten kommunikationstheoretischen Erklärungsversuch von Schizophrenie versuchte (Ludewig, 2018:64). Neben der Doppelbindungs-Hypothese nennen Jackson und Weakland auch die Homöosthase9 als maßgebendes therapeutisches Konzept am MRI. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, habe schon damals die Wichtigkeit des Familiensystems um den Indexpatienten erkannt, dies aber nach Aussagen von Jackson und Weakland in den therapeutischen Kontakten nicht eingesetzt. Vielmehr habe eine Segregation stattgefunden, in welcher die Familie von therapeutischen Kontakten zu den Patienten ausgeschlossen wurde. Die Mitwirkenden des MRI bestärken jedoch folgende These: „The essential point to be gleaned from all these matters of common knowledge is that treatment of a psychiatric patient necessarily involves dealing with members of his family, and with family relationships, either directly or indirectly” (Jackson & Weakland, 2016:35). Demzufolge stehe nicht die Frage im Raum, obFamilienmitglieder eingebunden werden sollen, sondern vielmehr, wieman dies machen könne(ebd.:34-35).

Erkenntnisse der am MRI tätigen Paolo-Alto-Gruppe hatten ebenfalls Auswirkungen auf die Entwicklung systemischer Therapietheoriemodelle in Europa. Das Mailänder Team um die psychoanalytischen Psychiater und Psychiaterinnen Mara Selvini Palazzoli, Giuliana Prata, Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin orientierte sich an Batesons Arbeiten. Der Mailänder Ansatz prägte insbesondere Richtlinien wie die Zirkularität, Neutralität und das Hypothetisieren (Tomm, 1984:116) sowie die Methode des zirkulären Fragens, die nicht mehr aus dem Methodenkoffer systemisch praktizierender Professioneller wegzudenken ist (Schlippe & Schweitzer, 2016:49). Historisch betrachtet hat die Mailänder Schule in den kommenden Jahren Techniken der Paolo Alto Gruppe beibehalten und trotzdem stetig eigene Ideen und Methoden dazugewonnen. War einst der Blick auf Systeme durch das Konzept der Homöostase geprägt, so veränderte sich Mitte der 1970er Jahre diese Dominanz und Systeme wurden überwiegend mit stetiger Weiterentwicklung betrachtet. Aus Systemen, die stabil und im Gleichgewicht standen, wurden Systeme, die sich durchgehend verändern und dabei den Anschein machen, sie würden feststecken (Tomm, 1984:120). „The family only appeared to be stuck; in actuality, it was always changing” (ebd.:115). Boscolo und Cecchin ist in diversen Lehrtätigkeiten mit weiteren Studierenden aufgefallen, dass diese zunehmend Interesse an der Rolle der therapierenden oder beratenden Person zeigten: „They began observing themselves observing the families“ (ebd.:116). Dies spiegelt den Beginn der Entwicklung einer Kybernetik der Kybernetik, sprich die Beobachtung der Beobachtung, in therapeutischen Kontexten (ebd.). Der Mailändische Systembegriff inkludiert auch heute die Kybernetik der Kybernetik. Das Ziel der systemischen Therapie und Beratung nach dem Mailänder Modell verdichtet sich darin, die entwickelten Familienspielmuster zu stören, um neue Regeln der familiären Interaktion zu explorieren (Schlippe & Schweitzer, 2016:51). Ludewig beschreibt dies als „[.] Wende in der Familientherapie.“ (ebd., 2018:65).

Die 1980er Jahre lassen sich zusammenfassend als die Blütejahre der Entwicklung moderner systemischer Beratung und Therapie beschreiben. Das oben beschriebene „frühe“ Mailänder Modell wurde durch Boscolo und Cecchin weiterentwickelt, Steve de Shazer begründete die lösungsorientierte Kurzzeittherapie, der norwegische Sozialpsychiater Tom Anderson konzipierte die Reflecting Team (RT) Methode und einige andere Therapietheorien haben sich auf der Basis neuartiger Metatheorien entwickelt (Ludewig, 2018:66-67). Mit den 1890er Jahren wurde die Begrifflichkeit der Familientherapie weiterentwickelt zur systemischen Therapie. Mit ihr veränderte sich allmählich auch der kybernetische Fokus erster Ordnung und die Kybernetik zweiter Ordnung wurde Gegenstand damaliger Überlegungen. Ein Ideengeber jener Kybernetik der Kybernetik ist Heinz von Foerster, Techniker, Erfinder und Physiker - der neben den bereits vorgestellten Persönlichkeiten und darüber hinaus Niklas Luhmann und Humberto Maturana einen zentralen Stellenwert im Diskurs um den systemischen Ansatz einnimmt (Levold & Wirsching, 2020:55). Theorien bezüglich der beobachtenden Personen, Selbstreferenzialität10 und Selbstorganisation prägten die erkenntnistheoretischen Überlegungen über den systemischen Ansatz und wurden zu einer primären Referenztheorie (ebd.:58).

Von Foerster beschreibt seine eigene Erkenntnistheorie als „[.] eine Neugierologie“ (von Foerster & Pörksen, 2019:43). Die Wahrheit seifür ihn ein philosophisches Chamäleon, das je nach Kontext eine andere Färbung einnehme. Zudem Spalte sie Menschen in jene, die Recht und Unrecht haben. Wenn Person A behauptet die Wahrheit zu sprechen, würde es Person B direkt oder indirekt als lügende Person darstellen (ebd.:29)und so Kategorisierungen und Feindschaften zwischen Menschen generieren(ebd.:32).

Humberto Maturana prägte zusammen mit Francisco Varela das Konzept der Autopoiese (Levold & Wirsching, 2020:61). Der Begriff setzt sich aus zwei griechischen Wörtern zusammen: autos bedeutet selbst und poiein besagt machen oder schaffen. Somit meint Autopoiesedie Fähigkeit zur Selbstorganisation von Systemen. Das zentrale Bestreben in selbstschaffenden Systemen kann mit einem Gleichgewichtsstreben umschrieben werden. Das System benutzt eigene Systemelemente, um mit diesen neue Elemente zu schöpfen, sich somit ständig weiterzuentwickeln und damit auf eine sich verändernde Umwelt zu reagieren (Simon & Stierlin, 1995:310-311). Dies beschreibt auch den wesentlichen Unterschied zu nichtlebenden Systemen, denn diese erzeugen die Bestandteile, aus denen sie bestehen, nicht selbst, noch müssen sie sich gegenüber der wandelnden Umwelt abgrenzen (Levold & Wirsching, 2020:61). Der Fokus liegt auf den inneren, autonomen Logiken lebender Systeme mit ihrer operationalen Geschlossenheit. Geschlossen in dem Sinne, dass sie durchaus von außen verstört oder zerstört werden können, ihnen jedoch nichts Fremdartiges von außen durch eine „Operation“ hinzugefügt werden kann. Für beratende Personen bedeutet dies, dass sie an Systeme lediglich von außen anklopfen oder an ihnen rütteln können, sie jedoch nicht durch Intervention planmäßig verändern oder steuern können (Schlippe & Schweitzer, 2016:94). Das Konzept der Autopoiese verfolgt außerdem universellere Aussagen über das Leben und die Wahrnehmung aus erkenntnistheoretischerSicht. „Die Welt ist ohne unsere Wahrnehmung so, wie sie ist, nicht denkbar“ (ebd.). Damit weist das Prinzip der Autopoiese Parallelen zum radikalen Konstruktivismus auf, welcher in dieser Arbeit im kommenden Abschnitt aufgegriffen wird. Wirklichkeit wird in beiden Theorien an die subjektiv beobachtende Person gebunden und entsteht erst durch dieBeobachtung (ebd.).

Ernst von Glaserfeld ist der Begründer des sogenannten radikalen Konstruktivismus, der sich durch seine Radikalität durchaus von anderen Konstruktivismen11 abgrenzt. Neben ihm sind Vertreter unter anderem Heinz von Foerster und Humberto Maturana (Levold, 2020:58). Glaserfeld betont, dass der radikale Konstruktivismus keineswegs eine Theorie des Seins, vielmehr eine Theorie des Wissens ist, denn von zentralem Wert ist nicht das ontologisch gesehene „Ding an sich“, sondern das Erleben von „Anderen“ aus der Perspektive der eigenen subjektiven Erlebenswelt (2014:34). Es besteht daher in der Annahme, dass jegliche Wahrnehmung ausschließlich subjektiv ist und diese in keinem Fall ein Abbild der Realität bietet. Zu betonen ist auch, dass es zumindest aus der Sicht des Handelnden irrelevant ist, ob sein Erlebtes nun ein Abbild der „ontischen Wirklichkeit“ ist. Ausreichend ist ein Wissen, was uns ermöglicht, in der eigenen Erlebenswelt Ziele zu erreichen, die wir uns setzen (ebd.:39).Das Wissen ist demnach ein gangbarer Weg, neben möglicherweise vielen anderen, um ein Ziel zu erreichen - ohne diesen Weg als die eine Lösung oder den wahren Sachverhalt zu betrachten (ebd.:31). Interessant ist darüber hinaus, dass der radikale Konstruktivismus trotzdem gewisse Stufen der Wirklichkeit und eine Distinktion zwischen objektiv und subjektiv, nicht in Bezug auf die Ontologie, sondern vielmehr in Bezug auf die Erlebenswelt, hegt. Unterscheidungen, Gleichheiten oder „Invarianten“ (einschließlich das Erleben von Wiederholungen) bilden das Fundament der erlebten Wirklichkeit. Die Häufigkeit der Wiederholung von Erlebtem vermehrt und verfestigt den Eindruck, dass es sich dabei um etwas eindrücklich „Wirkliches“ handelt, obschon dies offenbar nur die subjektive Erlebenswelt bekräftigt. Zudem können dadurch zusammenhängende Wirklichkeiten zwischen der eigenen und anderen Erlebenswelten hergestellt werden(ebd.:32-33).

Neben den vorgestellten theoretischen Konstrukten beeinflusste auch die Theorie sozialer Systeme nach dem Soziologen Niklas Luhmann insbesondere im deutschsprachigen Raum die Entwicklung systemischer Theorie und Beratung (Ludewig, 2018:67). Luhmann beschreibt die Umwelt als „die ganze Welt“, denn Systeme grenzen sich von dieser ab und operieren selbstständig. Systeme sind durch die Selbstbezogenheit demnach selbstreferentiell, sie beziehen sich auf sich selbst. Luhmann spricht in seiner allgemeinen Systemtheorie vom „operativen Konstruktivismus“. Erkenntnis ist auch hier kein Abbild der Realität, lediglich eine konstruierte Beobachtung. Im Gegensatz zu anderen, bereits vorgestellten Denkern, gibt es für Luhmann durchaus eine Realität, in der Systeme vorhanden sind. Eine solche Realität ist jedoch vom der beobachtenden Person konstruiert. Die Beschreibungen einer Realität beziehen sich jedoch lediglich auf Unterscheidungen zwischen beobachtenden Personen, die kommunikativ ihre konstruierten Beobachtungen miteinander vergleichen, nicht aber auf die „Realität“ an sich (Berghaus, 2011:24-29). Ferner differenziert Luhmann in seiner allgemeinen Systemtheorie zwischen den bereits genannten sozialen, psychischen und biologischen Systemen, die jeweils operieren, sich selbst produzieren und reproduzieren und dabei eine System/Umwelt-Differenz aufweisen und autopoietisch operieren(ebd.:38-40).

3.2 Systemische Praxis

Im letzten Kapitel wurden bedeutsame Theoriediskurse vorgestellt, auf welche sich die heutige systemische Therapie und Beratung bezieht und auf deren Grundlage die Haltung der Schule fußt. Die Leserschaft konnte sicherlich schon den ein oder anderen Eindruck gewinnen, welches Gedankengut hinter den Überlegungen von Systemen steht, wie deren „Spielregeln“ untereinander und mit der Umwelt betrachtet werden und welche Haltungen konstruktivistische Positionierung implizieren kann. In den kommenden Theoriekapiteln und dem empirischen Teil werden sich einige dieser, durchaus abstrakten, Theoriediskurse in Bezug auf die Praxis der systemischen Beratung, die Haltung der beratenden Personen sowie grundlegende Methoden und Werkzeuge wiederfinden.

Bevor im kommenden Kapitel die Haltung thematisiert wird, erscheint es als wichtig, einen Blick auf die Auftragsklärung und die erste Kontaktaufnahme zu werfen. Schlippe und Schweitzer sprechen auch von Erwartungskonstellationen (2019:68), um dem Begriff Auftragsklärung dieimpliziert starre Bedeutung von „Reparaturzielen“ und deren „Lieferung“ zu nehmen. Dies ist ein bedeutender Teil jeder Beratung, denn „man sollte nicht „den Karren ziehen“, ehe man verstanden hat, was genau die Erwartungen, Wünsche und Absichten der Ratsuchenden sind [.]“ (ebd.:65). So werden in der Auftragsklärung stufenweise Informationen gesammelt, einander kennengelernt und eine Vertrauensbasis geschaffen. Das Joining bedeutet für beratende Personen das Verbinden und Ankoppeln an das Klientelsystem, jeweils auf inhaltlicher, emotionaler, verbaler, paraverbaler und nonverbaler Ebene. Der Klientel kann somit ein Rahmen geboten werden, in dem sie „innerlich“ im Beratungskontext ankommen kann (Schlippe & Schweitzer, 2016:225-226). Manfred Prior beschreibt in seinem Buch „Beratung und Therapie optimal vorbereiten“ eindrücklich, wie essenziell auch der erste Kontakt (z.B. Telefonat, E-Mail oder Brief) vor dem ersten Beratungs- oder Therapiekontakt ist. Prinzipiell geschieht eine Kontaktaufnahme meist aufgrund eines empfundenen Problems oder einer Krise. Hier empfiehlt er von Beginn an eine gewisse Zielorientierung zu vermitteln. Ziele können eine gute Orientierung für gangbare Wege sein und die Beratung erleichtern. Hierzu werden Ratsuchende beispielsweise gebeten, ein Stichwort oder eine Überschrift zu finden, welche passend zum Anliegen verhilft, das Ziel zu beschreiben, welches die ratsuchende Person mit Begleitung der beratenden Person erreichen möchte (Prior, 2008:42).Auf diese Kurzbeschreibung könne dann mit Verstehen und Verständnis eingegangen werden, Ziel-und Lösungsorientierung gefördert werden und achtsam auf Ressourcen geblickt werden, um diese dann beiläufig zu erwähnen(ebd.:42-43; 64-66). Albrecht beschreibt in Bezug auf die Soziale Arbeit, dass die Beratung und die damit verbundene Beratungshaltung von zentralem Stellenwert in der professionellen Berufspraxis sind. Hinzu kommen die Methoden und das beratungstheoretische sowie arbeitsfeldspezifische Fachwissen als entscheidende Pfeiler der Beratungskompetenz (2017:48). In den hierrauffolgenden Kapiteln werden Haltungen, Werkzeuge und Methoden systemischer Beratung in ihren inhaltlichen Facetten konkretisiert.

3.3 Haltung in systemischer Praxis

Die obigen Ausführungen beinhalten bereits Bestandteile einer systemischen Haltung. Das „Wie“ des „in-Beziehung-tretens“ und die innerliche Positionierung beschreiben Haltungen (ratsuchender) Menschen gegenüber. Eine systemische Haltung beinhaltet Begegnungen mit Neugier und Wertfreiheit. Durch didaktisch klugen Einsatz von Sprache sollen sich Ratsuchende dazu eingeladen fühlen,mitberatenden Fachkräften eine kooperative Beziehung auf Augenhöhe einzugehen. Den Ratsuchenden wird grundsätzlich eine positive Absicht unterstellt, in welcher sie ohne hierarchisches Gefälle zwischen ratsuchender und beratender Persondie Möglichkeit haben,ihre Perspektiven zu explorieren und Möglich- und Wirklichkeiten selbstwirksam im Dialog zu konstruieren (Schlippe & Schweitzer, 2019:70-71). Des Weiteren ist die Haltung der Beratenden davon geprägt, dass dem ratsuchenden Individuum eine vollkommene Autonomie zugesprochen wird. Dies bedeutet, dass die Klientel Experten und Expertinnen ihrer selbst sind und bleiben. In diesem Sinne nehmen Beratende lediglich eine teilnehmende und beobachtende Funktion ein, in welcher sie versuchen, dialogische Gespräche anzuregen, um dadurch im Prozess Rahmenbedingungen für konstruktive Veränderungen zu schaffen. Damit geht die Position einher, dass Ratsuchenden keine externen Anweisungen erteilt werden. In der Auseinandersetzung mit der Klientel wird daher aktiv auf eine autoritäre oder manipulative Einflussnahme durch die beratende Person verzichtet (Schlippe & Schweitzer, 2016:200-202).

Die systemische Beratungspraxis blickt tendenziell kritisch auf starre Wirklichkeitsbeschreibungen, denn diese können den dialogischen Austausch über das „Möglichkeitenspektrum“ hemmen. Heinz von Foerster beschreibt dies in einem ethischen Imperativ: „Heinz, handle stets so, daß [sic!]die Anzahl der Möglichkeiten wächst“ (von Foerster & Pörksen, 2019:36).Bewusst setzt von Foerster seinen Namen vor den Imperativ, um zu verdeutlichen, dass er niemanden herumkommandieren möchte. Er ist der Überzeugung, dass durch dieses Grundprinzip Freiheit entsteht, welche wiederum verknüpft ist mit Verantwortung. Es wäre demnach unverantwortlich freiheitliches Handeln einzuschränken, denn dies würde dem Individuum die Möglichkeit zum verantwortungsbewussten Handeln nehmen und in seinen Wahlmöglichkeiten einschränken. „Alles was ich will ist dazu aufzufordern, die Vielzahl der Möglichkeiten zu bedenken: Wir sind frei zu wählen, wir sind frei, uns zu entscheiden. Es gibt nicht irgendeine absolute Wahrheit, die einen zwingt, Dinge so und nicht anders zu sehen, so und nicht anders zu handeln.“ (von Foerster & Pörksen, 2019:38).

Weiterhin stellen Neutralität und Neugier, Empathie und Wertschätzung, Kongruenz und Transparenz sowie der Konstruktivismus Grundsätze in systemischer Beratung dar, fernab der Wahl des Settings (textbasiert, videobasiert oder f2f). (Engelhardt, 2018:73-77).

3.4 Methodenkoffer

Methoden und Werkzeuge sind oftmals das „Aushängeschild“ der jeweiligen Therapieschulen und dienen für die breite Masse oftmals zur Identifikation des Verfahrens. Darüber hinaus werden sie oft gewichtiger behandelt, da sie einfacher lehr- und lernbar sind im Vergleich zu anderen Komponenten eines Verfahrens (u.a. die Haltung, oder die Beziehungsgestaltung) (Levold, 2020:221).

Bevor nun ausgewählte Methoden und Werkzeuge vorgestellt werden, ist es wichtig zu betonen, dass eine beraterische Expertisein geringeren Teilenabhängig von einem rein technisch „korrekten“ Einsatz der Methoden ist. Fachkräfte in beratenden und therapeutischen Kontexten sollten darüber hinaus über das richtige Gespür für die Anwendung einer Methode als Intervention im passenden Kontext verfügen, Einschätzungen bezüglich des Timings treffen (Wann und wie lange wende ich das Tool an?) und abschätzen können, inwiefern sich die Anwendung des Tools auf die weitere Beziehung und den Beratungsprozess auswirken (ebd.:222). Gerade bei unerfahreneren Fachkräften hat sich gezeigt, dass Tools vermehrt in der Hoffnung eingesetzt werden, einen stagnierenden Prozess wiederbeleben zu können, indem weitere Informationen über die Klientelsysteme generiert werden. Einerseits können bei dem Versuch trotzdem Dialoge mit wahrscheinlichem Nutzen generiert werden, andererseits fehlt laut Levold wiederum der Bezug dazu, wofür die geschaffenen Informationen genutzt werden können. Levold plädiert dafür den Fokus auf die systemische Haltung und die Beziehungsgestaltung zu richten, in welcher Beratung unter Hinzunahme der systemischen Schule weniger als technischer Prozess betrachtet wird (ebd.:222-223). Systemische Interventionen haben laut Simon & Resch-Simon zwei Zielabsichten. Auf der einen Seite sollen sie Interaktions- und Kommunikationsmuster im Klientelsystem stören, die möglicherweise mit der Entwicklung und Erhaltung von empfundenen Problemen oder erlebten Symptomen in Verbindung stehen, andererseits sollen Muster angeregt werden, die mit der Entstehung und dem Erhalt von Lösungswegen in Verbindung stehen könnten (2021:275).

Diese Arbeit betrachtet systemische Methoden und Werkzeuge im Hinblick auf den Beratungsprozess einerseits als Chance, denn die Anwendung ist gut lehr- und lernbar und birgt Potenzial, Beratungsprozesse konstruktiv zu gestalten. Andererseits wird die Nachvollziehbarkeit des theoretischen Verständnisses hinter methodischen Interventionen als Voraussetzung betrachtet, um einen qualitativen und reflektierten Prozess gestalten zu können. Unter anderem wurden deshalb erkenntnistheoretische Überlegungen als zentrales Thema behandelt.

3.4.1 Zirkuläres Interview

Nachdem in Kapitel 3.1 bereits der Ursprung zirkulärer Fragetechniken aufgegriffen wurde (Mailänder Team), geht es nun um die genauere Betrachtung dieser Methode. Fragestellungen des zirkulären Interviews laden Ratsuchende ein mit einer gewissen Außenperspektive auf das eigene System zu schauen und versuchen somit Dialoge anzuregen, welche neue Informationen hervorbringen (Schlippe & Schweitzer, 2016:254). Klientelsysteme werden vor die Herausforderung gestellt, neue Perspektiven zu erproben, sodass sie ihre „Wirklichkeit“ nicht durch altbewährte Phrasen begründen (ebd.:2016:255), denn „im Gesprächsraum verändert man nicht die Welt, man verändert nur die Art, wie die Welt und die Möglichkeiten, sich in ihr zu bewegen, gesehen werden“ (Schlippe & Schweitzer, 2019:88). Zirkuläre Fragen eröffnen den am Beratungsprozess Beteiligten, neue Wahrnehmungsbereiche zu erfahren, die Spielregeln einesSystemsbesser kennenzulernen und eine Idee darüber zu bekommen, welche Funktionen diese bezüglich der Dynamiken im System haben (Simon & Rech-Simon, 2021:7-8). Darüber hinaus können gute Fragen eine Aktivierung im Klientelsystem erzeugen, welches dann selbstständig an neuen Sichtweisen, Perspektiven und Lösungen arbeitet und sich dabeials selbstwirksam erlebt (Schwing, 2020:167). Ein weiterer Vorteil ist, dass mehrere Menschen gleichzeitig interviewt werden können, ohne das Gefühl von Parteilichkeit zu vermitteln und stets Neutralität zu wahren. Durch die Zirkularität besteht die Möglichkeit, sich selbst ein Stück weiter kennenzulernen (Kindl-Beilfuß, 2019:13), denn „das Verhalten von Menschen [wird nicht von dem bestimmt] was andere Leute tatsächlich denken, sondern von dem, was sie denken, was die anderen denken [.]“ (Simon & Rech-Simon, 2021:21). Daher bietet essich an, Fragen mit Neugier und entgegen den Regeln des „guten Benehmens“ zu stellen, um dem Klientelsystem ein Erleben von einzigartiger Rückmeldung, Spekulationen und Vermutungen über sie zu ermöglichen (ebd.). Fragen in systemisch-konstruktivistischen Kontexten sindals Intervention anzusehen. Mögliche Wirkungen der gestellten Fragen sollten vorher bedacht werden, denn die Konstruktion und Abfolge von Fragen transportieren Informationen über unsere Gedanken und Haltungen (Kindl-Beilfuß, 2019:16). Hinter jeder Frage steckt somit eine Hypothese (Schwing, 2020:169). Um der Leserschaft einen Eindruck über den Aufbau zirkulärer Fragestellungen zu geben, werden nun Beispiele12 zur Veranschaulichung herangezogen:

Unterschiede erfragen: Durch (1) Skalierungsfragen, (2) Prozentfragen oder (3) Übereinstimmungsfragen können Unterschiede in Systemen verdeutlicht werden.(1): Welche Person aus deiner Familie wäre am traurigsten, wenn du ausziehen würdest? (2): Stell dir ein Maßband von 0 bis 100 vor. 0 bedeutet extrem traurig, 100 bedeutet extrem fröhlich: Was denkst du, wenn du mit deiner Mutter streitest, wo würde sie auf der Skala stehen und wo würdest du stehen? Wowürde deine Schwester stehen, wenn sie den Streit mitbekommt? (3):Wenn du als Schwester diesen Streit zwischen eurer Mutter und deinem Bruder beobachtest und eure Mutter der Meinung ist, „im Recht“ zu sein - würdest du dich deiner Mutter anschließen oder vertrittst du eine andere Position? (Schlippe & Schweitzer, 2016:255-257).

„Damit ein System sich verändern kann, wenn es dies will, kann es auf zwei Themenfelder besonders schauen: auf das, was ist, und auf das, was sein könnte“ (ebd:257). Wirklichkeitskonstruktion und Möglichkeitskonstruktion erfragen: Auftragskontext und Problemkontext erforschen: Wer hatte die Idee, dass Sie sich an diese Stelle wenden? Was müssten wir (was müsste ich) tun, damit das hier ein Erfolg/Misserfolg wird? Fragen rund um das „Problem“: Welche Verhaltensweisen zeigen sich, wem gegenüber, in welchen Situationen und wann nicht? Was genau meint ihre Mutter, wenn sie „unerzogen“ sagt? Wer reagiert am wenigsten und am meisten auf das Verhalten, welches hier das „Problem“ darstellt?

Fragen rund um die Konstruktion anderer Möglichkeiten: (1) „Verbesserungsfragen“ um Ausnahmen, (2) Ressourcen (problemunabhängig), (3) Wunder und (4) Hypothesen zu veranschaulichen, welche das System spielerisch dazu anregen können, alternative kreative Wege zu konstruieren (unabhängig davon, ob sie nun „realistisch“ oder realisierbar sind). (1): Wie und in welchen Situationen schaffen sie es, nicht als „unerzogen“ betitelt zu werden? (2): Welches Tier käme ihnen am nächsten, um ihre Stärken und Fähigkeiten zu beschreiben? (ebd.:259; 264) (3): „Angenommen, es würde eines Nachts, während Sie schlafen, ein Wunder geschehen und ihr Problem wäre gelöst. Wie würden Sie das merken? Was wäre anders? Wie wird Ihr Ehemann davon erfahren, ohne dass Sie ein Wort darüber zu ihm sagen?“ (de Shazer, 2019:24). (4): Angenommen ich frage deinen Vater, wieso deine Mutter dich „unerzogen“ nennt, was würde er wahrscheinlich antworten? Angenommen deine Schwester würde sich dir gegenüber wieder fair verhalten, würde sich die Beziehung zu deiner koalitionsstiftenden Mutter ändern?

Im Folgenden wird die Intervention der Aufstellungsarbeit mit Skulpturen oder anderen symbolischen Gegenständen thematisiert. Die Methode unterscheidet sich in der Gestaltung vom systemischen Interview. Die Gemeinsamkeit bestehtjedoch darin, dass Systemmitglieder eine umfangreiche Rückmeldung darüber gewinnen, wie ein anderer die Beziehungen im sozialen System wahrnimmt (Schweitzer & Schlippe, 2016:281).

3.4.2 Aufstellungsarbeit

Eine Vielzahl systemischer Werkzeuge haben einen symbolische- handlungsorientierten Stellenwert. Beispielsweise werden Aufstellungen angewandt, um Beziehungs- und Personenkonstellationen räumlichen Ausdruck und symbolische Repräsentation zu verleihen, indem einzelne Familienmitglieder zueinander in Haltung und Position ausgerichtet werden, wodurch erlebte Beziehungen sichtbarund herrschende Dynamiken erkenntlich gemacht werden können (Schlippe & Schweitzer, 2016:280). Insbesondere bei Anliegen, die schlecht greifbar sind, oder komplexen Personenkonstellationen im System, kann die Aufstellungsarbeit allen Beteiligten eine Idee über das Anliegen oder individuell Erlebtes verschaffen und neue Perspektiven eröffnen (Caby & Caby, 2020:243). Oben Beschriebenes kann mit Menschen oder anderen Hilfsmitteln dargestellt werden. Das Familienbrett beispielsweise ist zusammengestellt aus einem quadratischen Brett mit jeweils eckigen Holzelementen symbolisch für Männer und runden Holzelementen für Frauen. Die Kinder sind in der Regel etwas kleiner als Erwachsene. Eine grundsätzliche Grenze bei der kreativen Auswahl von Gegenständen oder Figuren ist nicht gesetzt.So können die klassischen Holzelemente oder das Brett an sich frei nach Kontext gegen alles eingetauscht werden, was ratsuchende oder beratende Personen gerade zur Hand haben (Radiergummis, Playmobil, Tierfiguren, Steine, Blatt, Papier etc.). Nach oder während der Aufstellung kann mit den anwesenden Personen auf Metaebene über das Visualisierte gesprochen werden. Beteiligte können ihre Sichtweise auf die Personenkonstellation oder das „Problem“ darstellen und erläutern, es kann gewünschtes Erleben dargestellt werden und Informationen aus der Relation der Figuren sowie dem Aufstellen dieser gezogen werden (Platziert eine Person die Figuren sehr zielstrebig, scheint sie eher ideenlos? Stehen die Figuren eng aneinander oder weit auseinander? Sind sie einander zugewandt? etc.), welche wiederum Inhalt nachfolgender Fragestellungen oder Kommentierungen sind (ebd.:241-242). In der Beratungspraxis kann dieses Werkzeug einerseits von dem Klientelsystem angewandt werden, andererseits kann auch die beratende Person ihren Eindruck von Beziehungen im System darstellen und beispielsweise. eine bestimmte Situation oder einen Aspekt im Beratungsgespräch visualisieren (Schlippe & Schweitzer, 2016:280).

3.4.3 Reframing

„Verändere deine Realität, indem du deine Beschreibung veränderst“ (Schwing, 2020:169). Das Reframing oder die Umdeutung ist keine klassische Methode, tendenzielle ein Bestandteil in der systemischen Praxis, um Haltung transportieren zu können. Es handelt nicht davon, im Dialog zwingend neue Beschreibungen zu finden, welche der Sache einen positiven Rahmen verleihen, vielmehr geht es um die Bereitschaft, Beschriebenes zu hinterfragen und alternativen Beschreibungen offen gegenüberzustehen. Die Art und Weise, wie ein Problem besprochen wird, bestimmt in gewissem Maße die Qualität dessen - zielführend ist demnach das Problem nicht zu verunglimpfen, sondern dem Beschriebenen einen neuen Rahmen zu verleihen (Schlippe & Schweitzer, 2017:76). „Umdeutungen finden also auf der Stufe der Metawirklichkeit statt, wo, [...], Veränderungen selbst dann möglich sind, wenn die konkrete Gegebenheit einer Sachlage unveränderlich bleibt“ (Watzlawick, Weakland & Fisch, 2020:141). Bevor eine Umdeutung stattfinden kann, ist es wichtigsich einige Hintergründe nochmals zu veranschaulichen: Individuelle Erlebenswelten beruhen auf der Zuordnung von Erlebtem (Objekte der Wahrnehmung) zu unseren eigens konstruierten Klassen. Klassen beruhen auf dem Sinn sowie dem Wert, denwir ihnen zuschreiben. Ein Objekt wird in dem Zuge „verdinglicht“, dem Gedachten wird also eine konkrete Form verliehen. Diese gegenständliche Vorstellung einer anderen Klasse zuzuordnen (ohne, dass es die Gültigkeit verliert), kann sich demnach als schwierig darstellen. Nicht zuletzt da das Zugeschriebe als „Wirklichkeit“ wahrgenommen wird, könnte jemand, der an seiner Klassifizierung festhält, dafür als „authentisch“ und „aufrichtig“ beschrieben werden - im Extremen kann sich mit der Veränderung der Zugehörigkeit des Objekts zu einer anderen Klasse die Beschreibung einschleichen, jemand wäre verrückt oder böswillig, jemand weiche von der „Norm“ ab. Oftmals fühlen sich Wirklichkeitsbeschreibungen also so an, als wären sie unveränderlich, was wiederum Gefühle der Angst und Hoffnungslosigkeit oder Ausweglosigkeit hervorruft. Die Wirksamkeit des Reframings hinsichtlich lösender Veränderungen/Klassifizierungen lässt sich darin zusammenfassen, dass jemand, der die Möglichkeit sieht, eine Begebenheit anders wahrzunehmen oder zuzuordnen, häufig nicht mehr auf alte Beschreibungen zurückgreift und in die damit verbundenen negativen Gefühle und Erlebnisse (Angst, Hoffnungslosigkeit etc.) verfällt (ebd.:143- 144).

Schlippe und Schweitzer beschreiben, dass Inhalt, Kontext und Bedeutung umgedeutet werden können. Auf inhaltlicher Ebene kann versucht werden, für das beklagte Verhalten eine andere Perspektive zu finden, welche das Verhalten sinnig für eine Person oder das System erklärt. Im Kontextreframing zentrieren sich die Überlegungen dahingehend, inwiefern das Verhalten für welchen Kontext gegebenenfalls sinnvoll oder sogar die beste Lösung sei. Zuletzt kann auch der Bedeutung von störendem Verhalten ein nützlicher Rahmen verliehen werden. Ein Vater, welcher selbst eine sehr strenge und autoritäre Erziehung erlebt hat, beschwert sich im hier angeführten Beispiel über das Türenknallen und die ständigen Streitereien der Töchter. Er selbst musste aus der Not heraus ein Bündnis mit dem Bruder eingehen, der Vater habe den Bruder und ihn geschlagen. Das Reframing dieser Situation könnte also sein, dem Vater ein Kompliment auszusprechen, dass er seine Töchter nicht schlägt und sie so ohne Notgemeinschaft lernen können sich ordentlich zu streiten und in Ruhe Auseinandersetzungen erlernen (Schlippe & Schweitzer, 2017:78-79).

3.4.4 Weitere Werkzeuge

Da es den Rahmen dieser Arbeit übersteigen würde, weitere Methoden/Werkzeuge in dem obigen Umfang darzustellen, werden den Lesenden folgend ausgewählte Tools bündig dargestellt. Es ist jedoch anzumerken, dass die Vielfalt an erprobten Interventionen wesentlich größer ist, als das, was hier versucht wurde in Kürze darzustellen.

Genogramm: „Die Vorstellung von „Familie“ ist aufs engste verknüpft mit unserem Bewusstsein davon, wer wir sind in dieser Welt“ (McGoldrick, 2020:13). Das Genogramminterview ist ein grundlegendes Werkzeug um biografische Daten (u.a. Namen, Alter, Geburts-, Todesdaten) und juristische Daten (Heirat, Trennung/Scheidung etc.) in einem Familiensystem zu erheben. Darüber hinaus bietet ein Genogramm Informationen bezüglich einzelner Familienmitglieder und den Beziehungen untereinander. Beziehungsmuster können (generationsübergreifend) erkannt werden sowie unvorhersagbare Muster und Konflikte ersichtlich werden. Außerdem stellt es Informationen über wichtige Merkmale und Funktionen einzelner Personen zur Verfügung (u.a. Schulabschluss, Beruf, Gesundheit, Begabungen) (ebd.: 33-34).Somit stellt ein Genogramm eine Art kommentierten Familienstammbaum dar, welcher die Komplexität einer Familiengeschichte vereinfacht visualisiert und dabei stets die Informationen kenntlich macht, die bekannt sind. Darüber hinaus können verschiedene Blickwinkel auf bislang nicht Bedachtes eröffnet werden (ebd.:31).

Kommentare: Gegen Ende des Beratungsgespräches ist die Mitteilung eines Abschlusskommentars, in welchem dem Ratsuchenden Eindrücke, Überlegungen und Hypothesen bündig und mit Pointe kommuniziert werden, nicht unüblich. Tendenziell geht es hierbei um eine leichte Verstörung (beispielsweise. durch Paradoxie) des Klientelsystems, indem gewohnte Sichtweisen innerhalb des Systems auf wertschätzende Art und Weise verändert werden können. Die Art und Weise des Kommentars kann sich dabei verschiedener Techniken/Prinzipien bedienen (Handlungsvorschläge, Komplimente, Reframing, Geschichten, Witzen, Metaphern etc.) (Schlippe & Schweitzer, 2016:324-325).

Hausaufgaben: Im Schlusskommentar, beziehungsweise gegen Ende des Gesprächs, kann Ratsuchenden eine Aufgabe empfohlen werden, welche für die Zeit zwischen den Sitzungen ausprobiert werden kann. Es können Beobachtungsaufgaben empfohlen werden, wie beispielsweise: „Bis zur nächsten Sitzung beobachtest Du bitte, welche Aspekte in der Beziehung zu deiner Mutter du erhalten wissen möchtest.“ Beobachtungsaufgaben implizieren auf den ersten Blick keine Veränderungen, es sind „nur“ Beobachtungen - eine veränderte Beobachtung auf eine Situation ändert jedoch die Struktur von Interaktion, Kommunikation und möglicherweise Verhalten (Simon & Rech-Simon, 2021:280). Neben den Beobachtungsaufgaben können außerdem Verhaltensaufgaben empfohlen werden: „Wir möchten Ihnen die Aufgabe geben, dass jede und jeder ein gewohntes Verhalten im Alltag verändert und die anderen finden heraus, was jede Person verändert hat.“ Verhaltensänderungen können Interaktionsmuster und die Strukturen in Systemen stören. Letztere werden durch wiederholende Verhaltensweisen aufrechterhalten (ebd.:281).

Reflektieren: Inkludiert alle möglichen methodischen Variationen des RT (Ludewig, 2018:110) oder Open Dialoge (offener Dialog). Im RT tritt das beratende Team in Anwesenheit (oder durch räumliche Trennung) der Ratsuchenden in Dialog und diese haben die Möglichkeit, die Diskussion mitzuverfolgen (live oder per Audiozuschaltung). Es wird versucht eine möglichst kooperative Arbeitsatmosphäre zwischen Ratsuchenden und Beratenden zu ermöglichen. Im RT sollten Beratende viel Überlegung in die Wahl der Sprache stecken (Schlippe & Schweitzer, 2016:63). Es wird tendenziell im Konjunktiv gesprochen („ich nehme an, dass“) und es werden abweichende Hypothesen gefördert, um die Vielfalt darzustellen und nicht in einen Wettstreit um „die Lösung“ zu treten. Zudem sollte wertschätzend diskutiert werden, ohne in eine unehrliche Höflichkeit zu verfallen (ebd.:338-339). So entsteht eine Auswahl an Überlegungen für die Ratsuchenden, welchesieleicht annehmen, wieder aufgreifen oder ablehnen können(ebd.:336).

3.5 Zwischenfazit

Was sind zentrale Aspekte der systemischen Berufspraxis und inwiefern spielt die Haltung eine Rolle? Von zentraler Bedeutung für systemische Denkweisen ist die Betrachtung von Mensch und Welt. Diverse Ansätze unterschiedlichster Wissenschaftsdisziplinen untersuchen und suchen mögliche Wege (u.a. Konstruktivismus, Systemtheorien, Autopoiese, Kybernetik) zur Erklärung von Funktionsweisen, Beziehungen und Wechselwirkung (Ordnung und Organisation; Selbsterschaffung und -erhaltung) innerhalb von Systemen und dem Austausch mit der Umwelt. Das „Systemische“ hat sich somit interdisziplinär entwickelt, zeichnet sich durch Übertragbarkeit in andere Wissenschaftsbereiche aus und bietet für die systemische Beratung und Therapie die theoretischen Grundlagen. In Bezugnahme auf die Beratung bietet die systemische Praxis eine gewisse Handlungsorientierung, denn die Positionierung beruht auf konkreten Einstellungen, Werten und Sichtweisen. Systemisches Denken betrachtet als Grundlage der Beobachtung Systeme in ihrer Komplexität, grenzt sich von linearen Denkschemata (Ursache A = Wirkung A) ab und folgt zirkulären Annahmen (Systemelemente bedingen und verhalten sich zirkulär zueinander). Systeme nicht reduktionistisch zu betrachten, bedeutet einerseits Umwelt und Kontext der Ratsuchenden in Beratung und Intervention miteinzubeziehen. Andererseits sind Systeme ohne die Wahrnehmung und den Blick der subjektiv beobachtenden Person(en) nicht denkbar, denn Beobachtende konstruieren Systeme erst durch ihre Beobachtung. Systeme und jegliche damit in Verbindung stehende Wahrnehmungen sind also Produkt der Beobachtung. Systemisches Denken hegt entsprechend nicht den Anspruch, Aussagen über die „Wahrheit“ zu treffen, sondern vielmehr Eindrücke über das Erleben anderer in der subjektiven Erlebenswelt oder Wirklichkeit zu bekommen, diesen ohne wahrheitserhebende Kategorisierungen, die in Recht/Unrecht, Wahrheit/Lüge unterteilen, mit Neugierde, Wertschätzung und Interesse zu begegnen. Gleichzeitig sollen festgefahrene Vorstellungen über die „Realität“ mit Skepsis begegnet werden und Menschen auf Augenhöhe dialogisch darin begleitet werden, die eigens konstruierten Wirklichkeiten in Rückbezug auf Ressourcen oder eigene Annahmen, um perspektivische Handlungsspielräume zu erweitern. Lösungs-, Ressourcen-, Prozess-, Ziel- und Auftragsorientierung sind wichtige Bestandteile systemischer Praxis und der damit verbundenen Haltung. Schon vor dem ersten Beratungskontakt (z.B. einem Telefonat) sind diese Aspekte hilfreich, um eine Verknüpfung zum Klientelsystem zu bekommen und ein kooperatives Beziehungsangebot zu vermitteln, um beim ersten Dialog den Auftrag/Rahmen zu klären. Beratenden steht für die Prozessberatung ein breiter Methodenkoffer (siehe oben) zur Verfügung, um ihre Haltung zum Ausdruck zu bringen und kooperativ an Wirklichkeitskonstruktionen und Lösungsmöglichkeiten der empfundenen Probleme zu arbeiten. Die Haltungsfrage ist somit zentral, denn erst durch das Einnehmen des systemischen Blicks wird eine Berufspraxis zur systemischen Praxis.

4. Rahmenbedingungen der Onlineberatung

Nachdem im vergangenen Kapitel grundlegende Informationen zur systemischen Beratung und Therapie aufgegriffen und der Leserschaft ein Verständnis dieser nahegelegt wurden, fokussiert sich die Arbeit in den kommenden Abschnitten auf die Rahmenbedingungen der Onlineberatung. Es wurde entschieden, die beiden Bereiche getrennt zu bearbeiten, um ein grobes Verständnis für beide Themenbereiche zu schaffen und diese dann im empirischen Teil miteinander zu verknüpfen, um so zu schauen, wie eine systemische Praxis in Onlineberatungssettings (insb. videobasierte Onlineberatung) umgesetzt wird und werden könnte. Ein Beweggrund für diese Aufschlüsselung ist, dass die breite Masse der Literatur ebendieser Unterscheidung folgt, sodass explizit für die systemische videobasierte Onlineberatung noch sehr wenig Literatur publiziert wurde. Dies kann unter anderem, wie eingangs erwähnt, daran liegen, dass vor dem Hintergrund der Pandemie die videobasierte Umsetzung von systemischer Beratung erst in den Vordergrund der Praxis und Forschung rückt.

Laut einer Studie des ARD/ZDF aus dem Jahr 2019 nutzen rund 90% der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren das Internet (Beisch, Koch & Schäfer, 2019:374). Die Studienreihe Kindheit Internet Medien (KIM-Studie) stellt hervor, dass über die Hälfte der Kinder zwischen 6 und 13 Jahren ein eigenes Handy oder Smartphone besitzen. Circa ein Fünftel besitzen einen eigenen Computer oder Laptop und 71% der Kinder nutzen das Internet (u.a. WhatsApp, Suchmaschinen, YouTube). Insbesondere zwölf- und dreizehnjährige Kinder sind mit 97% im Internet vertreten (mpfs, 2020:86-87). Außerdem geht aus der KIM-Studie hervor, dass im Schnitt jedes achte befragte Kind das Internet schon einmal genutzt hat, um Hilfe bei persönlichen Problemen oder Beratung zu bekommen. Je älter die Kinder sind, desto häufiger suchen sie nach Onlineberatungsangeboten. Dabei handelt es sich bei 15% um Mädchen und 9% um Jungen (ebd.:52-53). Die Studienreihe Jugend Internet Medien (JIM-Studie) stellt heraus, dass auch 12- bis 19-Jährige zum größten Teil im Internet präsent sind und knapp 90% täglich mit einer Durchschnittsnutzungsdauer von 205 Minuten online sind. Zwei von drei Jugendlichen begegnen Hassim Netz, gut die Hälfte gibt an, im Internet mit extremen politischen Meinungen, Fake News und beleidigenden Kommentare konfrontiert zu sein. Der gemeinschaftliche Umgang im Internet ist auch zum politischen Thema geworden. Kinder und Jugendliche finden Online-beratungsangebote rund umdie Themen Mobbing/Cybermobbing/rechtliche Aspekte im Netz oder auf Social Media beispielsweise auf www.juuuport.de. Auch für Erwachsene gibt es informative Beratungsangebote zu ähnlichen Themenbereichen (z.B. www.klicksafe.de) (mpfs, 2019:53;55).13

Rosenauer wirft daher ein, dass es vor dem Hintergrund der Zentralität des Mediums nun keine Frage mehr ist, ob Beratung online möglich wäre, sondern im Fokus der Diskussion stehen sollte, ob Personen in beratenden Positionen ihre Qualifikationen auch online zur Verfügung stellen wollen und über die dazu essenziellen Qualifikationen verfügen (wollen), um Menschen adäquat und effektiv in diversen Lebenssituationen professionell unterstützen zu können (2020:473). Bisher hat keine der Psychotherapieschulen die grundlegende Arbeit mit digitalen Medien in ihren Curricula verfestigt. Insbesondere wird die Kontroverse zur systemischen Schule hervorgehoben, welche nach Rosenauer‘s Auffassung geradezu einlädt, das System „Internet“ näher zu betrachten (2020:470-471). Der systemische Beratungsansatz ist ein sehr lösungs- und ressourcenorientierter Ansatz und scheint daher besonders für Onlineberatungssettings als geeignet (Engelhardt, 2011:2).

Im folgenden Kapitel werden der Leserschaft grundlegende Informationen zur Kommunikation im Internet dargeboten. In den darauffolgenden Kapiteln (4.2 ff.) werden die Präsentationsformate der Onlineberatung mit ihren spezifischen Attributen vorgestellt. Neben zwei textbasierten Formaten (Kapitel 4.3 ff.) geht es hauptsächlich um das Spektrum der videobasierten Onlineberatung (Kapitel 4.4 ff.). Zuletzt werden rechtliche Rahmenbedingungen (Kapitel 4.5) in der Onlineberatung aufgegriffen und ein Abgrenzungsversuch zur (Online-) Psychotherapie (Kapitel 4.6) gezogen. Zuletzt folgt auch hier ein Zwischenfazit (Kapitel 4.7), bevor die Arbeit in den empirischen Teil übergeht.

4.1 Entwicklung von Digitalisierung und Kommunikation in der Beratung

Die Ursprünge menschlicher Kommunikation bedingen sich größtenteils in einer Kopräsenz der Gesprächsbeteiligten. Durch technische Kommunikationsstrukturen wurde in den letzten Jahrzehnten der vermeintliche Geltungsbereich der f2f Kommunikation erheblich in den Möglichkeiten zur digitalen zwischenmenschlichen Kommunikation erweitert (Döring, 2003:38). Die Geburtsstunde der Vernetzung von Computern in Form des Advanced Research Projects Agency Network (ARPANET) an der University of California schlug im Jahr 1969. Ende der 1980er Jahre waren 100.000 Rechner mit dem ARPANET gekoppelt. 14 Jahre später wurde der erste Browser mit dem World Wide Web (WWW) verbunden und nur sechs Jahre später wurden signifikante 100 Millionen Computer mit Nutzung von Internetdiensten gezählt (Döring, 2003:1-2). Heute ermöglicht das Internet durch Dynamik, Geschwindigkeit und Vernetzung hybride Kommunikationsprozesse der Einzel- und Gruppenkommunikation, Massenkommunikation sowie der Möglichkeit zur simultanen Sender- und Empfängerfunktion (Döring, 2003:18).

Somit hat sich das Internet in vielerlei Angelegenheit, auch fernab der aktuellen pandemischen Lage, zum gesellschaftlichen Dreh- und Angelpunkt entwickelt. Der pro familia-Bundesverband stellt im Hinblick auf textbasierte Onlineberatung fest, dass die Beratungsnachfrage im Zuge der steigenden Internetzugängen sowie der grundsätzlichen Erreichbarkeit der Beratungsstellen per E-Mail ab Mitte der 1990er Jahre rasant gestiegen ist, sodass Beratungsstellen ihre textbasierten Beratungsangebote erweitert haben (2004:1). In Zeiten der Coronapandemie ist ebenfalls ein deutlicher Anstieg von Onlineberatungsangeboten zu verzeichnen. Doch nicht nur in Bezug auf Beratung werden der Kommunikation im Internet neue Funktionen und Rollen zugeschrieben. Sie fungieren ebenso als wichtige Brücke, um soziale Nähe, menschliche Kontakte, Arbeitsverhältnisse oder Schulunterricht weiterhin aufrecht zu erhalten (Wenzel et. al., 2020:49).

Die Digitalisierung birgt in Bezug auf die Beratungspraxis Chancen und Herausforderungen, man kann ihr kritisch gegenüberstehen oder sich mit ihr weiterentwickeln. Wenzel plädiert für ein Gesamtkonzept von Beratung, welches die Kluft zwischen f2f- und Onlinesettings überwindet und somit nicht in „real“ vs. „virtuell“ unterscheidet, denn auch Begegnungen in Onlinesettings seien als gleichwertig zu behandeln. So kann im Netz geäußerter Hass oder Diskriminierung genauso schmerzlich sein, wie wenn dies auf der Straße passiert. Anstatt der künstlichen Zweiteilung, solle man den Fokus auf die Lebenswelt der Menschen richten, deren Kontext miteinbeziehen und dies unabhängig von dem Transportmedium (2019:217-218).

Je nach Blickwinkel können Herausforderungen in der Onlineberatung gleichermaßen auch als Chance für diese angesehen werden. So plädiert Wenzel dafür, beraterische Kommunikationskompetenzen praktisch weiterzuentwickeln. Begründet wird dies in der Annahme, dass Medien in allen Lebenswelten einen zentralen Stellenwert einnehmen. Die zunehmende Digitalisierung birgt Risiken wie beispielsweise Reizüberflutungen, erschwerte Aufmerksamkeitsfokussierung oder Missverständnisse in der Kommunikation. Andererseits könnten diese veränderten Problem­konstellationen eine Chance für die Onlineberatung sein, um im Medium selbst eine Metakommunikation über die empfundenen Herausforderungen durch die Digitalisierung entstehen zu lassen. Durch Reflektion und Realisierung diverser Onlineberatungsangebote und die Möglichkeit der Kompetenzgewinnung besteht für die Beratung also eine Chance, sich den Lebenswelten der Klientel anzunähern (Wenzel, 2019:220-221).

4.2 Formen der Onlineberatung

Bevor nun in den folgenden Abschnitten auf die Präsentationsformate der E-Mail-, Chat- und videobasierten Beratung eingegangen wird, werden den Lesenden zunächst noch einige Besonderheiten der Onlineberatung dargestellt.

Onlineberatungssettings werden als eigenständiges Beratungsinstrument angesehen. Sie dienen einerseits als Alternative zur f2f Beratung, andererseits aber auch als Ergänzung für f2f Beratungs- oder Therapiesettings (Knatz & Dodier, 2003:13). Alle textbasierten Onlineberatungssettings bieten eine (pseudo-) anonyme Kontaktaufnahme für Ratsuchende. Die Präsentationsformate der Onlineberatung unterscheiden sich in ihrer Zugänglichkeit, Verbreitung, der benötigten technischen Ausstattung und dem damit verbundenen Umgang für die Ratsuchenden. Der gemeinsame Nenner aller ist, dass sie nicht zwingend auf herkömmliche Kopräsenz von beratender und ratsuchender Person in zeitlicher14 und räumlicher Hinsicht angewiesen sind, sondern auf neue Technologien wie dem Telefon oder dem Internet basieren und somit mediengestützt Anwendung finden (Warschburger, 2009:108). So können beispielsweise bei Auslandsaufenthalten Beratende in Deutschland kontaktiert werden oder bestimmte Beratende auf nationaler und internationaler Ebene gezielt ausgewählt werden (beispielsweise. gebunden an Kriterien der persönlichen Präferenz oder eines bestimmten Fachgebiets) (Engelhardt, 2018:120). Grundsätzlich ist eine weitere Gemeinsamkeit, dass aufgrund der Ortsunabhängigkeit Zeit- und Fahrtkosten eingespart werden (Warschburger, 2009:108). Knatz & Dodier legen der textbasierten Onlineberatung außerdem zu Grunde, dass sie durch ihre Niederschwelligkeit einen leichteren (reflexiven) Umgang mit eigenen Gefühlen für die Ratsuchenden zulässt und diese, je nach Wahl des Formates, genügend Zeit bietet, um ein Anliegen zu formulieren. Die Dezentralisierung eröffnet beratenden Personen die Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten. Die Arbeitszeiten können je nach Beratungsformat frei oder gebunden an zeitliche Rahmen sein (2003:17).

4.3 Textbasierte Onlineberatung

Einleitend in die Thematik der textbasierten Onlineberatung wird erneut ein Definitionsversuch vorgestellt, bei dem zu erkennen ist, dass die Autoren primär textbasierte Formen der Onlineberatung in das Verständnis von Onlineberatung inkludieren. Dies ist nicht unüblich, denn textbasierte Onlineberatung gilt in der Praxis als weitaus etablierter als videobasierte Onlineberatung (Reindl & Engelhardt, 2021:121). Anschließend werden die Präsentationsformate der E-Mail- und Chatberatung kurz dargeboten.

Eichenberg und Kühne umreißen das Onlineberatungsspektrum beginnend mit informativen Beiträgen auf Websites bis hin zu interaktiveren Formaten der Beratung mit Einsatz von E-Mail, Chats, Foren und SMS. Darüber hinaus thematisieren sie mit Blick auf das schriftliche Format Kontext- und Textkompetenzen. Letztere setzen in gewisser Weise eine Neigung zur geschriebenen Sprache von beratender und ratsuchender Person voraus, ohne diese sich eine textgebundene Onlineberatung als schwieriger gestalten würde. Hierbei können je nach Ausprägung der Textkompetenz (quasi-) synchrone oder asynchrone Interventionsformen als geeigneter erscheinen. So haben Ratsuchende beim Verfassen ihres Anliegens per E-Mail (asynchron) deutlich mehr Zeit- und Zeichenkontingent wie in einem Chatraum (quasi-synchron). Die Kontextkompetenz thematisiert laut der Autoren die Fähigkeit zur kritischen Wahrnehmung und Abwägung zusätzlicher Informationen, die aus den inhaltlichen Gegebenheiten zu erkennen seien. Diese setzt sich zusammen aus der strukturellen Ebene (Wahl des Kommunikationskanals, Uhrzeit der Anfrage, Erst- oder Folgekontakt) und der inhaltlichen Informationsebene. Beispielsweise können auf inhaltlicher Ebene E-Mail-Adressen oder Nicknames von beratenden Personen gedeutet werden, weil diese möglicherweise Hinweise zur Selbstdarstellung der Person enthalten. Kontextuellen Informationen (z.B. dem Nickname „FrankFurt66“) sollte jedoch nicht allzu viel Interpretationsgewicht zugesprochen werden, diese können allenfalls als subjektive Interpretation oder für beispielsweise einen Gesprächseinstieg dienen (Eichenberg & Kühne, 2014:43-44).

4.3.1 E-Mail

Um die verbreitete Illusion von tatsächlichem „E-Mail-Austausch“ zu nehmen, ist hier zentral, dass sich hinter der E-Mail-Beratung, auch Mail- oder Einzelberatung genannt, kein wirkliches Versenden und Empfangen von herkömmlichen E-Mails verbirgt. Die E-Mail-Beratung findet webbasiert auf Beratungsportalen statt, auf welchen der gesamte Beratungsverlauf sicher verwaltet wird (Engelhardt, 2018:59-60). Allein aus datenschutzrechtlichen Gründen ist es für Onlineberatende essenziell, eine konforme Software für Onlineberatungen zu benutzen (ebd.:144). Des Weiteren besteht die Möglichkeit der Pseudoanonymität, bei der Ratsuchende ihren Namen durch einen Nickname oder ein Pseudonym einen anderen Namen wählen können. Zusammenfassend tragen diese Attribute zur Enthemmung (beispielsweise bei schambesetzten Themen) und einem niederschwelligen Zugang bei (Knatz & Dodier, 2003:18-19). Engelhardt stellt außerdem heraus, dass Texte in der Länge variieren können und beratende und ratsuchende Personen aufgrund der asynchronen Kommunikation stunden-, tage- oder wochenlang Zeit haben, die E-Mail zu lesen, zu deuten, darauf eine durchdachte Antwort zu verfassen und diese vor dem Versenden gegebenenfalls erneut zu bearbeiten (2018:60).

[...]


1 In dieser Arbeit wurde sich bewusst dafür entschieden auf eine gendersensible Sprache zu achten und möglichst alle Identitäten und Geschlechter in der Schriftform gleichzustellen, da letzteres vor aktuellen Diskursen zum Thema Gendern für essenziell erachtet wird. Primär werden inklusive genderneutrale Formen angewandt, welche die Binarität im Genderdiskurs (die Gendergap: z.B. Leser*innen = Leserschaft) durchbrechen. Demnach inkludieren sie alle Geschlechtsidentitäten und sind barrierefrei für Leseprogramme, welche beispielsweise von blinden und sehbehinderten Menschen genutzt werden. Ebendiese Leseprogramme können Gendersternchen oder etwaige andere Formen nicht adäquat erfassen. (Bundesverband der Kommunikation e.V., 2020:18-22). Für eine stringente Umsetzung des obig genannten wird das Genderwörterbuch „geschicktgendern“ (Verfügbar unter: https://geschicktgendern.de) herangezogen. Für den Fall, dass es (noch) keine genderneutrale Form eines Wortes gibt, wurde sich für die Nutzung Gendersternchen entschieden, welches jedoch nur das binären Geschlechtermodell (maskulin/feminin) abdeckt. Hierbei wird bewusst darauf geachtet , die Reihenfolge der Geschlechterformen abzuwechseln, sodass keine Hierarchie entsteht (ebd.).

2 Für eine ausführliche Differenzierung der Beratungsansätze, Beratungsfelder sowie den Methoden und anderen Rahmenbedingungen der Beratung wird die Leserschaft auf rezipierte Herausgeberwerk verwiesen. Eine ausführliche Beschreibung würde den Rahmen dieser Arbeit deutlich übersteigen.

3 Interessierten Leserinnen und Leser wird an dieser Stelle folgendes Buch empfohlen: Ernst, G., Zühlke-Robinet, K., Finking, G. & Bach, U. (Hrsg.) (2020): Digitale Transformation. Arbeit in Dienstleistungssystemen. Nomos VG. DOI: https://doi.org/10.5771/9783748903413-1 Insbesondere im Hinblick auf die weitere Digitalisierung und Implementierung von künstlicher Intelligenz in Dienstleistungssektoren beschäftigt sich dieses Herausgeberwerk unter anderem mit Chatbots in der Beratung oder Robotik in der Pflege. Auch Engelhardt nimmt an, dass automatisierte Softwares auch im psychosozialen Beratungssektor zukünftig eine Rolle spielen werden (2018:14).

4 Auf der Homepage der DGOB sich vielseitige Einrichtungen und Träger, welche Aus- und Weiterbildungen zur Onlineberater*in anbieten. Diese entsprechen den Standards der DGOB. Bei Interesse wird zum folgendem Link verwiesen: https://dg-onlineberatung.de/fortbildung trainings/ Der Zertifikatskurs der Onlineberatung an der TH Nürnberg stellt nach Engelhardt & Engels Bezug zu den Besonderheiten videobasierten Onlineberatung her und nicht ausschließlich den Lese- und Schreibkompetenzen textbasierter Onlineberatung (2021:24): https://www.e-beratungsinstitut.de/fuer- studierende/hoschulzertifikat-fuer-studierende/ Das Institut LöWe (Lösungsorientiere Weiterbildung) bietet Weiterbildungen zur systemischen Onlineberatung (auch Coaching/Supervision) mit den Schwerpunkt der videobasierten Beratung : https://www hszg.de/berufsbgl-weiterbildungen/systemische-online-beraterin-supervisorin- coachin html

5 Systemorientierte Sichtweisen wurde schon früh genutzt, ohne dass sich jene Pioniere als „Systemiker“ bezeichneten. Hierzu gehören u.a. Kurt Lewin (Gruppendynamik), Jacob Moreno (Psycho- und Soziodrama) und diverse Gestaltpsychologen (Selbstorganisationstheorie der menschlichen Wahrnehmung) (Schlippe & Schweitzer, 2016:32).

6 Der ursprüngliche Inhalt der Macy-Konferenzen sollte sich auf die Wissenschaftsbereiche der Neuropsychologie, Laborphysiologie und Mathematik beschränken. Durch die Teilnehmererweiterung aus verschiedenen Disziplinen (Psychologen, Anthropologen, Soziologen) wurden die Konferenzen durch ihre Interdisziplinarität zu einer bedeutenden kybernetischen Bewegung (Levold & Wirsching, 2020:52).

7 Problematische Kommunikations-, oder Interaktionsmuster in sozialen Systemen können als komplementär (beispielsweise Unterwerfung vs. Dominanz) oder symmetrisch (beispielsweise Rivalität) beschreibt (Levold & Wirsching, 2020:52-53). „Symmetrie und Komplementarität lösen einander ab [...]“ (Schlippe & Schweitzer, 2016:97), Beziehungsangebote können beide Seiten einnehmen und sollten in Hinblick auf Beziehungsstabilität nicht einseitig überdauern -dies könne zum „Schisma“ führen (ebd.).

8 Doppelbindungen (Double Binds) können in Beziehungsmustern entstehen, die für einzelne oder alle Beteiligten von existenzieller Bedeutung sind (Schweitzer & Schlippe, 2016:97-98). Jackson und Weakland beschreiben das Konzept der Doppelbindung darin, dass menschliche Kommunikation niemals nur geprägt ist durch eindeutige Botschaften. Vielmehr betonen sie die Gleichzeitigkeit und Komplexität von vielfältigen kommunikativen Botschaften, die auf verschiedenen Ebenen (beispielsweise. die Betonung des Gesprochenen, die Interpretationsmöglichkeiten in diversen Kontexten sowie Mimik und Gestik) stattfinden (2016:36).

9 Die Homöostase beschreibt einen Gleichgewichtszustand. Jackson und Weakland begründen dieses Konzept unter anderem aus der Beobachtung heraus, „[...] that a family forms such a steady-state [Fließgleichgewicht] sytem [...]“ (ebd., 2016:36) und die Interaktion der Beteiligten darauf hinwirkt einen gewissen Status Quo aufrechtzuerhalten und dementsprechend zu reagieren um diesen auch wiederherstellen können (ebd.).

10 Selbstreferenz oder Selbstrückbezüglichkeit beschriebt die Fähigkeit eines lebenden Systems Aussagen über Prozesse zu treffen, die auf sie selbst zurückwirken (Simon & Stierlin, 1995:314).

11 Konstruktivistische Positionen reichen zurück bis in die griechische Antike, des 5. und 6. Jahrhunderts vor Christus. Neben der radikalen Positionierung gibt es den konstruktiven Realismus, Konstruktionismus, sozialen Konstruktivismus, sozialen Konstruktionismus, die soziologische Systemtheorie nach Niklas Luhmann und einige andere Ansätze. Interessierte Leser*innen werden an dieser Stelle für einen Überblick auf Lindemann, 2019:26-29 verwiesen.

12 Das Spektrum der möglichen Fragen ist weitaus größer als hier dargestellt. Interessierte Leserund Leserinnen werden an dieser Stelle verwiesen an: Kindl-Beilfuß (2019), welche eine ganzes Buch mit Fragen verfasst hat; de Shazer (2019), welcher anhand von Fallbeispielen die Kunst der „guten Fragen“ darstellt; Simon & Rech- Simon (2021), welche verschiedene Falltranskriptionen hinsichtlich der enormen Vielfalt der zirkulären Fragetechniken kommentieren und analysieren.

13 Umfassende Informationen zur Medienkompetenz in der systemischen Arbeit hinsichtlich den Themen Familie während der Pandemie, Kinder und Jugendliche, Eltern und Erziehende sowie Fachkräfte findet die Leserschaft hier: https://www.dgsf.org/service/medienkompetenz -fuer-systemiker

14 ausgenommen der videobasierten Onlineberatung

Ende der Leseprobe aus 171 Seiten

Details

Titel
Systemische Onlineberatung?!
Untertitel
Neue Wege der Nähe durch videobasierte Onlineberatung in Zeiten der Pandemie und Überlegungen zur Verknüpfung dieser mit einer systemischen Beratungshaltung
Hochschule
Fachhochschule Mannheim, Hochschule für Sozialwesen
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
171
Katalognummer
V1117631
ISBN (eBook)
9783346481757
ISBN (Buch)
9783346481764
Sprache
Deutsch
Schlagworte
systemische, onlineberatung, neue, wege, nähe, zeiten, pandemie, überlegungen, verknüpfung, beratungshaltung
Arbeit zitieren
Neele Baumgarten (Autor:in), 2021, Systemische Onlineberatung?!, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1117631

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