Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Stand der empirischen Forschung
3 Theorie und Hypothesen
3.1 Sozialisationstheorie und Bildungsübergänge
3.2 Sozialisation in der Familie als soziales System
3.3 Ressourcentheorie
3.4 Funktionen und Bedeutung älterer Geschwister
4 Daten und Methode
4.1 Datengrundlage
4.2 Abhängige Variable
4.3 Unabhängige Variablen
4.4 Kontrollvariablen
4.5 Statistische Berechnungen
4.6 Kritische Betrachtung derMethode
5 Ergebnisse
5.1 Erste bivariateAnalyse: Häufigkeitstabelle
5.2 Zweite bivariateAnalyse: Kreuztabelle
5.3 Ergebnisse der ersten Regression
5.4 Ergebnisse der zweiten Regression
6 Schlussbetrachtung
Literatur
Zusammenfassung
Der Einfluss älterer Geschwisterkinder auf den Gymnasialübergang jüngerer Kinder der Familie variiert mit familienstrukturellen Merkmalen wie der Eltern- und Geschwisterkonstella- tion. Studien ergeben, dass ältere Geschwisterkinder in Familien mit zwei Elternteilen die Gymnasialübergänge ihrer jüngeren Geschwister negativ beeinflussen. Dieser Effekt kehrt sich in Alleinerziehendenhaushalten um. Dort kommt Kindern womöglich eine „Unterstützungsfunktion“ zu (Helbig 2013). Diese Arbeit untersucht mit Daten des Mikrozensus 2014 die Gymnasialübergangswahrscheinlichkeit zwischen drei Gruppen: Kinder mit älterem Geschwisterkind, Kinder ohne älteres, jedoch mit jüngerem Geschwisterkind und Einzelkinder. Es wird mittels linearer Wahrscheinlichkeitsmodelle geprüft, ob der Einfluss von Geschwistern mit der Familienform variiert. Darüber hinaus wird geprüft, ob sich der Einfluss von Geschwisterkindern je nach Tätigkeitsart der Mutter (Vollzeit-, Teilzeit-, Nichterwerbstätigkeit) ändert. Innerhalb der Gruppe von Kindern mit älteren Geschwistern wird darüber hinaus auf einen sich verändernden Einfluss geprüft, sollten sich diese hinsichtlich objektiver Merkmale wie Geschlecht und Alter ähneln. Die Ergebnisse zeigen, dass der negative Einfluss älterer Geschwister genau dann schwächer wird, wenn sie den jüngeren hinsichtlich objektiver Merkmale wie Alter und Geschlecht ähneln. Gehen ältere Geschwisterkinder selbst auf das Gymnasium, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für jüngere Kinder, auch ein Gymnasium zu besuchen, drastisch. Dass die Erwerbstätigkeit der Mutter die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen beeinflusst, konnte nicht nachgewiesen werden. Kombinierte Effekte aus dem Vorhandensein von Geschwisterkindern, Familienform und Erwerbstätigkeit der Mutter konnten ebenfalls nicht nachgewiesen werden.
1 Einleitung
Der Zusammenhang zwischen Familienkonstellation und Bildungsübergängen von Kindern ist zunehmend Gegenstand der empirischen Bildungs- und Familiensoziologie. Empirische Untersuchungen können mehrheitlich der Ebene der Elternkonstellation (Bohrhardt 2000) oder der Ebene der Geschwisterkonstellation (Helbig 2013) zugeordnet werden. Diese werden meist voneinander isoliert als Determinanten für Bildungsübergänge von Kindern betrachtet. Einem möglichen kombinierten Einfluss aus Elternkonstellation und Geschwisterkonstellation auf die Bildungsübergänge jüngerer Kinder in Familien kommt in der soziologischen Forschung bislang wenig Aufmerksamkeit zu.
Elternkonstellationen haben sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend pluralisiert (Böhnisch 2010, S. 339). Mehr-Eltern-Familien, Patchwork-Familien und Ein-Eltern-Familien sind Ausdruck dieser pluralisierten Lebensformen (ebd.). Insbesondere Ein-Eltern-Familien sind eine häufig zu beobachtende Eltemkonstellation. In Deutschland lebten im Jahr 2018 rund 2,5 Millionen Kinder (22,6 Prozent) in Alleinerziehendenhaushalten, 7,8 Millionen (68,4 Prozent) dagegen wachsen in ,vollständigen‘ Familien mit zwei Elternteilen auf (Destatis 2019a). Durch die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit kommt die vermehrte Abwesenheit von Müttern hinzu.1 Diese führt auch in Familien mit zwei Elternteilen zu kurzweilig veränderten Elternkonstellationen bzw. Betreuungssituationen. Sowohl die Eltemkonstellationen als auch die durch Erwerbstätigkeit bedingte Abwesenheit eines oder beider Elternteile sollten in Hinblick auf einen Zusammenhang mit Bildungsübergängen von Kindern untersucht werden.
Eine weitere Ebene von Familienkonstellationen ist das Vorhandensein von Geschwistern. Geschwister beeinflussen die kognitive Entwicklung jüngerer Kinder in Familien negativ (Jaeger 2007). Dieser Befund manifestiert sich unter anderem in Studienergebnissen, die zeigen, dass der Gymnasialübergang von Kindern unwahrscheinlicher wird, wenn mindestens ein älteres Geschwisterkind im Haushalt lebt (Helbig 2013). Unter Berücksichtigung der Familienkonstellation jedoch ergibt sich eine Abmilderung des negativen Einflusses auf die Bildungsübergänge jüngerer Geschwister. In Ein-Eltern-Familien ist der Einfluss älterer Geschwister im Vergleich zu Kernfamilien sogar positiv (vgl. ebd., S. 635). Durch die zusätzliche Berücksichtigung der sozialen Schicht zeigt sich, dass der negative Einfluss älterer Geschwister nicht allein durch fehlende ökonomische und soziale Ressourcen verursacht wird (vgl. ebd. 2013, 634). Es stellt sich die Frage, ob älteren Geschwistern in Alleinerziehendenhaushalten generell eine Unterstützungsfunktion zukommt, die den [Bildungsübergang] des jüngeren Geschwisterkindes positiv beeinflusst“ (ebd. 2013, S. 635). Älteren Geschwisterkindern könnte folglich unter bestimmten Bedingungen ein positiver Einfluss auf Bildungsübergänge zukommen. Welche konkreten Bedingungen für den positiven Einfluss eine Rolle spielen, ist bisher nicht erforscht und soll in dieser Arbeit beleuchtet werden.
Die vorliegende Arbeit widmet sich der Fragestellung, ob der Einfluss von Geschwistern auf Bildungsübergänge je nach Familienform und je nach Tätigkeitsart der Mutter variiert. Es wird dabei sowohl der Einfluss älterer Geschwister im Vergleich zum Einfluss jüngerer Geschwister betrachtet als auch das Vorhandensein älterer oder jüngerer Geschwister im Vergleich zu Einzelkindern. Die These lautet in Bezug auf den bisherigen Forschungsstand, dass Geschwistern generell ein negativer Einfluss auf Bildungsübergänge zukommt. Älteren Geschwistern in Ein-Eltern-Familien und in Familien mit erwerbstätiger Mutter komme eine relativ größere Bedeutung und daher ein positiver Einfluss zu, wenn man mit dem Einfluss älterer Geschwister in Kernfamilien und in Familien mit nichterwerbstätiger Mutter vergleicht. Der möglicherweise positive Einfluss älterer Geschwister wird in diesem Fall durch deren Unterstützungsfunktion für (zeitweise) wegfallende Elternteile begründet (vgl. ebd. 2013, S. 628).
Diese Arbeit hebt sich durch die Verknüpfung von bildungs- und familiensoziologischen Theorien von anderen Forschungsarbeiten zu diesem Thema ab. Bildungsübergänge werden als von Familienkonstellationen dependente Variable in einen sozialisationstheoretischen Kontext eingebettet, um einen möglichst breiten Begrifflichkeiten- und Theorierahmen abzustecken. Die Bedeutung der Untersuchung von Gymnasialübergängen ergibt sich insofern, als dass der Übergang von der Grundschule auf weiterführende Schulen im Vergleich zu späteren Bildungsübergängen im Leben besonders groß ist (vgl. Hillmert 2014, S. 80). Da es sich bei der Pluralisierung von Elternkonstellationen in Deutschland um einen anhaltenden Trend handelt, sollten deren Auswirkungen auf Gymnasialübergänge wissenschaftlich untersucht werden.
Zur Untersuchung der Fragestellung wird zunächst der empirische Forschungsstand der Thematik rezipiert, um den Forschungsgegenstand dieser Arbeit im wissenschaftlichen Diskurs zu verorten. Im Anschluss daran kann eine Verknüpfung zwischen Sozialisationstheorie und Bildungsverläufen hergestellt werden, um den theoretischen Rahmen dieser Arbeit abzustecken. Darauf aufbauend wird anhand des Parsons’schen Modells der Kemfamilie und der theoretischen Analyse der Bedeutung von Ressourcen eine Grundlage zur Herleitung der Hypothesen möglich. Im Methodenteil folgt die Darlegung des Forschungsvorgehens, dessen Ergebnisse im analytischen Teil dargelegt und abschließend bewertet werden.
2 Stand der empirischen Forschung
Die erste Ebene zur Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit sind empirische Befunde über die Auswirkungen diskontinuierlicher Elternschaft. Diskontinuierliche Elternschaft beschreibt die „längere Abwesenheit mindestens eines biologischen oder Adoptiveltemteils in der kindlichen Entwicklungsphase“ (Bohrhardt 2000, S. 190). Diskontinuierliche Elternschaft kann durch die unerfüllten Funktionen des wegfallenden Elternteils Sozialisationsprozesse im Kindesalter beeinflussen und sich auf Bildungsübergänge auswirken (Jacobson 1978; Touli- atos& Lindholm 1980; Burns& Brassard 1982). Studien belegen einen negativen Einfluss auf den Schulerfolg (McLanahan& Sandefur 1994; Bohrhardt 2000).
Eine Form diskontinuierlicher Elternschaft ist die Ein-Eltern-Familie. Bei der Betrachtung von Ein-Eltern-Familien zeigt sich der negative Einfluss diskontinuierlicher Elternschaft auf Bildungsübergänge darin, dass Kinder aus Alleinerziehendenhaushalten seltener auf das Gymnasium gehen als Kinder aus Kernfamilien (Helbig 2013). Erklärt wird der Zusammenhang häufig durch fehlende ökonomische Ressourcen (Grabka& Frick 2010; Schütter 2015), wenige soziale Ressourcen (Diefenbach 2000), aber auch durch psychische Folgen des Kindes als Folge von elterlicher Scheidung und Umstrukturierung der Familienverhältnisse (Amato 2000; Bohrhardt 2000).
Eine weitere Form diskontinuierlicher Elternschaft ist die elterliche Erwerbstätigkeit (Coleman 1988). Physische Abwesenheit und das Maß an Aufmerksamkeit, welches Kindern zuteilwird, beeinflusst die in Sozialisationsprozessen vermittelten Kompetenzen und Qualifikationen und somit indirekt Bildungsübergänge (ebd., S. 111). In Familien mit erwerbstätigen Eltern und mehreren Kindern kommt dem einzelnen Kind oftmals wenig Aufmerksamkeit zu. Jene Zeit, die für das Nachgehen einer Erwerbstätigkeit aufgewendet wird, kann nicht in die Kindeserziehung investiert werden. Andererseits ergeben sich aus Erwerbstätigkeit ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen, die wiederum in die Kinder investiert werden können (ebd.). Ferner wurde belegt, dass die Qualität der Zeit, die Eltern mit Kindern verbringen, bei Erwerbstätigen höher ist als bei Nichterwerbstätigen; so lesen etwa erwerbstätige Mütter ihren Kindern häufiger vor (Zick et al. 2001; Walper& Grgic 2013). Walper und Grgic (2013) belegen, dass mütterliche Erwerbstätigkeit kein Risiko für die Entwicklung des Kindes ist, sich Vollzeit Erwerbstätigkeit der Mutter jedoch negativ auf die Häufigkeit der Interaktion mit dem Kind auswirkt (ebd., S. 517).
Die zweite Ebene dieser Arbeit beschäftigt sich mit dem Einfluss von Geschwistern auf Bildungsübergänge. Ältere Geschwister beeinflussen die Ausbildung kognitiver, sozialer und affektueller Kompetenzen ihrer jüngeren Geschwister (vgl. Helbig 2013, S. 625ff). Über deren direkten Einfluss auf die Bildungsübergänge ihrerjüngeren Geschwister ist bislangjedoch wenig bekannt. Helbig (2013) zeigt, dass ältere Geschwister den Gymnasialübergang ihrer jüngeren Geschwister negativ beeinflussen. In Ein-Eltern-Familien kehrt sich dieser Effekt um. Dies könnte darauf hindeuten, dass die relative Bedeutung älterer Geschwister in Alleinerziehendenhaushalten größer ist als in Kemfamilien (ebd., S. 628). Das ältere Geschwisterkind könnte die Rolle des fehlenden Elternteils kompensieren und eine unterstützende Funktion für dasjüngere Geschwisterkind einnehmen. Diese Vermutung verweist darauf, dass Funktion und Bedeutung älterer Geschwisterkinder mit der Familienform variieren.
Dieses Ergebnis zeigt sich in weiteren Studien. Qualitative Befunde weisen darauf hin, dass Interaktionen zwischen Geschwisterkindern häufiger und intensiver werden, wenn Geschwister die Erfahrung einer elterlichen Scheidung teilen (Abbey& Dallos 2004). Somit könnten sich Interaktionen zwischen Geschwistern durch die gemeinsame Erfahrung der elterlichen Trennung intensivieren. Zudem verweist eine Studie von McHale und Crouter (1996) darauf, dass Kinder häufiger mit ihren Geschwistern interagieren als mit ihren Eltern oder der Peer Group. Die Häufigkeit der Interaktion zwischen Geschwistern könnte unter anderem dadurch erklärt werden, dass dem älteren Geschwisterkind Betreuungsaufgaben zukommen. Griebel (1991) zeigt, dass in 17 Prozent der von ihm beobachteten Familien ältere Geschwister Betreuungsfunktionen ihrer 10- bis 15-jährigen Geschwisterübernehmen (ebd., S. 45).
Bei der Betrachtung des Einflusses von Geschwistern auf Bildungsübergänge müssen einige weitere Faktoren berücksichtigt werden. Nicht nur die Geburtenreihenfolge, sondern auch die die Anzahl der Geschwister haben einen negativen Einfluss auf Bildungsübergänge; je mehr Geschwister im Haushalt leben, desto unwahrscheinlicher wird der Gymnasialübergang (Helbig 2013). Auch der Bildungsstand des älteren Geschwisterkindes muss berücksichtigt werden. Besucht das ältere Geschwisterkind bereits das Gymnasium, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch dasjüngere Kind auf das Gymnasium übergeht (ebd.).
Die dargelegten Zusammenhänge sind stets unter Berücksichtigung sozioökonomischer Merkmale des Haushalts zu betrachten. Empirische Untersuchungen sollten die Erklärungskraft des Bildungsstands der Eltern, des Haushaltsäquivalenzeinkommens und der Bildungsaspirationen der Eltern sowie des komplexen Gesamtzusammenwirkens aller Variablen mit der Familienkonstellation berücksichtigen. So sind Alleinerziehende eher aus bildungsfernen Schichten und haben daher schlechtere Arbeitsmarktchancen und somit geringere Einkommen (Schutter& Schweda-Möller 2017, S. 146 f.). Auch die Bildungsaspirationen Alleinerziehender sind oftmals geringer als von Paareltern: Eltern, die als Paar Zusammenleben, erstreben häufiger das Abitur für ihre Kinder, etwa die Hälfte der Alleinerziehenden dagegen wäre mit einem Haupt- und Realschulabschluss für ihre Kinder zufrieden (ebd., S. 148 ff.). Folglich müssen bei der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Familienkonstellation und Bildungsübergängen stets jene Faktoren berücksichtigt werden, die wiederum das Zustandekommen der Familienkonstellation erklären könnten. Darüber hinaus ist die bundeslandspezifische Bildungspolitik zu berücksichtigen. In einigen Bundesländern sind Übergangsempfehlungen nach der Grundschule bindend, Eltern können die Bildungsaspirationen für ihre Kinder dort nicht immer umsetzen. In Bundesländern mit durchlässigeren Übergängen können Eltern die Wahl der weiterführenden Schule dagegen frei treffen. Kompensatorisches Potential bieten darüber hinaus Ganztagsschulen und Betreuungsangebote. In den neuen Bundesländern ist das Betreuungsangebot besser ausgebaut als in den alten Bundesländern (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005, S. 72).2
Anhand der Replikation des Forschungsstandes zeigt sich, dass ein allgemeiner Konsens über die negativen Auswirkungen diskontinuierlicher Elternschaft und dem Vorhandensein von (älteren) Geschwisterkindern herrscht. Nicht berücksichtigt wurde in bisherigen Studien, ob sich der Einfluss von Geschwisterkindern in Abhängigkeit von der Betreuungssituation im Haushalt verändert. Dabei sollten sowohl die Familienkonstellation als auch die Erwerbstätigkeit der Eltern berücksichtigt werden. Dieser Forschungslücke möchte sich die folgende Arbeit annehmen. Der Anspruch besteht dabei keineswegs in der Schließung dieser Lücke. Viel eher soll es darum gehen, weitere potenzielle Einflussfaktoren auf Gymnasialübergänge zu berücksichtigen, um einen Teil zum Erkenntnisgewinn der empirischen Bildungs- und Familiensoziologie beizutragen.
3 Theorie und Hypothesen
Im folgenden Abschnitt wird zunächst die für das weitere Vorgehen notwendige Verknüpfung von Sozialisationstheorie und Bildungsübergängen herausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund kann die Replikation des Parsons’schen Modells der Kernfamilie erfolgen. Parsons Modell eignet sich besonders, da es zum einen die Analyse der Familie als Ganzes, zum anderen die Analyse der Funktionen und Bedeutungen der einzelnen Systemmitglieder erlaubt. Da das Modell die konkreten, Interaktionsprozesse beeinflussenden und in ebendiesen vermittelten Ressourcen nicht berücksichtigt, wurde als weitere Komponente die Ressourcentheorie nach Coleman gewählt. Colemans ressourcentheoretische Konzepte wurden wiederum genutzt, um eine über die Funktion und die Bedeutung der Systemmitglieder hinausgehende Perspektive auf Sozialisationsprozesse in der Familie zu erlangen. Aus den theoretischen Darlegungen werden Hypothesen darüber abgeleitet, welche Funktionen durch Abweichungen vom Par- sons‘schen Modell der Kemfamilie in Sozialisationsprozessen nicht ausgeführt werden könnten. Ferner wird untersucht, welche konkreten Ressourcen durch veränderte Familienkonstellationen nicht oder in geringerem Ausmaß zum Austausch kommen können.
3.1 Sozialisationstheorie und Bildungsübergänge
Die Sozialisationstheorie Jean Piagets stellt die Entwicklung der kognitiven Seite der Persönlichkeit in den Forschungsmittelpunkt und führt damit in den sechziger Jahren zu einem Para- digmenwechsel in der Sozialisationsforschung (Geulen 1980, S. 38). Während in der Soziologie ehedem die Verinnerlichung eines gesellschaftlichen Kollektivbewusstseins, des ,,con- sience collective“ (Dürkheim) und in der Psychologie die menschliche Triebsublimation (Freud) als einflussreichste Sozialisationstheorien galten, rückten Mitte des 20. Jahrhunderts lerntheoretische Ansätze in den Fokus der Sozialisationsforschung (Geulen 1980, S. 33 ff.).3 Piaget setzt die Ausbildung kognitiver Fähigkeiten in einen Zusammenhang mit sozialen Bedingungen, grenzt seine Theorie dadurch von rein behavioristischer Lerntheorie ab und macht sie so zu einer der einflussreichsten in der gegenwärtigen Entwicklungspsychologie und der Sozialisationstheorie (ebd., S. 39). Da kognitive Fähigkeiten als primäre und soziale Bedingungen als sekundäre Effekte im soziologischen Diskurs häufig zur Erklärung der Varianz von Bildungsübergängen- und Entscheidungen herangezogen werden, sollte die empirische Analyse von Bildungswegen in Sozialisationstheorie eingebettet werden (Breen& Golthorpe 1997).
In einer Theorie, in der Sozialisation als Vermittlungsprozess zwischen Akteuren konzipiert wird, ist die Familie der zentrale Sozialisationskontext für Qualifikations- und Vermittlungsprozesse (Kreppner 1980, S. 395). Bei der Analyse von Vermittlungsprozessen ist zum einen die Betrachtung konkreter Interaktionen zwischen Kindern und deren Bezugspersonen von herausragender Relevanz (ebd., S. 405). Bei der Ausbildung kognitiver Fähigkeiten durch die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten aus dem Wissens- und Normsystem einer Kultur stellen sich insbesondere Eltern-Kind, sowie Interaktionen mit Geschwistern als zentrale Mechanismen heraus. Zum anderen ist die Betrachtung des familiären Bezugsrahmens, in welchem sich Interaktions- und Vermittlungsprozesse vollziehen, von elementarer Bedeutung. Erst vor dem Hintergrund struktureller Bedingungen der Umwelt des Kindes kann eine fundierte Analyse von Vermittlungsprozessen stattfmden (ebd., S. 395 ff.).
Die Betrachtung von Sozialisation als Zusammenwirken aus Vermittlungsprozessen berücksichtigt noch nicht die Funktionen und Positionen der einzelnen Akteure innerhalb der Familie. Daher wird im nächsten Schritt das Parsons’sche Modell der Kernfamilie rezipiert, um eine systemtheoretisch-strukturfunktionalistische Perspektive auf die Familie zu ermöglichen. Auf diese Weise können Sozialisationsprozessen in Bezugnahme auf das Konzept der Interaktion in einen gesamtstrukturellen Bezugsrahmen eingebettet werden (ebd., S. 396).
3.2 Sozialisation in der Familie als soziales System
Die Familie ist ein soziales System innerhalb von Gesellschaft (Parsons 1955, S. 35). Als Teilsystem steht sie in einer spezifischen strukturellen und funktionellen Beziehung zu Gesellschaft und ist zugleich ein von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit abgeschirmter Privatraum (ebd., S. 8 ff.). Von besonderer Bedeutung ist die Familie im Vergleich zu anderen sozialen Systemen insofern, als dass sich innerhalb dieses Systems zentrale Prozesse der kindlichen Sozialisation abspielen (ebd., S. 35 ff.). Dabei beschreibt Sozialisation jene Lernprozesse, aus denen in Interaktion zwischen komplementären Rollenträgern die Internalisierung bestimmterWerte folgt (Parsons 1951a, S. 208f.).
Rollen sind die strukturelle Basis für Sozialisationsprozesse innerhalb von Familie (Parsons 1955, S. 35 ff.). Sie sind komplementär zueinander (Parsons 1951a, S. 208) und an eine bestimmte Funktion mit relativer Machtbefugnis 4 gekoppelt (Parsons 1955, S.45). Die Rolle der Eltern nimmt in Lernprozessen eine zentrale Stellung ein: Als „socializing agents“ (ebd., S. 35) kommt ihnen die Funktion zu, gesellschaftlich vorgegebene Handlungsmuster an ihre Kinder zu vermitteln (Kreppner 1980, S. 397). Dies geschieht in Interaktion: Alter (Elternteil) ist in Interaktion das „model“ (Parsons 1951a, S. 211) und verkörpert spezifische Werte, die von Ego (Kind) im Laufe des Interaktionsprozesses internalisiert werden (ebd.). (E)go and Alter have established a reciprocal role relationship in which value-patterns are shared” (ebd., S. 211). Werte und Verhaltensmuster werden folglich in Interaktion von Alter vorgelebt und von Ego unhinterfragt internalisiert. Dies stellt den Vermittlungsprozess dar (ebd.).
Beziehungen zwischen einzelnen Rollenträgern im Familiensystem sind Subsysteme innerhalb des Familiensystems; etwa die dyadischen Mutter-Kind- oder Vater-Kind-Beziehungen, oder die Vater-Mutter-Kind-Triade als Ganzes (Kreppner 1980, S. 407). Auch die Beziehung zu Geschwistern ist ein Subsystem und hat funktionale Bedeutung für Sozialisationsprozesse (vgl. Schneewind 2008, S. 266; Kreppner 1980, S. 407). Da sich Sozialisation in Vermittlungs- und Lernprozessen sowohl zwischen Eltern und Kind als auch zwischen Geschwistern und Kind vollzieht, ist davon auszugehen, dass für Bildungsübergänge relevante Kompetenzen in beiden Interaktionskonstellationen erlangt werden. Welche Kompetenzen konkret vermittelt werden, kann wiederum vom Wissensbestand und der Position von Alter innerhalb des Familiensystems abhängen.
Die Betrachtung der Parsons’schen Kernfamilie (Mutter, Vater, Tochter, Sohn) ermöglicht eine klare Zuordnung funktionaler Rollen und die Identifizierung von Beziehungsgeflechten zwischen den Rollenträgem. Sie dient durch die manifesten Zuordnungen als Referenzpunkt für weitere Analysen (Parsons 1955, S. 45). Es gibt zwei Variablen, anhand derer sich die Rollen innerhalb des Familiensystems differenzieren: Zum einen herrscht eine ungleiche Verteilung an Macht zwischen den Rollenträgern. Eltern kommt ein relativ höheres Maß an Autorität und Macht zu als ihren Kindern. Zum anderen differenzieren sich Rollen anhand ihrer Funktion: So gibt es einerseits relativ instrumentelle, andererseits relativ expressive Funktionen (Parsons 1955, S. 45).5 Anhand dieser Differenzierungslinien ergeben sich nach Parsons vier Rollentypen: Viel Macht und instrumentelle Funktion (Vater), viel Macht und expressive Funktion (Mutter), wenig Macht und instrumentelle Funktion (Sohn) und wenig Macht und expressive Funktion (Tochter). „Das [...] Positionenquartett der Kernfamilie [...] ergibt sich ausschließlich aus der Kombination der beiden Merkmale von Generation (ältere, jüngere) und Geschlecht (weiblich, männlich)“ (Tyrell 1988, S. 147); durch diese Kombination wird die Familie komplett und erfüllt das „Vollständigkeitsprinzip“ (ebd.). Sowohl die Ausstattung mit Macht als auch die Funktion der Rolle sind als relativ zur Ausstattung der anderen Rollen zu verstehen (Parsons 1955, S. 46).
Tabelle 1: Die basale Rollenstruktur der Kernfamilie. (Parsons 1955, S. 46; eigene Darstellung)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In Tabelle 1 ist die basale Rollenstruktur der Kernfamilie nach Parsons dargestellt. Aus dieser geht hervor, dass männlichen Familienmitgliedern relativ instrumentelle Funktionen zukommen, den weiblichen Mitgliedern relativ expressive Funktionen. Instrumentelle Funktionen repräsentieren im Familiensystem die Sachlichkeit und Rationalität der die Familie umgebende Umwelt (Schnabel 2012, S. 953). Als Arrangeur von Unternehmungen außerhalb des Familienhaushalts wird durch die Rolle des Vaters das Explorations- und Lernbedürfnis des Kindes stimuliert, auf dessen Basis sich soziale Kompetenzen und eine allgemeine Lernbereitschaft entwickeln (ebd.). Folglich richten sich in diesem Modell die Funktionen der Rollen des Vaters und des Sohnes in Sozialisationsprozessen primär an die Vermittlung jener Kompetenzen, welche in der Umwelt des Familiensystems relevant werden (ebd.). Die Rolle des Vaters ist somit maßgeblich an der Kompetenzentwicklung beteiligt, welche für Bildungserfolg- und Übergänge relevant sein könnte.
Expressive Funktionen im Familiensystem beziehen sich primär auf Aspekte mit familieninterner Relevanz. Sie formen die Familie zu einem Ort der Sicherheit und des Schutzes, den das Kind zu jeder Zeit bedingungslos aufsuchen kann (ebd., S. 951). Der Mutter- und der Schwestemrolle kommen in diesem Modell die Funktionen zu, Vertrauen, Sicherheit und Affektkontrolle zu vermitteln (ebd., S. 950). Durch die daran gekoppelte Herstellung von Selbstvertrauen und Unabhängigkeitsbestrebungen kommt auch den weiblichen Rollenträgern die Funktion der Explorationsunterstützung des Kindes zu (ebd., S. 951). Auf dieser Basis wird es dem Kind möglich, sich im Laufe der Adoleszenz emotionale, kognitive und kommunikative Kompetenzen anzueignen (ebd.).6 Elterliche Rollen sind folglich nicht nur an Funktionen gebunden, die den Nutzen des Familiensystems als Ganzes betreffen, sondern darüber hinaus mit einer kompetenzvermittelnden Funktionen ihren Kindern gegenüber versehen, die erst außerhalb des Familiensystems relevant werden. Es kann daher argumentiert werden, dass Vater- und Mutterrolle und ebenso Geschwisterrollen gleichermaßen Funktionen in Sozialisationsprozessen zukommen, die zu Kompetenzen führen, welche in der Umwelt des Kindes relevant werden. Die Eltern- und Geschwisterkonstellation sollte daher einen Einfluss auf Bildungserfolge und schließlich Bildungsübergänge haben, da sich in Sozialisationsprozessen angeeignete Kompetenzen auch in Bildungserfolg- und Übergängen widerspiegeln.
Abweichungen vom Rollenmodell der Parsons’schen Kemfamilie führen zu veränderten Funktionszuschreibungen und Bedeutungen der familieninternen Rollen.7 Als Abweichung könnte die ,Unvollständigkeit‘ der Familie, bzw. die Nichtbesetzung einer oder mehrerer Rollen durch die jeweils vorgesehenen Rollenträger gelten (Böhnisch 2010, S. 346). Solche ,Un- vollständigkeiten‘ finden sich typischerweise in Ein-Eltern-Familien. Durch die permanente Abwesenheit eines Elternteils kann die Rollenfunktion des wegfallenden Elternteils in Sozialisationsprozessen nicht oder nur unzureichend erfüllt werden. Alleinerziehende müssten theoretisch die Funktionen beider Elternrollen zugleich erfüllen. Solche familienstrukturellen Inkonsistenzen könnten Kindern den Erwerb spezifischer Kompetenzen in Sozialisationsprozessen erschweren, oder diesen zumindest verlangsamen (ebd.). In diesem Zusammenhang ist eine Auswirkung auf Bildungserfolge, bzw. Bildungsübergänge, denkbar. Aus den bisherigen Darlegungen ergibt sich die folgende Hypothese:
Hypothese 1: Kinder aus Ein-Eltern-Familien gehen seltener auf das Gymnasium über als Kinder aus Kemfamilien.
3.3 Ressourcentheorie
Bislang wurden die Funktionen und Bedeutungen einzelner Familienmitglieder in Sozialisationsprozessen untersucht. Jedoch bleiben durch die Betrachtung der Parsons’schen Kernfamilie, die für den ,Outcome‘ von Sozialisationsprozessen relevanten und in Sozialisationsprozessen produzierten Ressourcen unberücksichtigt. Um Sozialisationsprozesse ganzheitlich zu betrachten werden im Folgenden einige ressourcentheoretische Konzepte rezipiert.
Familiale Ressourcen sind ökonomischer, kultureller und sozialer Art. Ressourcen werden auch als Kapital bezeichnet, da Kapital „ein Bestand an Ressourcen, [ist], der gewinnbringend investiert werden kann“ (zit. in Hoenig 2019, S. 6). Ökonomische Ressourcen umfassen dabei alle Güter mit monetärem Wert, sowie Zeit (ebd., S. 17). Kulturelle Ressourcen erscheinen in Form von Bildung oder beruflichem Status (ebd., S. 39). Soziale Ressourcen, bzw. soziales Kapital besteht in seiner Form in Beziehungsnetzwerken unter Akteuren (ebd., S. 8). Sozialem Kapital kommt insbesondere daher eine bedeutende Funktion zu, da es als „produktive Ressource [...] zur Erreichung bestimmter Ziele eingesetzt werden kann“ (ebd.). In Familien bezieht sich soziales Kapital insbesondere auf die affektive Beziehung zwischen Eltern und Kindern (vgl. ebd., S. 12).
Die Aufmerksamkeit der Eltern gegenüber Kindern kann ebenfalls als Ressource betrachtet werden, da diese zwischen den Kindern einer Familie aufgeteilt wird (Coleman 1988). Es könnte neben der physischen Anwesenheit der Eltern auch das Maß an Aufmerksamkeit, welches Kindern zuteilwird, maßgeblich an Sozialisationsprozessen beteiligt sein (Coleman 1988, S. 111). Durch eine steigende Anzahl an Kindern im Haushalt wird diesen laut RessourcenAllokationstheorie der Zugang zu Ressourcen erschwert (vgl. Helbig 2013, S. 625) und die „Betreuungsressource“ (Bohrhardt 2000, S. 197) der Eltern verkleinert sich. Durch jedes weitere im Haushalt lebende Kind haben Eltern weniger Zeit für jedes Einzelne und können zudem in geringerem Maße materielle Ressourcen zur Verfügung stellen (ebd.). Somit kommen jedem Kind weniger Aufmerksamkeit und weniger materielle Ressourcen der Eltern zu, wenn Geschwister im Haushalt leben (ebd.).
Hypothese 2a: Die Wahrscheinlichkeit für den Gymnasialübergang wird geringer, wenn mindestens ein Geschwisterkind im Haushalt lebt.
[...]
1 Die Erwerbstätigkeit von Müttern liegt im Jahr 2016 bei 74 Prozent (Destatis 2019b). Mit eingerechnet sind Frauen in Mutterschutz und Eltemzeit.
2 Studienbelegen, dass durchbesser ausgebaute Ganztags-Betreuungsangebote statt 36 Prozentmindestens 62 Prozent aller Kinder aus Ein-Eltem-Familien ein Gymnasium besuchen könnten (Schutter& Schweda-Möller 2017, S. 151).
3 Es ist zu erwähnen, dass jene dem heutigen Verständnis von Sozialisationstheorie zuzuordnenden Ansätze in ihrer Entstehung meist die Zuordnung zu einer ganz anderen Theorieströmung beanspruchten, etwa der Gesell schaftstheorie (so bspw. Giddings 1897; vgl. Geulen 1980, S. 33).
4 Parsons Machtbegriff lehnt sich zunächst an Hobbes Definition: „[Power is] a man’s present means to any future good“ (zit. In Parsons 1951b, S. 121) an, d.h. Macht fungiert in erster Linie als Aneignungsmittel zum Erreichen partikularer Interessen. Parsons fügt dem Machtbegriff hinzu, zwar Mittel zur Aneignung, zugleich jedoch von Beziehungen zu anderen Akteuren abhängig zu sein (ebd.).
5 Zur Kategorie instrumentellen Wissens zählt Parsons technisches Wissen, welches in der physischen Umwelt angewendet werden kann (Parsons 1951c, S. 35). Expressives Wissen umfasst Wissen um Symbole, Werte und Normen einer Kultur (ebd., S. 34).
6 Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass die spezifischen Funktionen der Eltern- und Geschwisterrollen mit dem Geschlecht des Kindes variieren (Schnabel 2012, S. 951 ff.).
7 Die Parsons‘sche Theorie der Kemfamilie ist ein Idealtypus und stellt den Ausgangspunkt einer Abfolge weiterer Rollen- und Funktionsdifferenzierungen mit steigender Komplexität dar (Parsons 1955, S. 48). Das Modell ist angesichts sich pluralisierender Lebens-und Familienformen bezüglich seiner Aktualität und bezüglich der Bedeutung von Geschlechterrollen dringend zu diskutieren.