Erzählte Erinnerung, erinnerte Erzählung

Zeitstruktur und Erzählperspektive in Fernando E. Solanas Film 'Sur '


Seminararbeit, 2004

11 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Struktur

Rückblenden

Momente der Erinnerung

Symbolik

Interpretation

Bibliographie

Einleitung

Fünf Jahre war er im Gefängnis, eines Nachts kommt er zurück

- in seine Stadt, seinen Stadtteil, seine Straßen. Ihm folgend, breitet Solanas Film langsam ein Netz an Erinnerungen aus – Erzählung fiktiver Geschichten, aber auch Erzählung der Ge- schichte Argentiniens. Floreals Rückkehr ist auch die Rückkehr des Landes aus der Gewaltherrschaft der Militärdiktatur (1976
- 1983). Eine schwierige, fast unmögliche Rückkehr denn die Diktatur hat die persönliche Identität des Protagonisten und die nationale Identität Argentiniens erschüttert, vielleicht sogar zerschmettert. Wie ein Schrank, zu dem es keine Konstrukti- onsanleitung gibt, muss sie mühsam wieder zusammengesetzt werden. Dabei stellt man fest, dass manche Teile unwieder- bringlich verloren sind, anderswo kann dank intensiver Erin- nerung eine Bindung wieder erneuert werden. Ob auf persön- licher oder nationaler Ebene, diese Erinnerung erfordert, wie der Film zeigt, immer eine kritische und offene Kommunikati- on mit sich selbst, aber auch mit den anderen.

Dieser Erkenntnis entspricht auch die Erzählweise des Films, die anders als das Hollywood-Kino nicht zur Identifikation mit den Protagonisten verführt, sondern mit Mitteln des epischen Theaters, einer episodischen Erzählstruktur und mit Wechseln von Zeit- und Wirklichkeitsebenen den Zuschauer auffordert, über persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis und ihre Funktion nachzudenken. Ich möchte die Erzählstruktur des Films analysieren und damit zum einen die Technik dieser Aufforderung nachvollziehen und zum anderen über eine ge- naue Unterscheidung der verschiedenen Zeit- und Wirklich- keitsebenen und wechselnden Erzählperspektiven Erinnerung erkennen und ihre Bedeutung innerhalb des Films und dar- über hinausgehend diskutieren.

Während im Hollywood Kino bedeutende geschichtliche Ereig- nisse fast immer als Drama eines Einzelnen oder einer Gruppe von Protagonisten erzählt werden, schafft es Süden eine persön- liche Geschichte und ihren politischen Hintergrund nebenein- ander zu stellen. Dem Zuschauer steht es frei, Verbindungen zwischen Persönlichem und Politischem zu ziehen. Keines von beiden wird als Tragödie oder Sensation dargestellt, sondern jeweils als etwas Lebendiges, Unmittelbares, mit direktem Be- zug zur unserer Wirklichkeit.

Ausgehend von meiner Strukturanalyse werde ich im zweiten Teil meiner Arbeit diese Verbindung zwischen Persönlichem und Politischem vor dem Hintergrund der zurückliegenden Militärdiktatur betrachten und so zu einem Verständnis der Funktion des Films für die Gesellschaft kommen.

Struktur

Der Film ist aufgeteilt in vier Akte, die am Anfang durch eine circa drei Sekunden lang eingeblendete Zeichnung und einem Titel und am Ende durch eine Lochblende à la Truffaut ge- kennzeichnet sind. Die Titel der vier Akte lauten: „ Der Tisch der Träume “, „ Die Suche “, „ Liebe und nichts anderes “ und „ Sterben macht müde “. Diese Einteilung ist für das Verständnis der Hand- lung unnötig. Vielmehr unterbricht sie das Geschehen, indem dem Zuschauer eine vorausgreifende Abstraktion geliefert wird. Bewusst oder unbewusst setzt der Zuschauer das Gese- hene in Verbindung zu dieser Abstraktion und findet darüber vielleicht einen Weg zu einer begrifflichen Auseinadersetzung mit dem Film. Mit Ausnahme des zweiten Akts „Die Suche“ werden die Titel auch als Thema im Dialog des jeweiligen Aktes diskutiert. In der Theorie des epischen Theaters nannte Brecht dieses „Durchsetzen des Gestalteten mit Formuliertem“ die

„Literarisierung des Theaters“, die ihm die Möglichkeit geben sollte „den Anschluss an andere Institute für geistige Tätigkeit herzustellen.“1

Gleich zu Anfang des ersten Aktes offenbart sich uns der Film als erzählte Geschichte, die von einem Filmemacher umgesetzt wurde. „Eines Nachts in Baracas al Sur, als Freunde mir Ge- schichten aus meiner Abwesenheit erzählten…“, beginnt eine Stimme aus dem Off und erzählt uns von El Negro, der kurz darauf im Bild erscheint und von dem wir erfahren, dass es sich bei der Off-Stimme um den Filmemacher, Solanas, han- delt. El Negro bittet Solanas ihn zu begleiten, da er ihm eine Geschichte erzählen wolle. „Vielleicht gibt es bessere, aber die- se hier ist wie die Straße deiner Kindheit, wie deine Mutter. Sie lässt dich nicht in Ruhe.“ kündigt er an und beginnt von Flo- reals Entlassung aus dem Gefängnis zu erzählen. Durch diese Integration des Filmemachers und eines Erzählers in den Film entsteht wie im Dokumentarfilm beim Zuschauer das Gefühl im Folgenden eine wahre Geschichte zu hören, oder zumindest eine Geschichte, die sich ähnlich auch in der Realität hätte ab- spielen können.

Auch im weiteren Verlauf des Films stellt El Negro durch Un- terbrechungen der Handlung immer wieder den Bezug zur Re- alität her. Er ist die einzige Figur, die sich ihres Daseins als Mit- spielender in einem Film bewusst ist – eine Mischung aus dem weisen Erzähler und unbeteiligten Dritten, den das Theater schon lange kennt (z.B. die Figur des Spielleiters in Thornton Wilders Our Town) und dem untragischen Held aus Brechts epischem Theaters, der zugleich Hauptfigur und Reflektieren- der ist. In dieser Sonderstellung übernimmt er auch eine wich- tige, strukturgebende Funktion. Seine Auftritte, die Theaterauf- tritten sehr ähnlich sind, erlauben dem Zuschauer wie eine Aufsicht aus dem Flugzeug einerseits eine etwas befremdliche Distanzierung, anderseits eine Übersicht und Orientierung im Geschehen des Films.

Neben dem besprochenen Authentizitätseffekt erleichtern uns Solanas und El Negros Einleitung das Verständnis der Hand- lung, die hier für den ersten Akt exemplarisch wiedergegeben sei (ausgenommen natürlich der besprochenen Erzählereinfüh- rung):

Floreal (Miguel Angel Solá) geht nach seiner nächtlichen An- kunft in seinem alten Stadtteil zum Haus seiner Frau Rosi (Susú Pecora), klopft am Fenster, um streunt dann, ohne auf sie zu warten oder sie zu treffen, weiter durch die Straßen. Er trifft zunächst den Tangosänger und Freund Amado (Roberto Goyene- che) dann seine Eltern und schließlich seinen Bekannten und Kollegen El Negro, der vor fünf Jahren von einer paramilitäri- schen Einheit ermordet wurde. El Negro beschreibt Floreal sei- nen Tod und erzählt dann von Floreal und ihrer gemeinsamen Clique, allesamt Kollegen in einem Schlachthof. Als Floreal aus Protest an El Negros Ermordung zum Streik im Schlachthof aufgerufen hatte, wurde er vom Regime verfolgt und musste sich verstecken. Im Versteck des Schriftstellers Emilio (Ulises Dumont) traf er auf Maria. Nach einer kurzen Liebesaffäre ver- ließen Floreal und Maria zusammen das Versteck.

Neben der bereits besprochenen Erzählebene, die der spre- chende Filmemacher als „eines Nachts“ (nach seinem Exil in Frankreich) einordnet, werden im beschriebenen ersten Akt alle Figuren und alle Zeit- und Wirklichkeitsebenen, die der Film auch weiterhin bedienen wird, vorgestellt. Zwei Zeitebe- nen lassen sich sofort unterscheiden; die Nacht Floreals Rück- kehr (durch einen eingeblendeten Titel datiert auf „1983, nach dem Ende der Militärdiktatur“) und die Geschichte von Floreal und seinen Freunden vor und in der Zeit der Militärdiktatur, die in mehr oder weniger als solche ausgezeichnete Rückblen- den erzählt wird. Der Einfachheit halber, werde ich die beiden als Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden. Letztere ist in erster Linie episch, daher erzählt sie die Ereignisse, während erstere poetischen Charakter hat und über Bilder, Visionen und Musik die Gefühle Floreals und vielleicht in einem weiteren Sinne, die der argentinischen Nation erzählt. Beide Zeitebenen werden aus wechselnden Erzählperspektiven erzählt und be- heimaten zum Teil mehrere Zeit- und Wirklichkeitsunterebe- nen.

Rückblenden

Zunächst möchte ich mich mit der Vergangenheit, den Rück- blenden beschäftigen, um anschließend die Gegenwart mit ihren komplexen Verbindungen zur Vergangenheit erfassen zu können.

Die erste Rückblende (über Floreal und seine Clique) ist mar- kiert von einem Voice-Over von El Negro, wie auch in der alle- rersten Szene, gerichtet an den Filmemacher und an den Zu- schauer, nicht an Floreal. Das Voice-Over erklärt den Zeit- sprung in die Vergangenheit und ebnet damit den Weg für die folgenden Wechsel zu Rückblenden, die meistens ohne Voice- Over auskommen. Neben diesem Voice-Over ist die allererste Rückblende auch einzigartig dadurch, dass sie in die Zeit vor der Militärdiktatur zurückreicht, und dies auch formal gekenn- zeichnet wird durch den Einsatz von Photographien und Schwarz/Weiß Film. Als die Zeit der Diktatur erreicht ist, wechselt das Bild zur Farbe und El Negro beendet sein Voice- Over. Die Rückblende läuft als eigenständige Episode weiter ohne besondere Vergangenheitsmarkierung, wie auch der Großteil der folgenden Rückblenden. Ihre Erzählperspektive ist die des allwissenden Erzählers, bei dem es sich um El Negro handeln könnte, denn als Toter sagt er von sich „es gibt keine Geheimnisse“ oder „Ich weiß doch alles“. Diese Zuordnung kann jedoch nur Vermutung sein, denn außer in der ersten Rückblende wird El Negro weder durch Schnitt, noch durch Voice-Over oder Bildausschnitt als Erzähler ausgewiesen.

Eindeutig als subjektive Erzählung und Erinnerung markiert sind dagegen Szenen im Gefängnis, die mit Großaufnahmen von Floreals Gesicht gegengeschnitten sind und die Erzählung über die Fahrt nach Patagonien, die der Lastwagenfahrers Pe- legrino durch sein Voice-Over einleitet. Zwischen jenen Rück- blenden aus einer allwissenden Erzähler-Perspektive und die- sen subjektiven Erinnerungen gibt es Rückblenden, die aus einer subjektiven Perspektive erzählt, aber nicht als Erinnerung markiert sind. In diese Kategorie fallen vor allen Dingen einige Szenen, die Rosis Beziehung zum Korsen zeigen. Sie sind nicht von einem narrativen Voice-Over aus der Gegenwart begleitet, sondern von ihren ausgesprochenen Gedanken zur Zeit der Rückblende. Wie ein Gewissensbiss wird für kurze Zeit sogar das Gesicht Floreals im Gegenschnitt zu Rosis Gesicht einge- blendet. Die Frage, inwieweit sich Rosi an diese Szenen und ihre eigenen Gedanken angesichts der sich ankündigenden Rückkehr Floreals erinnert, bleibt dem Zuschauer überlassen. Da Rosi von Floreals Freilassung weiß, kann man jedoch an- nehmen, dass sie sich wie Floreal vor ihrer möglichen Begeg- nung mit den Hypotheken der Vergangenheit beschäftigt.

Neben den Erinnerungen der Gegenwart, zeigen die Rückblen- den auch die Erinnerungen der Vergangenheit. Zum Beispiel ist in die Rückblende, die Rosi bei ihrem ersten Besuch im Ge- fängnis zeigt, eine weitere Rückblende eingebettet, in der Flo- real an Rosi gerichtet aus seiner Erinnerung vom Gefängnis und von seiner Liebe zu ihr erzählt.

Ein anderes Beispiel gibt die allererste Rückblende, in der Emi- lio anhand einiger Fotos von den Zeiten des „Tisch der Träu- me“ erzählt, der schließlich kurz eingeblendet wird. So wird in Süden (und in anderen Filmen) durch das Nebeneinanderstel- len von Erinnerungen verschiedener Zeiten die Frage aufge- worfen, inwieweit Erinnerung an eine bestimmte Zeit und viel- leicht an eine psychologische Wirkung gebunden ist. Für eine nicht-spekulative Beantwortung dieser Frage sind die früheren Erinnerungen im Film nicht ausführlich genug dargestellt.

Über die psychologische Wirkung der Erinnerungen in der Ge- genwart, lassen sich jedoch anhand der differenzierten und dichten Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart einige Vermutungen anstellen.

Momente der Erinnerung

In verschiedenen Szenen manifestiert sich die Vergangenheit jeweils in unterschiedlicher Stärke und Weise in der Gegen- wart. Im Extremfall ist sie so stark, dass sie sich als visionsartige oder symbolische Erscheinung von der Gegenwart kaum noch unterscheiden lässt.

[...]


1 Walter Benjamin, Versuche über Brecht, 2. Auflage, 1967, edition suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 14

Ende der Leseprobe aus 11 Seiten

Details

Titel
Erzählte Erinnerung, erinnerte Erzählung
Untertitel
Zeitstruktur und Erzählperspektive in Fernando E. Solanas Film 'Sur '
Hochschule
Kunsthochschule für Medien Köln
Veranstaltung
Erinnerung und Identität
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
11
Katalognummer
V111801
ISBN (eBook)
9783640138821
Dateigröße
539 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erzählung, Identität, sur, solanas, fernando solanas, politischer film
Arbeit zitieren
Max Wallraff (Autor:in), 2004, Erzählte Erinnerung, erinnerte Erzählung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111801

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