Sekundäre Traumatisierung als Berufsrisiko für pädagogische Fachkräfte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe


Bachelorarbeit, 2020

71 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Anlass und Ausgangssituation
1.2 Forschungsleitende Fragen und gesellschaftliche Relevanz
1.3 Aufbauder Arbeit
1.4 Methodisches Vorgehen

2 Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen
2.1 Was ist ein Trauma? — Traumadefinition
2.2 Klassifikation von Traumata
2.3 Traumatische Ereignisse in Kindheit und Adoleszenz
2.4 Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter

3 Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe
3.1 Gesetzliche Einordnung nach §34 und §35a SGB
3.2 Die Problemlagen der jungen Menschen aus der stationären Jugendhilfe
3.3 Beziehungsdynamiken zwischen traumatisierten Kindern und pädagogischen Fachkräften
3.3.1 Bindungsorientierte Pädagogik als Voraussetzung für Übertragungsphänomene
3.3.2 Die Rolle der Übertragung und Gegenübertragung in der Beziehungsgestaltung

4 Sekundäre Traumatisierung bei psychosozialen Fachkräften
4.1 Differenzierung zwischen Primärer und Sekundärer Traumatisierung
4.2 Theoriemodelle zur Sekundären Traumatisierung
4.2.1 Compassion Fatigue (C. R. Figley)
4.2.2 Vicarious Traumatization (L A. Pearlman)
4.2.3 Neuropsychologisches Modell (J. Daniels)
4.2.4 Gegenüberstellung
4.3 Abgrenzung zum Burnout-Syndrom
4.4 Das Vorkommen Sekundärer Traumatisierung in der Kinder- und Jugendhilfe
4.4.1 Die Bedeutung der konkordanten Gegenübertragung auf die Entwicklung einer Sekundären Traumatisierung
4.4.2 Prävalenzstudie zur Sekundären Traumatisierung in der Kinder- und Jugendhilfe

5 Rahmenbedingungen und Methoden zum Schutz des pädagogischen Fachpersonals
5.1 Unterstützungsangebote auf Einrichtungs- und Leitungsebene
5.2 Unterstützungsangebote auf Teamebene
5.3 Methoden zur Entlastung auf persönlicher Ebene

6 Zusammenfassung und Ausblick
6.1 Beantwortung der Fragestellungen
6.2 Forschungsausblick und Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang 1: Fallberatungsmodell

Anhang 2: Selbstfürsorge

Anhang 2.1: 5-4-3-2-1-Übung

Anhang 2.2: Erbsen in derTasche

Anhang 2.3: Kritiker-Steckbrief erstellen

Anhang 2.4: Lobtagebuch schreiben

Anhang 2.5: Den Verbündeten zuhören

Anhang 3: Abstract

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Entwicklungsheterotopie von Traumafolgen (übernommen aus Schmid et al., 2010, S.49)

Abbildung 2: Die traumatische Übertragung (übernommen aus Lang, T.,2013.S.194)

Abbildung 3: Diagnostisches A-Kriterium einer PTBS nach DSM V (übernommen aus Döpfner & Zaudig, 2015, S.369)

Abbildung 4: Compassion Stress and Fatigue Model (übernommen aus Figley, 2002a, S.1437)

Abbildung 5: Symptomüberschneidung und -abgrenzung bei PTBS und Burnout (übernommen aus Lass-Hennemann et al., 2018, S.61)

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Schematische Einteilung traumatischer Ereignisse (übernommen aus Dittmar, 2013a, S.36 f.)

Tabelle 2: Vergleich der Symptome von PTBS und STBS (übernommen aus Figley, 1995, S.8)

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

„There is a cost to caring” - Figley, 1995, S.1

So lautet einer der meist zitierten Sätze im Forschungsfeld der Sekundären Trauma­tisierung (Lemke, 2017, S.61). Mit diesen Worten umschrieb Figley einst den Um­stand, dass Personen die leidenden Menschen helfen, sich dem Risiko aussetzen, von deren emotionalen Schmerz angesteckt zu werden (Figley, 1995, S.1). Diese Annahme ist unter Berücksichtigung der aktuellen Forschungsliteratur nach wie vor berechtigt. Auch in Lemkes Verständnis von einer Sekundären Traumatisierung spiegelt sich diese Annahme wider. Dieser beschreibt die Sekundäre Traumatisie­rung folgendermaßen:

„Wer traumatisierten Menschen hilft, kann durch diese Begegnung, durch den Kontakt zu diesen Menschen, durch die Auseinandersetzung mit seinem Erleben, durch die Behandlung seines Leidens - obwohl dem Trauma nicht unmittelbar ausgesetzt - auch traumatisiert werden. In diesem Fall liegt eine [...] .Sekundäre Traumatisierung1 [,..]vor“ (Lemke,2017, S.14).

1.1 Anlassund Ausgangssituation

In der stationären Kinder- und Jugendhilfe arbeiten die Sozialarbeiter1 tagtäglich mit traumatisierten jungen Menschen zusammen und setzen sich somit permanent ho­hen Belastungen aus (Schmid, 2013, S.37). Durch die ständige Konfrontation mit den traumatischen Erlebnissen der Heimkinder erfahren die Pädagoginnen viel von deren Leid und es stellt sich die Frage, wie sie diese Eindrücke verarbeiten sollen. Ein Großteil der Betroffenen trägt die Sorgen der Heimkinder mit nach Hause und entwickelt schließlich selbst Traumatisierungssymptome (Wagner, 2010, S.4). Im öffentlichen Diskurs sind die Belastungen, die im Rahmen einer solchen Tätigkeit entstehen, bislang weitestgehend ignoriert bzw. tabuisiert worden. Teilweise werden diese gar als Unprofessionalität bzw. persönliches Versagen Einzelner ausgelegt. Aufgrund dieser Sichtweise sowie des Umstands, dass die Thematik der Sekundä­ren Traumatisierung von pädagogischen Fachkräften noch relativ unbekannt im Feld der Kinder- und Jugendhilfe ist, fehlt es in vielen Einrichtungen der stationären Er­ziehungshilfe an präventiven Maßnahmen, die den zentralen Wirkungen einer Se­kundären Traumatisierung entgegenwirken (Rießinger, 2013, S.369). Aufgrund mei­nes Vorhabens nach der erfolgreichen Beendigung des Studiums beruflich im Feld der stationären Kinder- und Jugendhilfe Fuß zu fassen und der dadurch einherge­henden Beschäftigung mit dem o.g. Thema haben vor allem die Fragen, welche Faktoren zur Entwicklung einer Sekundären Traumatisierung beitragen, inwiefern diese im Feld der Heimerziehung zum Tragen kommen, wie sich eine solche Trau­matisierung auf der Symptomebene bemerkbar macht und welche präventiven Maßnahmen der Entstehung eines solchen Störungsbildes entgegenwirken können, mein wissenschaftliches Interesse geweckt.

1.2 Forschungsleitende Fragen und gesellschaftliche Relevanz

Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Ausarbeitung sind eben genannte Themen aufgegriffen und in folgende forschungsleitende Fragen moduliert worden, die den Leitfaden sowie die Zielsetzung dieser Arbeit bilden:

1. Inwiefern können die Arbeitsumstände im Feld der stationären Kinder- und Ju­gendhilfe die Entstehung einer Sekundären Traumatisierung beim pädagogischen Fachpersonal begünstigen?
2. Welche Maßnahmen können der Entstehung einer Sekundären Traumatisierung vorbeugen?

Die gewählte Thematik hat eine hohe gesellschaftliche Relevanz, da die Inan­spruchnahme stationärer Hilfen in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Am 31.12.2008 befanden sich ca. 56.000 junge Menschen in einer stationären Einrich­tung der Kinder- und Jugendhilfe (Statistisches Bundesamt, 2010, S.43). Acht Jahre später, am 31.12.2016, waren es bereits etwa 92.000, was einer Zunahme von ca. 64% entspricht (Statistisches Bundesamt, 2018, S.45). Demnach müssten auch immer mehr pädagogische Fachkräfte in dem Berufsfeld tätig und von den belas­tenden Umständen, die dort herrschen, betroffen sein. Sind die Belastungen derartig hoch, dass sie die Bewältigungsmechanismen der pädagogischen Fachkräfte über­fordern, dann können die Mitarbeiter schnell zum Risikofaktor für die Klienten wer­den. Fühlen sich die Pädagoginnen hilflos und nur noch eingeschränkt handlungs­fähig, wirkt sich dies auch negativ auf die Qualität der pädagogischen Arbeit aus. Schlimmstenfalls kann es zu Retraumatisierungen bei den Heimkindern kommen, wenn das Fachpersonal außerstande sein sollte, diese angemessen zu versorgen (BAG, 2013, S.101; Scherwath & Friedrich, 2020, S.17). Da letztlich nur stabile, handlungsfähige Sozialarbeiter in der Lage sind, traumatisierte Kinder und Jugendli­che angemessen zu versorgen und sie in ihrer Entwicklung fördern, sollte der Stabi­lisierung des pädagogischen Fachpersonals auch ein hoher Stellenwert beigemes­sen werden (Lang, B., 2013a, S.137; Kessler, 2016a, S.286).

1.3 Aufbauder Arbeit

Das Gerüst dieser Arbeit wurde so aufgebaut, dass mit Fortschreiten der Abschnitte die Themen immer spezifischer hinsichtlich der forschungsleitenden Fragestellun­gen werden. Im zweiten Kapitel werden daher zunächst sehr allgemeine theoreti­sche Grundlagen über Traumata vermittelt. Zudem werden auch typische Lebens­umstände beschrieben, die bei jungen Menschen häufig zu Traumatisierungen füh­ren. Hierbei handelt es sich um Erlebnisse, die von den betroffenen Mädchen und Jungen häufig auch in den Heimalltag mitgetragen werden und mit denen somit auch die Pädagoginnen indirekt in Berührung kommen. Des Weiteren werden auch die Traumafolgestörungen, die die betroffenen Kinder und Jugendlichen infolge traumatisierender Lebensumstände entwickeln, dargestellt. Diese machen sich so­wohl auf der Erlebens- als auch auf der Verhaltensebene der betroffenen Heimkin­der bemerkbar und sind demnach auch für die Sozialarbeiter aus der jeweiligen Wohngruppe spürbar. Das dritte Kapitel knüpft schließlich direkt ans vorangegange­ne an, indem der einzuschlagende juristische Weg beschrieben wird, der junge traumatisierte Menschen in die stationäre Kinder- und Jugendhilfe führt. Den Schwerpunkt dieses Kapitels bildet allerdings die Beschreibung der Beziehungsdy­namiken zwischen den traumatisierten Kindern bzw. Jugendlichen und den pädago­gischen Fachkräften. Besonders rücken hierbei die Rollen der Übertragung und Ge­genübertragung im Rahmen der Beziehungsgestaltung in den Vordergrund. Im vier­ten Kapitel wird das Phänomen der Sekundären Traumatisierung in all seiner Kom­plexität vorgestellt. Im Zentrum steht hierbei vor allem die Gegenüberstellung der anerkannten Theoriemodelle dieses Phänomens. Außerdem wird beschrieben, in­wiefern für pädagogische Fachkräfte ein Gefährdungspotential besteht, im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit in der stationären Kinder- und Jugendhilfe eine Sekundäre Traumatisierung zu entwickeln. Das fünfte Kapitel beinhaltet Maßnahmen, die der Entstehung einer Sekundären Traumatisierung entgegenwirken. Bei dieser Ausfüh­rung wird zwischen Maßnahmen auf Leitungs-, Team- und individueller Ebene diffe­renziert. Im sechsten Kapitel werden die zentralen Aussagen dieser Arbeit anhand der Beantwortung der forschungsleitenden Fragen zusammengefasst. Anschließend wird diese wissenschaftliche Ausarbeitung mit einem Fazit abgeschlossen.

1.4 Methodisches Vorgehen

Für die Literaturrecherche sind sowohl die Bibliothekskataloge der Hochschule Mannheim (OPAC) und der Universität Heidelberg (HEIDI) als auch die Datenban­ken Google Scholar, ResearchGate, Psyndex und Beck-online genutzt worden. Die gewählten Bibliothekskataloge und Datenbanken lieferten allesamt brauchbare Er­gebnisse. In wenigen Ausnahmefällen erfolgte die Recherche aber auch auf institu­tionellen Websites. In den Datenbanken ist insbesondere mit folgenden Begriffen gesucht worden: „Sekundäre Traumatisierung“, „secondary traumatization“, „se­condary trauma“, „compassion fatigue“, „vicarious traumatization", „Trauma“, „Kind­heit Trauma“, „(Komplexe) PTBS“, „(K)PTBS Symptome“, „(Kommentierung) SGB VIII“, „(Kommentierung) Kinder- und Jugendhilfe Gesetz“, „Heimerziehung“, „statio­näre Kinder- und Jugendhilfe“, „Kinder Trauma Heimerziehung“, „Übertragung“, „Gegenübertragung“, „Psychoanalytische Pädagogik“, „Prävention Sekundäre Traumatisierung“, „Schutz Sekundäre Traumatisierung“, „Präventionsmaßnahmen Pädagogen Heimerziehung“, „Szenisches Verstehen“, „Selbstfürsorge Heimerzie­hung“. Bei der Suche wurden sinnvolle Operatoren, Synonyme und Trunkierungen verwendet. Außerdem wurde darauf geachtet, dass die gewählte Literatur innerhalb der letzten zehn Jahre veröffentlicht worden ist. In Kapitel 4.2 und teilweise auch in anderen Abschnitten ist hiervon jedoch eine Ausnahme gemacht worden, da die an den entsprechenden Stellen genutzte ältere Fachliteratur im aktuellen wissenschaft­lichen Diskurs immer noch eine hohe Relevanz hat. Die Recherchearbeit zu Kapitel 4.2 wird an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen und genauer erläutert.

2 Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen

Als Basis für diese Arbeit wird zunächst beschrieben, was ein Trauma überhaupt ist und in welche unterschiedlichen Kategorien Traumata eingeteilt werden. Anschlie­ßend werden potenziell traumatisierende Umstände in Kindheit und Adoleszenz sowie die daraus resultierenden Störungen thematisiert.

2.1 WasisteinTrauma? —Traumadefinition

Der Begriff Trauma kommt aus dem Altgriechischen und wird ins Deutsche mit Ver­letzung bzw. Wunde übersetzt (Scherwath & Friedrich, 2020, S.20). Der Begriff ist darauf zurückzuführen, dass ein Trauma eine Verletzung der menschlichen Seele herbeiführt und somit auch eine Wunde an ihr verursacht. Eine allgemeingültige Definition des Traumabegriffs ist gegenwärtig noch nicht vorhanden (Pausch & Mat­ten, 2018, S.4). Im medizinischen Kontext wird Trauma über die Klassifikationssys­teme für Krankheiten, ICD-10 und DSM-5, definiert (Scherwath & Friedrich, 2020, S.20). Das in Deutschland gültige Klassifikationssystem ICD-10, für das die WHO zuständig ist, definiertTrauma als

„kurz- oder lang anhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Be­drohung mit katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweif­lung auslösen würde“ (Pausch & Matten, 2018, S.5).

Das in den USA gültige Klassifikationssystem DSM-5 hingegen versteht Trauma als „Konfrontation mit tatsächlichem oder drohenden Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt“ (Döpfner & Zaudig, 2015, S.369). Diese Konfrontation kann so­wohl auf direkter als auch indirekter Weise zustande kommen (Pausch & Matten, 2018, S.5), weshalb man auch zwischen einer Primären und einer Sekundären Traumatisierung unterscheidet (siehe Kapitel 4.1).

Pausch und Matten zufolge zeichnet sich eine traumatische Situation durch ein Missverhältnis zwischen „der subjektiv erlebten Bedrohung für sich oder andere und den individuellen Bewältigungsstrategien [aus]“ (Ebd.,S.4, Hervorhebungen im Ori­ginal). Die Situation, in welcher sich der Betroffene befindet, müsse demnach eine Dimension der subjektiv empfundenen Bedrohlichkeit erreichen, welche dessen individuellen Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt. Somit hängt die Bewertung, ob ein Ereignis traumatisch ist, davon ab, wie dieses Ereignis von dem Betroffenen erlebt wird und wie gut dessen Bewältigungsstrategien entwickelt sind, um die Situa­tion verarbeiten zu können. Beide dieser Faktoren sind von Mensch zu Mensch un­terschiedlich, wodurch eine spezifische Situation von der einen Person als traumati­sierend wahrgenommen werden kann und von einer anderen wiederum nicht (Ditt- mar, 2013a, S.33; Wittmann, 2015, S.137). Darüber hinaus könne es für eine Per­son bereits traumatisierend sein, wenn diese eine Situation mit ansieht, in der sich ein anctererMensch in Lebensgefahr befindet. Dies kann bspw. der Fall sein, wenn jemand eine Gewalttat beobachtet (Pausch & Matten, 2018, S.4). Laut Pausch und Matten (Ebd.) weisen traumatische Vorfälle insbesondere drei Merkmale auf: Plötz­lichkeit (Es passiert schnell und unerwartet), Heftigkeit (Es besteht Lebensgefahr) und Ausweglosigkeit (Betroffener fühlt sich hilflos und ausgeliefert). Liegen diese drei Faktoren vor, so ist die betroffene Person nicht in der Lage, die entsprechende Situation mittels seines individuellen psychischen Verarbeitungsvermögens zu be­wältigen (Scherwath & Friedrich, 2020, S.21). Infolgedessen, dass die üblichen Be­wältigungsstrategien während einer traumatischen Situation nicht greifen, verändert sich umgehend das neurophysiologische Gleichgewicht des Betroffenen. U.a. kommt es zu einer Steigerung der Herz- und Atemfrequenz sowie einer erhöhten Ausschüttung körpereigener Botenstoffe, wie bspw. Adrenalin, Dopamin und Cor­tisol. Die verstärke Hormonausschüttung führt schließlich zu einer gesteigerten Kör­perspannung, sodass der Betroffene sich schneller für Flucht- oder Kampfhandlun­gen bewegen kann, und einem erhöhten Angstempfinden, was wiederum zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit führt, durch die der Betroffene handlungsschneller reagieren kann. Zudem werden auch Funktionen bestimmter Hirnareale für kurze Zeit ausgesetzt, sodass mehr Energie für spezifische Notfallprogramme des menschlichen Organismus zur Verfügung steht. Durch die Aktivierung der Amygdala wird schließlich eine von den zwei möglichen Überlebensstrategien des menschli­chen Organismus, Flucht oder Kampf, ausgelöst (Ebd., S.22). Bleiben Flucht bzw. Kampf ohne Erfolg, dann gerät die betroffene Person in die traumatische Zange [„No flight, no fight“ (Ebd., S.23)]. Wird keine der beiden Überlebensstrategien er­folgreich umgesetzt, dann werden durch das Gehirn Veränderungen der Wahrneh­mungsleistung herbeigeführt. Infolgedessen kommt es zu einer Freeze-Reaktion, die, u.a. durch die erhöhte Ausschüttung von Endorphinen, eine Betäubung der Ge­fühle und Körperzustände bewirkt. In diesem Stadium werden schließlich dissoziati­ve Phänomene ausgelöst. Das Geschehene wird als unwirklich wahrgenommen (Derealisation) und der Betroffene fühlt sich wie ein Beobachter, der das Ereignis von außen betrachtet (Depersonalisation). Die betroffene Person kann sich auf die­se Weise innerlich von dem traumatischen Ereignis distanzieren (Ebd.).

2.2 Klassifikation von Traumata

Traumatisierende Vorfälle lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien einteilen. Im wissenschaftlichen Diskurs haben sich insbesondere zwei Klassifikationen durchge­setzt, zum einen die Einteilung in menschlich verursachten (personalen/ man made) versus zufälligen (apersonalen) Traumen und zum anderen die Unterscheidung zwi­schen kurz- (Typ I) gegenüber langfristigen (Typ II) Traumata. Zu den apersonalen (akzidentellen) Traumen muss noch hinzugefügt werden, dass diese auch von Men­schen verursacht sein können, jedoch nicht von ihnen beabsichtigt wurden (z.B. wie bei einem Verkehrsunfall). Bei den Typ-I-Traumata handelt es sich um unvorherge­sehene, schnell ablaufende und einmalige Vorfälle, während hingegen Typ-Il- Traumata länger andauern bzw. mehrmals stattfinden. Die Forschung hat unterdes­sen nachweisen können, dass die personalen (man made) Traumata sowie die Typ- Il-Traumata durchschnittlich zu stärker beeinträchtigenden und länger anhaltenden psychischen Belastungen führen als die Traumata der übrigen Kategorien (Dittmar, 2013a, S.35 ff.). In Tabelle 1 sind einige Beispiele von traumatischen Ereignissen nach den eben genannten Kriterien schematisch in unterschiedliche Blöcke einge­teilt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Schematische Einteilung traumatischer Ereignisse (übernommen aus Dittmar, 2013a, S.36 f.).

Seit einigen Jahren wird im wissenschaftlichen Diskurs häufig die Bindungs- und Beziehungstraumatisierung als eine weitere Trauma-Kategorie dazugezählt. Hierzu zählen sämtliche Verhaltensweisen von Erwachsenen, die dazu führen können, Mädchen und Jungen mit psychologischen Mitteln Schaden zuzufügen. Beispiele hierfür sind unter anderem:

- Dauerhaftes Entwerten der Kinder
- Andauernde Beschuldigungen (Sündenbockfunktion)
- Beobachtung von Gewalt (zwischen den Eltern)
- Verlassen des Kindes/ Häufiges Herbeiführen von Trennungen
- Emotionale Vernachlässigung (Keine körperliche Nähe, wie z.B. Umarmun­gen; keine emotionale Zuwendung; etc.)
- Psychischer Missbrauch, wie z.B. Quälen, Ignorieren, Isolieren von sozialen Kontakten und Aussprechen von Drohungen (Gewalt auszuüben/Kind zu verlassen, etc.)
- Erleben von Drogenabhängigkeit der Eltern (Ebd., S.37).

2.3 Traumatische Ereignisse in Kindheit und Adoleszenz

In Kapitel 2.1 ist bereits die ICD-10-Definition des Traumabegriffs vorgestellt wor­den. Bei dieser Definition handelt es sich um eine von mehreren Kriterien, die erfüllt sein müssen, um eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach ICD-10 diagnostiziert zu bekommen (Maercker, 2013, S.14). Seit Mitte der 1990er Jahre wird im wissenschaftlichen Diskurs jedoch immer häufiger kritisiert, dass die Diag­nosekriterien der PTBS fast ausschließlich Typ-I-Traumata (Kriegseinsätze, Natur­katastrophen, Vergewaltigungen) berücksichtigen, während hingegen Typ-Il- Traumata in der Regel außen vor gelassen werden (Schmid et al., 2010, S.48; He­cker & Maercker, 2015, S.547 ff.). Dies hat zur Folge, dass Kinder, die schwer misshandelt oder sexuell missbraucht wurden, in den meisten Fällen von der PTBS- Diagnose nicht erfasst worden sind, obwohl auch sie traumatischen Umständen ausgesetzt waren (Schmid et al., 2010, S.48; Dittmar, 2013a, S.35). Die vier Formen von Kindeswohlgefährdung (Vernachlässigung, sexuelle Gewalt sowie körperlicher und seelischer Missbrauch) werden in der wissenschaftlichen Fachliteratur konsis­tent den Typ-Il-Traumen zugeordnet, welche von den ICD-10-Diagnosekriterien der PTBS, wie bereits eben erwähnt, üblicherweise nicht berücksichtigt werden (Schmid et al., 2010, S.48; Hecker & Maercker, 2015, S.547 ff.; Purtscher-Penz, 2015, S.96).

Im ICD-11, dessen erste Version bereits im Sommer 2018 publiziert wurde, ist mit der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (KPTBS) unterdessen eine neue Diagnose eingeführt worden. Neben der KPTBS bleibt die klassische PTBS auch weiterhin bestehen, jedoch wird mittels der KPTBS der Traumabegriff inner­halb des ICD-Klassifikationssystems erweitert (Gysi, 2018, PDF Seite 2, online). Im Rahmen der neu aufgenommenen Diagnose handelt es sich bei einem Trauma, um „ein extrem bedrohliches oder entsetzliches Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen, meistens längerdauernde oder wiederholte Ereignisse, bei denen Flucht schwierig oder unmöglich war (z.B. Folter, Sklaverei, Genozidversuche, längerdauernde häusli­che Gewalt, wiederholter sexueller oder körperlicher Kindsmissbrauch)“ (Ebd., PDF Seite 1, online).

Diese Definition ist auch auf der Website der WHO in englischer Sprache online abrufbar (WHO, 2020, online). Mit der Einführung dieser neuen Diagnose ist die WHO der jahrzehntelangen Forderung aus der Wissenschaft, die Typ-Il-Traumata im Spektrum der Belastungsstörungen mitzuberücksichtigen, nachgegangen. Im Rahmen der KPTBS-Diagnose werden zukünftig insbesondere die unterschiedli­chen Formen von fortdauernden Kindeswohlgefährdungen als potenziell traumati­sierende Ereignisse anerkannt (Gysi, 2018, PDF Seite 2, online; Maercker, 2019, S.48 ff.). Im Folgenden sollen die Ereignisse, die in Kindheit und Adoleszenz am häufigsten eine Traumatisierung für die betroffenen Kinder und Jugendlichen dar­stellen, vorgestellt werden. Hierzu zählen die vier Formen der Kindeswohlgefähr­dung (Vernachlässigung, sexuelle Gewalt, körperlicher und seelischer Missbrauch) sowie die traumatische Trennung von einer wichtigen Bezugsperson und das Auf­wachsen bei psychisch kranken Eltern (Weiß, 2016, S.28 ff.).

Vernachlässigung:

Vernachlässigung ist die am häufigsten vorkommende Form von Kindeswohlgefähr­dung (Ebd., S.28). Man spricht von Vernachlässigung, wenn Versorgungsleistungen über eine längere Zeitspanne hinweg nicht erbracht werden. Diese Form von Kin­deswohlgefährdung kann sämtliche Grundbedürfnisse betreffen, auf deren Versor­gung Mädchen und Jungen angewiesen sind. Dementsprechend wird auch zwi­schen verschiedenen Formen der Vernachlässigung unterschieden. Von körperli­cher Vernachlässigung spricht man u.a. dann, wenn Kinder nicht ausreichend Nah­rung bekommen, nur unzureichend hygienisch und medizinisch versorgt werden oder keine witterungsangemessene Kleidung erhalten. Von kognitiver bzw. erziehe­rischer Vernachlässigung sind Kinder betroffen, deren Erziehungs- und Förderungs­bedarf komplett ignoriert wird. Ihnen werden keine lernanregenden Angebote (Spielmöglichkeiten) unterbreitet und die schulische Entwicklung findet oftmals auch keine Beachtung. Bei der emotionalen Vernachlässigung werden Signale (weinen, schreien, etc.) der jungen Menschen ignoriert und ihnen wird außerdem keine emo­tionale Wärme entgegengebracht. Überdies stellt auch eine unzureichende Beauf­sichtigung (zu langes Alleinlassen) eine Form von Vernachlässigung dar (Biesel & Urban-Stahl, 2018, S.104).

Seelischer Missbrauch:

Laut Weiß (2016, S.30 f.) ist der seelische Missbrauch insbesondere durch die Be­ziehung geprägt. „Bei emotionaler Misshandlung ist eine aktiv feindselige, entwürdi­gende, einschüchternde und verbal schädigende Interaktion ein durchgehendes Muster der Eltern-Kind-Beziehung“ (Herrmann, 2006, S.88, zitiert nach Weiß, 2016, S.31). Wie bei der Vernachlässigung ist auch die seelische Misshandlung in ver­schiedene Unterformen unterteilt. So spricht man von feindseliger Ablehnung, wenn Eltern ihre Kinder ständig demütigen oder kritisieren. Unter Ausnutzen bzw. Kor­rumpieren versteht man, wenn Jugendliche von ihren Eltern dazu gebracht werden, Straftaten zu begehen. Mit Terrorisieren sind Umstände gemeint, in welchen junge Menschen durch ständige Drohungen permanent in Angst versetzt werden. Das Isolieren umfasst Verhaltensweisen seitens der Eltern, die darauf ausgerichtet sind, ihre Kinder von Gleichaltrigen fernzuhalten. Darüber hinaus belastet auch Gewalt, welche zwischen Eltern stattfindet, das seelische Wohlbefinden der Kinder. Werden Kinder Zeugen von häuslicher Gewalt, dann verspüren sie u.a. intensive Gefühle der Angst, Traurigkeit oder Ohnmacht. Viele Kinder werden auch häufig von ihren Eltern instrumentalisiert, wenn diese sich trennen. Tragen Eltern ihre Streitigkeiten über ihre Kinder aus, so geraten diese in Loyalitätskonflikte, welche ebenfalls eine starke psychische Belastung darstellen (Biesel & Urban-Stahl, 2018, S.97 ff.).

Körperlicher Missbrauch:

Dem Kinderschutz-Zentrum Berlin zufolge umfasst der körperliche Kindesmiss­brauch sämtliche Arten von Handlungen, egal ob bewusst oder unbewusst, welche „zu nicht zufälligen körperlichen Schmerzen, Verletzungen oder gar zum Tode füh­ren“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin, 2009, S.38, zitiert nach Biesel & Urban-Stahl, 2018, S.96). Körperlicher Missbrauch kann auf verschiedene Weisen durchgeführt werden. So kann es sich um Schläge mit der bloßen Hand aber auch um Prügel mit Gegenständen, wie bspw. einem Gürtel, handeln. Ebenso gehören das Beißen, Schütteln und Würgen sowie das Beifügen von Schnittverletzungen, Verbrennungen und Unterkühlungen zu Formen der körperlichen Misshandlung (Biesel & Urban­Stahl, 2018, S.96). Laut Weiß (2016, S.32) sind meistens emotionale Willens- und Bedürfnisäußerungen von Säuglingen bzw. sehr jungen Kindern, in Form von Wei­nen, Schreien, Nachfragen, etc., Auslösersolcher Misshandlungen.

Sexuelle Gewalt:

Sexuelle Gewalt umfasst sämtliche sexuelle Aktivitäten, die an oder vor einem Kind ausgeübt werden. Hierzu zählen „Belästigung und Masturbation, oraler, analer oder genitaler Verkehr, aber auch die sexuelle Ausbeutung durch Einbeziehung von Min­derjährigen in pornographische Aktivitäten und Prostitution“ (Biesel & Urban-Stahl, 2018, S.107 f.).

Traumatische Trennung:

Trennungen von wichtigen Bezugspersonen stellen insbesondere für junge Kinder ein hohes Traumarisiko dar. Je jünger Kinder sind, desto schwerer fällt es ihnen, eine Trennung zu verarbeiten und umso höher ist das Risiko einer Traumatisierung. Dies trifft selbst auf Kinder zu, die von ihren engsten Bezugspersonen auf extreme Weise misshandelt worden sind. Infolge von Trennungen entwickeln Kinder zudem häufig noch Schuldgefühle, da sie glauben, dass sie dafür verantwortlich sind, dass ihre Eltern sie weggegeben haben bzw. weggeben mussten (Weiß, 2016, S.40).

Aufwachsen bei psychisch kranken Eltern:

Das Aufwachsen bei psychisch kranken Eltern stellt für Kinder i.d.R. extreme psy­chische Belastungen dar. Vernachlässigung sowie seelische Misshandlungen sind typische Begleiterscheinungen einer solchen Situation. Die Eltern sind oftmals auf­grund ihrer Erkrankung nicht (mehr) in der Lage, sich um ihre Kinder zu kümmern. Viele Jungen und Mädchen werden deshalb in eine Elternrolle gedrängt, welche nicht ihrem jeweiligen Entwicklungsstand entspricht. So fungieren sie als Ansprech­partner nach außen, kümmern sich um den erkrankten Elternteil und übernehmen sämtliche Haushaltstätigkeiten. Darüber hinaus machen psychisch kranke Eltern ihre Kinder häufig für die miserablen Umstände, in denen sie leben, verantwortlich. Das wirre Verhalten der Erwachsenen löst in den jungen Menschen meistens Angst- und Schuldgefühle aus (Ebd., S.42 f.). Die Kinder sorgen sich, dass ihr erkranktes Elternteil Suizid begehen könnte und sie schließlich allein dastehen. Außerdem werden sie oftmals unter Druck gesetzt, den Zustand der Mutter bzw. des Vaters geheim zu halten, was wiederum häufig in einen Zustand der sozialen Isolation mündet (Biesel & Urban-Stahl, 2018, S.114).

2.4 Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter

Wie in Kapitel 2.3 bereits erwähnt worden ist, ist in der neuesten Ausgabe des ICD- Klassifikationssystems, dem ICD-11, mit der KPTBS eine weitere Diagnose im Be­reich der Belastungsstörungen hinzugefügt worden. Mittels dieser neuen Diagnose sollen zukünftig insbesondere die psychischen Auswirkungen von Typ-Il-Traumata abgebildet werden (Maercker, 2019, S.48). Bislang wurden Typ-Il-Traumata, wenn überhaupt, mit der PTBS-Diagnose abgedeckt, die jedoch die Symptome chronisch traumatisierter Menschen nicht vollständig abbildet (Schmid et al., 2010, S.54; Ma­ercker, 2019, S.51 f.). Es hat sich gezeigt, dass fortandauernde Kindesmisshand­lung zu weitaus umfassenderen Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen führt, als es das Störungsbild der klassischen PTBS suggeriert (Hecker & Maercker, 2015, S.547 ff.; Hensel, 2017, S.31). Im Gegensatz zur einfachen PTBS erfasst die KPTBS vielmehr auch „die unter den Symptomen liegende traumabedingte Dyna­mik“ (Hensel, 2017, S.32) und stellt somit ein weitaus vielfältigeres und komplexeres Krankheitsbild dar (Ebd.). Das Störungsbild der KPTBS berücksichtigt u.a. Untersu­chungen, die festgestellt haben, dass komplexe Traumatisierungen, die bereits in der frühen Kindheit entstanden sind, zum einen, meistens bis ins Erwachsenenalter hinein fortdauern und zum anderen, sich in unterschiedlichen Entwicklungsaltersstu­fen verschiedenartig auf der Symptomebene auswirken (Schmid et al., 2010, S.48).

In einer Übersicht (siehe Abb.1) haben Schmid et al. (2010, S.49) die typischen Entwicklungsverläufe komplex traumatisierter junger Menschen dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Entwicklungsheterotopie von Traumafolgen (übernommen aus Schmid et al., 2010, S.49).

Weitere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Symptomatik umso schwerwie­gender wiegt, je jünger die Person zum Zeitpunkt der Traumatisierung gewesen ist (Ebd.). Außerdem hat man feststellen können, dass sich die Symptomatik bei Mäd­chen vornehmlich in Form von internalisierenden Störungen und bei Jungen hinge­gen eher in externalisierenden Verhaltensmustern äußert (Hensel, 2017, S32). Ins­gesamt lässt sich festhalten, dass „das Ausmaß der Belastung durch traumatische Erfahrungen [...] abhängig von der Art, den Umständen und der Dauer des Ereignisses, vom Entwicklungsstand des Op­fers zum Zeitpunkt der Traumatisierungen und eventuell vorhandenen protektiven Faktoren bzw. Risikofaktoren [ist]“ (Kreiner et al., 2015, S.86).

Im Folgenden wird das Störungsbild der KPTBS ausführlich vorgestellt. Zum einen beinhaltet es die typischen PTBS-Symptome Wiedererleben, Vermeidung und Übererregung und zum anderen umfasst es Störungen der Selbstorganisation. Zum letztgenannten Punkt zählen Emotionsregulationsprobleme (inklusiver Dissozia­tionsneigung), selbstherabsetzende Überzeugungen sowie Beziehungsschwierigkei­ten (Maercker, 2019, S.49). In der Gesamtsymptomatik dieses Störungsbildes ste­hen die Belastungen aus dem Spektrum der gestörten Selbstorganisation deutlich im Vordergrund, während hingegen die typischen PTBS-Symptome nicht in voller Ausprägung vorliegen müssen. Darüber hinaus führt das Störungsbild der KPTBS zu Teilhabebeeinträchtigungen in unterschiedlichen Lebensbereichen der Betroffe­nen (Ebd., S.50). Schmid et al. (2010, S.51) nennen bspw. Leistungs- und Disziplin­Probleme im Bereich Schule, Konflikte und verletzendes Verhalten im Bereich Fami­lie sowie Isolation oder Beteiligung an Straftaten in der Gruppe mit Gleichaltrigen.

PTBS-Svmptome:

Wiedererleben (Intrusionen)

Als Intrusion bezeichnet man das bruchstückhafte oder vollständige Wiedererleben des traumatischen Vorfalls in Form von bildhaften Gedanken und Alpträumen. Bei diesem psychologischen Phänomen, welches auch Flashback genannt wird, ver­wechselt das Bewusstsein die aktuelle Lage mit dem traumatisierenden Ereignis (Scherwath & Friedrich, 2020, S.28). Kommt es beim Betroffenen zu einem komplet­ten Verlust des Gegenwartsbezugs, dann hat der Flashback einen dissoziativen Zustand herbeigeführt, welcher einige Sekunden bis mehrere Stunden andauern kann (Dittmar, 2013b, S.43). Ein Flashback wird i.d.R. durch einen sogenannten Trigger ausgelöst. Bei Trigger handelt es sich wiederum um Schlüsselreize, die mit Aspekten des Traumas Zusammenhängen und über neuronale Verknüpfungen, Zu­stände und Alarmreaktionen der ursprünglich traumatischen Ausgangslage herbei­führen (Scherwath & Friedrich, 2020, S.28). Solche Trigger können „durch Gerüche, Bilder, Orte, Bewegungen, bestimmte Worte, Berührungen, Empfindungen [und] Verhaltensweisen [...] ausgelöst werden“ (Ebd.). Im Gegensatz zu einfachen Erin­nerungen unterscheiden sich Flashbacks dadurch, dass sie nicht absichtlich abge­spielt oder abgebrochen werden können und somit nicht steuerbar sind. Flashbacks werden zudem von extrem unangenehmen Gefühlen begleitet. Die Betroffenen ge­raten, wie in der belastenden Situation, u.a. in Panikzustände oder erleiden Schwin­delgefühle und Übelkeit. Ein Flashback stellt also eine Retraumatisierung dar, in welcher der Betroffene die traumatische Situation mit den dazugehörigen Gefühlen nochmals erfährt (Ebd., S.29 f.).

Vermeidung (Konstriktion)

Die Betroffenen meiden willentlich jegliche Umstände, welche Trigger auslösen könnten, die zu Intrusionen führen. Dies zieht eine Einschränkung in der Lebensfüh­rung nach sich, da die traumatisierten Personen u.U. bestimmte Situationen be­wusst umgehen und womöglich auch Gesprächen ausweichen. Als Vermeidungs­strategie konsumieren einige auch Drogen, weil durch die betäubende Wirkung, Abstand zu den traumatischen Gedanken und den damit einhergehenden Gefühlen herbeigeführt werden kann. Andererseits gehört zum Symptom der Konstriktion auch das unwillkürliche Abdriften in dissoziative Zustände. Wie während der trauma­tischen Situation, dient dieser veränderte Bewusstseinszustand auch im Nachhinein als Notfallprogramm, um einer Übererregung vorzubeugen bzw. entgegenzuwirken. Dies hat zur Folge, dass die Betroffenen oftmals nicht bei vollem Bewusstsein sind, sondern sich situativ als abgespalten von der eigenen Person und den im aktuellen Moment stattfindenden Ereignis erleben. Bemerkbar macht sich dieses Phänomen schließlich durch verzögerte bzw. ausbleibende Reaktionen der traumatisierten Menschen. Die Betroffenen wissen im Nachhinein dementsprechend oftmals gar nicht, was während ihres dissoziativen Zustandes alles vorgefallen ist bzw. was sie währenddessen getan haben (Ebd., S.31). Darüber hinaus gehört zur Symptomka­tegorie der Konstriktion auch ein emotionales Betäubtsein, was zu Folge hat, dass die Betroffenen nicht mehr fähig sind, positive Gefühle zu erleben. Ihre Begeiste­rungsfähigkeit und Interessen nehmen ab und damit einhergehend verringern sich auch ihre Zukunftsaussichten (Dittmar, 2013b, S.45 f.).

Übererregung (Bedrohungsgefühl)

Bei traumatisierten Menschen sinkt die Erregungsschwelle des vegetativen Nerven­systems oftmals auf ein sehr niedriges Level ab, wodurch der Organismus in ständi­ge Alarmbereitschaft versetzt wird (Ebd., S.46). Die Betroffenen sind innerlich per­manent darauf eingestellt, in den Kampf- bzw. Fluchtmodus übergehen zu müssen. Dementsprechend ist der Zustand der Übererregung auch von einer fortlaufend er­höhten Wachsamkeit (Hypervigilanz) geprägt. Durch die erhöhte Ausschüttung von Stresshormonen werden oftmals auch gewöhnliche Alltagsbelastungen als bedrohli­che Situationen eingestuft, was zu einem andauernden Bedrohungsgefühl oder ei­ner extremen Stresssensibilität führt (Scherwath & Friedrich, 2020, S.27). Der Zu­stand der Überregung macht sich in vielen Fällen auch durch Schlafstörungen, „all­gemeine Unruhe, Konzentrations- und Leistungsschwächen, plötzliche aggressive Impulsdurchbrüche [und] Überschusshandlungen oder Orientierungslosigkeit [be­merkbar]“ (Ebd.). Eine solche Symptomatik, welche die Betroffenen aggressiv und unberechenbar erscheinen lässt, bereitet den traumatisierten Menschen häufig enorme Probleme im sozialen Miteinander (Ebd., S.28).

Störungen der Selbstorganisation:

Emotionsregulationsprobleme (inkl. Dissoziationsneigung)

Kindesmissbrauch macht sich bei vielen Kindern und Jugendlichen durch problem­behaftete Entwicklungsverläufe in der Affektregulation und der Impulskontrolle be­merkbar. Affekte von Ohnmacht, Wut, Scham, Trauer und Hass werden regelrecht als guälende körperliche Spannungszustände erlebt und nicht bloß als isolierte Ge­fühlszustände wahrgenommen. Häufig haben die Betroffenen enorme Schwierigkei­ten, mit diesen Affektzuständen umzugehen und sind nicht in der Lage, sich selbst zu beruhigen, was wiederum gelegentlich zu Wutausbrüchen führt. Andere Versu­che der Selbstregulierung äußern sich u.a. in Form von selbstverletzendem Verhal­ten, dem Konsum von Alkohol und Drogen, übermäßigem Fressen oder zwanghaf­tem Masturbieren (Beckrath-Wilking, 2013a, S.102; DeGPT, 2020, online). Darüber hinaus driften viele traumatisierte Kinder und Jugendliche bei Stresssituationen un­beabsichtigt in dissoziative Zustände ab und verlieren in diesen Phasen die Kontrol­le über ihr Denken und Handeln. Währenddessen können sie weder Appelle des Gegenübers aufnehmen, noch sind sie in der Lage sich an Regeln zu erinnern oder ihre Handlungen zu unterbrechen (Scherwath & Friedrich, 2020, S.45).

Selbstherabsetzende Überzeugungen

Traumatisierende Umstände, wie Vernachlässigung, physische, psychische oder sexuelle Gewalt, führen bei Kindern und Jugendlichen zu einer starken Beschädi­gung ihres Identitätsgefühls (Maercker, 2019, S.50). Infolge von Kindesmisshand­lungen bilden sich viele junge Menschen ein, einen Anlass für solche Grausamkei­ten gegeben zu haben und somit selbst für das Geschehene verantwortlich zu sein. Auf diese Weise entwickeln die meisten Betroffenen häufig Schuld- und Schamge­fühle. Oftmals werden solche emotionalen Besetzungen auch durch die Täter noch zusätzlich verstärkt, indem sie bspw. ihren sexuellen Missbrauch dem Opfer gegen­über dadurch rechtfertigen, dass dieses sie verführt habe. Physische und psychi­sche Misshandlungen werden hingegen häufig mit der Dummheit, Hässlichkeit oder Wertlosigkeit des jeweiligen Opfers begründet. Extremste Herabwürdigungen dieser Art führen bei den Betroffenen i.d.R. zu einem negativen Selbstbild. Nicht induzierte Schuldgefühle können allerdings auch eine schützende Funktion haben. Sie impli­zieren, dass ein anderes Verhalten den Vorfall hätte abwenden können und wirken somit den traumatischen Ohnmachtserfahrungen entgegen (Scherwath & Friedrich, 2020, S.42 f.). Traumatisierte Kinder und Jugendliche, die von Schuldgefühlen ver­schont bleiben, entwickeln hingegen oftmals intensive Gefühle der Hilf- und Hoff­nungslosigkeit (Beckrath-Wilking, 2013a, S.103). Eine weitere Funktion von Schuld­gefühlen besteht darin, dass Kinder auf diese Weise eine positive Bindung zu den missbrauchenden Bezugspersonen aufrechterhalten können und dadurch das emo­tionale Überleben gesichert wird (Scherwath & Friedrich, 2020, S.43). Zusammen­fassend lässt sich festhalten, dass sich Kindesmissbrauch in all seinen Facetten nachhaltig auf die Persönlichkeitsstruktur der Opfer auswirkt. Diese entwickeln in aller Regel ein negatives Selbstbild, welches von Überzeugungen der Minderwertig­keit, Hilflosigkeit und Unterlegenheit geprägt ist (Beckrath-Wilking, 2013a, S.100 ff., Maercker, 2019, S.50).

Beziehungsschwierigkeiten

Vernachlässigung und Kindesmissbrauch wirken sich äußerst negativ auf die Ent­wicklung der Bindungsfähigkeit von Opfern aus (Beckrath-Wilking, 2013a, S.100). Aufgrund der destruktiven Vorerfahrungen mit engen Bezugspersonen fällt es trau­matisierten Kindern und Jugendlichen schwer, anderen Menschen Vertrauen entge­genzubringen (DeGPT, 2020, online). Einige Betroffene haben infolgedessen auch eine überspannte Erwartungshaltung an eine Beziehung (Maercker, 2019, S.50). So fällt es ihnen bspw. schwer, kurzzeitige Trennungen von Bezugspersonen zu akzep­tieren und wollen ununterbrochen in deren Nähe sein (Schmid et al., 2010, S.50). Ist dies der Fall, besteht auch häufig die Gefahr, dass sie wiederkehrend in Situationen gelangen, in denen sie von einer nahestehenden Person missbraucht werden (DeGPT, 2020, online). Vor allem sexuell missbrauchte Jugendliche zeigen häufig sexualisiertes Verhalten und versuchen unangemessene, intime Kontakte herzustel­len (Schmid et al., 2010, S.50). Andere komplex traumatisierte Kinder wiederum werden anderen Menschen gegenüber gewalttätig und schlüpfen somit selbst in die Täterrolle (DeGPT, 2020, online). Da sie in ihrer Vergangenheit menschenunwürdig behandelt wurden, hat sich die Empathiefähigkeit bei Ihnen nur eingeschränkt bzw. gar nicht entwickeln können (Scherwath & Friedrich, 2020, S.38).

3 Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe

In diesem Kapitel wird zunächst der einzuschlagende juristische Weg beschrieben, der junge Menschen in die stationäre Kinder- und Jugendhilfe führt. Darüber hinaus werden auch die Zielsetzungen stationärer Einrichtungen kurz aufgegriffen, um ein erweitertes Verständnis davon zu bekommen, worauf die Arbeit der dort tätigen pä­dagogischen Fachkräfte abzielen soll. Im Anschluss daran werden die Verhältnisse, aus denen die stationär untergebrachten Kinder und Jugendlichen stammen, grob dargestellt. Nachfolgend wird die Ulmer Heimkinderstudie, in der festgestellt wurde, wie groß der Anteil an Heimkindern ist, der eine oder mehrere psychische Störun­gen aufweist, vorgestellt. Diese Studie ist die einzige, die im Zuge der Literatur­recherche zu dieser Thematik erfasst werden konnte. Abschließend werden die problematischen Beziehungsdynamiken, die zwischen den komplex traumatisierten Klienten und den pädagogischen Fachkräften stattfinden, thematisiert.

3.1 Gesetzliche Einordnung nach §34 und §35a SGB VIII

Gesetzliche Einordnung nach §34 SGB VIII

Die Heimerziehung nach §34 SGB VIII gehört neben der Vollzeitpflege (§33 SGB VIII) und der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung (§35 SGB VIII) zu den stationären Erziehungshilfen (Bernzen & Bruder, 2018, S. 144).

„Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche durch eine Verbin­dung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern“ (§34 SGB VIII).

An dieser Stelle wird im Gesetzestext u.a. deutlich gemacht, dass Heimerziehung heutzutage in sehr unterschiedlichen Einrichtungsformen stattfindet (Günder & No- wacki, 2020, S.56). Günder und Nowacki (Ebd., S.75 ff.) zählen in diesem Zusam­menhang (Außen)-Wohngruppen, Erziehungsstellen und das Betreute Wohnen auf. Im Rahmen dieser Ausarbeitung sind insbesondere die Erziehungsstellen hervorzu­heben, da in dieser stationären Hilfeform vorrangig komplex traumatisierte Kinder und Jugendliche mit gravierenden Entwicklungsdefiziten und heftigen Verhaltensstö­rungen aufgenommen werden. Aufgrund ihrer speziellen pädagogischen Bedürfnis­se werden die Mädchen und Jungen in dieser Hilfeform sehr engmaschig betreut. In der Regel werden pro Erziehungsstelle nur ein bis zwei, in Ausnahmefällen bis zu drei, Klienten aufgenommen (Ebd., S.77). Auch Struck und Trenczek betonen die Vielzahl unterschiedlicher Heimkonzeptionen. Aus ihrer Auflistung sind im Kontext dieser Ausarbeitung insbesondere die heilpädagogischen und therapeutischen Hei­me hervorzuheben, die, so wie auch die Erziehungsstellen, in der Lage sind, gezielt auf die speziellen pädagogischen Bedürfnisse komplex traumatisierter junger Men­schen einzugehen (Struck & Trenczek, 2019, §34 Rn.2).

Neben der Entwicklungsförderung der jungen Menschen soll die Hilfe nach §34 SGB VIII außerdem

„1. eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen oder
2. die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder
3. eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten“ (§34 SGB VIII).

Hieran erkennt man, dass eine Hilfe nach §34 SGB VIII im Normalfall langfristig an­gelegt ist. Ein Großteil der Jungen und Mädchen bleibt für bis zu drei Jahren in die­ser Hilfeform. Ist eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie und auch die Vermittlung in eine andere Familie nicht möglich, dann bleiben die jungen Menschen sogar bis zu ihrer Verselbstständigung in einem Heim bzw. in einer sonstigen betreuten Wohn­form (Günder & Nowacki, 2020, S.67).

Die Tatbestandsvoraussetzungen, die für den Rechtsanspruch auf §34 SGB VIII sowie auch für die anderen Erziehungshilfen erfüllt sein müssen, regelt §27 Abs.1 SGB VIII (Bernzen & Bruder, 2018, S. 143). Gemäß §27 Abs. 1 SGB VIII hat der Personensorgeberechtigte eines Kindes bzw. eines Jugendlichen dann einen Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung, „wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§27 Abs.1 SGB VIII). Liegt eine Kindes­wohlgefährdung (siehe Kapitel 2.3) vor und sind die Personensorgeberechtigten nicht gewillt, die Gefahr für ihr Kind abzuwenden, beispielsweise indem sie eine Hilfe zur Erziehung gern. §§ 27 ff. SGB VIII in Anspruch nehmen, dann obliegt es dem zuständigen Jugendamt den Entzug eines Teilbereichs der elterlichen Sorge beim zuständigen Familiengericht zu beantragen. Stimmt das Gericht dem Antrag zu, dann wird ein sog. Pfleger bestellt, welcher schließlich anstelle der Personen­sorgeberechtigten die Hilfe zur Erziehung nach §27 SGB VIII i.V.m. §34 SGB VIII beantragt (Günder & Nowacki, 2020, S.67 f.).

Gesetzliche Einordnung nach §35a SGB VIII

Neben der Heimerziehung nach §34 SGB VIII besteht für bestimmte Personengrup­pen auch die Möglichkeit in einer stationären Einrichtung der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach §35a Abs.2 Nr.4 SGB VIII aufge­nommen zu werden. Einrichtungen dieser Art sind darauf spezialisiert, Kinder und Jugendliche, die an einer psychischen Störung leiden und in ihrer Teilhabe einge­schränkt sind, bedarfsgerecht zu versorgen. Ziel dieser Hilfeform ist zum einen, jun­ge Menschen mit einer (drohenden) seelischen Behinderung in ihrer Persönlich­keitsentwicklung sowie Selbstständigkeit zu fördern und sie zu einer strukturierten Lebensführung unter Einbezug schulischer Bildung bzw. beruflicher Teilhabe zu befähigen. Zum anderen zielt diese Hilfeform darauf ab, die Klienten mittels psycho­therapeutischer Elemente dabei zu unterstützen, ihre seelische Problematik zu be­wältigen und zu verbessern (Boetticher & Meysen, 2019, Rn.61).

Anspruchsinhaber für diese spezialisierte Hilfeform sind nach §35a Abs.1 SGB VIII, anders als bei der Heimerziehung nach §34 SGB VIII, nicht die Personensorgebe­rechtigten, sondern die Kinder und Jugendlichen selbst. Die Geltendmachung des Anspruchs erfolgt bei Kindern jedoch ausschließlich durch die Personensorgebe- rechtigten (Boetticher & Meysen, 2019, Rn.15). Erst Jugendliche, die das 15. Le­bensjahrvollendet haben, sind nach §36 Abs.1 SGB I sozialrechtlich handlungsfähig und können die Leistung selbst beantragen. Tatbestandvoraussetzung für diese Hilfeform ist zum einen, „eine relevante Abweichung der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand“ (Finke, 2019, S.13). Diese muss gern. §35a Abs.1 Nr.1 SGB VIII mit hoher Wahrscheinlichkeit für mindestens 6 Monate anhalten und gern. §35a Abs.la S.2 SGB VIII auf Grundlage der aktuell geltenden ICD-Version festzustellen sein. Zum anderen muss sich aus der Abweichung der seelischen Gesundheit auch eine Beeinträchtigung der Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen des jungen Menschen ergeben, um diese Hilfe in Anspruch neh­men zu können (§35 Abs.1 Nr.2 SGB VIII). Wie in Kapitel 2.4 bereits erwähnt wurde, ist die KPTBS mittlerweile im ICD-11 aufgenommen worden. Zudem ist auch darge­legt worden, dass eines der Diagnosekriterien eine Teilhabebeeinträchtigung in un­terschiedlichen Lebensbereichen des Betroffenen voraussetzt. Bezogen auf Kinder und Jugendliche, die an einer KPTBS leiden, bedeutet dies, dass sie (zukünftig) einen Anspruch auf diese Hilfeform haben und somit auch in stationären Einrichtun­gen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche aufge­nommen werden können.

3.2 Die Problemlagen der jungen Menschen aus der stationären Jugendhilfe

Laut Günder und Nowacki (2020, S.39) stammen nahezu alle Heimkinder aus schwierigen Verhältnissen. Die Ursachen hierfür sind jedoch ganz unterschiedlich. Das Statistische Bundesamt hat zuletzt für das Jahr 2016 Daten bzgl. der Gründe für eine Hilfegewährung nach §34 SGB VIII und §35a Abs.2 Nr.4 SGB VIII (stationä­re Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche) erhoben. Der Erhebung zufolge nach befanden sich am letzten Tag des Jahres 2016 ca. 92.000 junge Menschen in einer stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung. Bei knapp 32% der Kinder und Jugendlichen lag als Hauptgrund für die stationäre Unterbrin­gung eine Unversorgtheit vor. D.h., dass die Bezugspersonen aus unterschiedlichen Gründen (stationäre Unterbringung wegen Krankheit, Inhaftierung, Tod, Fluchtursa­chen) komplett ausfielen und die jungen Menschen auf sich allein gestellt waren. Bei weiteren 15% lag als Hauptgrund eine Kindeswohlgefährdung (körperliche, seeli­sche, sexuelle Misshandlung) und bei 11% eine unzureichende Betreuung und Ver­sorgung der jungen Menschen vor (Statistisches Bundesamt, 2018, S.45). Rechnet man bereits diese Zahlen zusammen, so stellt man fest, dass bei mindestens 58% der Betroffenen eine Vernachlässigung (Unversorgtheit bzw. unzureichende Betreu­ung und Versorgung) bzw. eine anderweitige Kindeswohlgefährdung (körperlicher, seelischer oder sexueller Missbrauch) der Hauptgrund für eine Heimunterbringung gewesen ist. Der Verdacht liegt jedoch nahe, dass weitaus mehr Heimkinder einer Kindeswohlgefährdung, insbesondere in Form von Vernachlässigung und/oder psy­chischer Misshandlung, ausgesetzt waren, sofern man die Fakten berücksichtigt, dass bei 10% der Heimkinder psychische Belastungen aufgrund der Problemlagen der Eltern (psychische Störungen, geistige Behinderung, etc.) bzw. aufgrund familiä­rer Streitigkeiten (Partnerkonflikte, Umgangsstreitigkeiten, etc.) und bei weiteren 5% seelische Probleme (Angst- und Zwangsstörungen, suizidale Tendenzen, etc.) die Hauptgründe für eine Heimunterbringung gewesen sind (Ebd., S.46). Diese Zahlen belegen, dass sehr viele junge Menschen aus der stationären Kinder- und Jugend­hilfe in ihrer Vergangenheit traumatische Lebensereignisse, wie sie insbesondere in Kapitel 2.3 beschrieben worden sind, durchlebt haben.

Mitte der 2000er Jahre führte Marc Schmid die sog. Ulmer Heimkinderstudie in 28 Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe durch. In der Studie wurde festgestellt, dass ca. 60% der 689 befragten jungen Menschen eine psychische Stö­rung aufweist. Bei knapp 38% der Befragten sind sogar mehrere Störungsbilder festgestellt worden. Diese Ergebnisse wurden später auch in der Ulmer Heimkinder­interventionsstudie bestätigt. Am häufigsten sind Störungen des Sozialverhaltens (aggressiv-impulsives Verhaltens), ADHS und emotionale Störungen, wie bspw. Depressionen und auch Angststörungen, diagnostiziert worden (Schmid, 2013, S.38; Ziegenhain, 2013, S.31; Beck, 2014, S.380). Laut Ziegenhain (2013, S.31) sind vermutlich chronische Traumatisierungen, die ihren Ursprung in der frühen Kindheit haben, der Grund für diese Störungen. Hierfür spräche ihrer Auffassung nach auch eine weitere Studie, die zeigt, dass 60% der jungen Menschen, die in Heimen leben, Misshandlungen jeglicher Art und/oder Vernachlässigung ausgesetzt waren (Ebd.). Ziegenhains Argumentation deckt sich demnach mit den Erkenntnis­sen zu den Entstehungsursachen von Traumafolgestörungen, die in Kapitel 2.3 dar­gelegt worden sind, und auch mit den eben vorgestellten Zahlen des Statistischen Bundesamtes hinsichtlich der Gründe für eine Hilfegewährung nach §34 bzw. §35a Abs.2 Nr.4 SGB VIII. Auch Schmid (2013, S.37) kommt zu dem Schluss, dass die meisten Heimkinder chronische Traumatisierungen (Typ-Il-Traumata) in ihren Her­kunftsfamilien durchlebt haben und ein Großteil dieser jungen Menschen infolge­dessen nun an einer komplexen PTBS leidet.

[...]


1 Im Sinne der besseren Lesbarkeit wird in diesem Text auf die simultane Verwendung von männlichen und weiblichen Sprachformen verzichtet. Die beiden Sprachformen werden stattdessen abwechselnd eingesetzt. Dabei sind stets beide Geschlechter gemeint.

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Sekundäre Traumatisierung als Berufsrisiko für pädagogische Fachkräfte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
Hochschule
Hochschule Mannheim
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
71
Katalognummer
V1118302
ISBN (eBook)
9783346480286
ISBN (Buch)
9783346480293
Sprache
Deutsch
Schlagworte
sekundäre, traumatisierung, berufsrisiko, fachkräfte, kinder-, jugendhilfe
Arbeit zitieren
Marian Enrik Hecker (Autor:in), 2020, Sekundäre Traumatisierung als Berufsrisiko für pädagogische Fachkräfte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1118302

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