Der Iran gilt vielen als die Republik der mollās, nicht nur den auf Simplifizierung bedachten,
westlichen Journalisten, sondern auch großen Teilen der iranischen Laienbevölkerung. Schon
ein kurzer Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse wird das widerlegen und darum soll es in
folgender Arbeit gehen, um die tatsächliche Stellung und Bedeutung der colamā’ in der
Islamischen Republik Iran. Zunächst setzte eine solche Herrschaft einer Gruppierung voraus,
dass es sich um eine in sich geschlossene Gemeinschaft handelt. Das ist nicht der Fall,
vielmehr gibt es innerhalb der Geistlichkeit bedeutende Fraktionen, die in ausgesprochener
Staatsferne stehen (vgl. u. S. 1 ff.), und solche, die nicht nur in auch politischer Opposition
nicht unbedingt nur zur gegenwärtigen Regierung sondern nicht selten auch zum bestehenden
politischen System an sich - der Islamischen Republik nach omeynīs Vorstellungen - stehen,
sondern nicht selten auch die führenden Köpfe entsprechender oppositioneller Gruppierungen
stellen (vgl. u. S. 4 ff.). Aber auch ein Blick auf das politische System der Islamischen
Republik und ihre Verfassung lehrt, dass den islamischen Gelehrten zwar eine große
Bedeutung in der Führung der Republik zukommt, keinesfalls aber von einer Herrschaft der
colamā’ oder auch nur foqahā’ als Kollektiv gesprochen werden kann (vgl. u. S. 9 ff.). Auf
der anderen Seite steht eine insbesondere finanziell de facto unabhängig gebliebene
Gelehrtenschaft, auf die der Staat mit bildungspolitischen Mitteln, in Einzelfällen auch mit
Repressalien Einfluss zu gewinnen sucht (vgl. u. S. 12 f.), was das Verhältnis zwischen
Teheran und Qom als im Vergleich mit der Schahzeit nicht wesentlich verändert erscheinen
lässt. Verändert hat sich hingegen die gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit
nachdrücklich (vgl. u. S. 13 f.), was sich vor allem - und das ist der Punkt, in dem die
Geistlichkeit am deutlichsten denn doch als neue Führungsklasse erscheint - in der
Öffentlichkeitswirkung und der öffentlichen Anteilnahme an theologischen bzw.
religionsrechtlichen Diskussionen zeigt (vgl. u. S. 15), die eben nicht mehr fernab jeglicher
Bedeutung für die Politik und damit auch den Alltag der Gläubigen geführt werden bzw., was
den Alltag betrifft, in ihren Konsequenzen den Charakter der Freiwilligkeit, den sich
ergebenden Forderungen an den einzelnen Gläubigen zu folgen, verloren haben.
[...]
Häufig gestellte Fragen zum Text: Die Stellung der colamā’ in der Islamischen Republik Iran
Was ist das Thema des Textes?
Der Text untersucht die tatsächliche Stellung und Bedeutung der colamā’ (religiösen Gelehrten) in der Islamischen Republik Iran. Er widerlegt die vereinfachte Darstellung des Iran als „Republik der mollās“ und analysiert die verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Geistlichkeit, ihre Beziehungen zum Staat und die Veränderungen ihrer gesellschaftlichen Stellung nach der Revolution.
Welche Gruppierungen innerhalb der Geistlichkeit werden im Text beschrieben?
Der Text beschreibt verschiedene Gruppierungen, sowohl vor als auch nach der Revolution. Vor der Revolution gab es traditionell-quietistische Gruppen, die vom Staat unabhängig bleiben wollten, und politisierte Gruppen, die sich gegen das Schahregime stellten, darunter die Gruppe um Ḫomeynī und eine weitere Gruppe mit links-sozialistischen Tendenzen. Nach der Revolution teilt der Text die Geistlichkeit in Anhänger des „traditionellen Rechts“ (feqh-e sonnatī) und des „dynamischen Rechts“ (feqh-e pūyā) ein, wobei beide Gruppen intern weiter unterteilt sind nach ihrer Beteiligung an der Regierungsarbeit und ihrem Grad der Staatsferne. Es wird auch auf Gruppen hingewiesen, die die Islamische Republik ablehnen, oftmals aus Gründen der traditionellen schiitischen Lehre.
Wie verhielt sich die Geistlichkeit zum Schahregime?
Ein Großteil der Geistlichkeit verhielt sich dem Schahregime gegenüber passiv duldend bis stillschweigend kooperativ. Eine politisierte Gruppe, darunter die um Ḫomeynī, stellte sich dem Regime entgegen. Die Beziehungen waren jedoch nicht einheitlich, und es gab eine erhebliche Reserviertheit gegenüber der politisierten Gruppe.
Welche Rolle spielte Ḫomeynī in der Gestaltung der Beziehung zwischen Geistlichkeit und Staat?
Ḫomeynī spielte eine zentrale Rolle. Er vereinte zeitweise unterschiedliche Gruppen der Geistlichkeit in seiner Unterstützung der Revolution. Allerdings gab es auch bedeutende Teile der Geistlichkeit, die Ḫomeynīs Führung und seine Interpretation des schiitischen Rechts, insbesondere das Prinzip der velāyat-e faqīh, ablehnten. Nach seinem Tod wurde die bereits vorhandene Spaltung weiter vertieft.
Welche Bedeutung hat das Prinzip der velāyat-e faqīh im Kontext des Textes?
Das Prinzip der velāyat-e faqīh, welches die höchste Autorität einem religiösen Führer zuspricht, war und ist ein zentraler Streitpunkt. Ein bedeutender Teil der Geistlichkeit lehnte dieses Prinzip in seiner konkreten Ausgestaltung unter Ḫomeynī ab, da es in der traditionellen schiitischen Lehre keine Entsprechung findet und als Konzentration von Macht in den Händen einer einzelnen Person interpretiert wird, die nur dem Propheten oder den zwölf Imamen zusteht. Es gilt als wichtiger Faktor für die Spaltung innerhalb der Geistlichkeit.
Welche Veränderungen in der gesellschaftlichen Stellung der Theologen beschreibt der Text?
Der Text beschreibt eine zunehmende öffentliche Anteilnahme an theologischen und religionsrechtlichen Diskussionen, welche nicht mehr losgelöst von der Politik sind. Die Geistlichkeit erlangte nach der Revolution eine neue öffentliche Wirkung und Einflussnahme, aber gleichzeitig auch eine zunehmende Unbeliebtheit bei Teilen der Bevölkerung.
Welche Schlussfolgerungen zieht der Text?
Der Text widerlegt die Vereinfachung des Iran als "Republik der mollās". Er zeigt eine heterogene Geistlichkeit mit unterschiedlichen politischen und theologischen Positionen, die sich sowohl gegen das Schahregime als auch gegen die Islamische Republik in ihren jeweiligen Ausprägungen richteten. Die Revolution führte zu einer veränderten, aber nicht einheitlichen Machtposition der Geistlichkeit, und es existieren weiterhin verschiedene, oftmals gegensätzliche Gruppierungen. Es ist keine geschlossene Einheit, die als Kollektiv die Macht ausübt.
Inhalt:
1. Einleitung
2. Die Gespaltenheit der colamā’
2.1. Vorrevolutionäre Gruppierungen
2.2. Träger der Revolution
2.3. cOlamā’ in Opposition zu Ḫomeynī
2.4. Gruppierungen im postrevolutionären Iran
2.5. Bedeutung der religiösen Denker außerhalb des Klerus
2.6. Konklusion
3. Verfassungsgemäße Stellung der religiösen Gelehrten
3.1. Politik
3.1.1. Die Gelehrten als theoretisch führende Klasse
3.1.2. Vertreter in der Politik
3.1.3. Trennung von Politik und Theologie
3.2. Rechtswesen
3.3. Schulwesen
3.4. Konklusion
4. Die weiterhin gegebene Unabhängigkeit der colamā’ und Versuche staatlicher Einflussnahme
4.1. Die Unabhängigkeit
4.2. Die Einflussnahme
4.2.1. Universitäres Einheitssystem versus traditionelle Ausbildung
4.2.2. Staatliche Verfolgungen
4.3. Konklusion
5. Weitere Veränderungen in der gesellschaftlichen Stellung der Theologen durch die Revolution
5.1. Praktische Konsequenzen davon, eine Führungsklasse zu sein
5.2. Zunahme der Studentenzahlen, mithin auch der Absolventen
5.3. Die zunehmende Unbeliebtheit der ‚mollās’ im Volk
5.4. Konklusion
6. Bedeutung religiöser Diskussionen
7. Schluss
8. Verwendete Literatur
1. Einleitung
Der Iran gilt vielen als die Republik der mollās, nicht nur den auf Simplifizierung bedachten, westlichen Journalisten, sondern auch großen Teilen der iranischen Laienbevölkerung.[1] Schon ein kurzer Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse wird das widerlegen und darum soll es in folgender Arbeit gehen, um die tatsächliche Stellung und Bedeutung der colamā’ in der Islamischen Republik Iran. Zunächst setzte eine solche Herrschaft einer Gruppierung voraus, dass es sich um eine in sich geschlossene Gemeinschaft handelt. Das ist nicht der Fall, vielmehr gibt es innerhalb der Geistlichkeit bedeutende Fraktionen, die in ausgesprochener Staatsferne stehen (vgl. u. S. 1 ff.), und solche, die nicht nur in auch politischer Opposition nicht unbedingt nur zur gegenwärtigen Regierung sondern nicht selten auch zum bestehenden politischen System an sich - der Islamischen Republik nach Ḫomeynīs Vorstellungen - stehen, sondern nicht selten auch die führenden Köpfe entsprechender oppositioneller Gruppierungen stellen (vgl. u. S. 4 ff.). Aber auch ein Blick auf das politische System der Islamischen Republik und ihre Verfassung lehrt, dass den islamischen Gelehrten zwar eine große Bedeutung in der Führung der Republik zukommt, keinesfalls aber von einer Herrschaft der colamā’ oder auch nur foqahā’ als Kollektiv gesprochen werden kann (vgl. u. S. 9 ff.). Auf der anderen Seite steht eine insbesondere finanziell de facto unabhängig gebliebene Gelehrtenschaft, auf die der Staat mit bildungspolitischen Mitteln, in Einzelfällen auch mit Repressalien Einfluss zu gewinnen sucht (vgl. u. S. 12 f.), was das Verhältnis zwischen Teheran und Qom als im Vergleich mit der Schahzeit nicht wesentlich verändert erscheinen lässt. Verändert hat sich hingegen die gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit nachdrücklich (vgl. u. S. 13 f.), was sich vor allem - und das ist der Punkt, in dem die Geistlichkeit am deutlichsten denn doch als neue Führungsklasse erscheint - in der Öffentlichkeitswirkung und der öffentlichen Anteilnahme an theologischen bzw. religionsrechtlichen Diskussionen zeigt (vgl. u. S. 15), die eben nicht mehr fernab jeglicher Bedeutung für die Politik und damit auch den Alltag der Gläubigen geführt werden bzw., was den Alltag betrifft, in ihren Konsequenzen den Charakter der Freiwilligkeit, den sich ergebenden Forderungen an den einzelnen Gläubigen zu folgen, verloren haben.
2. Die Gespaltenheit der colamā
2.1. Vorrevolutionäre Gruppierungen
Wenn nach der Gespaltenheit des Klerus gefragt wird, ist es sinnvoll, zuerst einen Blick auf die vorhandenen Gruppierungen vor der Revolution zu werfen, was zugleich eine Antwort auf die Frage gibt, ob die vorrevolutionären colamā’ eine Gemeinschaft bildeten, die bereit und willens war, die politische Macht im Iran zu übernehmen. Die Antwort ist ein klares Nein. Ein Großteil der Geistlichkeit vertrat einen traditionell-quietistischen Standpunkt und war bestenfalls darauf aus, sich die eigene Unabhängigkeit vom Staat zu erhalten.[2] Dem Schahregime stand dieser Teil der Geistlichkeit passiv duldend bis stillschweigend kooperativ,[3] der politisierten Gruppe junger Geistlicher um Ḫomeynī jedenfalls allesamt sehr reserviert gegenüber.[4] Andererseits war erwartbar, dass diese Fraktion gutteils wenigstens ihre passive Duldung auch gegenüber einem islamischen Staat beibehalten würde bzw. zu einem anderen Teil in die Regierungsarbeit einzubeziehen wäre, was ja dann auch teilweise gelungen ist, wobei absehbar war, was dann auch eingetreten ist, dass diese colamā ihre aktive Teilnahme an der Politik vor allem dazu nützen würde, Verletzungen ihrer Vorstellung vom Islam zu unterbinden.[5] Die Majorität der Geistlichkeit - soweit sie sich nicht im einzelnen durch eine zu enge und offensichtliche Zusammenarbeit mit dem Schahregime desavouiert hatte[6] - war also in eine islamische Republik einbeziehbar, aber keineswegs bereit, an ihrer aktiven Gestaltung und politischen Führung Anteil zu nehmen.
Keinesfalls stellte die Gruppe um Ḫomeynī nun aber den mainstream unter dem politisierten Teil der Gelehrtenschaft dar. Hier spielte die andere große Oppositionskraft gegen das Schahregime, die tūde -Partei, eine große Rolle. In der Auseinandersetzung mit ihr fanden linke, sozialistische bis kommunistische Ideen Eingang in das theologische Denken besonders junger Geistlicher, die diese als aus der islamischen Tradition sich ergebende vertraten.[7] Mit dieser Gruppe konnte und wollte Ḫomeynī, der allerdings zeitweise - aber auch nur das - mit allen, auch allen weltlichen Gegnern des Schahregimes zusammengearbeitet hat,[8] letztlich nicht kooperieren.[9] Nicht unbedingt der Überzeugung nach, aber personell dürfte diese Gruppe gutteils im linksḫomeynistischen Lager (vgl. u. S. 2 f.) aufgegangen sein, so aber - insbesondere bedenkt man auch die Einbeziehung vorgenannter Gruppe - schon a priori den Samen zu einer absoluten Uneinheitlichkeit im Lager der colamā’, die die Ausformung und Leitung der Islamischen Republik übernehmen würden, gelegt haben.
2.2. Träger der Revolution
Aber auch die Gruppe, auf die sich Ḫomeynī während der Revolution unmittelbar stützen konnte, zerfiel in zwei deutlich unterscheidbare Richtungen.[10] Zum einen die sehr radikale, aber auch links geprägte, die einer radikalen Islamisierung, die aber nicht von den schiitischen Traditionen Irans geprägt war, sondern eher auf eine internationale Solidarisierung aller, mithin vorwiegend sunnitischer Muslime setzte, das Wort redeten und dies zugleich mit Forderungen nach sozialen Reformen verband, die auch von kommunistischen und linken Gruppen aller Welt erhoben wurden und werden.[11] Diese Gruppe war in der Anfangsphase der Revolution tonangebend,[12] verlor aber nach und nach an Einfluss,[13] bis sie 1992 durch Ḫāmene’ī und Rafsanğānī weitgehend aus allen Machtpositionen verdrängt wurde.[14] Ihre Anhängerschaft stammt vor allem aus den Unterklassen, insbesondere gehört zu ihr der Teil derselben, der durch die Revolution zu einem gewissen Einfluss gekommen ist, zum Beispiel durch Zugehörigkeit zu den Revolutionsgarden.[15] Ihre führenden Köpfe waren aber natürlich colamā’ wie z. B. die āyato-llāhān Ḫalḫalī oder Navabī.[16] Die moderatere Gruppe ist ungleich schwerer zu definieren, sie gab sich weniger radikal, stand nationalen bzw. 12er-schiitischen Anschauungen näher und strebte kaum nach unmittelbaren Veränderungen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich, befürwortete aber selbstverständlich die Gründung einer islamischen Republik unter Führung und nach den Anschauungen Ḫomeynīs.[17] Einer ihrer Repräsentanten war der heutige rahbar-e enqelāb-e eslāmī Ḫāmene’ī.[18] Ḫomeynī suchte die Unterstützung beider und war zu Lebzeiten auch im Stande die widerstreitenden Interessen beider zu einem Ausgleich zu bringen.[19]
2.3. cOlamā’ in Opposition zu Ḫomeynī
Die traditionelle Lehre der 12er-Schia sah weder eine islamische Revolution noch die Errichtung einer islamischen Republik[20] noch eine Verfassung[21] vor, die in der Praxis einen Großteil der nun auch islamisch legitimierten Macht auf die Person Ḫomeynīs konzentrierte.[22] Entsprechend wurde all dies von einem bedeutenden Teil der 12er-schiitischen Geistlichkeit nicht nur Irans zunächst abgelehnt.[23] Freilich meist schweigend.[24] Hochrangige Geistliche wie die āyato-llāhān-e coẓmā’ Qomī (und mit ihm die Geistlichkeit Mašhads), Maḥallatī und Šarīcat-Madārī (und mit ihm große Teile der Geistlichkeit Āẕarbāyğāns, das dank Ardabīl ja religiös nicht unbedeutend ist) erhoben aber schon 1979 gegen die ebenso offensichtlichen wie massiven Manipulationen bei Wahlen und Volksabstimmungen Protest.[25] Viele stellten sich gegen das Verfassungsprinzip der velāyat-e faqīh in der gegebenen Form (vgl. u. S. 9), durch die einer einzigen Person - Ḫomeynī - eine Macht verliehen würde, die nur dem Propheten oder einem der zwölf emāmān zustände.[26] So neben den Genannten auch die āyato-llāhān Zanğānī und Ṭāleqānī.[27] Trotzdem die Kritik gerade an letzterem vor allem auf Argumente mangelnder Fundierung im traditionellen schiitischen Recht gestützt war,[28] waren die geistlichen Wortführer, insbesondere der Ḫomeynī ranggleiche marğac-e taqlīd Šarīcat-Madārī gutteils modernistisch eingestellte colamā’, die an der Revolution aktiv teilgenommen hatten, aber wie zum Beispiel letztere ein anderes, in diesem Fall demokratischeres und säkulareres Modell einer islamischen Republik befürwortet hätten, in dem die Macht nicht letztlich bei Ḫomeynī konzentriert gewesen wäre.[29] Ihr Widerstand blieb erfolglos.[30] Deutlich wird aber, dass die islamische Revolution keineswegs einer Machtübernahme durch die Geistlichkeit gleichkam, sondern nur der einer bestimmten, um Ḫomeynī konzentrierten Gruppe, die - wie ebenfalls schon gesagt - in zwei sehr unterschiedliche Strömungen zerfiel.
2.4. Gruppierungen im postrevolutionären Iran
Wenn die Frage nach der Unterteilung der Geistlichkeit im heutigen bzw. dem postrevolutionären Iran gefragt wird, sollte der Blick nicht zuerst auf die politischen Gruppierungen Teherans fallen, sondern auf die der colamā’ unter sich, insbesondere in Qom, deren Zentrum. Die erste Grundsatzunterteilung ist hier die zwischen Anhängern der vorrevolutionären Schule des „feqh-e sonnatī“, des 'traditionellen Rechts', und solchen des „feqh-e pūyā“, des 'dynamischen Rechts', worunter sie etwas verstehen, das den modernen Anforderungen besser gerecht wird. In beiden Lagern finden sich solche, die Regierungsämter übernommen haben, sogenannte „rūḥānīyūn-e ḥokūmatī“, und solche, die sich stets auf die Lehrtätigkeit beschränkt haben, sogenannte „rūḥānīyūn-e ḥovazī“.[31] Als dritte Gruppe müsste man noch die hinzufügen, die sich ganz oder zeitweise wieder aus der politischen Tätigkeit zurückgezogen haben.[32]
Die vielleicht bedeutendste Gruppe der Anhänger des feqh-e sonnatī, die naturgemäß die Islamische Republik kaum mittragen können, da tragende Bestandteile derselben wie etwa die Verfassung und die in ihr enthaltene, auch religiös legitimierte Stellung des rahbar-e enqelāb-e eslāmī im traditionellen Recht nicht enthalten sind (vgl. o. S. 3), unterscheidet sich intern durch den Grad ihrer Staatsferne. Aus Furcht vor Repressalien kaum geäußert, doch natürlich vorhanden ist die gänzliche Ablehnung der Islamischen Republik.[33] Sie findet nur allzu leicht Nahrung z. B. in dem zwar aus dem traditionellen Recht entlehnten, doch von Ḫomeynī völlig neu gedeuteten Verfassungsprinzip der velāyat-e faqīh (vgl. u. S. 9),[34] dem Titel eines emām, mit dem Ḫomeynī in der Verfassung bezeichnet wird,[35] eine Verwendung, die einem traditionellen Schiiten blasphemisch anmuten muss, da dieser Titel eigentlich nur den zwölf Emāmen zusteht[36] bzw. überhaupt die Existenz einer Verfassung, die so ja quasi an Stelle des in der šarīce und ihren Quellen, dem qor’ān und der sonne schon gegebenen Rechts tritt.[37] Eine solche Ablehnung kann aber auch in der traditionellen Mentalität, die politische Tätigkeit mit Mitschuld an Verbrechen und Sünde, Ungerechtigkeit und Blutvergießen gleichsetzt und die kurze Geschichte der Islamischen Republik bietet genug Anlass, diese traditionelle Gleichsetzung nicht aufzuheben. Spätestens solches findet sich aber natürlich kaum öffentlich ausgesprochen, soll aber in privatem Kreis durchaus Meinung einiger colamā’ sein.[38]
[...]
[1] Nicht nur das, ähnlich verkürzte Darstellungen finden sich auch in der wissenschaftlichen Literatur, vgl.: Jean-Pierre Digard, Bernard Hourcade, Richard Yann, L’Iran au XXe siècle, Paris 1996, S. 155.
[2] Ervand Abrahamian, Khomeinism. Essays on the Islamic Republic, Berkeley 1993, S. 2 f. [Einleitung]; Digard, Hourcade, Yann, aaO., S. 172; Forough Jahanbakhsh, Islam, Democracy and Religious Modernism in Iran: From Bazargan to Soroush, Leiden 2001, S. 172; Wilfried Buchta, Die iranische Schia und die islamische Einheit 1979 - 1996, Hamburg 1997, S. 164.
[3] Digard, Hourcade, Yann, aaO., S. 172; Buchta, aaO., S. 164.
[4] Buchta, aaO., S. 165.
[5] Buchta, aaO., S. 115, 132 f., 167 ff.; Digard, Hourcade, Yann, aaO., S. 172 f., 200.
[6] Hamid Dabashi, Theology of Discontent. The Ideological Foundation of the Islamic Revolution in Iran, New York 1993, S. 434, 446.
[7] Dabashi, aaO., S. 434.
[8] Digard, Hourcade, Yann, aaO., S. 167 f.
[9] Dabashi, aaO., S. 434, 474 ff.
[10] Abrahamian, aaO., S. 133 [Nachwort]; Buchta, aaO., S. 115.
[11] Abrahamian, aaO., S. 133 [Nachwort]; Digard, Hourcade, Yann, aaO., S. 201; Buchta, aaO., S. 115, 136, 167 ff.. 321 ff.
[12] Buchta, aaO., S. 166 ff.
[13] Abrahamian, aaO., S. 134 ff. [Nachwort]; Buchta, aaO., S. 166 ff.
[14] Abrahamian, aaO., S. 135 f. [Nachwort]; Buchta, aaO., S. 247, 325.
[15] Abrahamian, aaO., S. 133 [Nachwort].
[16] Abrahamian, aaO., S. 135 f. [Nachwort].
[17] Abrahamian, aaO., S. 133 [Nachwort]; Buchta, aaO., S. 321.
[18] Abrahamian, aaO., S. 134 [Nachwort]; Buchta, aaO., S. 245.
[19] Buchta, aaO., S. 115, 136.
[20] Silvia Tellenbach, Untersuchungen zur Verfassung der Islamischen Republik Iran vom 15. November 1975, Berlin 1985, S. 159; Abrahamian, aaO., S. 2 f. [Einleitung]; Digard, Hourcade, Yann, aaO., S. 172 f.; Jahanbakhsh, aaO., S. 172.
[21] Ashgar Shirazi, Die Widersprüche in der Verfassung der Islamischen Republik vor dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzung im nachrevolutionären Iran, Berlin 1992, S. 79.
[22] Ervand Abrahamian, „Fundamentalism or Populism?“, in: drs., Khomeinism. Essays on the Islamic Republic, Berkeley 1993, S. 34; Behzad Khamehi, Die schiitischen doktrinären Grundlagen des politischen Systems der Islamischen Republik Iran, Münster 2003, S. 97; Heinz Halm, Der schiitische Islam. Von der Religion zur Revolution, München 1994, S. 161 ff.; Buchta, aaO., S. 28.
[23] Digard, Hourcade, Yann, aaO., S. 172, 200; Buchta, aaO., S. 28.
[24] Buchta, aaO., S. 115.
[25] Shirazi, aaO., S. 35 ff.
[26] Shirazi, aaO., S. 49 f.
[27] Shirazi, aaO., S. 46, 49 ff.
[28] Shirazi, aaO., S. 49 f.
[29] Tellenbach, aaO., S. 5; Shirazi, aaO., S. 49 f., 54.
[30] Tellenbach, aaO., S. 5; Buchta, aaO., S. 151.
[31] Mehrzad Boroujerdi, Iranian Intellectuals and The West. The Tormented Triumph of Nativism, Syracruse 1993, S. 165 f.; Ziba Mir-Hosseini, Islam and Gender. The Religious Debate in Contemporary Iran, Princeton 1999, S. 17.
[32] Digard, Hourcade, Yann, aaO., S. 210; Mir-Hosseini, aaO., S. 17.
[33] Roy Mottahedeh, Der Mantel des Propheten, München 1987, S. 339; Shirazi, aaO., S. 60 f., Digard, Hourcade, Yann, aaO., S. 200, 209 f.; Buchta, aaO., S. 28, 115, 325.
[34] Dabashi, aaO., S. 447; Khamehi, aaO., S. 85.
[35] „Qānūn-e asāsī-ye ğomhūrī-ye eslāmī-ye Īrān“, in: Silvia Tellenbach, Untersuchungen zur Verfassung der Islamischen Republik Iran vom 15. November 1975, Berlin 1985, Art. 107 [S. 330].
[36] Abrahamian, aaO., S. 35.
[37] Shirazi, aaO., S. 60 f., 79, 94.
[38] Mottahedeh, aaO., S. 339 f.
- Arbeit zitieren
- Rainer Weirauch (Autor:in), 2006, Macht oder Ohnmacht: Die tatsächliche Stellung der religiösen Gelehrtenschaft in der Islamischen Republik Iran, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111884