Die Konstruktion von Weiblichkeit. Grenzen und Entgrenzung zu Beginn des 20. Jahrhunderts


Facharbeit (Schule), 2021

27 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Über das Weibliche in der Literatur
Zur Strukturierung dieser Arbeit

Kapitel 1: Fin de Siècle – Diversifizierung in der Darstellung von Weiblichkeit
Zentrale Motive des Fin de Siècle: Zusammenhang zwischen Ästhetizismus, Dekadenz und Weiblichkeitsdarstellungen
Der männlich geprägte Kulturbegriff, seine Ursachen und sein Einfluss auf Weiblichkeitskonzeptionen
Frauenliteratur als Alternative zum von Männern dominierten Kulturbetrieb: Potenzial für revolutionäre Weiblichkeitsdarstellungen?

Kapitel 2: Die Frau als literarisches Motiv – Der Forschungsstand bei Schnitzler und Wedekind
2.1. Figurenanalyse des Fräulein Else
Die Beschaffenheit des gesellschaftlichen Umfelds Elses
Aktivität und Passivität bei Schnitzler: Else als Schachfigur männlicher Charaktere
Schnitzler und die Frauenfrage
Else: Mensch oder Motiv?
Die Stigmatisierung von Elses Authentizität
Zwischenfazit
2.2. Figurenanalyse der Lulu
Die Beschaffenheit des gesellschaftlichen Umfelds und dessen Auswirkungen auf Lulu
Lulus Verhalten: authentisch oder reaktiv?
Folgen von Lulus Verhalten für ihr gesellschaftliches Umfeld
Zwischenfazit

Kapitel 3: Exemplarische Untersuchungen an Lou Andreas-Salomés Charakter „Fenitschka“

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Vorwort: Über das Weibliche in der Literatur

Was ist Weiblichkeit? Sucht man danach in der Geschichte, findet man in der Gestalt von zeitspezifischen Weiblichkeitskonstruktionen die unterschiedlichsten Antworten.

Von Goethes frommen und pflichtbewussten Gretchen über Eichendorffs hingebungsvolle und reine Bianca bis hin zu Fontanes Effi - ihr Reichtum an Diversität, Kreativität und inhärenten Widersprüchen legt die Schlussfolgerung nahe, dass Weiblichkeit nicht auf bestimmte Eigenschaften reduzierbar ist und jeglicher Definitionsversuch letztlich scheitern muss.

Dennoch waren die etablierten Frauenfiguren in der Literatur bis ins 20. Jahrhundert hinein größtenteils beschämender Ausdruck eines reaktionären Frauenbilds. Weibliche Cha­raktere, die aktiv handeln und Gefahr laufen, sich aus ihrem gesellschaftlichen Abhängig­keitsver­hältnis zu befreien, wurden durch ihre Erschaffer dämonisiert. Ein spürbarer Wandel in dieser eindimensionalen Darstellung von Weiblichkeit tritt in umfangreicher Form mit Effi Briest 1 in Erscheinung, einem intelligenten, jungen Mädchen, dessen Interessen und Begabungen jedoch nicht zur Entfaltung gebracht werden können. Ihr Schicksal ist noch immer durch die gesellschaftliche Moralvorstellung festgelegt. Effi erhält aufgrund ihres Geschlechts keine intellektuelle Förderung; stattdessen wird sie jung an einen Baron verheiratet und zur Mutter seines Kindes. Der Ausbildung ihres Ichs zu einer selbstständigen Persönlichkeit werden enge Grenzen gesetzt. Nach ihrer Scheidung wird sie gesellschaftlich geächtet und stirbt schließlich jung an einem Infekt.

Effi erscheint vor dem Hintergrund meiner Fragestellung deshalb so interessant, weil es Fontane geglückt ist, das Potenzial, der Figur jenseits aller Weiblichkeitskonstruktionen, im Kontrast zu den Konventionen, die ihr Leben determinieren, darzustellen. So verfügt sie beispielsweise über eine ausgeprägte Menschenkenntnis. Nach ihrer Hochzeit sucht sie nicht etwa, wie es sich für eine Frau ihres Standes gehören würde, die Nähe zum konservativen Landadel, sondern ganz das Gegenteil: sie versucht, den obligatorischen Zusammenkünften mit den anderen adligen Familien so oft es möglich ist zu entkommen. Stattdessen freundet sie sich mit dem kauzigen Apotheker Gieshübler an, einem humorvollen und warmherzigen Menschen, der ernsthaftes Interesse an Effi und ihren Gedanken bekundet. Dies ist nur einer der Wesenszüge, der ihrem Charakter eine Tiefgründigkeit bzw. eine Persönlichkeit verleiht und damit der Darstellung von authentischer Weiblichkeit sehr nahekommt. Fontane gelingt somit etwas, das anderen Autoren vor und zu seiner Zeit noch nicht möglich war bzw. möglich sein wollte. Seine Zeitgenossen projizierten lieber Idealvorstellungen in ihre Weiblichkeits-konstruktionen hinein. Bianca verkörpert Eichendorffs Idealvorstellung einer gottesfürchtigen, asexuellen Frau, keineswegs aber stellt sie seinen Versuch dar, authentische Weiblichkeit abzubilden. Diese Realitätsverzerrung ist jedoch höchst problematisch. Sie wirkt sich besonders dann verheerend aus, wenn man den erschaffenen Konstruktionen einen universellen Geltungsanspruch beimisst. Fontanes Effi ist wohl kaum als instrumentalisierter Charakter, der den Leser (oder besser: die Leserin) belehren soll, zu betrachten. Vielmehr ging es dem Autor im Kontext des Realismus darum, eine unparteiische Darstellung seiner Figuren und ihrer Lebensumstände anzufertigen2. Eichendorffs Marmorbild kann dagegen durchaus als Versuch gelesen werden, seine persönlichen, subjektiven Werte durch seine Charaktere zu repräsentieren.

Das Dilemma, das ausschlaggebend für die jahrhundertelang anhaltende Unterdrückung der Frau war, entsteht dann, wenn die Abstraktion von der Realität, durch die das Erstellen von Idealfiguren wie Bianca überhaupt erst möglich wird, auf die Realität zurückwirkt. Dann sind es nicht mehr die realen Frauen, die Weiblichkeit als solche definieren, sondern es sind umgekehrt die Weiblichkeits­konstruktionen, die vorschreiben, was Weiblichkeit sein soll, und die in der gesellschaftlichen Erwartung enden, die Frauen sollten sich bemühen, dieser Definition zu entsprechen.

Diese Gedanken zur konstruierten Weiblichkeit sind keineswegs originell; bereits Simone de Beauvoir gelangt zu ähnlichen Ergebnissen, wenn sie beschreibt, wie das Selbstverständnis junger Frauen durch gesellschaftliche Konventionen geprägt wird:

„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation gestaltet dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten, das man als Weib bezeichnet.“3

Zur Strukturierung dieser Arbeit

Im folgenden Text sollen die verschiedensten Einflüsse auf die Darstellung von Weiblichkeit in der Literatur des Fin de Siècle herausgearbeitet werden. Diese Einflüsse bezeichne ich als Parameter. Im ersten Teil meiner Arbeit benenne ich die zeitspezifischen Parameter. Ich beschäftige mich also mit fundamentalen Fragen und lege somit eine Grundlage für die darauffolgenden Analysen. Gezeigt werden die Auswirkungen gesellschaftlicher Ideale und Umbrüche auf das Frauenbild in der Literatur des Fin de Siècle.

Im zweiten Teil meiner Arbeit untersuche ich die daraus resultierenden literarischen Parameter und rücke dementsprechend (exemplarisch) literarische Texte selbst in den Fokus. Ich analysiere, was die verschiedenen weiblichen Charaktere beziehungsweise ihr gesellschaftliches Umfeld ausmacht, wie sich beide zueinander verhalten und welche Haltung gegenüber Weiblichkeit dadurch ersichtlich wird. Außerdem erörtere ich, inwieweit ein progressiver Wandel in der Darstellung von Weiblichkeit erfolgt und welche Ursachen dieser hat.

Am Ende werde ich beide Teile miteinander verknüpfen, indem ich die zentralen Erkenntnisse dieser Arbeit zusammenhängend darstelle.

Kapitel 1: Die Epoche des Fin de Siècle – Ausdifferenzierung von Weiblichkeit

Aus Fontanes Roman geht hervor, dass er bereits eine progressive Auffassung von Weiblichkeit vertrat. Gleichgesinnte hat er vielleicht vereinzelt im Fin de Siècle gefunden.

Zentrale Motive des Fin de Siècle: Zusammenhang zwischen Ästhetizismus, Dekadenz und Weiblichkeitsdarstellungen

Die Epoche des Fin de Siècle (ca. 1890-1910), zu Deutsch „Ende des Jahrhunderts“, war eine „Gegenbewegung zum Naturalismus“4. Dementsprechend ist die Zeit von einem wiederauftretenden, realitätsverzerrenden Schönheitskult, dem „Ästhetizismus“5 geprägt, der sich gegen den objektiven Realitätsbegriff des Naturalismus wendet. Vorherrschende Stilisierungen des Weiblichen, die selbst­verständlich nicht einfach mit dem Ende des poetischen Realismus verschwanden, sind insbesondere die „wollüstige grausame Femme fatale“6 und die „ästhetisch zarte[…] Femme fragile“7. Ersterer werden häufig traditionell männlich konnotierte Eigenschaften zugesprochen. Sie tritt in verschiedenen Gestalten in Erscheinung, ist die listige Hexe, die Sirene, kurzum die gefährliche Frau, die aufgrund ihrer betörenden Sexualität einen gewissen verführenden Einfluss auf das andere Geschlecht hat. Dies muss sie in zahlreichen Texten, wie beispielsweise in Wedekinds Lulu mit dem Tod bezahlen. Die Femme fragile dagegen verkörpert oftmals die ideale Ehefrau und Mutter, die sich unterwürfig dem ihr zugespielten Schicksal fügt, was eine Schwächung ihrer Gesundheit bewirkt.

Ausschlaggebend für Veränderungen der Darstellung von Weiblichkeit ist also weniger der Ästhetizismus als ein allgemeiner Sitten- und Werteumbruch, die „Dekadenz“8, die das Selbstverständnis der Menschen infrage stellt, und die Epoche maßgeblich mitprägte. Die dekadente Stimmung des Fin de Siècle zeichnete sich unter anderem durch eine charakteristische Faszination, teilweise sogar durch Lust und Freude am Zerfall alter Strukturen und Normen aus9.

Professor Christina von Braun stellt die These auf, dass es diese Geisteshaltung ist, die eine Grundlage für das Nachdenken über die Natur des weiblichen Geschlechts und der charakteristischen Merkmale von Weiblichkeit schuf. Denn gegen Ende des 19. Jahrhunderts tritt ihr zufolge, zumindest vereinzelt, „neben die traditionelle biologische Definition des Geschlechts eine kulturelle oder psychologische, die besagt[…], daß man zwar biologisch ein Mann sein, aber wie eine Frau empfinden (also auch denken) könne und umgekehrt.“10

Erstmals wurde also in gewissen Kreisen eine Differenzierung zwischen dem biologischen (sex) und dem kulturellen Geschlecht (gender) vorgenommen. Einige Männer schrieben daher inzwischen über Frauen sowohl in der Absicht, den männlichen Blick auf Frauen zu erklären und zu hinterfragen, als auch mit dem Vorsatz, tatsächlich erfassen zu wollen, was Weiblichkeit ausmacht.

Als Konsequenz wurde zunehmend kontrovers die Zulassung der Frauen zu Hochschulen bzw. im Allgemeinen zu weiterführender Bildung diskutiert, ein Umstand, der auch durch die Entstehung einer neuen Definition des „Gemeinschaftskörper[s]“11, wie Braun die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts nennt, verstärkt wurde. Neben Begriffe wie „Volkskörper“12 oder „gemeinsames Blut“13, an denen der aufkeimende deutsche Nationalismus spürbar wird, tritt die Vorstellung eines „mediale[n] Kollektivleib[s]“14, näher definiert als eine Gemeinschaft, deren Individuen durch die zunehmende Globalisierung miteinander vernetzt sind. Daraus entwickelt sich, Philip Ajouri zufolge, ein Meinungspluralismus15, der durch die zunehmende Industrialisierung und die Unsicherheit, die die Menschen daraufhin gegenüber ihrer Zukunft empfanden, noch verstärkt wurde und die Grundlage für die Bildung neuer Meinungen zur Frauenfrage legte.

Der männlich geprägte Kulturbegriff, seine Ursachen und sein Einfluss auf Weiblichkeitskonzeptionen

Diese Entwicklungen befanden sich um 1900 jedoch noch in ihren Anfängen. Die Gesellschafts­strukturen waren aufgrund der patriarchalen Grundordnung noch immer männlich geprägt, und somit war es auch die Literatur. Literatur durch spezifisch männliche Auffassungen von Weiblichkeit zu prägen, ist dann möglich, wenn man davon ausgeht, dass Kultur per se nichts "Geschlechtloses“16 oder Objektives17 ist, wie es Georg Simmel tut:

„Daß man an eine, nicht nach Mann und Frau fragende, rein „menschliche“ Kultur glaubt, entstammt demselben Grunde, aus dem eben sie nicht besteht: der sozusagen naiven Identifikation von „Mensch“ und „Mann […].“18

Ein möglicher Grund dafür findet sich in Virginia Woolfs Essay „A room for one‘s own“. Woolf macht darin die Feststellung, dass ein Großteil der (männlichen) Autoren, die im späten 19. Jahrhundert Erfolg mit dem Schreiben hatten, bereits zuvor wohlhabend gewesen waren. Daraus schlussfolgert sie, dass man, um Autor zu sein, über ein gewisses Grundvermögen verfügen müsse, da das Verfassen von Texten besonders anfangs kaum Gewinn abwirft19. Den Zusammenhang zur geringen Beteiligung von Frauen an der Mitgestaltung der Literaturwelt formuliert sie folgendermaßen:

„Intellektuelle Freiheit hängt von materiellen Dingen ab. Dichtung hängt von intellektueller Freiheit ab. Und Frauen sind immer arm gewesen […].“20

Noch bis 1958 dürfen Frauen in der Bundesrepublik ihr Vermögen nicht eigenständig verwalten21. Bis 1977 dürfen sie nur dann selbstständig arbeiten, wenn ihre Berufstätigkeit mit „ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“22 ist. Ihre ökonomische Emanzipation ist also zur Zeit des Fin de Siècle noch längst nicht vollzogen.

Aber noch ein weiterer Faktor, der zunächst vielleicht unbedeutend erscheinen mag, hat, Woolf zufolge, starke Auswirkungen auf die Kreativität angehender Autorinnen: die allgemeine Meinung, dass sie nicht im Stande dazu seien, in der Schriftstellerei zu nennenswerten Ergebnissen zu gelangen23.

Einer der einflussreichsten Verfechter der Theorie der weiblichen Geistlosigkeit um 1900 war Otto Weiniger. In seiner 1903 publizierten Abhandlung „Geschlecht und Charakter“ entwickelt er die Theorie der Zweigeschlechtlichkeit, die er als Bisexualität 24 von Mann und Frau bezeichnet. Sie besagt, dass es inhärent männliche und weibliche Charaktereigenschaften gäbe. Zum Beispiel sei das Streben nach Bildung und Emanzipation ein männliches25. Negative Wesenszüge charakterisiert Weininger dagegen häufig als typisch weiblich.

Diese noch immer allgemein etablierten Ansichten, die sich zwangsläufig auf das Selbst­bewusstsein angehender Schriftstellerinnen auswirken müssten, führen - so behauptet Woolf - entweder zu demütiger Unterordnung oder aber zu einem aggressiven Schreibstil, verursacht durch die Verzweiflung seiner Verfasserin, die vergeblich darum bemüht ist, die eigene Kompetenz unter Beweis zu stellen. Ein freier Geist steckt in beiden Fällen nicht dahinter.

Woolf wünscht sich Jahre später26 eine „Vereinigung der Gegensätze“27, die zum damaligen Zeitpunkt Männlich- bzw. Weiblichkeit definieren, damit gemeint ist eine Synthese der als geschlechterspezifisch bezeichneten Merkmale. Sie fordert einen androgynen Geist28, der nicht über Geschlecht nachdenken oder sich aufgrund von Geschlechterrollen in Schranken weisen lassen muss. Woolf wie auch Simmel begreifen daher die männliche Prägung der Kultur als höchst problematisch. Sie zwänge der weiblichen Autorenschaft poetische Grundsätze auf, die ursprünglich von Männern konstruiert wurden, und führe dazu, dass sich Autorinnen nicht authentisch ausdrücken könnten29. Simmel sieht Potenzial für weibliche Autorenschaft im Bereich des Romanschreibens, da der Roman, anders als die Dichtung, keinen strengen Richtlinien unterworfen sei.30 Die Andersartigkeit der Perspektiven, die Frauen und Männer jeweils in Bezug auf ihre Umwelt einnehmen, lässt Simmel darüber hinaus die Überlegung anstellen, ob man „an das weibliche Wesen ein Leistungskriterium heran[…]bringen, [sollte] das gerade aus dem männlichen Wesen hervorgegangen ist.“31. Dieser Gedanke liegt der sogenannten Frauenliteratur zugrunde.

Frauenliteratur als Alternative zum von Männern dominierten Kulturbetrieb: Potenzial für revolutionäre Weiblichkeitsdarstellungen?

Frauenliteratur, ein Terminus, der literarische Werke von Autorinnen über oder für Frauen bezeichnet, wird als literarische Gattung kontrovers diskutiert. Sylvia Bovenschen ist der Ansicht, dass die Kategorie in ihrer Konsequenz den Ausschluss von Autorinnen aus der intellektuellen Literaturwelt bezwecke32, wie sie in ihrer Reduktionstheorie darlegt. Mit der Abschiebung von Frauen in sogenannte „Reflexionsreservate“33, beispielsweise durch die Etablierung von Frauenseiten in Zeitungen, würden die übrigen Bereiche den Männern vorbehalten bleiben. Schließt man sich Bovenschens These an, so hätte die von Frauen verfasste Literatur nur wenig bis keinen Einfluss auf damalige Weiblichkeitskonzeptionen. Die Journalistin Evylin Finger hält Bovenschens Kritik für gerechtfertigt. Sie bezeichnet die Frauenliteratur als ein „Ghetto“34, in das Autorinnen gezwängt worden seien, ohne dessen Begrenzung sie sicherlich weitreichenderen Einfluss genommen hätten. Der Germanist Rémy Charbon bezweifelt dagegen, dass die von Frauen verfasste Literatur die Darstellung von Weiblichkeit maßgeblich hat verändern können. Seiner Einschätzung zufolge seien die „[s]tarke[n], selbst­bewusste[n], […] auf Selbstbestimmung und ökonomische Unabhängigkeit pochende[n] Frauen“35, die in den Dramen des Fin de Siècle zunehmend auftreten, erstaunlicherweise „fast ausschließlich Geschöpfe männlicher Autoren“36. Dafür verantwortlich macht er sowohl die Traditionslosigkeit des weiblichen Dramas als auch die Angst der Autorinnen, zu kontrovers zu schreiben und infolgedessen nicht gelesen zu werden.

Kapitel 2: Die Frau als literarisches Motiv – Der Forschungsstand bei Schnitzler und Wedekind

Wie sah nun aber diese Darstellung von Weiblichkeit im Fin de Siècle konkret aus? Diese Frage soll in den folgenden Analysen geklärt werden. Bei der Auswahl meiner Texte ist zu beachten, dass ich sie aufgrund ihrer vor dem Hintergrund meiner Fragestellung besonders geeigneten Charaktere ausgewählt habe und sie nicht repräsentativ für die allgemeine Darstellung von Weiblichkeit im frühen 20. Jahrhundert sind. Aufgrund der Ausdifferenzierung verschiedener Weiblichkeitsauffassungen ist es jedoch ein unmögliches Unterfangen, das einer Simplifizierung gleichkäme, eine solch allgemeine Darstellung anfertigen zu wollen.

2.1. Figurenanalyse des Fräulein Else

Zunächst sollen die Interpretationsansätze der literaturwissenschaftlichen Schnitzler-Forschung hinsichtlich der Figur „Fräulein Else“ referiert und kritisch gewürdigt werden.

Die Beschaffenheit des gesellschaftlichen Umfelds Elses

Einer der Parameter, der als Indikator im Hinblick auf die Bestimmung einer spezifischen Weiblichkeitsauffassung fungieren kann, ist die Beschaffenheit des gesellschaftlichen Umfeldes eines betrachteten Charakters, die Spiegel des zeitgeschichtlichen Hintergrunds sein kann und damit die Grundlage für aufgrund der Sozialisation ausgeprägte Werte und Normen seitens der zu analysierenden Figur darstellt.

Else, die Protagonistin in Schnitzlers Novelle Fräulein Else, befindet sich in einer scheinbar aussichtslosen Situation. Sie verbringt ihren Urlaub in einem Hotel in Italien gemeinsam mit ihrer wohlhabenden Tante und ihrem Cousin, als sie Nachricht von ihrer Mutter erhält: der Vater, der spielsüchtig ist, habe sich wieder einmal hoch verschuldet. Die Mutter trägt Else auf, einen langjährigen Freund der Familie, den Herrn von Dorsday, um finanzielle Unterstützung zu bitten. Als Else ihm die Bitte ihrer Eltern vorträgt, stimmt er zu, unter der Bedingung sie nackt sehen zu dürfen. Diese Umstände stürzen Else in einen moralischen Konflikt, anhand dessen Schnitzler „das Pathologische [an] Frauenkonzeptionen“37 hervorhebt und dadurch kritisiert. Es ist Else unmöglich, den verschiedenen an sie gerichteten Erwartungen gleichzeitig zu entsprechen. Die vom Ideal der Femme fragile geforderte Unterstützung ihrer Familie erfordert ein Verhalten, das eben diesem Ideal widerspricht. Else wird also qua der Bedingungen ihres Umfeldes gezwungen, sich den gesellschaftlichen Konventionen zu widersetzen.

Aktivität und Passivität bei Schnitzler: Else als Schachfigur männlicher Charaktere

Interessant und aufschlussreich an der Konstellation der Figuren und der dramatischen Handlung ist, wer etwas an den Bedingungen, die Elses Situation determinieren, verändern kann und wer nicht. Elses Vater erhöht, wie Else aus einem weiteren Brief der Mutter erfährt, noch am selben Abend die erforderliche Geldsumme zur Begleichung seiner Schulden, was sich maßgeblich auf Elses Entscheidung hinsichtlich des Umgangs mit der Situation auswirkt. War sie zuvor noch hin- und hergerissen in ihrer Entscheidung, so überwiegt nun das Verantwortungsgefühl gegenüber ihrem Vater:

„Wie sie wünschen, Herr von Dorsday. Bitte, befehlen Sie nur. Vor allem aber, schreiben Sie die Depesche an ihr Bankhaus. […] Ja, so mach‘ ich es. Ich komme zu ihm ins Zimmer […].“38

Elses Gedanken, die durch die von Schnitzler verwendete Erzählperspektive des inneren Monologs für den Leser ersichtlich werden, dienen an dieser Stelle als Zeugnis des zunehmenden Drucks, den sie aufgrund der Eilsendungen ihrer Familie erfährt. Wenig konstruktiv ist da der Hilferuf ihrer Mutter:

„Wiederhole flehentlich Bitte mit Dorsday reden. […] Sonst alles vergeblich.“39

Dadurch wird Else das Gefühl vermittelt, die prekäre Situation sei einzig und allein durch sie zu lösen.

Ein weiterer Mitgestalter der Situation ist Herr von Dorsday. Als Bereitsteller der Geldsumme, die Else beschaffen soll, obliegt es ihm, die Bedingung aufzustellen, die er mit der Auszahlung verknüpfen möchte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie er versucht, die Verantwortung, die er trägt, zu verleugnen:

„Ja Else, man ist eben nur ein Mann, und es ist nicht meine Schuld, daß Sie so schön sind.“40

An anderer Stelle versucht er, seinen Mangel an Moral und Menschlichkeit zu rechtfertigen:

„[…] ich bin kein Erpresser, ich bin nur ein Mensch, der […] die [Erfahrung] gemacht hat, daß alles auf der Welt seinen Preis hat. […].“41

[...]


1 Der Roman erschien 1895 als Buch. Siehe: Thomas Brand: Textanalyse und Interpretation zu Theodor Fontane Effi Briest. Bange Verlag. Hollfeld 2017, S.20

2 Vgl. Helmut Koopmann: Handbuch Fin de Siècle. Alfred Kröner Verlag. Stuttgart 2008, S.348

3 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Rowohlt. Hamburg 1951, S.265

4 Bernd Schurf und Andrea Wagener: Abiturwissen Deutsch. Cornelsen. Berlin 2018, S.235

5 Bengt Algot Sørensensen: Geschichte der deutschen Literatur, Band 2. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. C.H.Beck. München 2016, S.120

6 Bengt Algot Sørensensen: Geschichte der deutschen Literatur, Band 2. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. S.119

7 Ebd.

8 Ebd. S.117

9 Vgl. Sabine Haupt in: Handbuch Fin de Siècle. Alfred Kröner Verlag. Stuttgart 2008, S.141-143

10 Prof. Christina von Braun: Warum Gender Studies? Zeitschrift für Germanistik Neue Folge, Vol. 9, No. 1 (1999), Peter Lang AG; S.13

11 Prof. Christina von Braun: Warum Gender Studies? Zeitschrift für Germanistik. S.18

12 Ebd.

13 Ebd.

14 Ebd.

15 Vgl. Philip Ajouri: Literatur um 1900, Naturalismus – Fin de Siècle - Expressionismus. Akademie Verlag. Berlin 2009, S.11

16 Georg Simmel: Weibliche Kultur in Philosophische Kultur, Leipzig 1911, S.280

17 Vgl. Ebd.

18 Georg Simmel: Weibliche Kultur in Philosophische Kultur, Leipzig 1911, S.280

19 Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. (A Room of One’s Own, 1929) Fischer Verlag; Frankfurt am Main 1981, S.122-123

20 Ebd. S.124

21 Vgl. https://www.humanresourcesmanager.de/news/frauenrechte-arbeit-letzte-100-jahre.html Zugriff am 23.08.2020 13:26 Uhr

22 Ebd.

23 Vgl. Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein, S.62

24 Vgl. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Matthes und Seitz Verlag. München 1997, S.7-10

25 Vgl. Ebd. 80

26 Die Erstausgabe von A Room of One’s Own erschien 1929.

27 Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein, S.120

28 Vgl. Ebd. S.114

29 Vgl. Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein, S.86

30 Vgl. Georg Simmel: Weibliche Kultur, S.298

31 Ebd. S.317

32 Vgl. Sylvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1979, S.19-20

33 Ebd. S.19

34 Evelyn Finger: Zeit-Artikel: „Weiblich kann fast alles sein“, 31.05.2005 https://www.zeit.de/2005/14/Frauen_2fSchriftstellerinnen ; Zugriff am 20.10.2020, 14:00 Uhr

35 Rémy Charbon in: Handbuch Fin de Siècle; Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2008, S.438

36 Ebd.

37 Vanessa Trösch: Die Frau in den literarischen Geschlechterbeziehungen Arthur Schnitzlers; Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, Schriftliche Hausarbeit zur Erlangung des Titels Magister Artium Prof. Dr. Werner Jung; 2011, S.102

38 Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl Fräulein Else – Zwei Erzählungen. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 1995, S.122

39 Ebd.

40 Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl Fräulein Else – Zwei Erzählungen, S.95

41 Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl Fräulein Else – Zwei Erzählungen, S.95

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Die Konstruktion von Weiblichkeit. Grenzen und Entgrenzung zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Note
1,0
Jahr
2021
Seiten
27
Katalognummer
V1119331
ISBN (eBook)
9783346487469
Sprache
Deutsch
Schlagworte
konstruktion, weiblichkeit, grenzen, entgrenzung, beginn, Fin de Siècle, Jahrhundertwende, Darstellung des Weiblichen
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Die Konstruktion von Weiblichkeit. Grenzen und Entgrenzung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1119331

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