Die Formalismus-Substantivismus-Debatte in der Wirtschaftsethnologie

Anwendung des substantivistischen Sphärenmodells durch Frederik Barth


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt:

1. Einleitung

2. Die Formalismus-Substantivismus-Debatte in der Wirtschafts-ethnologie
2.1 Grundlagen der Debatte
2.2 Der formalistische Standpunkt
2.2.1 Neoklassische Wirtschaftstheorie als Grundlage des Formalismus
2.2.2 Übertragung in die Ethnologie
2.2.3 Vertreter: Raymond Firth (1901-2002)
2.2.4 Vertreter: Melville J. Herskovits (1895-1963)
2.3 Der substantivistische Standpunkt
2.3.1 Gegenreaktion zum Formalismus
2.3.2 Vertreter: Karl Polanyi (1886-1964)
2.3.3 Vertreter: George Dalton (1926-1991)
2.3.4 Kritik am Substantivismus
2.4 Auflösung der Gegensätze

3. Das Sphärenmodell nach Dalton und dessen Anwendung
3.1 Vorstellung des Sphärenmodells
3.2 Anwendung des Sphärenmodells durch Frederik Barth
3.2.1 Unterscheidung von zwei Wirtschaftssphären
3.2.2 Das traditionelle Wirtschaftssystem der Fur
3.2.2.1 Arbeitskraft als Input
3.2.2.2 Die Marktsphäre
3.2.2.3 Die Sphäre des Bier-Arbeit-Tauschs
3.2.2.4 Möglichkeiten zur persönlichen Bereicherung
3.2.3 Moderne Entwicklungen im Wirtschaftssystem der Fur
3.3 Kritik an Frederik Barth
3.3.1 Kritik am Diagramm
3.3.2 Modifiziertes Diagramm
3.3.3 Kritik am Aufsatz

4. Resümee

5. Literatur

1. Einleitung

In der folgenden Hausarbeit möchte ich zuerst die Theoriedebatte zwischen Formalisten und Substantivisten in den 1950er und 60er Jahren darstellen. In dieser Debatte prallten zwei scheinbar unvereinbare Ansichten aufeinander: auf der einen Seite die von den Wirtschaftswissenschaften geprägte formalistische Denkweise, auf der anderen Seite die eher an ethnologische Konzepte angelehnte substantivistische Denkweise. Diese Debatte ist insofern besonders bedeutend, weil sie im Selbstverständnis Wirtschaftsethnologie eine sehr wichtige Rolle spielte, als diese als jüngste Disziplin der Ethnologie noch wenig klar umrissen und etabliert war.

Im zweiten Teil der Arbeit werde auf das das Sphärenmodell der Substantivisten George Dalton und Paul Bohannan näher eingehen, mich jedoch dabei vor allem auf die für den weiteren Teil der Arbeit wichtigen Faktoren beschränken.

Diesen Ansatz werde ich nämlich anschließend auf das von Frederik Barth entworfenen Wirtschaftsmodell der Fur aus seinem Aufsatz Economic Spheres in Darfur (1967) anwenden und näher erläutern. Im Weiteren werde ich versuchen, die Stärken und Schwächen Barths Ausführung aufzuzeigen und ein erweitertes Modell vorstellen.

Worauf ich in meiner Arbeit verzichten werde, sind sowohl genaue Darstellungen und Erklärungen wirtschaftlicher Vorgänge, als auch die Entstehung des Neokommunistischen Ansatzes als Konsequenz aus der Debatte. Da ich mich im zweiten Teil besonders auf Daltons Modell stütze, werde ich auch im Hinblick auf die substantivistischeTheorie den Schwerpunkt auf Dalton und Karl Polanyi legen, dafür nicht weiter auf Marshall Sahlins, der zweifelsohne ein wichtiger Vertreter des Substantivismus war, eingehen.

2. Die Formalismus-Substantivismus-Debatte in der Wirtschafts-ethnologie

2.1 Grundlagen der Debatte

Als Ausgangspunkt des Theorienstreits kann man die grundsätzliche Differenz zwischen den analytischen Methoden der Wirtschaftswissenschaften auf der einen und der Ethnologie auf der anderen Seite sehen.

Die Wirtschaftswissenschaften arbeiten meist deduktiv, was bedeutet, dass sie allgemeingültige Formeln durch logische Ableitung auf spezielle Fälle anwenden und diese somit analysieren. Ist also ein Wirtschaftswissenschafter von der Allgemeingültigkeit der Aussage: „Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis“ überzeugt, wird er die Preisbildung in jeder Situation und Gesellschaft ausschließlich mit Hinblick auf Angebot und Nachfrage analysieren.

Dies steht im Gegensatz zu der induktiven Methode, die in der Ethnologie vorherrschend ist: aus speziellen Fällen wird versucht, eine allgemeingültige Regel abzuleiten. So kann man beispielsweise nach einer Befragung von zahlreichen Familien zu deren Arbeitsteilung eine gewisse Regelhaftigkeit feststellen und daraus eine allgemeingültige Aussage treffen.

Aus diesen scheinbar unvereinbaren Differenzen zwischen Deduktion und Induktion entstanden später die Positionen der beiden diskutierenden Parteien: Anhänger des Formalismus arbeiteten ähnlich wie Wirtschaftswissenschaftler traditionell eher deduktiv, Substantivisten vorwiegend induktiv. Dass dieses Unterscheidungskriterium jedoch nicht immer hundertprozentig angewendet werden kann, wird unter anderem im Punkt 4 meiner Arbeit verdeutlicht.

2.2 Der formalistische Standpunkt

2.2.1 Neoklassische Wirtschaftstheorie als Grundlage des Formalismus

Um die Annahmen zu verstehen, auf die sich die Formalisten in ihren Arbeiten berufen, muss man sich zuerst die klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorien näher ansehen.

Der Kerngedanke des Homo oeconomicus, der in der klassischen Wirtschaftstheorie von Adam Smith in seinem Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (Smith 1776) entworfen wurde, wird von den Neoklassikern aufgenommen und erweitert. Als Homo oeconomicus wirtschaftet der Mensch nach Eigeninteresse und strebt rational nach Maximierung seines Anteils am Markt. Er ist also immer danach bestrebt, seine Situation in wirtschaftlicher sowie sozialer Hinsicht zu verbessern. Dieses Handeln, das eigentlich nur dem Einzelwohl gilt, dient jedoch der gesamten Gesellschaft. Smith nannte dieses Phänomen das „Prinzip der unsichtbaren Hand“ (vgl. Rössler 1999: 28).

In der neoklassischen Theorie wird dieser Homo oeconomicus in folgendem Dilemma gesehen: Seinen Bedürfnisse, die als unendlich gelten, stehen knappe Ressourcen gegenüber. Die Folge daraus ist, dass der Mensch aus verschiedenen Handlungsalternativen rational wählen muss, um seine unendlichen Bedürfnisse mit den vorhandenen knappen Ressourcen bestmöglich zu befriedigen. Im Gegensatz zu den klassischen Wirtschaftswissenschaften legt die neoklassische Theorie ihren Schwerpunkt nicht mehr auf die Produktion und Distribution, sondern auf den Konsum von Gütern (vgl. Rössler 1999: 28).

2.2.2 Übertragung in die Ethnologie

Die so genannten Formalisten übertrugen sowohl die oben genannten Annahmen, die ihren Ursprung in kapitalistischen Gesellschaften hatten, als auch die Terminologie der Neoklassik in die Ethnologie. Sie gingen davon aus, dass jeder Mensch nach dem oben genannten Maximierungsprinzip handelt, demnach also auch Menschen in nicht-kapitalistischen Gesellschaften, also jenen Gesellschaften, die traditionell den Forschungsgegenstand von Ethnologen darstellen. Sie nutzten damit die neoklassischen Axiome zur Analyse von nicht-industrialisierten Wirtschaftssystemen (vgl. Rössler 1999: 77).

2.2.3 Vertreter: Raymond Firth (1901-2002)

Ein wesentlicher Vertreter des Formalismus stellt Raymond Firth, ein Schüler Bronislaw Malinowskis, dar. Firth forschte selbst ausgiebig in Polynesien und Südostasien, und verarbeitete seine Überlegungen in den Werken Primitive Economics of the New Zealand Maori (Firth 1929) und Primitive Polynesian Economy (Firth 1939).

Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass er sich damit zum einen von rein materiell-technologisch orientierten Studien abwendet. Zum anderen räumt er mit evolutionistischen und romantisierenden Vorstellungen vom ur-kommunistischen, altruistischen Akteur in nicht-industrialisierten Gesellschaften auf (vgl. Rössler 1999: 79).

Seine Werke verbanden die neoklassische Theorie mit der Analyse außereuropäischer Wirtschaftssysteme und legten damit den Grundstock für die spätere Theorie-Debatte. Was seine substantivistischen Gegner in ihrer Kritik jedoch oftmals übersahen, war, dass Firth die neoklassischen Grundannahmen nicht direkt auf nicht-industrialisierte Gesellschaften übertrug. So stellte er beispielsweise fest:

“For instance we know from experience in Western industrial societies that in ordinary commercial circles, however much a person may be actuated by the desire to increase his reputation, this normally manifests itself in an attempt to maximize his money gains in his transactions. But his is by no means always the case in primitive societies […]” (Firth 1965 [1939]: 10)

Er war sich durchaus bewusst, dass gewisse theoretische Vorgaben an die empirische Wirklichkeit angepasst werden mussten (vgl. Rössler 1999: 80).

„So he [the economic anthropologist] will facilitate translations of some formal principles of analysis into a system of generalizations capable of explaining and predicting economic behaviour in societies other than our own. (Firth 1965 [1939]: 13)

Deshalb unterscheidet er in seinen Überlegungen zwischen institutionellen Gegebenheiten – subsistantial propositions – die als kulturbedingte Eigenheiten zu sehen sind, und generellen Gesetzmäßigkeiten – formal propositions – die mithilfe der formalistischen Methode analysiert werden können, weil sie sich „nicht unmittelbar auf die sozialen Rahmenbedingungen bezögen“ (Rössler 1999: 80). Die meisten wirtschaftswissenschaftlichen Annahmen über Ressourcen, Bedürfnisse und Entscheidungen seien so allgemein formuliert, dass sie auf jede menschliche Gesellschaft angewendet werden könne (Firth 1965 [1939]: 13).

Im Hinblick auf die Nutzenmaximierung, die als formal proposition gilt, kann man das so erklären: Wenn man einen Gegenstand beispielsweise bei einem Verwandten kauft, so hat man zwar vielleicht nicht den niedrigsten Preis bezahlt, aber eventuell seinen Nutzen insofern maximiert, dass man seine sozialen Beziehungen festigt. Die rationale Entscheidung nach der Nutzenmaximierung ist damit eine generelle Gesetzmäßigkeit, nur was den Nutzen darstellt, kann differieren.

Mit dieser Argumentationslinie bewegt sich Firth klar innerhalb der neoklassischen Theorie, da darin nie konkretisiert wurde, dass sich das Maximierungsprinzip auf Profit allein beziehen muss. Genauso gut können damit Glück oder Prestige als Maximierungsziel gemeint sein (vgl. Firth 1965 [1939]: 13).

Zusammenfassend kann man sagen, dass Firth sehr wohl Unterschiede zwischen industrialisierten und nicht-industrialisierten Wirtschaftssystemen sah, diese jedoch als graduell, nicht als grundlegend empfand, also als „Unterschiede […] des GRADES und nicht solche der ART“ (Rössler 1999: 81, Hervorhebung des Autors). Firth sieht die Aufgabe eines Wirtschaftsethnologen darin, Datenmaterial über nicht-industrialisierte Gesellschaften so zu analysieren, dass ein Vergleich mit Daten der westlichen Welt möglich ist und somit Allgemeinschlüsse zulässig sind (vgl. Firth 1965 [1939]: 14).

2.2.4 Vertreter: Melville J. Herskovits (1895-1963)

Als weiterer wichtiger Vertreter des Formalismus ist Melville J. Herskovits, ein Schüler Franz Boas, anzusehen. Einer seiner Beiträge zur Debatte war das Einbringen des später vielfach kritisierten Begriffs des economizing in seinem Werk Economic Anthropology. A Study of Comperative Economics (Herskovits 1952). Dieses „Sparsamkeitsprinzip“ (Rössler 1999: 82) erweitert die Grundidee von der rationalen Entscheidungsfindung und die Annahme, dass ein Mensch bewusst aus zwei oder mehr Alternativen im Hinblick auf Effizienz rational auswählt (vgl. ebd).

Trotz seines theoretischen Hintergrunds als Formalist betont Herskovits – ähnlich wie Firth – die Bedeutung der induktiven und empirischen Herangehensweise in der Ethnologie, und versucht diese „mit der klassischen Theorie zu einer fruchtbaren Einheit zu verbinden […]“ (Rössler 1999: 83)

2.3 Der substantivistische Standpunkt

2.3.1 Gegenreaktion zum Formalismus

Erst zwanzig Jahre später, jedoch in direkter Reaktion auf die Aussagen des Formalismus entstand die neue theoretische Richtung des Substantivismus. Die Vertreter kritisierten die Ideen der Formalisten und wehrten sich ganz entschieden gegen das Postulat der Übertragbarkeit neoklassischer Axiome und Termini.

2.3.2 Vertreter: Karl Polanyi (1886-1964)

Mit seinem Werk Trade and Markets in the Early Empires (1957, Polanyi et al. (Hrsg.)) legte der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi den Grundstein für die eigentliche Debatte.

Dabei forschte er nicht selbst empirisch, sondern bezog sich in seinen Werken auf Beiträge von Richard Thurnwald und Bronislaw Malinowski (vgl. Feest/Kohl 2001: 347). Ganz im Sinne Malinowskis, der zwar bei weitem kein ausgesprochener Wirtschaftsethnologe war, sich jedoch ausgiebig mit dem kula -Austausch auf den Trobriand-Inseln beschäftigte (vgl. Rössler 1999: 78) und diesen als „soziales Phänomen“ (ebd.) ansah, argumentierte Polanyi dann auch gegen den formalistischen Standpunkt.

Mit seiner Unterscheidung von der „universell gültigen substantiven von der nicht universell gültigen formalen Bedeutung“ (Rössler 1999: 85, meine Hervorh.) kann er zum einen als der Namensgeber der Theorierichtungen Substantivismus und Formalismus gelten. Zum anderen bildet er damit den Umkehrsatz zu Firths Aussage von universell gültigen formalen Gesetzmäßigkeiten – formal propositions – und den nicht universell gültigen institutionellen Gegebenheiten – subsistantial propositions (vgl. ebd.). Polanyi trat ganz entschieden gegen das formalistische Axiom der rationalen Wahl bei der Allokation knapper Ressourcen ein, da dieses seiner Meinung nach nur auf Marktgesellschaften zutreffe (Polanyi 1957: 47).

Polanyi bezieht seine Argumente aus der amerikanischen Schule der „Institutional Economics“, für die „jede Form der Ökonomie als ein dynamisches, integriertes System verschiedener Institutionen, […] unter anderem sozialer Institutionen […]“ darstellt (Rössler 1999, 85). Für ihn stellt die Wirtschaftsform des Kapitalismus nicht die Normalform da, von der jede Theorie ausgehen muss. Im Gegenteil, er kritisierte schon in seinem früheren Werk The Great Transformation (New York, 1944) den Kapitalismus, da dieser „den Menschen auf ein utilitaristisches Atom reduziere, ihn aus einer vertrauten sozial-kulturellen Umwelt herauslöse, ihn vereinsame, sein Menschensein geradezu unmöglich mache.“ (Röpke 1971: 449). Als Gegenstück zu dieser Gesellschaftsform empfand er die nicht-industriellen Gesellschaften.

[...]

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Die Formalismus-Substantivismus-Debatte in der Wirtschaftsethnologie
Untertitel
Anwendung des substantivistischen Sphärenmodells durch Frederik Barth
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Ethnologie)
Veranstaltung
Wirtschaft und Gesellschaft in Afrika
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
23
Katalognummer
V112205
ISBN (eBook)
9783640108176
ISBN (Buch)
9783640109845
Dateigröße
458 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Formalismus-Substantivismus-Debatte, Wirtschaftsethnologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Afrika
Arbeit zitieren
Simone Schubert (Autor:in), 2005, Die Formalismus-Substantivismus-Debatte in der Wirtschaftsethnologie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112205

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