Die Diskussion über das Spannungsverhälltnis zwischen individueller Freiheit und geschaftlichem Gemeinwohl und die konkrete Frage, woher der Kitt kommen soll, der eine Gesellschaft zusammenhält [vgl. LM 5/97], hat eine lange Geschichte.
Ungleich stärker als die moderne hat die klassische politische Theorie auf die soziomoralische Disposition der Bürger als Voraussetzung für die Einrichtung und Dauerhaftigkeit freiheitlich verfaßter politischer Ordnungen Wert gelegt. Ohne die Tugenden bürgerlichen Gemeinsinns, so der Grundtenor von Aristoteles bis zu den (den Untergang der römischen Republik analysierenden) Historikern Sallust und Tacitus, von Machiavelli bis Montesquieu und Rousseau, wird ein auf der Selbstregulierung der Bürger beruhendes Gemeinwesen auf Dauer keinen Bestand haben.
Ausschlaggebend hierfür dürften zwei Entwicklungen gewesen sein, die als politische und theoriegeschichtliche Veränderungen miteinander zeitlich koinzidierten: die Revolution in Frankreich und die Entstehung der politischen Ökonomie in Schottland beziehungsweise, auf Personen bezogen, Maximilien Robespierre und Adam Smith.
Orientiert am Vorbild der römischen Republik und ihres Untergangs, hat Robespierre versucht, die Bürger durch den Schrecken öffentlicher Exekutionen zu jener Tugendhaftigkeit zu zwingen. Die Gegenüberstellung von individueller Freiheit und den Zumutungen der Gemeinschaft leitet sich nicht zuletzt aus den Erinnerungen an den Terror der Revolution her. Demgegenüber hat Smith zu zeigen versucht, daß der Markt als Ort der Vermittlung der wirtschaftlichen Tätigkeiten der Menschen aufgrund der ihm eigenen Mechanismen sicherzustellen vermag, daß die Menschen so handeln, als ob sie von Gemeinsinn geleitet werden, auch wenn dies tatsächlich keineswegs der Fall ist. Der von vielen seiner Zeitgenossen beklagte Verfall der alten Werte konnte, so war er überzeugt, durch die Institution des Marktes kompensiert werden, insofern sie durch das Wirken "einer unsichtbaren Hand" den Input an Eigennutz in einen Output an Gemeinwohl transformierte. Diese kryptische Formel des Adam Smith ist vom politischen Liberalismus bald auf die Funktionsweise der Verfassungen übertragen worden.
Die Begründung einer freiheitlichen Ordnung, so resümierte Kant, setze keineswegs ein "Volk von Engeln" voraus, sondern sei auch bei einem "Volk von Teufeln" möglich, so diese nur Verstand besitzen.
Doch schon vor 150 Jahren warnte der politische Philosoph Alexis de Toqueville in seiner Schrift "Über die Demokratie in Amerika" vor den Entfremdungserscheinungen einer individualistischen Bürgergesellschaft: "Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd gegenüber; (...) was die übrigen Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, und er fühlt sie nicht; er ist nur in
sich und nur für sich allein vorhanden." F_r viele Kulturkritiker steht fest, da_ dieses Warnbild dem Zustand unserer heutigen
Gesellschaft entspricht, ja von unserer Wirklichkeit noch _ber©
troffen wird. So diagnostiziert der Essayist R_diger Safranski
"Selbstsucht", "ZerstÀÀrung des Gemeinsinns" und "Konsumismus" als
hervorstechende À±Àbel der Zeit und bemerkt, zu diesen "Verw_stun©
gen", die Tocequeville teilweise schon antizipierte, sei noch die
"beispiellose Verrohung und Entleerung" getreten, "welche die
moderne Medienwelt im Innern der Menschen angerichtet hat."
Solche d_steren Beschreibungen unserer gesellschaftlichen Rea©
litÀ Àt sollen uns davon _berzeugen, unsere individuellen Freihei©
ten durch die StÀ Àrkung gemeinschaftlicher Bindungen zu ergÀ Ànzen
und zu begrenzen. Nur so kÀÀnne ein fortschreitender "Wertever©
fall" aufgehalten werden. Angesichts steigender wirtschaftlicher
und sozialer Unsicherheit und der damit einhergehenden Angst, aus
der Wohlstandsgesellschaft ausgesto_en zu werden, finden solche
Appelle bei vielen Menschen mehr und mehr Resonanz. Es ist ja
auch nicht zu bezweifeln: Gerade in schweren Zeiten vermitteln
gemeinschaftliche Bindungen, sei es in der Familie, in der
Nachbarschaft, im Freundeskreis, in der Kirchengemeinde oder in
Vereinen, ein Gef_hl der Sicherheit und Beruhigung. Es scheint
daher plausibel zu sein, enger zusammenzur_cken und f_r den
Selbsterhalt notfalls die individuelle UnabhÀ Àngigkeit zu opfern.
Als Therapie wird uns die R_ckkehr zu Gemeinschaftswerten und
Gemeinsinn, die Suche nach der verlorenen Gemeinschaft empfohlen.
Und die Ideen einer aus den USA stammenden Denkrichtung, die als
"Kommunitarismus" bezeichnet wird, finden auch hierzulande immer
mehr Bef_rworter.
[Die Communities]
Der gemeinsame Nenner der amerikanischen Communities lÀ À_t sich am
besten anhand ihrer Geschichte begreifen. Alles begann Anfang der
80er Jahre mit einem Grundsatzstreit unter liberalen Politologen
und mit einem Buch. Unter dem Titel "Liberalismus und die Grenzen
der Gerechtigkeit" ging der Harvard©Professor Michael Sandel
seinen Kollegen John Rawls an. Der hatte in den siebziger Jahren
ein eigenes Modell von politischer Gerechtigkeit entwickelt und
damit gro_en Einflu_ gewonnen: Man m_sse in Wisenschaft und
Politik so tun, meinte Rawls, als bestehe die Gesellschaft aus
lauter eigenschaftslosen Individuen, die ihre Beziehungen unter©
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in diesem Text?
Der Text diskutiert das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und dem Gemeinwohl. Er untersucht, wie eine Gesellschaft zusammengehalten werden kann, und beleuchtet historische und philosophische Perspektiven auf dieses Thema.
Welche historischen Figuren werden im Text erwähnt?
Der Text erwähnt Aristoteles, Sallust, Tacitus, Machiavelli, Montesquieu, Rousseau, Robespierre, Adam Smith, Kant und Alexis de Toqueville.
Was war Robespierres Ansatz, um Bürger zu Tugendhaftigkeit zu zwingen?
Robespierre versuchte, die Bürger durch den Schrecken öffentlicher Exekutionen zu Tugendhaftigkeit zu zwingen, orientiert am Vorbild der römischen Republik.
Wie hat Adam Smith versucht, den Verfall alter Werte zu kompensieren?
Smith argumentierte, dass der Markt durch das Wirken "einer unsichtbaren Hand" den Eigennutz in Gemeinwohl transformieren könne, und somit den Verfall alter Werte kompensieren könne.
Welche Warnung sprach Alexis de Toqueville aus?
Toqueville warnte vor den Entfremdungserscheinungen einer individualistischen Bürgergesellschaft, in der jeder dem Schicksal der anderen fremd gegenübersteht.
Welche Probleme diagnostiziert Rüdiger Safranski in der heutigen Gesellschaft?
Safranski diagnostiziert "Selbstsucht", "Zerstörung des Gemeinsinns" und "Konsumismus" als hervorstechende Übel der Zeit und bemerkt die "beispiellose Verrohung und Entleerung" durch die moderne Medienwelt.
Welche Therapie wird angesichts steigender Unsicherheit empfohlen?
Als Therapie wird die Rückkehr zu Gemeinschaftswerten und Gemeinsinn, die Suche nach der verlorenen Gemeinschaft empfohlen, sowie die Ideen des Kommunitarismus.
Was war der Grundsatzstreit zwischen Michael Sandel und John Rawls?
Der Streit begann mit Michael Sandels Kritik an John Rawls' Modell von politischer Gerechtigkeit, das von eigenschaftslosen Individuen ausgeht, die ihre Beziehungen per Vertrag regeln.
- Arbeit zitieren
- Dr. Walter Grode (Autor:in), 1997, Auf der Suche nach dem guten Gemeinwesen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112378