Die Genese der Verantwortung - Patientenaktivierung im neoliberalen Gesundheitssystem


Diplomarbeit, 2007

94 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Das neoliberale Gesundheitssystem

2. Historie der medizinischen Diskurse
2.1 Die Evolution des medizinischen Blicks
2.2 Der rationale Diskurs
2.3 Der politische Diskurs

3. Gesundheitsprogramme im gesellschaftlichen Kontext
3.1 Systemtheorie als Gesellschaftstheorie
3.1.1 Der systemtheoretische Hintergrund
3.1.2 Die Methode der funktionalen Analyse
3.2 Der authentische Patient
3.2.1 Die strukturierten Gesundheitsprogramme
3.2.2 Betreuungsziel Patient
3.2.3 Wissen ermöglicht Selbstständigkeit
3.2.4 Krankheit beeinflusst die Lebensführung
3.2.5 Autonomie als Hindernis
3.2.6 Autonomie durch Erziehung
3.2.7 Die Reproduktion der Asymmetrie
3.2.8 Die wichtigste Ressource ist Zeit
3.2.9 Der Patient wird zum authentischen Sprecher
3.3 Der prekäre Arzt
3.3.1 Der Arzt als Störenfried der DMP
3.3.2 Das Problem der Kontrolle
3.3.3 Der moderne Arzt braucht Hilfe
3.3.4 Der Arzt als Entscheider
3.4 Der ökonomische Blick der Krankenkassen
3.4.1 Organisation als Bedingung der Möglichkeit
3.4.2 Die Herstellung des aktiven Subjekts

4. Fazit: Der verantwortliche Patient wird ökonomisch hergestellt

5. Literaturverzeichnis

Abkürzungen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Das neoliberale Gesundheitssystem

Der Sozialstaat ist gegenwärtig in vielerlei Hinsicht ein Thema hitziger Debatten. Ob es nun um die Verarmung durch Hartz IV geht, die soziale Filterfunktion von Studiengebühren oder die Reform des Gesundheitssystems[1][2], stets vermag der Umbau staatlicher Sicherungssysteme ein erhebliches Kritikpotential zu aktivieren (vgl. Manske 2005, Butterwegge 2005/2007, Dingeldey/Gottschall 2001). Auffällig sind dabei vor allem zwei Gesichtspunkte: Zum einen geht es um den Zwang zur Kostenreduktion in nahezu allen Bereichen staatlicher Sozialleistungen, zum anderen um die damit verknüpfte, unter dem Label des Neoliberalismus firmierende Forderung nach vermehrter Selbstverantwortung und Leistungsbereitschaft (vgl. Nolte 2006, Dingeldey 2006). So formulierte Edmund Stoiber im Jahr 2003 auf dem Kongress der Akademien für Gesundheit, Ernährung und Verbraucherschutz: "Um Gesundheitsgefahren und künftigen Kostenbelastungen effektiver begegnen zu können, muss die Bereitschaft des Einzelnen gestärkt werden, selbst mehr Verantwortung für seine Gesundheit zu übernehmen" (zitiert nach Klinik Heute AG).

Besonders das Gesundheitssystem ist seit mehreren Jahrzehnten unter dem Schlagwort der „Kostenexplosion“ Gegenstand diverser wirtschaftlicher Konsolidierungsversuche. Deutlich geworden ist dies beispielsweise an der Krise der Krankenhäuser und den daraus resultierenden Versuchen eben jener, dem Problem knapper Ressourcen mit aus der Wirtschaft entlehnten Managementkonzepten beizukommen (vgl. Bauch 1996, Simon 2001) sowie den wirtschaftlichen Horrorszenarien, die als Folge der Ausbreitung chronischer Krankheiten zu zeichnen gepflegt werden (vgl. Penzel 2005, Lindner 2003).

Was sich hier bereits abzuzeichnen scheint ist der zunehmende Bedeutungsverlust der Kritik am paternalistischen Arzt, die nach Parsons (1952) verklärtem Bild des moralisch integeren Professionellen im Mittelpunkt medizinethischer Debatten stand (vgl. Freidson 1979, Stollberg 2001). Stattdessen ist zunehmend die Rede vom modernen Patienten, der gefangen zwischen der beständig wachsenden Bedeutung des Experten und der gleichzeitigen Zunahme gesellschaftlicher Reflexivität, zu einem aktiv vertrauenden Patienten werde (Giddens 1997, S. 138 ff., kritisch dazu Stollberg 2007). Weitergehende Konzepte sehen den Patienten sogar als Koproduzenten von Gesundheit (vgl. Hurrelmann 2000), sowie in der Form eines Konsumenten von Gesundheitsdienstleistungen, inklusive der damit einhergehenden Kritik der „Kundenorientierung“ (vgl. Dörner 2005, Stollberg 2007). Begleitet wird die Debatte um die Rolle des Patienten von einem Dauerbrenner der Medizinkritik, namentlich dem Unheil, das durch Sparmaßnahmen auf Ärzte und Patienten herabbeschworenen werde (vgl. Kälble 2005, Bauch 1996, Simon 2001).

Soziologisch interessant ist vor dem sich hier herauskristallisierenden Hintergrund des stetigen Wandels medizinischer Diskurse – man denke an die inzwischen deutlich abgeflaute Debatte über Patientenrechte[3] der 1960/70er Jahre – nicht nur welche Argumente momentan anschlussfähig sind, sondern auch welche Veränderungen zu den vorhergehenden Diskursen sich dabei identifizieren lassen. Dieser Versuch soll Im Folgenden anhand einer empirischen Analyse sogenannter Disease Management Programme (DMP) geleistet werden. Zu zeigen sein wird dabei, dass die Medizinkritik sich nach den aufklärerischen Forderungen der Patientenrechtsdebatte in der heutigen neoliberalen Konfiguration des Gesundheitssystems in das Gegenteil verkehrt hat.

In diesen Trend neoliberaler Ansprüche an den Patienten lässt sich auch die relativ neue Entwicklung der DMP[4] einordnen, die in den letzten Jahren von Amerika ausgehend ihren Weg auch in das deutsche Gesundheitssystem gefunden haben. „Der Zweck strukturierter Behandlungsprogramme ist es, den Behandlungsablauf und die Qualität der medizinischen Versorgung chronisch Kranker zu verbessern. Die Patienten lernen, mit ihrer Krankheit umzugehen, sie werden in die Behandlung eingebunden und sie profitieren vom strukturierten Zusammenspiel der Ärzte in Facharztpraxen und Kliniken. [...] Chronische Erkrankungen sind nicht nur eine Belastung für die Betroffenen. Sie verursachen auch hohe Kosten für die Krankenkassen. Deren Ausgaben stehen in direktem Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand (Morbidität) ihrer Versicherten“ (Bundesministerium für Gesundheit). Bereits in diesem kurzen Zitat wird deutlich, wie nachhaltig die Medizin Gegenstand neoliberaler Forderungen ist: Zum einen setzt sich der gegenwärtige medizinische Diskurs mit dem persönlichen Engagement, der aktiven Einbindung (chronisch) Kranker in den Genesungsprozess[5] auseinander, zum anderen werden Kostenproblematiken unmittelbar angeknüpft. Dies stellt eine neue Entwicklung dar, die bisher keine vergleichbaren Formen hat.

Der beständige Wechsel der Medizinkritik, die dem Wandel des Medizinsystems eingeschrieben ist, wird im Folgenden von der Herausbildung der neuzeitlichen Medizin bis in die Gegenwart nachvollzogen um die Kontinuität der Diskontinuität aufzuzeigen. Zunächst folgt eine an der Chronologie medizinischen Evolution orientierte Betrachtung der bisherigen Diskursformen (Kap. 2). Im Anschluss daran wird die aktuelle Debatte um die Stellung des Patienten untersucht (Kap. 3). Dies geschieht nicht nur theoretisch (vgl. Giddens 1997, Rose 2000), sondern auf der Grundlage empirischen Materials. Abgesehen wird dabei von Untersuchungen, die zum Ziel haben Intentionen von Ärzten oder Patienten nachzuvollziehen (vgl. Stollberg 2007) oder auf durch Fachwissen ermöglichte Handlungsspielräume abstellen (vgl. Hak 1994, Shilling 2002). Demgegenüber liegt hier das Augenmerk darauf, aktuelle Argumentationslogiken anhand von Experteninterviews, die mit Betreuern eines DMP geführten wurden, durch eine qualitative Auswertung sichtbar zu machen. Wie im Resümee schließlich gezeigt wird (Kap. 4), ermöglich dieser Fokus einen Blick auf den Wandel der Personenkonzepte, die erst innerhalb der medizinischen Diskurse ihre jeweilige Genese erfahren. Eben diese Diskurse bringen auch spezifische Formen der Medizinkritik hervor.

Für dieses Forschungsvorhaben bieten sich vor allem zwei Theoriekonzepte an. Zum ersten die zunehmend gesellschaftstheoretisch gelesene Diskurstheorie Michel Foucaults. Zum anderen die Systemtheorie Luhmannscher Lesart, die von ihrer Konstitution her auf systemische Formbildung kommunikativer Praktiken abstellt. Der Vorteil beider Ansätze liegt darin, auf eine Subjektfundierung, also die Rückbindung gesellschaftlicher Ordnung auf Individuen, zu verzichten. „Neben dem konstruktivistischen Grundzug beider Theorien, wonach Diskurse als diskursive Praktiken und Kommunikation als Selektionsleistung das erzeugen, was sie sagen [...] teilen Diskurs- und Systemtheorie ihren antihumanistischen und subjekttheoretisch-kritischen Habitus. Soziale Systeme sind demnach ebenso wenig wie Diskurse zurückführbar auf Subjekte, deren Intention sich in Diskursen und Systemen artikuliert oder die sich der Wirklichkeit unmittelbar bemächtigen könnten“ (Bublitz 2003, S. 314 f.). Beide Perspektiven sehen dabei von einer normativen Konzeption des Gesellschafts- und Politikbegriffs ab. In Foucaults Ansatz ist die Form der Gesellschaft eine Folge historischer Kämpfe, die gegenwärtig beobachtbare Formationen erst genealogisch hervorgebracht haben und auf Macht als alles durchdringende Kraft zurückzuführen sind (vgl. ebd., Foucault 1988/2000, Lembke 1997). Macht ist für ihn jedoch per se weder positiv noch negativ, sondern nur ein – wenn auch allgegenwärtiges, sogar den Körper durchdringendes – Ordnungsprinzip.[6] Luhmann verordnet Macht dagegen nur in einem Teilbereich der Gesellschaft, als Medium eines sozialen Systems – namentlich des Politiksystems – dass wie alle Funktionssysteme[7] nur selbst erzeugte Probleme bearbeiten und deshalb keine gesellschaftliche Zentralposition für sich beanspruchen kann (vgl. Luhmann 1984, 2002b). Die folgende Arbeit sieht zugunsten eines systemtheoretischen Konzepts von der Annahme ab, das gesellschaftliche Ordnungsbildung allein durch Macht strukturiert sei, wie Foucault postuliert.[8] Denn so lassen sich gesellschaftliche Praktiken als selbst stabilisierende Formbildungen verstehen, die nicht auf Intentionalität in irgend einer Form (z.B. durch politische Programme[9] ) angewiesen sind. Die Entwicklung der Medizin erscheint dann nicht als von Machtinteressen hervorgebracht, sondern als evolutionäre Veränderung gesellschaftlich anschlussfähiger Praktiken.

Die Datenauswertung orientiert sich, als logische Folge der gewählten Theorieperspektive, an einer systemtheoretisch informierten Hermeneutik (im Sinne von Nassehi/Saake 2002).[10] Das bedeutet, dass die durch Experteninterviews hervorgebrachten Texte nicht auf weltanschauliche, wertmäßige oder in sonstiger Form intentionale Argumente hin beobachtet werden. Untersucht wird stattdessen welche Kommunikationsstrukturen Plausibilitäten, Expertenwissen, Themen usw. sichtbar machen.

2. Historie der medizinischen Diskurse

Um zu verstehen, wie der medizinische Diskurs aktuell geführt wird, ist es hilfreich zunächst die Geschichte desselben anzuschauen. Dieser Überblick ist dreigeteilt. Zunächst geht es um die Entstehung des Diskurses an sich, d.h. betrachtet wird vor allem der Zeitraum des 18. und 19. Jahrhunderts, in dem sich das System der Krankenbehandlung in seiner modernen Form gebildet hat (Kap. 2.1). Danach wird gezeigt, wie der medizinische Diskurs im vergangenen 20. Jahrhundert hauptsächlich geführt wurde: als Frage nach der richtigen Art medizinischer Erkenntnis (Kap. 2.2). Schließlich mündet der historische Abriss der medizinischen Diskurse in der modernen Entdeckung des Patienten als eine mit unhintergehbarer Autonomie ausgestatteten Person.

2.1 Die Evolution des medizinischen Blicks

Will man den medizinischen Diskurs analysieren, so kommt man nicht um eine Betrachtung des wechselhaften Krankheitsbegriffs herum. Im Mittelalter, als die primäre Differenzierung (Luhmann 1984/1997) der Gesellschaft stratifikatorisch ist, ist der Krankheitsbegriff als Beschreibung einer heilbaren, von einem „Zustand der Ungnade, der Müdigkeit oder des Alters“ (Mayntz/Rosewitz 1988, S. 119) verschiedenen Befindlichkeit quasi nicht existent. Zwar findet sich bereits in der Antike solch ein natürlicher Krankheitsbegriff[11], im Europa des frühen Mittelalters jedoch ist er religiös geprägt. Krankheit ist dann der Wille Gottes, ein Schicksal, das der Erkrankte durch seine Sünden auf sich geladen hat. So sind Hospitäler meist an Klöster angegliedert, die nicht nur Reisende beherbergen, sondern vor allem Arme und minderbemittelten Kranken Hilfe bieten, wobei die Krankenbehandlung selbst eine eher nebensächliche Rolle spielt (vgl. ebd.). Da im damaligen theologischen Weltverständnis das Leben lediglich eine Übergangsstation darstellt, und Krankheit als Sündenfolge aufgefasst wird, besteht zunächst keine Grundlage für ein Konzept von heilenden Eingriffen.

Ärzte nach dem Mittelalter

Dies ändert sich im Verlauf der Ausdifferenzierung von Religion und Wissenschaft als je unterschiedlich begründbare Unterscheidungen. Im Geiste der Wissenschaft beklagen die säkularen, akademisch gebildeten Ärzte in der Zeit der Aufklärung, sie müssten sich die Definitionshoheit über die Natur des Menschen mit der Theologie teilen. Beispielhaft war der Umstand, mit den Geistlichen gleichrangiger Bewerber um den Platz am Sterbebett sein zu müssen (Göckenjan 1985, S. 136 f.). Konkurrenz für die Ärzteschaft besteht jedoch nicht nur auf Seite der Religion. So müssen auch unterschiedliche Gesundheitskonzepte gegeneinander antreten. Neben der Humoralpathologie (Viersäftelehre) konkurrieren weitere Krankheitsauffassungen[12], welche von den verschiedensten Chirurgen, Badern, Scharfrichtern, Schäfern und weiteren Heilkundigen vertreten werden. „Die Ärzte waren ein Gelehrtenstand und mithin eher eine Erscheinung rangmäßiger als funktioneller Differenzierung“ (Mayntz/Rosewitz 1988, S. 121) Es herrscht ein regelrechter Markt vor, auf dem der zahlungskräftige Kunde eine erwünschte Therapie erwerben kann und der Heiler in einem Abhängigkeitsverhältnis steht (vgl. Noack/Fangerau 2006). Dieses ist nicht nur ökonomischer Art, sondern auch bezogen auf den Ruf, der den Heilkundigen und dem akademischen Arzt den Vorsprung vor der Konkurrenz und letzterem reiche, vornehmlich adelige Kundschaft sichert.[13] Dabei besteht die Funktion des Arztes im Erteilen von Ratschlägen und dem Verordnen von Medizin. Die handwerklichen, oft derben Behandlungen erfolgen durch die rangmäßig niedrigeren Bader oder andere Heilberufe (Göckenjan 1985, S.135). Das Wesen der akademischen Medizin ist eher das einer Philosophie, die ihre Qualität aus der akademischen Form des Wissenserwerbs selbst zieht. Während die technische Arbeit der niederen Heilberufe allgemein unter der Bevölkerung und in den (zunehmend säkularen) Hospitälern auf praktische Hilfe (auch für Arme und Alte) ausgerichtet ist, stehen die Kliniken vor allem für die akademische Form der Wissensvermittlung.

Medizin der Arten

Den Großteil des 18. Jahrhunderts stellen Kliniken noch keinen Ort medizinischer Forschung in einem explorativen Sinne dar, sondern dienen dazu, den Studenten der Medizin Anschauungsmaterial für die Klassifizierung und Benennung von Krankheiten zur Verfügung zu stellen. „Es ist also nicht der Blick selber, dem die Macht der Analyse und der Synthese zukommt, sondern die Wahrheit eines diskursiven Wissens, die von außen und gleichsam als Belohnung zum wachsamen Blick des Schülers hinzutritt. Bei dieser klinischen Methode [...] handelt es sich nicht um ein Examen, sondern um eine Entzifferung. [...] Krankheit zeigt sich dem Beobachter in Symptomen und Zeichen. [...] Die Symptome lassen die unveränderliche, sichtbar-unsichtbare Figur der Krankheit, die dahinterliegt, durchscheinen.“ (Foucault 1973, S. 76/104). Die akademische Nosologie orientiert sich an Methoden der Naturgeschichte, die aus dem Vergleichen und Einordnen des Sichtbaren zu Vergleichszwecken in verschiedene Klassen besteht, sie katalogisiert in diesem Sinne. Sie hat dabei große Ähnlichkeiten mit der Botanik und wird auch mit dieser verglichen. Die Beschreibung der Krankheit ist eine der „Wesenheit und Arten“ (ebd., S. 19 ff., vgl. Freidson 1979), in der der Körper als etwas der Krankheit äußerliches verstanden wird. Die Krankheit muss in ihrer speziellen Form beobachtet werden, die Nähe von anderen kranken Körpern droht sogar ihre Erscheinung zu verzerren und dem Arzt das Sehen zu erschweren. Dies ist der Grund für die Trennung von Kliniken und Hospitälern. Besonders „reine“ Krankheitserscheinungen werden deshalb aus letzteren in die Kliniken verlegt, wo nichts das Klassifizieren der Krankheitserscheinung durch die Ärzte stört.

Dieses wenig praxisrelevante Wissenskonzept und der Umstand, dass die gebildeten Ärzte von zahlungskräftigen, also hauptsächlich adeligen Klienten, aber auch reichen Kaufleuten abhängig sind, führt zu einem schlechten Ruf der Zunft (Göckenjan 1985, S. 143). Die Ärzte stehen im 18. Jahrhundert vor mehreren Problemen. Zum einen sehen sie ihre Stellung durch den voranschreitenden Bedeutungsverlust des Adels bedroht. Zum anderen sind sie darauf angewiesen ihre Berechtigung in ihrer akademischen Bildung zu verankern, unabhängig vom tatsächlichen, heilerischen Erfolg ihrer Anweisungen. Wobei letzterer, zumindest nach heutigen Maßstäben, als nicht sehr hoch angesehen werden darf, was dem ärztlichen Argument ihrer überlegenen Wissenschaftlichkeit zu Schaffen macht. „Die Ärzte gelten als Repräsentanten der alten parasitären Gesellschaftsklassen, die Aufgrund von Herkunft und Privilegien wohlleben, nicht durch Verdienst und Arbeit. Ja sogar das ärztliche Gewerbe selbst hat den Geruch des Parasitären, sie leben von der Unvernunft und Verschwendungssucht der Reichen und Mächtigen [...]“ (ebd.).

In diese Zeit richtet sich der ärztliche Blick auf jeweils Einzelne, in ihrer Besonderheit nicht miteinander vergleichbarer Krankheitsmanifestationen. Die Fähigkeit eben dieses Besondere sehen zu können, bestimmt die Selbstbeschreibung der Ärzte, die von ihrem exponierten Status überzeugt um die Deutungshoheit in Gesundheitsfragen kämpfen.

Epidemien beeinflussen das Sehen

Es folgt die Phase, in der das Wüten verheerender Epidemien, gegen die die Ärzte machtlos sind, das Krankheitsverständnis verändert. „Die Epidemie ist mehr als eine bestimmte Krankheit. Im 18. Jahrhundert ist sie eine autonome, kohärente und autarke Weise, die Krankheit zu sehen [...]“ (Foucault 1973, S. 39).[14] Es ist die Zeit, in der Zahlen und Statistiken eine besondere Bedeutung gewinnen, mehr noch, eine eigenständige Art des Sehens begründen (ebd. S. 39 ff.). Zu dieser Zeit erscheinen das Regieren an sich und damit auch die Kontrolle von Epidemien als eine Frage der Ordnung, die durch den Staat aufrecht erhalten werden muss (vgl. Lembke 1997). Es ist die (schlechte) Luft in Siedlungen oder es sind die regionalen Verhältnisse, die als ursächlich identifiziert werden, aber auch der physische und moralische Zustand der Bevölkerung gilt als relevantes Kriterium (vgl. Foucault 1973, S. 48).

Die bisherige Beobachtung der sichtbaren Zeichen an einzelnen Kranken ist jedoch dem massenhaften Auftreten einer Epidemie nicht mehr angemessen. Der ärztliche Blick richtet sich infolge dessen auf die Bevölkerung als Ganzes.[15] Das Gesundheitsverständnis ist immer noch das eines natürlichen Zustands, für dessen Beibehaltung das Individuum seine Lebensführung an den normativen Maßstäben zu orientieren hat. „Der einzelne steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, um die Entwicklung und Sicherung seiner physisch-psychischen Kapazitäten geht es, selbst wenn die Bedingungen von Gesundheit, also gesellschaftliche und ökologische Verhältnisse in Frage stehen“ (Göckenjan 1985, S. 74). Deshalb muss das medizinische Wissen, das sich nicht auf Techniken, sondern auf moralisches Verhalten bezieht, in der Bevölkerung verbreitet werden (vgl. Foucault 1973, S. 52 f.). Der Handlungsdruck angesichts des von Epidemien verursachten Massensterbens[16] mündet in der Institutionalisierung einer Überwachung der unterschiedlichsten Bereiche.[17] Geburts- und Sterberegister werden angefertigt, ebenso wie Wohnungen der Menschen beurteilt, der Erntezeitpunkt beobachtet und Weiteres mehr. Die medizinische Polizei kontrolliert die Durchsetzung der für die jeweiligen Regionen ärztlich erstellten Gesundheitsverordnungen. Schließlich führt diese Entwicklung, nicht lange vor der Revolution, 1776, in Frankreich zur Schaffung der königlichen Gesellschaft für Medizin (ebd., S. 43). Schnell kommt es zu einem Konflikt über die Deutungshoheit dieser staatlichen Institution[18] mit der wissenschaftlichen Akademie. Die Ärzte der Universität werfen ihren staatlich angestellten Kollegen Verrat vor und versuchen den Machtkampf um die Deutungshoheit für Gesundheitsbelange für sich zu entscheiden, unterliegen jedoch dabei. Der institutionelle Aufgabenbereich der königlichen Gesellschaft wächst und sie wird „[...] zu einem Zentralisationspunkt des Wissens, zu einer Registrierungs- und Beurteilungsinstanz für die gesamte ärztliche Tätigkeit“ Vor allem aber wird sie „[...] zum Organ eines kollektiven Bewußtseins der pathologischen Phänomene [...] – eines Bewußtseins, das sich ebenso auf der Ebene der Erfahrung wie auf der Ebene des Wissens entfaltet, in der kosmopolitischen Dimension ebenso wie im Raum der Nation“ (ebd., S. 44 f.). Die ärztliche Profession hat zunächst im Kampf um die Aufwertung ihrer Stellung verloren, die Definitionshoheit für Gesundheit liegt in der Hand des Staates.

Aber der medizinische Blick richtet sich jetzt, als Folge der Erfahrungen mit Epidemien, auf längerfristige Phänomene und Zusammenhänge. Auf der einen Seite ist Krankheit eine Frage individueller, sittlich-moralischer Lebensführung. Auf der anderen Seite werden die gesellschaftlichen Verhältnisse als Hindernisse der richtigen Lebensführung kritisiert. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zeichnet dabei deutlich das Krankheitsverständnis.

Gesundheit für den Staat

Sichtbar werden zur Zeit der großen Umbrüche in Europa Diskurse, die von den Erfahrungen der gesellschaftlichen Neuordnung durch den Übergang von der stratifikatorischen, zur funktional differenzierten Gesellschaft (Luhmann) geprägt sind. „Die Behauptung, die von gesundheitspolitischen Schriften seit der Mitte des 18. Jahrhunderts aggressiv vorgetragen wird, daß Krankheit und früher Tod unnötig sind, ist die Gegenposition zur gottgewollten, aristokratisch-klerikalen Weltordnung und der sich hieraus ableitenden, angeblich unveränderlichen Zuteilung von Lebenschancen. Die zugleich damit angestimmte Aufforderung zur Selbstverantwortlichkeit ist der bürgerlich-aufklärerische Impuls der Besinnung auf die eigenen Kräfte, auf die Potenz der Vernunft, gegen eine Verteilung der Lebenschancen nach Abstammung und Status, ein Impuls, der seine Plausibilität vor allem aus dem Verweis auf die Veränderung, die Veränderbarkeit der Verhältnisse zieht“ (Göckenjan 1985, S. 65). Solche Veränderungen werden beispielsweise an der Frühindustrialisierung und dem voranschreitenden Bedeutungsverlust des Adels sichtbar. Doch kann zu dieser Zeit noch keineswegs von Gesundheitserziehung im modernen Sinne gesprochen werden. Der Gesundheitsbegriff ist noch immer ein moralischer und trifft auf die Erfahrungen des beginnenden Pauperismus.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind es, so der Duktus, die den naturgegebenen Zustand der Gesundheit negativ beeinflussen. Gekleidet werden die Beobachtungen oft in Metaphern der (gestörten) Balance von Proportionen, der richtigen Kräftemischung, der Bildung, des Müßiggangs usw.. Gesundheit gerinnt zu einer „sozialen Markierung“, die Statusunterschiede sichtbar macht und somit geeignet ist politische Forderungen zu tragen (ebd., S. 69). Adressat ist das bürgerliche Publikum, die Lösung des Gesundheitsproblems ist eine „sittliche Lebensführung“ und das Ziel ist allein die Stärke des Staats. „Stets [...] ist die große Plastizität der Lebens- und Körperverhältnisse, des eigenen Schicksals, Voraussetzung, die aber nicht Selbstzweck wird und ständig bezogen bleibt auf die Prosperität der ‚bürgerlichen Gesellschaft’, des ‚gemeinen Wesens’. Es scheint letztlich der Staat zu sein, der als Appellationsinstanz die Stelle Gottes vertritt“ (ebd., S. 65).[19]

Obwohl der Einzelne, von den gesellschaftlichen Verhältnissen behindert, für seine Gesundheit sorgen muss, ist er selbst nicht das Telos. Dieses ist der Staat, von dessen Stärke jeder Bürger ein Teil ist. Im theologischen Weltbild fehlte solcherlei Gesundheitsimperativ vollständig, erst die Selbstbeschreibung der Gesellschaft als Gesellschaft macht dies möglich.[20]

Der numerologische Blick

Während des gesamten 18. und noch weit ins 19. Jahrhundert hinein versuchen die akademisch gebildeten Ärzte eine Vormachtsstellung gegenüber ihrer Konkurrenz, den Empirikern (also Wundärzten, Badern u.ä.) zu erreichen[21] und auch ihre politischen Vorstellungen[22] zu verwirklichen. Notwendig dazu ist der Beweis, allein die Definitionsmacht über Gesundheit zu verdienen, also als einziges das richtige Wissen um Gesundheit und Krankheiten zu besitzen. Das große Problem der Medizin zu dieser Zeit, ist die Ungewissheit. Dem Verständnis der Krankheit als das Zusammenfallen der beobachteten Symptome fehlt ein praktisches Kausalitätsmodell und erlaubt so kaum eine sinnvolle Behandlung.[23] Doch dies beginnt sich durch den Einfluss anderer Wissenschaftszweige, vor allem der Mathematik, zu ändern, hin zu einer Positivierung der Ungewissheit. „Unter dem Einfluß von Laplace bzw. innerhalb einer verwandten Denkströmung, entdeckt die Medizin, daß die Ungewißheit analytisch als Summe einer bestimmten Anzahl von isolierbaren und genau berechenbaren Gewissheitsgraden behandelt werden kann. [...] Durch die Einführung des Wahrscheinlichkeitsdenkens hat die Medizin die Wahrnehmungswerte ihres Bereichs von Grund auf erneuert“ (Foucault 1973, S. 110/112). Doch zunächst bleibt die Anwendung dieser neuen Methode des Erkenntnisgewinns bruchstückhaft. Einerseits, weil die Hospitäler noch nicht als Beobachtungsraum etabliert und die beobachtbaren Fallzahlen somit noch nicht groß sind, andererseits, weil der Übergang vom alten zum neuen Denken nicht unproblematisch verläuft. Die Denkungsart oszilliert „[...] zwischen einer Pathologie der Phänomene und einer Pathologie der Fälle“ (ebd., S. 118). Zunehmend geraten jedoch Zusammenhänge in den Blick, die Medizin geht über zu einem kausalistischen Denken. Dies ist der bedeutende Schritt, der die Medizin in ihrer heutigen Form erst ermöglicht hat. Erst jetzt sind langsam die Voraussetzungen für die Schließung der Profession der Ärzte gegeben, die jedoch erst noch einige wissenschaftliche Erfolge benötigt.[24]

Im Folgenden wird die Verlagerung der Medizin auf naturwissenschaftlichen, empirischen Erkenntnisgewinn vertieft und die damit korrespondierenden gesellschaftlichen Entwicklungen grob nachgezeichnet. Diese Entwicklungen sind es, die den ersten Diskurs der modernen Medizin hervorbringen. Dieser zielt auf Gesundheit als eine Frage der richtigen Ursachen für das Auftreten und die Definition von Krankheit.

2.2 Der rationale Diskurs

Der Übergang vom alten, phänomenorientierten Denken zum kausal methodologischen Modell der Krankheit vollzieht sich über den Großteil des 19. Jahrhunderts. Einer der wichtigsten Ausgangspunkte für diese Entwicklung ist Paris. In seinen Kliniken werden große Mengen der Arbeiterschicht behandelt. Damit steht zum einen viel „Material“ für Forschungen zur Verfügung, zum anderen besteht sozialer Druck die Patientenmassen „[...] auf ‚rationale’ Weise zu absorbieren“ (Göckenjan 1985, S. 249 f.; vgl. Foucault 1973, S. 115 f.). Den Auftrieb für den Umbruch gibt die pathologische Anatomie. Das Sezieren von Leichen war schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts üblich, aber erst fünfzig Jahre später führt die Technik zu einem neuen Medizinverständnis. Bei der Obduktion werden organische Schäden als Ursache in einem strikt kausalen Verhältnis zum Tod identifiziert, die Obduktion wird zu einem „Garant für Gewissheit“ (ebd., S. 258).[25] Ausgehend von der Analyse des toten Körpers, wird eine rückwärts gerichtete Kausalkette erstellt, an der der Weg von Gesundheit zum Tod sichtbar wird. Aus ihm geht nun das Wissen über das Leben hervor. „Daher ist der große Einschnitt in der Geschichte der abendländischen Medizin genau der Augenblick, in dem die klinische Erfahrung zum anatomisch-klinischen Blick wird“ (Foucault 1973, S. 160). Es ist der französische Arzt Bichat, der Ende des 18. Jahrhunderts durch Autopsien entdeckt, dass Krankheiten nicht ganze Organe, sondern bestimmte Gewebetypen befallen und der damit Krankheit völlig neu im Körper situiert (vgl. ebd., S. 137 ff.).

Damit ist die Grundlage für ein neues Verhältnis von Gesundheit und Krankheit, bzw. von Tod und Leben geschaffen. „[...] der Tod ist das, dem sich das Leben entgegensetzt, und in dem es sich auseinandersetzt; bezogen auf ihn ist es lebendige Opposition und daher Leben; in ihm findet es seine Exposition und damit seine Wahrheit“ (ebd., S. 159). War in der Nosologie der Tod das Ende einer Krankheit, an dem das Beobachten endet[26], so wird er jetzt zu einer Quelle der Erkenntnis. Die Bedeutung dieses neuen Blicks für die Medizin ist kaum zu unterschätzen. Dies ist die Geburt der modernen medizinischen Forschung. Der Körper bekommt eine Biographie, die vom Arzt gelesen werden kann und damit auch für andere Fälle informativ wird. Der Tod ist damit nicht mehr einfach das Ende des Lebens, sondern er dringt in das Leben ein und verändert dadurch das Konzept von Leben. Vom neuen methodologischen Diskurs aus „[...] lässt sich die Bedeutung der Medizin für die Konstituierung der Wissenschaften vom Menschen erkennen: eine Bedeutung, die nicht nur methodologischer Art ist, da sie das Sein des Menschen als Gegenstand positiven Wissens betrifft. [...] Denn die Medizin hält dem modernen Menschen das hartnäckige und beruhigende Gesicht seiner Endlichkeit vor; in ihr wird der Tod ständig beschworen: erlitten und zugleich gebannt; wenn sie dem Menschen ohne Unterlaß das Ende ankündigt, das er in sich trägt, so spricht sie ihm auch von jener technischen Welt, welche die bewaffnete, positive und volle Form seiner Endlichkeit ist“ (ebd., S. 208, vgl. Hahn/Jacob 1994). Das Leben ist jetzt vom Tod durchdrungen, er wird stets mitgeführt und pathologische Phänomene verweisen immer schon auf ihn.

Die Entpolitisierung des medizinischen Wissens

Trotz der kaum zu unterschätzenden Bedeutung der neuen Methodologie ist sie nur eines unter vielen Konzepten von Krankheit. Für die Medizin hat sie professionsintern „[...] nur den Neuigkeitswert radikal mit dem Bestehenden brechen zu wollen, für sich, das Versprechen, mit einem Sichtwechsel, dem methodischen Reduktionismus, endlich eine handhabbare Ordnung und objektive Einheit in der Medizin herbeizuführen“ (Göckenjan 1985, S. 249). Zunächst finden die neuen Techniken fast ausschließlich in den Kliniken Anwendung, d.h. für den Großteil der Ärzte (und deren bürgerliche Patienten - Gesundheit bleibt nach wie vor Privatsache) bleiben sie ohne praktische Relevanz. „Aber die naturwissenschaftliche Medizin bleibt sowieso auf die Universitäten und Krankenhäuser beschränkt, der Eklektizismus der Praktiker ist durch Konkurrenz und Marktlage des zahlenden Publikums weiterhin erhalten, alternative Medizinsichten bleiben stets virulent“ (ebd., S. 248 f.).

Der Wunsch nach Einheit besteht nicht nur in Hinblick auf das Wissenssystem von Seiten der Verfechter naturwissenschaftlicher Kriterien. Begleitet wird diese Entwicklung von dem professionspolitischen Bemühen der Ärzte sich unter dem Schlagwort der „Association“ als einen politisch gewichtigen Stand zu etablieren (vgl. Jütte 1997). In den ersten vier Dekaden des 19. Jahrhunderts steigt die Zahl der medizinischen und naturwissenschaftlichen Ärztevereinigungen sprunghaft an. Diese sind stark auf den Austausch medizinischen Wissens ausgerichtet, haben aber auch eine politische Dimension. Es geht um den Status der Profession, aber auch um die sich immer stärker aufdrängende „soziale Frage“, also das Problem des Pauperismus. Dieses wird mit dem weiter anhaltenden, starken Wachstum der Bevölkerung immer deutlicher. In den Jahren von 1800 bis 1865 wächst die Bevölkerung allein in Deutschland (einschließlich der österreichischen Länder) um 22, auf 52 Millionen Menschen an (ebd., S.16), was zu Landflucht, Hungersnöten und extrem schlechten Hygieneverhältnissen in den Städten führt. Dazu kommt die veränderte Krankheitswahrnehmung im Lichte des empirischen Wissenserwerbs. Soweit sich die neue Methode bereits durchgesetzt hat, erscheint die soziale Frage als ein mit wissenschaftlicher Fachkenntnis prinzipiell lösbares Problem, sofern die notwendige politische Handlungsfähigkeit, bzw. der Handlungswillen der Mächtigen gegeben ist.

Das bedeutet vor allem: die wissenschaftliche Methodologie entkoppelt die Frage der Gesundheit von moralischen Maßstäben. Wenn physikalische Ursachen für pathologische Zustände angegeben werden können, ist Krankheit kein Ergebnis fehlender Sittlichkeit mehr, sondern genau benennbarer und damit auch veränderbarer Umstände.[27] Dadurch werden Lösungsmöglichkeiten der Verelendungsprobleme, darunter fallen beispielsweise die Unterernährung, fehlende medizinische Versorgung und mangelhafte Hygiene, politisch anschlussfähig, ohne unter Ideologieverdacht zu geraten. Doch noch hat sich die wissenschaftliche Medizin nicht entgültig durchgesetzt und erscheint deshalb für nicht ärztliche Beobachter als professionsinterne Streitigkeit, auf deren Grundlage kein Handeln Seitens des Staates notwendig oder sinnvoll erscheint. Die neue Art medizinischen Sehens wird Im Folgenden vertieft bearbeitet, um die Bedeutung dieses Blicks hervorzuheben.

Die Normierung der Gesundheit

In der „pathologisch-anatomischen Erfahrung“ der neuen Methodologie wird ausgeblendet, dass Leben nicht auf mechanische und chemische Faktoren reduzierbar ist. Dadurch wird die Definition eines Bezugspunkts notwendig, von dem aus die pathologischen Veränderungen zu beurteilen sind. Gesundheit ist damit nicht mehr an Sittlichkeit gebunden, an standesabhängige, moralische Integrität, sondern wird - durchaus folgenreich - normiert. Um die pathologischen Abweichungen angeben zu können, muss ein Normalwert definiert sein, auf den sich die Abweichung bezieht. Es entsteht ein Blick, der an einer selbst geschaffenen Normalität orientiert nur noch Abnormes sehen kann. „Erst als konstruktives Normproblem wird Gesundheit sowohl theoretisch begründungspflichtig, als auch empirisch ein Problem kausal gebündelter Parameter [...] Die naturwissenschaftliche Medizin kehrt aus methodischen Gründen das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit um und kennt ab sofort nur noch Krankheit“ (Göckenjan 1985, S. 253 f.). Nichtmehr die Krankheit ist das Abnorme, von außen die Gesundheit Bedrohende, sondern unter das Verständnis von Gesundheit fallen nur noch Zustände, die den richtigen Parametern entsprechen.

Alles kann jetzt Krankheit auslösen: falsche Ernährung, Hygienemangel, Feinstaub oder Stress.[28] Die positive, ganzheitliche Körperkonzeption verschwindet und Gesundheit gerinnt zu einem inhaltslosen Reflexionswert. Es ist dies, was Luhmann die „perverse Vertauschung der Werte“ (Luhmann 1990, S. 180, vgl. Fuchs 2006) nennt.[29] Gesundheit wird zum Objekt medizinischer Eingriffe und bezahlt dafür mit dem Verlust des Konzeptes eines über Selbstregulationskräfte verfügenden Körpers. „Dieses Konzept ist aber notwendiger Bezugspunkt für Gesundheit, für die Möglichkeit einer selbstverantwortlichen Lebensordnung, ist konzeptionell notwendig zur Begründung der Chance, den eigenen Körper der Selbstkontrolle zu unterwerfen, mit eigenem Willen psychisch-physische Verhältnisse zu beeinflussen und nicht nur bei akuten, noch viel wichtiger, bei chronischen Abweichungen nicht ausschließlich auf die Hilfe von Experten verwiesen zu sein“ (Göckenjan 1985, S. 255). Zwar konnte auch schon vorher zwischen gesund und krank unterschieden werden, aber jetzt ist die kommunikative Schließung des Systems der Krankenbehandlung in seiner spezifisch modernen Form vollendet.

In systemtheoretische Begrifflichkeiten gefasst drehen sich beim Medizinsystem der Designationswert und der Reflexionswert um. In Rechtssystem versucht man Recht zu bekommen, im Wirtschaftssystem muss eine Zahlung erfolgen und die Wissenschaft will Wahrheit, nicht Unwahrheit feststellen. Bei all diesen Funktionssystemen wird an den positiven Wert angeschlossen, der negative dient als Reflexion. Umgekehrt ist für das Medizinsystem nur Krankheit anschlussfähig. Sie allein gibt den Handlungsbedarf an, Gesundheit bleibt ein leerer Begriff: „Nur Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, nur mit Krankheiten kann er etwas anfangen. Die Gesundheit gibt nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand krank ist. Entsprechend gibt es viele Krankheiten und nur eine Gesundheit“ (Luhmann 1990, S. 179).

Die Kontingenz dieses Programms ist auch im 19. Jahrhundert sichtbar, war doch das Argument der Heilkräfte der Natur ein Problem, mit dem sich die ärztliche Profession schon länger auseinandersetzen musste. Doch auf dem Boden wissenschaftlich-methodologischer Empirie, in Verbindung mit praktischem Behandlungszwang[30], ist das Argument der Selbstheilung leicht zur Seite zu wischen, als „[...] Absicherung gegen den systematischen Zweifel an der ärztlichen Potenz im Sinne der Dominanz professionspolitischer Interessen“ (Göckenjan 1985, S. 255).[31]

Ärzte gegen den Staat, für den Staat

Doch ob man nun Göckenjans Beurteilung dieses blinden Flecks als bewusste Entscheidung der Ärzteschaft teilt oder nicht, das neue medizinische Sehen bildet die Grundlage für den Aufstieg der Ärzte zum Expertentum. Doch in dieser Phase, in der der Ärztestand seine Konkurrenz, sprich andere Heiler, hinter sich lässt, sind erst noch politische Entwicklungen notwendig, die den Umbruch ermöglichen.

Die Schwemme ärztlicher Vereinigungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgt nicht nur aus wissenschaftlichen, sondern durchaus auch aus politischen Motiven heraus. Punkte der ab 1840 von Ärzten jeglicher politischen Ausrichtung geforderten „Medizinalreform“ waren beispielsweise die Vereinheitlichung des Berufsstandes[32], weitgehende Mitspracherechte in gesundheitspolitischen Belangen, also professions politische Veränderungen, allen voran die Autonomie des ärztlichen Standes (vgl. Jütte 1997, S. 24 ff.).[33] Die Forderungen nach höhere Anforderungen an die Vorbildung von Medizinstudenten, die damit einher gehen, sind eine Folge der als verschärft wahrgenommenen Konkurrenzsituation. Aber auch die Verbesserung der Versorgung armer Kranker bzw. ein verfassungsmäßiges Recht auf medizinische Versorgung waren wichtige Themen. Der Reformwunsch beruht damit auch erheblich auf den schlechten gesellschaftlichen Verhältnissen. „Der autoritäre, nirgends demokratisch legitimierte Staat, seine bürokratisch bevormundenden, nirgends reflexiven Handlungsweisen werden zunehmend als kultureller Skandal empfunden. [...] Immer geht der Kampf gegen die nicht auf Verdienst und Fähigkeit beruhenden sozialen Privilegien“ (Göckenjan 1985, S. 267). Es ist der Liberalismus, der sich in der Zeit vor der Märzrevolution auch stark mit nationalen, also die Einheit des zersplitterten Deutschlands fordernden Strömungen vermischt (vgl. Lembke 1997, Jütte 1997).

Der Liberalismus reagiert auf das Problem, das Verhältnis von Individuum und Staat zueinander zu beschreiben (vgl. Luhmann 1997, Nassehi 2003). Einerseits gelten die herkömmlichen Zuordnungen von Personen zu (gottgegebenen) Schichten nicht mehr[34], so dass das prinzipiell freie Handeln des Individuums aus angebbaren Gründen heraus erfolgen muss. Andererseits sieht sich damit auch der Staat plötzlich der Frage nach seiner Aufgabe gegenüber. Die als Freiheit beschriebenen Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen, die sich (zumindest theoretisch) dabei auftun, müssen versöhnt werden mit seiner Regierung durch den Staat, unter der Annahme marktmäßiger Prinzipien. „Das bedeutet, dass das rationale Handeln der Regierung mit dem natürlichen, interessenmotivierten Handeln freier, auf dem Markt tauschender Individuen übereinstimmen muss, weil es die (ökonomische) Rationalität dieser Individuen ist, die es dem Markt ermöglicht, seiner Natur gemäß zu funktionieren. Es ist letztendlich diese Rationalität, die auch für das staatliche Wohlergehen verantwortlich ist, denn wenn der Markt seiner Natur gemäß funktioniert, so funktioniert er optimal, und funktioniert er optimal, so fördert er damit auch die Stärke des Staates“ (Lembke 1997, S. 173). Die gravierendsten Folgen dieser Epoche liegen dabei sicherlich in der Hervorbringung des Individuums, das sichtbar wird, wenn Handlungsmöglichkeiten für Personen auftauchen, die in einem theologischen Weltbild schlicht nicht existent waren.[35]

Zwei Punkte sollen bezüglich des Liberalismus hervorgehoben werden - so wird zum Ersten den Individuen eine naturgegebene Rationalität unterstellt. Zum Zweiten erscheint der Staat als Instanz, die für das (natürliche) Funktionieren des Marktes zu sorgen hat. Im Gegensatz zum Polizeistaat (vgl. S. 10) ist damit nicht die Gefahr einer zu geringen, sondern einer zu starken Kontrolle der Verhältnisse gegeben (vgl. ebd.). Trotzdem ist es dann der Staat, der eingreifen muss, um die Bevölkerung vor dem Pauperismus schützen und damit seine Kräfte zu bewahren.

Auf dem Weg zum Sozialstaat

Natürlich stellt die Ärzteschaft nur einen kleinen Teil der revoltierenden Bevölkerung der Jahre 1848/49 dar und nach dem Scheitern der sog. Märzrevolution wird es zunächst deutlich ruhiger um den zuvor laut politisierenden Ärztestand (vgl. Jütte, S. 34 ff.). An der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung hat sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts kaum etwas geändert. Dass sich die Bedeutung der Ärzte für die unteren Schichten als marginal darstellt, kann angesichts der herrschenden Verhältnisse kaum wundern. Zwar gib es seit ca. 1800 Armenärzte, die sich vom Staat besoldet um die Arbeiter und Taglöhner kümmern, jedoch sind sie zu wenig, und da ihre Entlohnung sehr gering ausfällt, hat die zahlungsfähige, bürgerliche Klientel stets Vorrang. Die Armenpflege ist mehr lästige Pflicht als effektive Hilfe, die zum Beispiel im Rahmen der Approbationsordnungen als unentgeltliche Übungsphase stattfindet (Göckenjan 1985, S. 290).[36]

Die von verschiedenen Arbeiterverbänden geschaffenen Hilfskassen sind ebenfalls nicht in der Lage, Erkrankten wirklich finanzielle oder medizinische Hilfe zu bieten. Doch die Wahrnehmung der Arbeiter und handwerkenden Taglöhner hat sich seit den Revolutionsjahren geändert. Allein durch ihre große Zahl erscheinen sie, da sie immer vom Abgleiten in die Armut bedroht sind, als Gefahr für die Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft. Da sie als eigene Schicht, das Proletariat, akzeptiert sind, ist es ihre potentielle Verelendung (und damit der Verlust ihrer Arbeitskraft), der aus Gründen des sozialen Friedens entgegengewirkt werden muss. Denn das offensichtliche Auseinanderklaffen der politischen Gleichheitspostulate und der ökonomischen Realität sorgt für soziale Spannungen (vgl. Ritter 1998). „Die ökonomischen und politischen Regeln des liberalen Regimes hatten aus den Armen eine neue Art von Subjekt gemacht, das nicht mehr dem alten System der Vormundschaft überlassen oder ausgeschlossen werden konnte. Die moralisch und rechtlich autonomen Subjekte konnten weder mit patriarchalischen noch mit repressiven Mitteln behandelt werden, sondern sie waren auch als Arme Gleiche unter Gleichen“ (Lembke 1997, S. 205).

Auf die damit verknüpften Forderungen der Kommunen an den Staat, sie bezüglich der Armenpflege zu entlasten, reagiert Preußen mit der Legitimierung handwerklicher Unterstützungsvereine und der Möglichkeit für die Kommunen einen Kassenzwang einzuführen, im Rahmen der Gewerbeordnung 1845 (Mayntz/Rosewitz 1988., S. 145 ff.). „Spätestens seit 1848 ist offensichtlich, daß die Unterschichten nicht mehr oder nicht mehr problemlos in den gesellschaftlichen Kontext eingebunden sind, daß ein zu großer Teil der Bevölkerung zu pauperisieren und der Armenpflege zuzufallen droht und daß die für die Gesellschaftsstabilität nötige neue Integration neue Einrichtungen erfordert“ (Göckenjan 1985, S. 297). Der Grundstein für die Schaffung der Krankenkassen ist mit der Änderung der Gewerbeordnung gelegt, eine Pflicht wird daraus jedoch erst knapp 30 Jahre später. Es zeichnet sich jedoch schon die Logik der Kollektivierung von Risiko ab.[37] Dies ist eine der ersten Entwicklungen hin zum Sozialstaat.

Die Spezialisierung der Medizin

Die drei Dekaden nach der Revolution 1848/49 sind zunächst in anderer Hinsicht für die Medizin entscheidend. Vor allem der deutsch – französische Krieg, der 1871 in der Gründung des deutschen Reichs mündet, verhilft der Profession zu deutlichem Auftrieb. Nicht nur, dass die Verluste des deutschen Heers durch die Cholera nur ungefähr zehn Prozent der des französischen Heers betragen, was auf die durchgeführten Impfungen und die ärztlich festgelegte Ernährungsweise zurückgeführt wird. Auch die Versorgung der Verwundeten erweist sich als weit besser als bei allen vorherigen Kriegen (ebd., S. 316 ff.). Ebenso bringt der Beginn der Hygienebewegung in den Städten erstmals gesundheitspolitische Erfolge (vgl. Vögele 2006) und in dem Klima der herrschenden Naturwissenschaftseuphorie werden die alten Methoden endgültig abgelöst.

[...]


[1] Für ihre geduldige und konstruktive Kritik danke ich besonders Michaela Zöhrer.

[2] In dieser Arbeit ist folgende Differenzierung wichtig: Gesundheitssystem / Gesundheitswesen bezeichnen im

herkömmlichen Sinne das Konglomerat an Organisationen, die mit Gesundheitsleistungen im weitesten Sinne zu tun haben. Davon unbedingt zu unterscheiden sind die ebenfalls synonym verwendeten Begriffe Medizinsystem / System der Krankenbehandlung, die das Funktionssystem bezeichnen, dessen autopoietische Reproduktion sich durch die kommunikative Unterscheidung krank / gesund vollzieht. Für nicht mit systemtheoretischen Begrifflichkeiten dieser Art vertraute Leser mag es sinnvoll sein Kapitel 3.1 vorzuziehen.

[3] Diese ist vor allem im Bezug auf Sterbehilfe weiter präsent.

[4] In dieser Arbeit auch synonym als Gesundheitsprogramme bezeichnet (Siehe zu den DMP auch Lauterbach

2000).

[5] Chronische Krankheiten zeichnen sich generell durch einen degenerativen Verlauf aus. Der Genesungsprozess

ist hier also eher als Verlangsamung des Krankheitsfortschritts zu verstehen.

[6] Für einen ausführlichen Vergleich von Foucaults und Luhmanns Machtbegriff bzw. Politikkonzepts siehe

Bublitz 2003).

[7] Als die wichtigsten wären hier noch Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Liebe und Religion zu nennen.

[8] Obwohl von Foucault anders intendiert, scheinen machttheoretische Ansätze auffällig anfällig für normative

Aufladungen zu sein (vgl. Lembke 1997/2000).

[9] Im Gegenteil sind diese dann selbst nur eine – und eben nur eine – Form gesellschaftlicher Praxis.

[10] Zur Theorieperspektive sowie der angewandten Methode sie Kapitel 3.1.

[11] Und auch eine rollenmäßige Differenzierung von Gesundheitsberufen (ebd., S. 120).

[12] Jütte (1997) nennt beispielsweise noch Mesmerismus, Brownianismus und Animusmus (S. 20).

[13] Auch die Abgrenzung zu den jüdischen Ärzten, die kaum an Universitäten studieren durften, spielte eine

große Rolle (vgl. ebd, auch Elkeles 1996).

[14] Mit dieser Feststellung wird für Foucault die Frage, ob die Ärzte damals ein Konzept von Ansteckung

entwarfen, müßig.

[15] Der Bezug auf Bevölkerung, statt auf Territorium zeigt bereits die sich herausbildende moderne Form

politischen Operierens (vgl. Foucault 2003). Der Staat wird nicht mehr primär als Raum aufgefasst, sondern im Bezug auf das Volk als benennbares Kollektiv. Ich komme darauf zurück.

[16] Die Pest trat im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts zwei mal in Frankreich, im letzten Drittel einmal in

Russland auf. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren es vor allem die Choleraepidemien, die in Europa große Opferzahlen forderten.

[17] Seit Anfang des 18. Jahrhunderts gilt in Preußen,die „Polizey“ (vgl. Mayntz/Rosewitz 1988, S. 126) als

umfassende Form staatlicher Kontrolle. „Die Welt der Polizei ist eine Welt umfassende Regelung und individueller Disziplinierung, die permanente Aufsicht und Überwachung erfordert, um die gute Ordnung des Ganzen zu gewährleisten“ (Lembke 1997, S. 168).

[18] Die von der Krone angestellten Ärzte werden von den Mitgliedern der medizinischen Fakultät als Abtrünnige

betrachtet, die eine „Karriere der Intrigen“ verfolgen (Foucault 1973, S. 43 f.).

[19] Man denke hier auch an Hegel, der vom Staat als „wirklichem Gott“ spricht (zit. nach Nassehi 2002a).

[20] So entsteht Ende des 19. Jahrhunderts die Soziologie als wissenschaftliche Form gesellschaftlicher

Selbstbeschreibung (vgl. Luhmann 1977).

[21] Dieser Konkurrenzkampf zieht sich durch die gesamte Medizingeschichte. Bedeutung kommt ihm im

Zusammenhang dieser Arbeit aber vor allem in Bezug auf die Schließung der ärztlichen Profession zu. Darauf wird in Kapitel 2.2 noch weiter eingegangen.

[22] Viele Ärzte waren Unterstützer der Revolution (vgl. Jütte 1997), siehe auch Kap. 2.2.

[23] Was natürlich Wissen um naturheilkundliche Behandlungsformen nicht ausschließt. Auch zu dieser Zeit

konnten Kranke wieder genesen.

[24] Um die Wende zum 19. Jahrhundert beschränkten sich die „Behandlungsverfahren“ der Medizin großteils auf

Aderlass, Abführ- und Purgiermittel (vgl. ebd.) und die katastrophalen Verhältnisse in den stark gewachsenen Städten lassen selbst Krankheiten wie die Masern zu Epidemien werden, die hunderte Todesopfer fordern (vgl. Göckenjan 1985).

[25] Besonders von Seiten der Chemie, die vor allem durch ihre Praxisrelevanz große Erfolge feiern kann, wird der

phänomenorientierten Medizin unwissenschaftliches Arbeiten vorgeworfen (ebd., S. 249).

[26] Foucault (1973) nennt in deshalb das „absoluteste wie auch das relativste aller Phänomene“ (S. 154).

[27] Diese Tatsache schließt natürlich nicht aus, das Krankheitsursachen durch unsittliches Verhalten, z.B.

Prostitution, erworben werden können.

[28] Letztere Krankheitsquellen sind selbstverständlich in dieser Form im 19. Jahrhundert kein Thema, sollen hier

aber bereits den Bogen zur heutigen Gesundheitslehre schlagen.

[29] Gemeint ist nicht die normative Bewertung von Gesundheit, sondern die Binarität des Codes, der

Funktionssysteme konstituiert. Ich komme darauf zurück.

[30] Dieser entsteht vor allem in Entscheidungssystemen, sprich Organisationen, innerhalb derer

Krankenbehandlung zumeist stattfindet – im Gegensatz zur heimischen Bettruhe mit Hühnerbrühe (vgl. Saake 2003).

[31] Ironischerweise hat sich das Problem in unserer Zeit umgekehrt und führt jetzt, in seiner Zuspitzung durch die

Evidence Based Medicine (EBM), die Ärzte in Begründungsschwierigkeiten für Abweichungen von den normierten Leitlinien bringt (vgl. Vogd 2004), sowie zu erkenntnistheoretischen Problemen der Medizin im Allgemeinen. Siehe außerdem zu den Problemen des Wissensüberschusses („Wissensdilemma“) und der Differenz medizinwissenschaftlicher Erkenntnisse zur praktischem Behandlungswissen („erkenntnistheoretische Kluft“) Paul 2006.

[32] Ärzte und Chirurgen waren nach wie getrennt, letztere teilweise sogar noch intern weiter differenziert.

Besonderes Gewicht erhält das Telos der Einheit vor der Erfahrung der Ausdifferenzierung medizinischer Fachrichtungen (dazu ausführlich Mayntz/Rosewitz 1988).

[33] Göckenjan (1985) weist darauf hin, dass es sich hier um eine neue Selbstbeschreibung handelt, die die Ärzte

überhaupt erst als ansprechbaren Stand sichtbar macht: „In den vierziger Jahren ist keineswegs ein mittelalterliches Relikt, ein traditionell bestehender ‚Stand’ demokratisiert worden, sondern ein spätfeudales Konstrukt, ein ärztlicher Stand, wird unter der Zeitforderung des Selbstvertretungsrechts, der ‚Assoziation’, überhaupt erst propagiert“ (S. 277).

[34] Man behilft sich dann mit der Beschreibung dieses Übergangs mit dem Begriff der „Klassen“ (vgl. Luhmann

1997, S. 1055 ff.).

[35] Dazu ausführlich Nassehi 2003.

[36] Auch wenn sich die Armen bei den Ärzten zunehmender Beliebtheit als „Lernmaterial“ in den Kliniken

erfreuen können (Göckenjan 1985,S. 296 f., vgl. Elkeles 1996).

[37] Für die Rechtssprechung gilt (wie auch heute noch) das Verursacherprinzip: Es wird angenommen, dass ein

Unfall nicht passiert wäre, hätten die Beteiligten sich nicht so verhalten wie sie es getan haben. Diametral dazu steht die Versicherungslogik. Hier wird unter der Erfahrung einer regelmäßigen Krankheits- und Unfallquote das Risiko kollektiviert. Dies stellt eine neue Form des Schutzes Einzelner dar: „Die Versicherung arbeitet mit einem völlig anderen Typus der Individualisierung, der nicht auf der Konfrontation mit einem anderen Individuum, sondern auf die Gegenseitigkeit der Kollektivität verweist [...]“ (Lembke 1997, S.216).

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Die Genese der Verantwortung - Patientenaktivierung im neoliberalen Gesundheitssystem
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
94
Katalognummer
V112433
ISBN (eBook)
9783640112999
ISBN (Buch)
9783640114917
Dateigröße
783 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Es handelt sich zweifellos um eine außergewöhnlich gute und inspirierte Arbeit, die einen lesenswerten Beitrag zur gegenwärtigen, über das Fach hinausreichenden Diskussion um Medizin als Gegenstand neoliberaler Forderung leistet. Herr Friedenberger legt eine durchgängig professionelle Arbeit vor, zieht geeignete Literatur heran und überzeugt auch im empirischen Teil mit einer gelungenen Darstellung seiner Interviewinterpretationen.
Schlagworte
Genese, Verantwortung, Patientenaktivierung, Gesundheitssystem
Arbeit zitieren
Dipl.-Soz. Manuel Friedenberger (Autor:in), 2007, Die Genese der Verantwortung - Patientenaktivierung im neoliberalen Gesundheitssystem, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112433

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