Sprachliche Kreativität und Grammatikalisierung. Das Beispiel des "bekommen-Passiv"


Hausarbeit, 2021

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Sprachliche Kreativität in der Sprachtheorie
2.1 Chomskys regelgeleitete vs. regelveränderte Kreativität
2.2 Die Kreativität in Saussure

3 Konzepte in der Grammatikalisierungsforschung
3.1 Reanalyse und Analogie als Grammatikalisierungsmechanismen
3.2 Das Beispiel ,,bekommen-Passiv‘‘

4 Zusammenhang zwischen sprachlicher Kreativität und Grammatikalisierung

5 Fazit

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Unter der sprachlichen Kreativität versteht man in verschiedenen Kontexten eigent­lich anders. In der Literaturwissenschaft stellt sich der kreative Charakter der Sprache mittels vielfältigen literarischen Werks dar, in denen die Sprache in einer eher künstlerischen Weise angewendet wird. Dabei kann dieselbe Sprache bei verschiede­nen literarischen Gattungen wie Epik, Lyrik, Dramatik, unterschiedlich geformt. Andererseits lässt sich auch der normale Sprachgebrauch auf der linguistischen Ebene als eine kreative Handlung betrachten.

Laut Runco und Jäger muss ein kreatives Handeln zwei Eigenschaften haben: Nützlichkeit und Originalität1. Die Nützlichkeit der Sprache zeigt sich selbstverständlich durch ihre Funktionen wie den Ausdruck der eigenen Gedanken, die Verständigung der anderen usw. Auch die Originalität der Sprache ist gegeben. Über die Originalität der Sprache formulierte Chomsky, dass man fähig ist, die neuen Ausdrücke zu produzieren bzw. zu verstehen, deren Analogen in seiner früheren linguistischen Erfahrung nicht zu finden sind.2 Es wird vielmehr veranschaulicht, wenn man versucht, die Originalität aus einer diachronischen Perspektive zu interpretieren. Also nach Coseriu sprechen beide aufeinanderfolgenden Generationen sehr wahrscheinlich dieselbe Sprache. Aber die Generationen, die durch eine längere Zeitspanne voreinander getrennt sind, sprechen jedoch nicht völlig gleich.3 Somit kann man sagen, dass der normale Sprachgebrauch über beiden Eigenschaften der Kreativität verfügt, und zwar sprachliches Handeln ist als ein kreatives Handeln zu verstehen.

Der Sprachwandel ist nichts anderes als die ständige historische Objektivierung des schöpferischen Charakters der Sprache, in dem eine Reihe von Grammatikalisierungs- und Lexiklalisierungsprozessen stattfinden. In dieser Arbeit möchte ich mich mit dem Zusammenhang der sprachlichen Kreativität und Grammatikalisierung als einen entscheidenden Prozess des Sprachwandels beschäftigen. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in 3 Teilen. Zunächst fange ich mit der Fragestellung an, was mit sprachlicher Kreativität gemeint ist, indem die Chomskys rule-goverend und rule-changing creativity eingeführt wird. Darüber hinaus versuche ich den Begriff der sprachlichen Kreativität in de Saussure zu verorten. Im zweiten Teil handelt es sich um die grundsätzlichen Begrifflichkeiten der Grammatikalisierung, dabei werde ich den Fokus auf zwei wichtigen Mechanismen – Reanalyse und Analogie – stellen, die mittels des Beispiels ,,bekommen-Passiv‘‘ deutlicher dargestellt werden. Und dann im dritten Teil versuche ich die Grammatikalisierung in Zusammenhang mit sprachlicher Kreativität zu stellen und zu beantworten, inwiefern ein Grammatikalisierungsprozess wie ,,bekommen-Passiv‘‘ sich mit der sprachlichen Kreativität verhält.

2 Sprachliche Kreativität in der Sprachtheorie

2.1 Chomskys regelgeleitete vs. regelveränderte Kreativität

Chomsky hat in den „Current Issues“ zwei Möglichkeiten der sprachlichen Kreativität erwähnt, nämlich „rule-governed und rule-changing creativity“4 (regelgeleitete und regelveränderte Kreativität). Die regelgeleitete Kreativität beschreibt „the kind that leaves the language entirely unchanged“, während es bei der regelveränderten Kreativität um „the kind that actually changes the set of grammatical rules” geht.

Chomsky deutet den normalen Sprachgebrauch als regelgeleitete Kreativität, bei der durch die Bedingtheit des Systems die Äußerungen bereits determiniert sind. Diese Bedingtheit lässt nun den Redeakt als bloße 'Dynamis' erscheinen und verfehlt die schöpferische Kraft der 'Energeia', die in einem regelanwendend und regelverändernd ist.5

Man kann zwar sagen, dass dem normalen Sprechakt selbst die schöpferische Kraft fehlt, aber bedeutet es, dass gar keine Kreativität im normalen Sprachgebrauch geschehen kann?

Die Erläuterung über die Kreativität in den „Current Issues“ basiert im Wesentlichen auf Humboldts Auffassung, somit ist hier notwendig, Chomskys regelgeleitete Kreativität mit seinem bekannten Worten „das Verfahren der Sprache kann von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch machen“6 zu assoziieren. In diesem Sinne lässt sich das Konzept der regelgeleiteten Kreativität weiterhin umdeuten, dass man ohne Veränderung der Regeln im Sprachsystem auch etwas Schöpferisches schaffen kann.

Und welches regelgeleitete sprachliche Handeln ist unerschöpflich? Die Sprache gilt als eine Widerspieglung der Geistestätigkeit. Nach Humboldt7 sind „Der Stoff des Denkens und die Unendlichkeit der Verbindungen desselben“ unerschöpflich. Der Mensch ist im Laufe der Zeit immer mit neuen Gegenständen konfrontiert, die den Neuschöpfungen in der Sprache Stoff und Anregung anbieten. „Die Menge des zu Bezeichnenden und zu Verknüpfenden in der Sprache“ kann auch niemals erschöpft werden.

Auch aus der Perspektive der Kreativität beim Verstehen lässt sich mit ,,regelgeleitete Kreativität‘‘ anknüpfen. Einerseits kann der Sprecher mit oder ohne Absicht einer Äußerung seine eigene Sprecherbedeutung geben, die sich von der wörtlichen Bedeutung unterscheidet. Anderseits gilt der Hörer dabei als einen Interpreten, der sich sowohl mit Lexikon und Grammatik als auch mit ,,außersprachlichen Hintergrundinformationen‘‘8 beschäftigt, um eine von unterschiedlichen Interpretationsweisen auszuwählen bzw. den Sprecher möglichst richtig zu verstehen.

Aber kann man deshalb davon ausgehen, dass der semantische Aspekt statt des syntaktischen Aspektes bei der regelgeleiteten Kreativität hervorgehoben? Im Kapitel 3.1 und 3.2 wird dargestellt, dass die regelgeleitete Kreativität auch zur syntaktischen Uminterpretation führen kann.

Chomsky als ein wichtiger Vertreter der generativen Grammatik sieht aber den Sprachwandel als Randgebiet der linguistischen Forschung. Deswegen spielt die andere Seite - regelveränderte Kreativität - in Chomskys Werk kaum eine Rolle und wird auch nicht klar definiert. Hier wollte ich versuchen, die regelveränderte Kreativität auszuführen. Sie kann sich möglicherweise in zwei Arten gliedern – 1. sprachliches Handeln des Einzelnen jenseits der Konventionen 2. Sprachwandeldynamik in der Gruppe. Die sprachliche Abweichung des Individuums kann zwar das Sprachsystem nicht unmittelbar verändern, aber einige davon sind dennoch potenziell, mittels gruppendynamischer Mechanismen zur Erzeugung und Veränderung von Systemregeln zu führen. Das heißt nicht jede individuelle sprachliche Kreativität kann schließlich das System verändern, aber jede Veränderung der Systemregel ist jedenfalls auf die Abweichung der Einzelne zurückzuführen.

2.2 Die Kreativität in Saussure

Die Sprachwissenschaft war im 19. Jahrhundert maßgeblich von der Sprachauffassung der Junggrammatiker geprägt. Der diachrone Aspekt ist der einzig anerkannte Aspekt bei der wissenschaftlichen Betrachtung von Sprache. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der Strukturalismus als Reaktion auf die Junggrammatiker. Als Begründer der strukturalistischen Linguistik gilt Ferdinand de Saussure.

Neben der Chomskys Kreativitätsverständnisse wollte ich hier in diesem Unterkapitel noch versuchen, die sprachliche Kreativität anhand der Auffassung de Saussure zu erörtern. In seiner Auffassung hat zwar der synchronische Aspekt bei der Sprachbetrachtung das Primat vor dem diachronen Aspekt, aber gehörten für de Saussure die diachrone und die synchrone Linguistik dennoch zusammen, im Vergleich dazu, dass die Sprachwandel bei Chomsky bzw. der generativen Grammatik zu einem Randgebiet verdrängt wurde.

Eine zentrale Dichotomie bei de Saussure ist langue vs. parole. Unter langue versteht man das Sprachsystem, sie ist sozial, virtuell, abstrakt und systematisch. Unter parole versteht man den Gebrauch des Sprachsystems durch Individuen der jeweiligen Sprachgemeinschaft steht, deren Merkmale im Gegensatz zu der ,,langue‘‘ ihre Merkmale als individuell, aktualisiert, konkret und zufällig zugeschrieben werden9. Dementsprechend lässt sich das Konzept der sprachlichen Kreativität theoretisch nach der Dichotomie ,,langue vs. parole‘‘ auch als zwei Möglichkeiten – die Kreativität der langue und die Kreativität der parole – verstehen, oder man kann sie nach ihren Merkmalen als kollektive und individuelle Kreativität bezeichnen. Nun stellt sich aber die Frage, ob man die individuelle und kollektive Kreativität in der Sprache unterscheiden muss.

Das Vorhandensein eines abstrakten, für die ganze Sprachgemeinschaft verbindlichen Sprachsystems, von dem jeder Angehörige einer Sprachgemeinschaft ein Abbild in seinem Gehirn gespeichert hat, ist die Voraussetzung für die konkreten einzelnen Sprechakt: ohne System keine Anwendung des Systems. Andererseits kann die ,,langue‘‘ nur auf der Basis konkreter Äußerung.10

Nur das Vorhandensein eines Sprachsystems kann die sprachliche Verständigung in einer Sprachgemeinschaft gewährleisten, und andererseits kann das Sprachsystem nur auf der Grundlage des konkreten Sprachgebrauchs untersucht werden. Daraus ergibt sich, dass der einzelne Sprechakt und das Sprachsystem sich eigentlich gegenseitig bedingt.

Man erwirbt im Zuge seines Spracherwerbs die Kenntnisse vom Sprachsystem seiner Sprachgemeinschaft, um seine Sprechakte zu produzieren. Wenn die in der Konversation produzierte kreative Sprechakte im Diskurs den Frequenzschwellwert überschreitet, werden sie dann als Innovation im Sprachsystem konserviert.

Somit ist schlusszufolgern, dass die sprachliche Kreativität in de Saussure zunächst bei der individuellen Sprachverwendung verortet ist und dennoch später eine Rolle wie einen Auslöser der Sprachwandel-relevanten Gruppendynamik spielt. Es ist zugleich aber unmöglich, dass der Einzelne ohne die vorhandenen kollektiven Kenntnisse des Sprachsystems etwas schöpferisches erzeugen kann. Zwischen individueller und kollektiver Kreativität besteht eine gegenseitige Wechselbeziehung.

3 Konzepte in der Grammatikalisierungsforschung

3.1 Reanalyse und Analogie als Grammatikalisierungsmechanismen

Weil im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit der Zusammenhang zwischen sprachlicher Kreativität und Grammatikalisierung liegt, ist dafür der Begriff der Grammatikalisierung besonders relevant. Nach Diewald ist der Grammatikalisierungsprozess „ein Prozess, in dessen Verlauf eine linguistische Einheit grammatische Funktion(en) hinzugewinnt und zugleich lexikalische Funktion(en) abbaut. Anders formuliert: Grammatikalisierung bedeutet das ‚Grammatik-Werden‘ von linguistischen Einheiten.“11 Das heißt, in der Grammatikalisierung verliert eine sprachliche Einheit schrittweise ihre ursprüngliche Bedeutung und dann wird ihre grammatische Funktion in neuen Kontexten generalisiert.

Lehmann nimmt in seinem Beitrag die Grammatikalisierung in Bezug auf Kreativität in den Blick, indem er auf die Begrifflichkeiten von Innovation und Renovation eingeht. Nach Lehmann versteht man unter Innovation die Entstehung einer neuen grammatischen Funktion. Hingegen versteht man unter Renovation die Erneuerung einer bereits bestehenden grammatische Kategorie.12 Z.B. das „werden-Futur“ kann man als die Innovation betrachten, weil man vor seiner Entstehung über ein zukünftiges Geschehen immer im Präsens spricht. Das „werden-Futur“ ist deswegen ein ganz neues Tempus. Demgegenüber gilt das „bekommen-Passiv“ (im Kapitel 3.2) als Renovation, weil das alte Ausdrucksverfahren des Passivs wie „werden-Passiv“ und „sein-Passiv“ schon besteht. Das „bekommen-Passiv“ ist nur eine Weiterentwicklung der alten Form in einer vorhandenen grammatischen Kategorie.

Nach Szczepaniak ist die Grammatikalisierung „nichts anderes als die Lösung kommunikativer Probleme“. Die Sprecher regulieren ihre Äußerungen, um Missverständnisse zu vermeiden. Durch routinisierte, idiomatisierte und grammatikalisierte Ausdrücke lässt sich die erfolgreiche Kommunikation sichern.13 Wenn jeweilige Äußerung in einer Sprache häufig zu kommunikativen Missverständnissen führt, kommt die Grammatikalisierungsmechanismen in Betrieb, um die „Lücken“ zu füllen.

Die zentralen Mechanismen der Grammatikalisierung gelten als Reanalyse und Analogie. Unter Reanalyse versteht man „eine semantische und strukturelle Uminterpretation, die durch eine ambige Äußerung ausgelöst wird“14. Nach Ronald W. Langackers klassische Definitoin wird Reanalyse als „change in the structure of an expression or class of expressions that does not involve any immediate or intrinsic modification of its surface manifestation“15 beschrieben.

[...]


1 Runco, Mark A. und Garrett J. Jaeger: “The Standard Definition of Creativity”. In: Creativity Research Journal 24(1) 2012. S. 92–96.

2 Vgl. Chomsky, Noam: Language and Mind. Third edition. Cambridge University Press, Cambridge 1968 2006 S.110

3 Vgl. Coseriu, Eugenio: Humboldt und die moderne Sprachwissenschaft. In: Jörn Albrecht (Hrsg.): Schriften von Eigenio Coseriu, Energeia und Ergon, Bd. 1 Narr, Tübingen 1988, S.5

4 Chomsky, Noam: Current issues in linguistic theory. The Hague 1964. (6th printing 1975) S.22

5 Mustermann, Erna: Sprachliche Kreativität, online unter https://www.christianlehmann.eu/lehr/method/hausarbeit_kreativitaet.pdf

6 Vgl. Humboldt, W. v.: Werke in 5 Bänden. Bd. 3. Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt 1973. S. 477.

7 Humboldt, W. v.: „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbauens und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ (VII). In: Wilhelm von Humboldt. Gesammelte Schriften Vol. VII. Ed. Von Albert Leitzmann. Berlin 1907 (1968), S. 62

8 Vgl. Searle, John R.: Indirekte Sprechakte. In: Searle, J. R.: Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie. Übersetzt von Andreas Kemmerling. Frankfurt: Suhrkamp 1982, S. 53

9 Vgl. Helbig, Gerhard: Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. München 1973. S.35

10 Vater, Heinz: Strukturalismus und Transformationsgrammatik. Trier 1982. S.19

11 Gabriele, Diewald: Grammatikalisierung, Grammatik und grammatische Kategorien: Überlegungen zur Entwicklung eines grammatikalisierungsaffinen Grammatikbegriff. In: Stolz, Thomas (Hrsg.): Grammatikalisierung und grammatische Kategorien. Bochum 2008, S. 2

12 Vgl. Lehmann, Christian: Thoughts on grammaticalization. Revised and expanded version. First published edition. München, Newcastle. 1995a (1982) S. 17-19

13 Vgl. Szczepaniak, Renata: Grammatikalisierung im Deutschen. Tübingen 2009. S. 29

14 Szczepaniak, Renata 2009. S. 35

15 Langacker, Ronald: "Syntactic reanalysis". - In: C. N. Li (ed.): Mechanisms of Syntactic Change (Austin: University of Texas Press) 1977. S.57

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Sprachliche Kreativität und Grammatikalisierung. Das Beispiel des "bekommen-Passiv"
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
19
Katalognummer
V1126862
ISBN (eBook)
9783346487490
ISBN (Buch)
9783346487506
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grammatikalisierung, Sprachliche Kreativität, bekommen-Passiv
Arbeit zitieren
Yuting Zuo (Autor:in), 2021, Sprachliche Kreativität und Grammatikalisierung. Das Beispiel des "bekommen-Passiv", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1126862

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