Wo sind die Kräfte, die noch rechtzeitig die humanen Grundlagen der Politik gegenüber einer immer rapider sich durchsetzenden Eigengesetzlichkeit von Ökonomie und Technik reklamieren und verteidigen? Wo sind diejenigen, die bereit sind, die Schrankenlosigkeit des ökonomischen und technischen Fort¬schritts als Ursache einer globalen sozialen Katastrophe zu kennzeichnen?
Die Erde ist voll von Flüchtlingen und Vertriebenen, in Bosnien wurden Tausende gefoltert und vergewaltigt, in Nigeria und Ruanda wurden innerhalb weniger Wo¬chen eine halbe Million Menschen ermordet, in Algerien werden in einer Nacht den Bewohnern ganzer Dörfer die Kehlen durchgeschnitten. In Afrika und Asien verhungern oder sterben jährlich Millionen Menschen an Malaria und Tuberkulo¬se und anderen längst durch bessere Lebensbedingungen besiegt geglaubte Krankheiten.
Genügt hier tatsächlich eine neue Subpolitik der zur riskanten Individualisierung befreiten Bürgergesellschaft? Oder eine Weltpolitik durch die renommierten Subinstitutio¬nen wie Amnesty International, Terre des hommes oder Green¬peace? Handelt es sich hier nicht vielmehr um eine Situation, in der gerade auch die weltweit verwurzelten religiösen Institutionen politischer sein müßten als die „normale“ Gesellschaft?
Ist das nicht die Stunde, in der sich die Kirchen im Stile der indirekten Ökomene, also im gemeinsamen Widerstand gegen die Ursachen ungerechten Leidens in der Welt, in die Politik einschalten und Politische Theologie betreiben müßten? Nicht um einer träumerischen Gesinnungspolitik oder gar einer fundamentalisti¬schen Religionspolitik das Wort zu reden, sondern um eine gewissen¬hafte Weltpolitik zu stützen. Problematisch ist eine solche Forderung bei uns vor allem deshalb, weil der Begriff historisch eindeutig vorbelastet ist.
Walter Grode
Politische Theologie
Freund-Feind-Denken oder Eingedenken fremden Leids ?
(Erschienen unter dem Titel: >Das Opfer ist Gott am Kreuz. Freund-Feind-Denken oder Eingedenken fremden Leids, in >Zeichen der Zeit< / >Lutherische Monatshefte<, Heft 9, September 1998.)
Wo sind die Kräfte, die noch rechtzeitig die humanen Grundlagen der Politik gegenüber einer immer rapider sich durchsetzenden Eigengesetzlichkeit von Ökonomie und Technik reklamieren und verteidigen? Wo sind diejenigen, die bereit sind, die Schrankenlosigkeit des ökonomischen und technischen Fortschritts als Ursache einer globalen sozialen Katastrophe zu kennzeichnen?
Die Erde ist voll von Flüchtlingen und Vertriebenen, in Bosnien wurden Tausende gefoltert und vergewaltigt, in Nigeria und Ruanda wurden innerhalb weniger Wochen eine halbe Million Menschen ermordet, in Algerien werden in einer Nacht den Bewohnern ganzer Dörfer die Kehlen durchgeschnitten. In Afrika und Asien verhungern oder sterben jährlich Millionen Menschen an Malaria und Tuberkulose und anderen längst durch bessere Lebensbedingungen besiegt geglaubte Krankheiten.
Genügt hier tatsächlich eine neue Subpolitik der zur riskanten Individualisierung befreiten Bürgergesellschaft? Oder eine Weltpolitik durch die renommierten Subinstitutionen wie Amnesty International, Terre des hommes oder Greenpeace? Handelt es sich hier nicht vielmehr um eine Situation, in der gerade auch die weltweit verwurzelten religiösen Institutionen politischer sein müssten als die „normale“ Gesellschaft?
Ist das nicht die Stunde, in der sich die Kirchen im Stile der indirekten Ökomene, also im gemeinsamen Widerstand gegen die Ursachen ungerechten Leidens in der Welt, in die Politik einschalten und Politische Theologie betreiben müssten? Nicht um einer träumerischen Gesinnungspolitik oder gar einer fundamentalistischen Religionspolitik das Wort zu reden, sondern um eine gewissenhafte Weltpolitik zu stützen. Problematisch ist eine solche Forderung bei uns vor allem deshalb, weil der Begriff historisch eindeutig vorbelastet ist.
[“Wer Menschheit sagt, will betrügen“]
Als Gegner der Weimarer Republik und der parlamentarischen Demokratie hatte Carl Schmitt (1888-1985) seine politische Theorie im wesentlichen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg unter Rückgriff auf antiaufkärerisches Gedankengut des französischen Traditionalismus entwickelt. „Wer Menschheit sagt, will betrügen,“ lautete Schmitts berühmtes Diktum. Seine 1923 erschienene „Politische Theologie“ setzte von Anfang an nicht auf die Universalität der Menschenrechte, sondern auf den „Universalismus der Erbsünde“.
Carl Schmitts Skepsis galt der Fähigkeit des Menschen zur demokratischen Selbstregierung, sein politisches Grundprinzip war das der Freund-Feind-Konstellation, und seine Vorstellung von einer Gesellschaft gingen von einem Gemeinwesen aus, das allemal latent in Bürgerkriege verstrickt ist und deshalb, zur Niederhaltung dieser konstitutionellen Gefahr, des starken Staates bedarf. Deshalb erhob Schmitt die resignierende Feststellung von Thomas Hobbes „Auctoritas, non veritas facit legem!“ zur klassischen Formel des von ihm vertretenen Dezisionismus. Für ihn war es durchaus legitim, dass staatliche Autorität, „um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht“.
Theologisch war Carl Schmitts „politische Theologie“ allenfalls insofern, als sie alle juristischen Begriffe als säkularisierte theologische Begriffe verstand [vgl. Helmut Kremers, in: LM 1/93] und den Katholizismus als Paradigma prädemokratischer Lebensformen pries.
In der gegenwärtigen (nicht nur deutschen) Szene gewinnt die politische Theologie Carl Schmitts zunehmend wieder an Gewicht. Selbst für einen Teil der ehemaligen deutschen Linken ist der Universalismus jeder Menschenrechtsethik die eigentliche „moralische Falle“ geworden, in einer Zeit, da doch das Bürgerkriegsproblem in jeder Hinsicht als vordringlich zu gelten habe. So hat nach dem Urteil Hans Magnus Enzensbergers der Bürgerkrieg längst in den Metropolen Einzug gehalten. „Seine Metastasen gehören zum Alltag der großen Städte. Der Bürgerkrieg kommt nicht von außen, er ist kein eingeschleppter Virus, sondern ein endogener Prozess.“
Enzensberger steht damit keineswegs allein. Denn nur auf den ersten Blick besteht ein Widerspruch zwischen seinem Mentekel vom Bürgerkrieg und Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Und diese Sicht wiederum kreuz sich fatal mit jenem existentialpolitischen Dezisionismus, den die Theoretiker der „Riskanten Freiheit“ propagieren. Weil der westliche Sozialstaat jahrzehntelang darüber hinweggetäuscht habe, dass die Weltgeschichte ein permanenter Ausnahmezustand sei, müsse Abschied genommen werden vom Traum der (universellen) Gerechtigkeit, der Kultur für alle und dem Wohlstand für jeden.
[ Der Verlust unseres Gedächtnisses]
Ohne Vorsatz, als sei es das zynische Gesetz des Fortschritts, vergessen moderne Gesellschaften den fürchterlichen Preis, den frühere Generationen für ein Minimum an sozialer Gleichheit zahlen mussten, bis ihr Kampf die „Wirklichkeit der Freiheit“ erkennen ließ. Der Gang der Geschichte, so Theodor W. Adorno, lässt „die Menschen Idee und Wirklichkeit der eigenen Freiheit vergessen“. Die Spuren sind verweht. Es fehlt nichts.
Friedrich Nietzsche, der im Hintergrund der geistigen Situation der Zeit längst Hegel und Marx abgelöst hat, knüpfte seine „neue Art zu leben“, mit der er einen Schlussstrich unter das Christentum und alle monotheistischen Religionen zu ziehen suchte, an den Triumph der kulturellen Amnesie. „Bei dem kleinsten aber und bei dem größten Glücke ist es immer eins, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessenkönnen ... Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist ...“ Die Vision vom Glück der Menschen gründet nun ganz schlicht im Vergessenkönnen, in der Amnesie der Sieger oder eben auch der Durchgekommenen.
Und Jean-Francois Lyotard hat zu Recht betont, dass es eigentlich zwei Arten des Vergessens gibt: zu einen die Vernichtung sämtlicher Spuren, so dass nichts mehr erinnert werden kann (wie das die Nazis versuchten); zum anderen aber auch die „perfekte“ Erinnerung, nämlich die vermeintliche Gewissheit, das Geschehen in und mit seiner (nachträglichen) Repräsentation aufgehoben und erklärt zu haben.
Die total vernetzte Informationsgesellschaft, in die wir heute immer mehr hineinwachsen, kann diesem Vergessen nicht widerstehen. Sie ist in Gefahr, zur eigentlichen Vergessensmaschine zu werden; denn das „Speichern“ von Informationen ist eben kein Erinnern; „Speichern“, sagt Enzensberger, „das heißt Vergessen“.
Gedächtnislosigkeit: Dieser Vorwurf trifft nicht nur den Brutalliberalismus, der glaubt, eine Gesellschaft könne im Selbstlauf des Egoismus zusammengehalten werden. Vergesslich ist auch die Postmoderne, die sich selbst seit einiger Zeit lieber als „Zweite Moderne“ kennzeichnet. Denn ihre erlösende Botschaft von der „Erfindung der Freiheit“ (Ulrich Beck) ist ebenso ein Art „existentialpolitischer Dezionismus“ und damit nur eine andere Form von Gedächtnislosigkeit.
Scheint es doch, als würden Becks „Kinder der Freiheit“ mit trauriger Fröhlichkeit durch Leben hetzen, im leidensleichten Vollgenuss ihrer bedingungslosen Modernität. Sind unsere posttraditionalen Diskursgesellschaften wirklich über die anonyme Herrschaft des Marktes, des Tausches und der Konkurrenz hinausgekommen? Kennen sie noch eine Vision der Verantwortung des Einen für den Andern vor jedem Tausch- und Konkurrenzverhältnis?
[ Das Leiden der Anderen]
Johann Baptist Metz, der Nestor der neuen Politischen Theologie, ist überzeugt davon, dass liberale Gesellschaften zerfallen, wenn es ihnen nicht gelingt, das System negativer Freiheit und die Tauschverhältnisses des Marktes zu transzendieren. Damit hofft er nicht auf die Wiederverzauberung des Kapitalismus aus dem Geist einer mystischen Religiosität. Und damit meint er nicht eine psychotherapeutische Religion ohne Gott oder eine Gottesrede ohne Bergpredigt.
Der Unterschied zwischen Johann Baptist Metz und Carl Schmitt ist einer ums Ganze: Schmitt gibt dem autoritären Staat den Segen gegen die Freiheit. Metz fordert die Erinnerung der Gesellschaft aus Freiheit. Die alte Politische Theologie droht mit der Erbsünde und hält es mit den Siegern, während die neue, das Bewusstsein der Sünde wachhält und den Opfern anamnetisch verpflichtet ist.
Es waren die Erfahrungen in der sog. Paulusgesellschaft, die sich bereits in den frühen 60er Jahren dem Dialog zwischen Christen und Marxisten gewidmet hatte, dann besonders Ernst Bloch und die Frankfurter Schule, die Johann Baptist Metz „herauspolitisierten“ aus dem existentialen und tranzendentalen Zauberkreis der Theologie. Die Auseinandersetzung mit dem Marxismus hat er eigentlich immer als Auseinandersetzung mit der gesellschaftskritischen Dramatisierung des Theodizeethemas verstanden. Mit jener von Leibniz zuerst gestellten (alten) Theodizeefrage: Wie kann ein Gott, von dem es heißt, er sei allgütig und liebe die Menschen, einen Weltlauf zulassen, in dem so viel Blut und Tränen fließen? Wie kann er das Böse zulassen, wenn er doch - und das soll doch auch von ihm gelten - allmächtig ist?
Leibniz zieht mit seiner Theodizeefrage Gott vor Gericht, mit seiner Theodizeeantwort spricht er ihn wieder frei: Gott weiß es, er ist nämlich auch allwissend. Wir aber wissen es nicht. Aus Bösem entsteht Gutes. Zwar ist die Welt nicht ein Paradies - es gibt das Böse zweifellos. Aber das Böse ist nötig. Ohne Hunger keine Arbeit, ohne Arbeit kein Leben. Wir leben zwar nicht in einer durchgängig guten, aber „in der besten aller möglichen Welten“.
Die Neue Politische Theologie dagegen will an der Frage nach der Theodizee stets und unbedingt festhalten. Sie ist für Metz die eschatologische Frage schlechthin. Sie verhindert, „dass die Schöpfung identitätsphilosophisch, universalgeschichtlich, evolutionslogisch oder wie immer auf ihr gelingendes Ende hin durchsichtig gemacht werden kann“. Hier wird Eschatologie, das heißt der Blick über die Ränder der Realität, zur negativen Theologie der Schöpfung. Gott, behauptet Metz, passe einfach nicht zu uns, weder zu unseren klerikalen Phantasien noch zu unseren Selbstverwirklichungsphantasien.
Johann Baptist Metz will der Politik und der politischen Kultur nicht - wie das jeglicher Pragmatismus empfiehlt - diese Theodizeeperspektive ersparen, er will sie freilich auch anders als ehedem der Marxismus zur Sprache bringen: nämlich immer und unbedingt auch als Frage nach dem Leid der Anderen, dem Leid gar der Feinde, und als Frage nach dem vergangenen Leiden, an die kein noch so leidenschaftlicher Kampf der Lebenden versöhnend rühren kann.
Am eindrucksvollsten und eigentlich auch am hoffnungsvollsten begegnete Metz der Geist der Neuen Politischen Theologie in Lateinamerika. Dort in den Favelas, wo die basisgemeindliche Arbeit „ganz unten“ ansetzt, dort, wo einem die fromme Metaphysik im Halse stecken bleibt, wo einem das sprachlose Elend das Wort verbietet und zunächst nur das Dabeisein zählt, gehört, zum basiskirchlichen Leben etwas, was bei uns, in einer bürgerlich sozialisierten Kirche, nicht (mehr) gegeben ist, dass nämlich ein sozialer und kultureller Kampf um Identität Hand in Hand geht mit dem Aufbau und der Erfahrung religiöser Identität.
Gleichzeitig begegnete Metz in den Gesichtern der Indios, die geprägt sind von den dunklen Schatten dessen, was man dort die andinische Mystik nennt, eine unsagbare Trauer. „Es regnet Trauer in den Anden“ steht in seinem andinischen Tagebuch. Diese Trauerantlitze der Indios haben nichts Romantisches an sich. Die Indios tun sich nicht eigentlich deswegen so schwer mit unserer westlichen Zivilisation, weil sie „unterentwickelt“ sind, sondern, weil sie anders sind und dieses Anderssein seine zu respektierenden Geheimnisse hat.
In diesem Sinne kleben an Worten wie „Befreiung“ und „Basisgemeinde“ zu viel Schmerz und Lebensrisiko, dass Metz vor einem ungenierten Gebrauch hierzulande nur warnen kann.
Anamnetische Solidarität, historisches Eingedenken: Die neue Politische Theologie macht die „unvergeßliche wie unbeantwortbare Theodizeefrage“ zur stummen Provokation der Lebenden. Das Opfer, der Gefolterte, die Ermorderte ist Gott am Kreuz. Während die halbierte Vernunft, jene Vernunft also, die (fast) alle unsere technologischen Fortschritte hervorgebracht hat, nur selbstbezogen vernünftig ist, entdeckt die Religion im Antlitz des Anderen das Abbild des Absoluten.
Ohne das Eingedenken der schrecklichen Opfer, ohne die Imagination des Anderen, kann die gesellschaftliche Vernunft gar nicht wissen, warum sie vernünftig sein soll - warum eine Gesellschaft menschlich sein soll. Deshalb ist um unserer eigenen unverwechselbaren Individualität willen, moralische Selbstbindung und Solidarität dem fremden Leid gefordert. Dies immer wieder gegenüber Politik und politischer Kultur zur Sprache zu bringen, sollte (mehr denn je) gesellschaftliche Aufgabe und Chance der Kirchen sein.
Umgekehrt ist das Eingedenken fremden Leids, vielleicht die einzige Ressource des umanenHuH Humanen, die der demokratischen Gesellschaft auf Dauer verbleibt. Lebt doch der moderne Rechts- und Verfassungsstaat von Voraussetzungen, die er selbst weder produzieren noch garantieren kann und die er deshalb ohne Resitutionsmöglichkeiten zunehmend verbraucht.
Auch die Stabilität der Demokratie nährt sich von dem Entsetzen, das ihrer Einrichtung vorausging. Die Demokratie, so sagt der japanische Philosoph Kenichi Mishima, „braucht wohl das Bewusstsein, dass sie kein Versöhnungsangebot an die Opfer von Vergangenheit und Gegenwart ist, sondern auf einer Grundlage beruht, aus deren Tiefe stets Klagen und Schreie, Heulen und Jammern, Zittern und Schluchzen in das zivilisatorische Gehege aufsteigen.“ In diesem Sinne ist das ungebrochene Interesse der europäischen Öffentlichkeit an den Spuren des Grauens, das Nationalsozialismus und Stalinismus hinterlassen haben, vor allem ein Zeichen ihrer demokratischen Reife. Sowohl die Diskussion über die Komplizenschaft der neutralen und besetzten Länder mit der NS-Herrschaft als auch die Debatte über das „Schwarzbuch des Kommunismus“ wären so gesehen, nur historisch angelegte Selbstverständigungsversuche gegenwärtiger Demokratien in Europa.
- Arbeit zitieren
- Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 1998, Politische Theologie: Freund-Feind-Denken oder Eingedenken fremden Leids?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112723