Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Phänomenologische Ontologie 2.1
An-Sich-Sein und Für-Sich-Sein 2.2
Freiheit
2.3 Freiheitsbewusstsein
2.4 Unaufrichtigkeit
3. Die Kindheit eines Chefs
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Hernach, wenn ich wieder dran denke und mir die Fabel vom Pferde einfällt, das, seiner Freiheit ungeduldig, sich Sattel und Zeug auflegen läßt und zuschanden geritten wird - ich weiß nicht, was ich soll. - und, mein Lieber! Ist nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Veränderung des Zustands eine innere, unbehagliche Ungeduld, die mich überallhin verfolgen wird? (Goethe 1825, S.106f.)
Die Freiheit als Grund zur Verzweiflung trifft in der Literatur nicht nur den jungen Weither - auch eine andere Romanfigur sieht sich vor der eigenen Freiheit stehen und der Frage, was damit anzufangen sei. Lucien Fleurier, Protagonist der Erzählung „Die Kindheit eines Chefs“ von Jean-Paul Sartre, wählt den Weg in die Unaufrichtigkeit. Indem er sich selbst verdinglicht, zu einem Rechtsextremen wird, scheint er den Ausweg aus dieser immer wiederkehrenden unbehaglichen Ungeduld gefunden zu haben. Warum dieser Weg jedoch einer der Unaufrichtigkeit ist, ist Gegenstand dieser Arbeit. Jean-Paul Sartre, einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, gründet mit der Frage nach der grundlegenden Freiheit des Menschen eine neue philosophische Strömung - den Existenzialismus. In dieser Philosophie geht es um nichts weniger, als den zur Freiheit verurteilten Menschen, der sich vor seiner eigenen Existenz wiederfin- det, mit der Verantwortung, sich selbst zu entwerfen. Grundlage dieser Arbeit wird Sartres Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“, sowie die Erzählung „Die Kindheit eines Chefs“ sein.
Zunächst wird allgemein der Versuch einer phänomenologischen Ontologie Sartres vorgestellt, der sich in einer Differenzierung zweier Seinsbereiche gründet - dem „An- Sich-Sein“ und dem „Für-Sich-Sein“. Aus der Bestimmung des Für-Sich-Seins ergibt sich der Freiheitsbegriff Sartres, der sich aus der Faktizität und Transzendenz der menschlichen Realität speist. Offenbart in dem Gefühl der Angst, wird die Freiheit zu einem Zustand, dem beispielsweise durch die Unaufrichtigkeit zu entgehen versucht wird. Diese Kernaspekte der existenzialistischen Philosophie Sartres werden schließlich auf den Werde-, Verhaltens-, und Gedankengang des Lucien Fleurier angewendet, um ihn als Illustration der Unaufrichtigkeit nachzuzeichnen.
2. Phänomenologische Ontologie
In der Einleitung zu „Das Sein und das Nichts“ unternimmt Sartre bedeutende Bestimmungen für eine phänomenologische Ontologie. Ausgehend von der Phänomenologie Edmund Husserls schreibt er zunächst dem Phänomen eine relative Existenz zu, da es das Bewusstsein voraussetze, dem es erscheine (vgl. Bonnemann 2020, S.213) bevor er den Schritt zu einer Onotolgie wagt. Dieser besteht aus der Definition, dass das Sein eben das sei, was unabhängig bestehe und nicht erscheinen müsse, um zu sein (vgl. Bonnemann 2020 S.213). Sartre nennt dies das „transphänomenale Sein“ (Bonnemann 2020, S.213).
„Das Sein ist wahrnehmbar, und ein Sein ist es, insofern es nicht nur ist, weil es wahrgenommen wird“ (Bonnemann 2020, S.214) ist der Grundsatz einer phänomenologischen Ontologie, der weiterer Erörterung bedarf: Sartre argumentiert gegen die Subjektabhängigkeit des Seins der Phänomene, welche ihren Ausdruck in der Bestimmung finde, bloß “'Intrasubjektiver Seinsmodus' und darum an ihm selbst nur Nichts“ (Bonnemann 2020, S.213) sei, mit der Erfahrung. Eine creatio ex nihilo aus dem erkenntnisunabhängigen Modus des Seins schließe aus, dass etwas erscheine, das nicht Bewusstsein sei und eben dies impliziert, dass das Sein des Phänomens als unabhängig erscheinen müsse (vgl. Bonnemann 2020, S.214). Das Phänomen sei der Nexus des „erkennendem Bewusstsein und [dem] erkannten Objekt“ (Suhr 2015, S.137). So differenziert Sartre die Seinsbereiche des „An-Sich-Sein“ als das „transphänomenale Sein des Objekts“ (Suhr 2015, S.137) und das „Für-Sich-Sein “als das „transphänomenale Sein des Bewusstseins“ (Suhr 2015, S.137).
2.1 An-Sich-Sein und Für-Sich-Sein
“Das Sein ist. Das Sein ist an sich. Das Sein ist das, was es ist” (Sartre 1993, S.44) konstatiert Sartre als die Hauptmerkmale des An-Sich-Seins und konkludiert “ungeschaffen, ohne Seinsgrund [...] ist das An-sich-sein zu viel für alle Ewigkeit” (Sartre 1993, S.44).
Damit spielt Sartre darauf an, dass das An-Sich-Sein immer Seinsfülle ohne Negation ist, eben das was es ist, ist (vgl. Suhr 2015, S. 93).
Demgegenüber steht der Seinsmodus des Für-Sich-Sein, in dessen Opposition die Be- grifflichkeit der Positivität und Negation deutlicher wird. Das Für-Sich-Sein definiert Sartre als „das seiend, was es nicht ist, und nicht das seiend, was es ist.“ (Sartre 1993, S.42). Sein Charakteristikum ist also die „Nicht-Identität“ (Suhr 2015, S.97) mit sich selbst. Dies begründet Sartre mit der Struktur des Bewusstseins, die sich durch den Verlust der Unmittelbarkeit der Erfahrung ausdrückt. Durch diesen Verlust kann das Erleb- te selbst zum Gegenstand des Bewusstseins gemacht werden, wird also reflexiv und verhält sich zu sich selbst (vgl. Suhr 2015, S.90). Dadurch wird die Identität mit dem Erlebten gebrochen (Suhr 2015, S.143) und eben diese Distanz zeichnet die Anwesenheit des Bewusstseins bei sich aus (vgl. Suhr 2015, S.164). Diesen Spalt bezeichnet Sartre als das Nichts und leitet ab, dass durch den Menschen das Nichts in die Seinsfülle des An-Sich-Seins gerät (vgl. Kampits 2004, S.48) und das Spannungsfeld der menschlichen Freiheit begründet, die das Wesen des Menschen ausmacht: „Der Mensch ist keineswegs zunächst, um dann frei zu sein, sondern es gibt keinen Unterschied zwischen dem Sein des Menschen und seinem „'frei-sein'“ (Sartre 1993, S.84).
2.2 Freiheit
Mit Einbezug der Zeitlichkeit des menschlichen Seins offenbart sich in der Bestimmung des Für-Sich-Sein als das seiend, was es nicht ist, und nicht das seiend, was es ist, die Wesentlichkeit der Freiheit. Das Für-Sich-Sein als nicht das seiend, was es ist, bezieht sich auf die Vergangenheit, das Für-Sich-Sein als seiend, was es nicht ist, auf die Zukunft. Kombiniert man diese beiden Positionen, beziehen sie sich auf die Gegenwart des Für-Sich-Seins als das seiend, was es nicht ist, und nicht das seiend, was es ist (vgl. Kampits 2004, S.53). Die Freiheit, die sich daraus ergibt, ist folgende: „Das Nichts, das zwischen das Ich, das ich jetzt bin, und das Ich, das ich sein werde, hineingeglitten ist, ist die Freiheit, mich zu entscheiden, mich zu wählen“ (Suhr 2015, S.151).
Dabei geht die Wahl der Existenz an-sich der Freiheit nicht voraus, denn „Wenn frei sein sein eigener Grund sein bedeutete, müsste die Freiheit über die Existenz ihres Seins entscheiden.“ (Sartre 1993, S.838), was in einem infiniten Regress enden würde. „Tatsächlich sind wir eine Freiheit, die wählt, aber wir wählen nicht, frei zu sein: wir sind zu Freiheit verurteilt“ (Sartre 1993, S.838).
Das bedeutet, dass das Für-Sich-Sein, was im Grunde frei ist, an eine Faktizität gebunden ist, dessen Ursprung es nicht ist (vgl. Suhr 2015, S.165).
Das Dilemma der menschlichen Existenz enthüllt sich:
Das Für-Sich-Sein ist „immer an die Faktizität gebunden, es ist immer „in Situation“ (Suhr 2015, S.165), beispielsweise an das Faktum „von bestimmten Eltern, in einem bestimmten Land, zu einem bestimmten Zeitpunkt geboren“ (Suhr 2015, S.165) zu sein. Doch besteht die Freiheit als „fortwährender Moment des Losreißens, von dem, was ist“ (Kampits 2004, S.48), das Für-Sich-Sein ist eben nicht das, was es ist. Das An-Sich- Sein der Situation determiniert nicht das Für-Sich-Sein. Das Für-Sich-Sein „entwirft sich [...] auf sein Sein“ (Suhr 2015, S.167), doch ist seine Grundstruktur auch, nicht das zu sein, was es ist. Eine Selbstverwirklichung, also eine Identität mit dem Entwurf, würde zu einer Verdinglichung führen, „Es würde heißen, für das Für-Sich den Zustand des An-sich anzustreben, damit aber genau das aufzuheben, was das Wesen des Für-sich ausmacht“ (Suhr 2015, S.167). Es bleibt ein „von Natur aus unglückliches Bewusstsein“ (Suhr 2015, S.168).
2.3 Freiheitsbewusstsein
Das Moment der Freiheit des Für-Sich-Seins findet sich nicht etwa in einem euphorischen Gefühl der Befreiung dessen, was ich nicht bin. Vielmehr liegt die konkrete Erfahrung der Freiheit in der Angst: „In der Angst gewinnt der Mensch Bewusstsein von seiner Freiheit, oder, wenn man lieber will, die Angst ist der Seinsmodus der Freiheit als Seinsbewusstsein, in der Angst steht die Freiheit für sich selbst in ihrem Sein in Frage.“ (Kampits 2004, S.48). Sartre entwickelt diesen Gedanken an dem Beispiel eines Menschen, der vor einem Abgrund steht. Zunächst findet dieser sich vor einem Abgrund wieder, der für ihn eine konkrete Lebensgefahr darstellt, die durch von ihm unabhängige Möglichkeiten, wie beispielsweise das Ausrutschen auf einem Stein, zur Realität werden könne. Er erfasst sich selbst als „Gegenstand der Welt“ (Suhr 2015, S.146), bis er sich auf das besinnt, was er tun kann, was seine Möglichkeiten sind: „ich entwerfe vor mir eine gewisse Anzahl künftiger Verhaltensweisen, die die Gefahren der Welt von mir fernhalten sollen.“ (Suhr 2015, S.147). Mit dieser Einsicht manifestiert sich jedoch, dass es seine Möglichkeiten sind, und diese keine determinierende Wirkung auf sein tatsächliches Verhalten haben, denn „Wenn nichts mich zwingt, mein Leben zu retten, hindert mich nichts, mich in den Abgrund zu stürzen“ (Suhr 2015, S.152).
Hier erscheint die Grundstruktur des Für-Sich-Seins: „Das entscheidende Verhalten wird aus einem Ich hervorgehen, das ich noch nicht bin. So hängt das Ich, das ich bin, an ihm selbst von dem Ich ab, das ich noch nicht bin, und zwar genau in dem Maß, wie das Ich, das ich noch nicht bin, nicht von dem Ich abhängt, das ich bin.“ (Kampits 2004, S.49).
Die Angst, die sich hieraus ergibt, ist die, dass es keinen Anhaltspunkt außerhalb meiner Selbst, und nicht einmal in mir Selbst, dafür gibt, die Wahl, die ich treffen werde, zu rechtfertigen. Im Gegenteil liegt es an mir selbst, mich aus der jeweiligen Situation heraus zu erschaffen: „Bei keinem Wert finde ich und kann ich Zuflucht finden, vor der Tatsache, dass ich es bin, der die Werte am Sein erhält; nichts kann mich gegen mich selbst sichern, abgeschnitten von der Welt und meinem Wesen durch dieses Nichts, das ich bin, habe ich den Sinn der Welt und meines Wesens zu realisieren: ich entscheide darüber, allein, unlegitimierbar, und ohne Entschuldigung“ (Kampits 2004, S.50). Das bedeutet also, dass der Mensch die volle Verantwortung für sein Handeln und seine Entscheidungen trägt, die darauf beruhen, dass er selbst derjenige ist, der den Dingen in der Welt Bedeutung zuschreibt: „Durch die interne Negation erhellt ja das Für-sich die Existierenden in ihren gegenseitigen Beziehungen durch den Zweck, den es setzt, und entwirft diesen Zweck von den Bestimmungen her, die es im Existierenden erfaßt.“ (Sartre 1993, S. 836).
2.4 Unaufrichtigkeit
Mit der Freiheit, die die menschliche Realität ausmacht, geht die Verantwortung einher, sich selbst zu entwerfen, also auf jener Grundlage zu handeln, die ich mir selbst gegeben habe. Dies kann dazu führen, dass die Freiheit, die durch die Angst bewusst wird, zu verbergen gesucht wird, indem sich in die Unaufrichtigkeit begeben wird (vgl. San- toni 2003, S.65). Zunächst bestimmt Sartre die Unaufrichtigkeit als Lüge gegen sich selbst, doch unterscheidet er das Sich-Selbst-Belügen von der Lüge im Allgemeinen (Sartre 1993, S.120). In der Lüge „behauptet das Bewusstsein seine Existenz als eine vor anderen verborgene“ (Santoni 2003, S.65), doch ist in der Unaufrichtigkeit „derjenige, der lügt und derjenige, dem die Lüge erzählt wird, [...] ein und derselbse“ (San- toni 2003, S.65). Dieser Zustand wird durch die Grundstruktur des Für-Sich-Seins ermöglicht, die nicht das ist, was sie ist und das ist, was sie nicht ist (Santoni 2003, S.67). In der Unaufrichtigkeit wird die „doppelte Eigenschaft des menschlichen Seins, eine Faktizität und eine Transzendenz zu sein“ (Sartre 1993, S.134) in dem Sinne gegeneinander ausgespielt, dass die Bedeutung des Verhaltens in der Situation von mir selbst vermieden wird: „Bad faith is the attempt to avoid admitting to oneself the meaning of one's behavior, even as one is engaged in.“ (Crowell 2012, S.217).
Einerseits „kann der Unaufrichtige die Transzendenz benutzen, um sich zur Faktizität erstarren zu lassen.“ (Dandyk 2004, S.135) und anderseits kann er „auch mittels der Transzendenz die Faktizität leugnen.“ (Dandyk 2004, S.135). Sartre untersucht diese Verhaltensweise anhand eines Beispiels einer koketten Frau, die die Annäherungsversuche ihres Begleiters nicht realisieren möchte, da diese sie kränken würden (vgl. Sartre 1993, S.133). So erkenne sie in dem Satz „,Ich bewundere Sie sehr'“ (Sartre 1993, S.133) nicht die tatsächlichen Absichten ihres Begleiters, sondern versteht ihn wortwörtlich und reduziert sie auf den Modus des An-Sich-Seins (vgl. Sartre 1993, S.134). Gleichzeitig verspürt sie Lust auf seine Begierde, die allerdings gegen ihren Anspruch auf die Achtung ihrer Person steht (vgl. Sartre 1993, S.133). Als der Begleiter im Begriff ist ihre Hand zu nehmen, befindet sie sich in der Situation die Annäherungsversuche zurückweisen, oder darauf eingehen zu können. Sie überlässt ihm seine Hand, doch fängt sie gleichzeitig an über ihr Leben zu erzählen und „zeigt sich unter ihrem wesentlichen Aspekt: eine Person, ein Bewusstsein“ (Sartre 1993, S.134). So objektiviert sie ihr Erlebnis, und verschleiert die Bedeutung ihres Verhaltens: „Die Frau ist dieses Verhalten und steht diesem Verhalten nicht als Erkennender gegenüber“ (Dandyk 2004, S.121). Sie verdinglicht sich in dem Modus, dass sie die transzendierene Möglichkeit einer respektierten Person ist und verwandelt die Faktizität der Begierde des Begleiters in eine transzendente Möglichkeit um, in nicht das seiend, was sie ist (vgl. Santoni 2003, S.68).
Dabei ist dies nicht die einzige Form der Unaufrichtigkeit. Neben dem Spiel mit der Faktizität und Transzendenz der menschlichen Realität gibt es weitere Variationen, die das Für-Sich-Sein und Für-Andere-Sein, sowie das Innerweltlich-Sein und das In-der- Welt-sein, für sich so zu Gebrauch machen, „die menschliche Realität als ein Sein zu konstituieren, das das ist, was es nicht ist, und das nicht das ist, was es ist.“ (Sartre 1993, S.138) (vgl. Sartre 1993, S.137f.). Die Variante, die im Kontext dieser Arbeit von Relevanz ist, ist jene, in der die Zeitlichkeit der menschlichen Realität so konstruiert wird, dass behauptet wird, „dass ich das bin, was ich gewesen bin (der Mensch, der absichtlich bei einer Periode seines Lebens stehenbleibt und sich weigert, die späteren Veränderungen in Betracht zu ziehen), und dass ich nicht das bin, was ich gewesen bin (der Mensch, der sich angesichts von Vorwürfen oder Groll völlig von seiner Vergangenheit lossagt und auf seiner Freiheit und seiner ständigen Re-kreation besteht).“ (Sartre 1993, S.137f.).
[...]