Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der sprachgeschichtliche Kontext: Die Emanzipation der ,spanischen‘ romance vom Lateinischen
3. Das spanische Sprachbewusstsein zwischen Renacimiento und Siglo de Oro
4. Antonio de Nebrija und die Gramätica de la lengua castellana von 1492
4.1 Nebrija als „humanista completo“
4.2 Die Prologe der Gramätica de la lengua castellana als Ort apologetischer Sprachreflexion
5. Juan de Valdés: Der Diälogo de la lengua von 1535 in kontrastiver Position zu Nebrija
5.1 Externer Vergleich
5.2 Interner Vergleich
5. Fazit
6. Bibliographie
7. Abbildungsverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
Für die stark umstrittene Unabhängigkeitsbewegung Kataloniens, die aktuell vor allem die Politik des spanischen Zentralstaats, aber auch die der EU beschäftigt, spielt die katalanische Sprache eine bedeutende Rolle. So wird die regionale Amtssprache nicht nur als wichtiges Mittel betrachtet, um sich endgültig von Spanien absetzen zu können, sondern ist auch von großer Bedeutung für das identitäre Bewusstsein vieler Katalanen (vgl. Die Welt 2017). Demnach ist ein sprachliches Bewusstsein stets in Verbindung mit politischer Macht zu sehen und stellt nicht nur ein Gebiet der Sprachwissenschaften dar. Dies ist insbesondere am Beispiel der Unabhängigkeitsbestrebung Kataloniens und des Katalanischen zu sehen, die sich gegen den spanischen Staat und das Kastilische1 richten. Das castellano, das sich erst im Laufe der historischen Expansion und des Aufstiegs Spaniens zu einer der ersten Kolonialmächte zum ,Spanischen‘ entwickeln sollte, zählt heute aufgrund der hohen Sprecherzahlen und der geographischen Verbreitung zu den großen Weltsprachen.2
Obwohl Institutionen wie die Real Academia Espanola (RAE) regelmäßig aktualisierte Grammatiken der spanischen Sprache publizieren, um dem Sprachbewusstsein einen normierten Rahmen zu geben, kommt es dennoch zu Konflikten zwischen Sprechern des castellano und einer der sprachlichen Varietäten auf der Iberischen Halbinsel. Dies verdeutlicht die Aktualität des Sprachbewusstseins Spaniens sowohl in sprachlicher als auch politischer Hinsicht. Es bietet sich daher für das nähere Verständnis an, den Ursprung des spanischen Sprachbewusstseins historisch zu untersuchen.
Dieses Vorhaben ist zeitlich auf das Siglo de Oro zu begrenzen, da das spanische Reich damals einen bedeutenden machtpolitischen Wandlungsprozess erfuhr und parallel dazu auch die ersten schriftlichen Zeugnisse eines ,spanischen‘ Sprachbewusstseins entstanden. Um möglichst umfassende Erkenntnisse dazu zu erlangen, hat diese Arbeit zum Ziel, zwei historische Zeugnisse dieses Bewusstseins im Sinne der kontrastiven Linguistik gegenüberzustellen.
Die Gramätica de la lengua castellana3 von Antonio de Nebrija, der oft als „fundador de la Filolog^a romanica” (Sälzer 2016, S. 48) bezeichnet wird, stammt aus dem Jahr 1492 und war die erste Grammatik des Kastilischen. Die Prologe der GC sollen im Folgenden hinsichtlich des Sprachbewusstseins analysiert und anschließend mit dem Diälogo de la lengua4 verglichen werden. Letzterer wurde im Jahr 1535 von Juan de Valdés in Neapel verfasst und stellt seine einzige literarische Auseinandersetzung mit dem Kastilischen dar.
Eine Gegenüberstellung der Prologe der GC mit diesem Werk eignet sich zum einen, weil Prologe im Siglo de Oro die Funktion als „Ort der apologetischen Reflexion“ (Braselmann 1991, S. 175), also der Begründung des im Folgenden untersuchten Gegenstandes, innehatten. Zum anderen gerieten die GC und der DL nach ihrer Veröffentlichung in Vergessenheit, avancierten aber mit ihrer Wiederentdeckung zu wichtigen sprachgeschichtlichen Zeugnissen dieser Zeit. Aus diesem Grund wurden beide Werke seit dem 20. Jahrhundert mehrfach editiert und mit diversen, teils sehr ausführlichen Einleitungen veröffentlicht. Dennoch sind Nebrija und Valdés bisher nur bezüglich bestimmter Aspekte miteinander in Verbindung gebracht worden - eine Herausarbeitung der grundlegenden sprachkonzeptionellen Unterschiede bietet sich daher an. Diese Arbeit nimmt bis auf wenige Ausnahmen Bezug auf Antonio Quilis‘ Edition der GC, weshalb Textverweise folgend mit GCQ abgekürzt werden. Gleiches gilt für Juan Lope Blanchs Edition des DL, die mit DLLB abgekürzt wird; aufgrund einer thematisch interessanten Einleitung wird des Öfteren auch auf die Edition von Cristina Barbolani (DLB) verwiesen.
Um die Analyse sowie den Vergleich sinnvoll mit intellektuellen und politischen Klima verknüpfen und die Äußerungen bezüglich des spanischen Sprachbewusstsein nachvollziehen zu können, wird mit dem sprachgeschichtlichen Kontext begonnen. Dieser stellt die Rahmenbedingung für das Sprachbewusstsein dieser Zeit dar, das anschließend in Verbindung mit der heutigen Theorie thematisiert wird. Darauf folgt die Analyse der apologetischen Sprachreflexionen Nebrijas, bevor die Ergebnisse mit dem DL verglichen werden.
2. Der sprachgeschichtliche Kontext: Die Emanzipation der ,spanischen‘ romance vom Lateinischen
Der Prozess der Romanisierung und Latinisierung der Iberischen Halbinsel durch die römische Eroberung, deren Beginn auf das frühe zweite Jahrhundert vor Christus datiert wird, mündete bis zum achten Jahrhundert nach Christus in einer Ausgliederung der iberoromanischen Sprachen. Im Gebiet des heutigen Spaniens und Portugals entwickelten sich verschiedene Varietäten des gesprochenen, in der Forschung als Vulgärlatein bezeichneten Lateins im Laufe der Zeit zu unterschiedlichen Volkssprachen, den sogenannten romances 5 . Dass die vorromanischen Substrat- und die germanischen Superstrateinflüsse bei dieser Entwicklung ebenso wie die „arabische Invasion“ (Bollée/Neumann-Holzschuh 2009, S. 42) im Jahr 711 eine bedeutende Rolle spielten, ist von der romanistischen Forschung bereits untersucht worden und soll daher in dieser Arbeit mit Ausnahme der Reconquista nicht weiter erläutert werden. Laut Marcos Marin stellten die mittelalterlichen Formen des Kastilischen, Katalanischen und des Galizisch-Portugiesischen die „tres grandes variantes del latrn“(2006, S. 2138) dar, neben denen jedoch auch weitere iberoromanische Varietäten wie unter anderem das Aragonesische oder das Asturo-Leonesische existierten. Parallel dazu sollte im maurisch6 beherrschten Süden der Iberischen Halbinsel die dort gesprochene romance, das sogenannte mozärabe, zu der geographisch im 10. Jahrhundert am meisten verbreiteten Volkssprache avancieren. Diese wurde anfangs von den Christen und später auch von den Arabern als Nähesprache7 verwendet, was zu einer komplexen Mehrsprachigkeit diverser ethnischer und religiöser Gruppen führte.8
Im Norden hatten sich zur Verteidigung gegen die Mauren entsprechend der angesprochenen Frühformen der romances fünf christliche Grafschaften bzw. Königreiche herausgebildet, die im achten und neunten Jahrhundert mit der Reconquista begannen. Der Wandel der sprachlichen Situation auf der Iberischen Halbinsel ging mit der fortlaufenden Rückeroberung der arabischen Herrschaftsgebiete einher, wobei die im elften Jahrhundert beginnende politische Vormachtstellung des Königreichs Kastilien die Dominanz der kastilischen Volkssprache im Mittelalter begünstigte. Zur Stabilisierung politischer Macht waren die heterogenen und nicht kodifizierten gesprochenen Volkssprachen jedoch nicht geeignet - zumal die lateinische Schriftsprache ihre dominante Stellung als Distanzsprache bis ins Hochmittelalter beibehalten sollte. Die iberoromanischen romances fanden nur im Modus der Mündlichkeit Verwendung, sodass keine schriftlichen Dokumente über den „Beginn des Spanischen als Sprechsprache“ (Berschin/Fernandez-Sevilla 1987, S. 90) überliefert sind. Allerdings lassen die aus dem 10. und 11. Jahrhundert stammenden romanischen Glossen9, wie zum Beispiel die glosas emilianenses aus dem Jahr 977, ein beginnendes Sprachbewusstsein vermuten. Denn die beigefügten Verständnishilfen belegen, dass man sich der Differenz zwischen dem verschriftlichten Latein und der eigens gesprochenen Volkssprache bewusst war (vgl. Berschin/Fernandez-Sevilla 1987, S. 70-90). Ob man jedoch bereits um die Jahrtausendwende von einem „völlig diglossischen Bewußtsein“ (Koch/Oesterreicher 22011, S. 224) im Norden der Iberischen Halbinsel sprechen kann, sei dahingestellt. Dennoch ist dieses Bewusstsein der Differenz zwischen den gesprochenen romancen und der lateinischen Distanzsprache als Ausgangslage für die Emanzipation der kastilischen und der anderen iberoromanischen Volkssprachen vom Lateinischen zu werten.
Bis sich auf dieser Basis im 15. Jahrhundert ein Sprachbewusstsein entwickelte, das anhand der Arbeiten Nebrijas und Valdes‘ untersucht werden soll, brachte die parallel zur Reconquista verlaufende Expansion der kastilischen romance einige soziopolitische und soziolinguistische Veränderungen mit sich, die im 13. Jahrhundert eine kastilische Überdachung der anderen romanischen Volkssprachen bedingten (vgl. Bollée/Neumann-Holzschuh 2009, S. 69). Diese sich vor allem in der Aussprache von den übrigen iberoromanischen Varietäten unterscheidende Volkssprache fungierte als „cuna“ (Brumme 2006, S. 1495), weil sie die Ausbreitungsgebiete der anderen Sprachen voneinander trennte.10 Da das Vordringen des Königreichs Kastilien-Leon und die damit verbundene „repoblacion“ (Berschin/Fernandez-Sevilla 1987, S. 91) der ehemaligen arabischen Gebiete zu heterogenen Sprach- und Religionsgruppierungen geführt hatte, war eine einheitliche Distanzsprache, also die Verschriftlichung der kastilischen romance, zur Erhaltung des Status quo nötig. Denn nur ein kleiner, gebildeter Teil der Bevölkerung konnte neben der Volkssprache auf das Lateinische als Schriftsprache zurückgreifen. Zu einer den Überdachungsprozess fördernden Intensivierung der distanzsprachlichen Bereiche des Kastilischen kam es vor allem unter Ferdinand III. und Alfons X. (dem Weisen). Ersterer begann, das Kastilische anstelle des Lateinischen als Kanzleisprache einzuführen, um die stark gewachsene Bevölkerung des Königreichs Kastilien-Leon mit sprachlich einheitlichen Gesetzestexten und Rechten regieren zu können.11 Auf diesem Status des Kastilischen als Amtssprache aufbauend wurden unter Alfons dem Weisen neben der Jurisdiktion auch andere distanzsprachliche Bereiche wie Literatur und Wissenschaft explizit gefördert, um ein „castellano drecho“ (Berschin/Fernandez-Sevilla 1987, S. 91) zu etablieren. Volkssprachliche Literatur sowie wissenschaftliche Texte entstanden in den Übersetzerschulen in Toledo, in denen man arabische und griechische Texte erstmalig ins Kastilische und nicht ins Lateinische übersetzte. Die sprachliche Norm aus Toledo wurde so zum „normalen Idiom für alle Dokumente und Gesetze“ (Braselmann 1991, S. 148). Die politische Bedeutung dieser Überdachungsphase kommt jedoch vor allem in der kastilischen Gesetzessammlung Siete Partidas (1251-56) und der Durchsetzung der ,Kastilianisierung‘ der Urkundensprache im Königreich Kastilien-Leon zum Ausdruck. Diese „Funktionsausweitung“ (Berschin/Fernandez-Sevilla 1987, S. 95) in die distanzsprachlichen Bereiche und die sprachlichen Schwankungen der Volkssprache erforderten eine Bereicherung der kastilischen Lexik. Dabei griff man vor allem auf die arabische und lateinische Terminologie zurück - es sind jedoch neben den zahlreichen Arabismen und Latinismen auch Einflüsse des Galizischen zu finden. So zum Beispiel auch das Adjektiv espanol, das die frühmittelalterlichen Bezeichnung wie castellan ersetzte und die mit der Reconquista neu entstehende christliche Einheit beschrieb.
Die politischen Ereignisse des 15. Jahrhunderts begünstigten insofern den extensiven Ausbau des Kastilischen, als dass im Jahr 1479 die Vereinigung der Königreiche Kastilien-Leon und Aragon sowie die Beendigung der Reconquista durch die Eroberung Granadas 1492 eine einheitliche Nähe- und Distanzsprache noch bedeutender werden ließen. Diese politische Vereinigung ermöglichte im selben Jahr durch die Vertreibung der Juden zusätzlich die Herstellung einer christlichen Einheit auf der Iberischen Halbinsel und gipfelte in der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus. Aufgrund der immensen Bedeutung dieser Geschehnisse ist das Jahr 1492 als annus mirabilis in die spanische Historiographie eingegangen und veranlasste den Papst, dem kastilischen und aragonesischen Königspaar Ferdinand und Isabella 1496 den Titel der Katholischen Könige (reyes catölicos) zu verleihen (vgl. Bollée/Neumann- Holzschuh 2009, S. 81-83). Diese politische Einheit der spanischen Monarchie auf der Iberischen Halbinsel12 und der beginnende Aufstieg zu einer der ersten Kolonialmächte lassen dem Kastilischen bei der Konsolidierung der Macht in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle zukommen. Daher kann bei der Untersuchung des Sprachbewusstseins dieser Zeit nicht mehr von einer kastilischen Volkssprache, sondern von einer spanischen romance mit standardsprachlichem Prestige gesprochen werden - auch wenn der Überdachungsprozess noch nicht komplementiert war und noch einige sprachliche Veränderungen bis zum modernen Spanisch bevorstanden. Dennoch hat sich der Terminus espanol erst im fortschreitenden 16. Jahrhundert etablieren können: So verwendeten Nebrija und auch Valdés je nach Intention den Begriff castellano oder romance (castellano) (vgl. Bollée/Neumann-Holzschuh 2009, S. 96-97).
Durch die aragonesische Eroberung Neapels im Jahr 1442 kam es neben der Entwicklung des Kastilischen zur Standardsprache zu einem „spanischitalienischen Kulturkontakt“ (Gruber 2014, S. 30). Diese Mehrsprachigkeit sowie die Sprachreflexion in der Italia Spagnuola hat Teresa Gruber umfassend analysiert (vgl. 2014, S. 31-36 & 48-52). Dass es außer dem Einfluss der kastilischen und der katalanischen Sprache auf die neapolitanische Hofkultur umgekehrt auch zu einer Beeinflussung spanischer Gelehrter durch die Lehren des florierenden italienischen Humanismus kam, beweist deren wiederaufblühendes Interesse an antiken Autoren. Die damit verbundene Verherrlichung der klassischen Sprachen durch Universitätsgelehrte führte nicht nur zur Integration von Latinismen in die spanische Schriftsprache, sondern - wie sich noch zeigen wird - zu einem neuen Sprachbewusstsein.
3. Das spanische Sprachbewusstsein zwischen Renacimiento und Siglo de Oro
Die vorangehende Erläuterung des sprachgeschichtlichen Kontexts auf der Iberischen Halbinsel hat die Loslösung der spanischen romance vom Lateinischen und die Entwicklung dieser Volkssprache hin zu dem im europäischen Vergleich frühen Status einer Art Standardsprache dargelegt.13 Wie Briesemeister treffend formuliert, war die „sprachliche Differenzierung [...] bei der Bildung der christlichen Königreiche“ (1969, S. 37) nicht bedeutend, spielte aber bei der Stabilisierung des Königreiches eine wichtige Rolle. Das Jahr 1492 war nicht nur das Veröffentlichungsjahr der GC von Nebrija, sondern markierte als annus mirabilis gleichzeitig den Beginn der frühneuzeitlichen Epoche, die aufgrund der „tiefgreifende[n] Veränderungen auf politischer und kultureller Ebene“ (Sälzer 2016, S. 13) in der spanischen Historiographie als Siglo de Oro bezeichnet wird. Ausschlaggebend für das in dieser Arbeit im Zentrum stehende Sprachbewusstsein Nebrijas und Valdés‘ sowie für die stark durch den „latinismo“ (Lapesa 32012, S. 235)14 geprägten sprachlichen Veränderungen15 war der italienische Renaissance-Humanismus, der sich ab dem 14. Jahrhundert in Europa verbreiten sollte. Wie auch die Begrifflichkeiten der epochalen Einteilung ist der an dieser Stelle gewählte Terminus eine moderne Bezeichnung für eine bedeutende literarische und philologische Bewegung mit Ursprung in Italien. Im Fokus standen neben der Beschäftigung mit antiken literarischen Texten die Imitation und Wiederherstellung der klassischen Sprachen (vgl. Hinz 2005).
Durch die Verbreitung der „studia humanitatis“ (Sälzer 2016, S. 29) an den spanischen Universitäten und vor allem durch den spanisch-italienischen Kulturkontakt wurde diese Bewegung auf die Iberische Halbinsel getragen, wo sie eine maßgebliche Rolle bei der Konstellation eines neuen Sprachbewusstseins spielen sollte. Wie sich im Analyseteil zeigen wird, hat diese geistige Strömung unsere Autoren und deren Sprachbewusstsein in unterschiedlichem Maße beeinflusst. Dietrich Briesemeister beschreibt detailliert, dass die im Zuge des Humanismus stattfindende intensive Beschäftigung mit lateinischen Werken bei den spanischen Gelehrten des 15. Jahrhunderts zu einer ambivalenten Einstellung zu der eigenen Volkssprache führte. Vor allem beim Prozess des Übersetzens klassischer Texte ins Kastilische wurde man mit dem „defecto de nuestra lengua castellana“ (Briesemeister 1969, S. 50) konfrontiert13 - dem „rrudo romance“ (Briesemeister 1969, S. 50) fehlte es an sprachlichem Reichtum, um die lateinischen Texte angemessen übersetzen zu können. Die bereits erwähnte Integration von Latinismen oder auch syntaktische Veränderungen des Satzbaus14 stellten den Versuch dar, die kastilische romance dem lateinischen Vorbild anzupassen. Einem anonymen, sogar vor Nebrijas GC erschienenem Vokabular ist des Weiteren zu entnehmen, dass das castellano durch die „groseza i rusticidad de los aldeanos“ (Briesemeister 1969, S. 48) verdorben wurde, da die ,einfachen Leute‘ die Entlehnungen aus den klassischen sowie aus den anderen romanischen Sprachen missverstanden. In die Forderung, das Kastilische vor Änderungen in der15 Wortbedeutung und in der Aussprache zu bewahren, könnte hierbei ein diastratisches Sprachbewusstsein und die Intention, ein Regelwerk zu schaffen, interpretiert werden. Der Wunsch des Hofes, antike Werke in ihrem „[castellano] vulgar“ (Briesemeister 1969, S. 49) [Anmerkung P. Scheerer], wie das Kastilische abwertend von den Gelehrten bezeichnet wurde, zu lesen, verdeutlicht ferner, dass auf der Iberischen Halbinsel gleichzeitig zur Expansion der humanistischen Lehren ein Verfall der Lateinkenntnisse zu konstatieren war (vgl. Briesemeister 1969, S. 47-52).16
Mit anderen Worten begründete der Renaissance-Humanismus ein generelles Paradoxon unter den Humanisten: Parallel zu der Rückbesinnung auf die antiken Werte und klassischen Sprachen begann man, trotz der Abneigung gegen den Zustand des castellano vulgar, die eigene romance aufzuwerten und ihr einen höheren Stellenwert zuzuschreiben. Gemäß Heidi Aschenberg, ist die „Orientierung an und Emanzipation von antiken Traditionen“ (1997, S. 189) jedoch nicht als ein Phänomen der kastilischen Sprache, sondern als ein epochenspezifisches europaweites Merkmal zu werten.17
Um literarische Texte des antiken Griechenlands, wie beispielsweise die Epen Homers, korrekt überliefern zu können, griffen bereits die Römer auf die grammatische Arbeit zurück und übertrugen die griechische Grammatik systematisch auf das Lateinische.18 Im Laufe der Zeit entwickelten sich zwei Orientierungen der Grammatik, die didaktische und die theoretische, die zum Grundstein des traditionellen grammatischen Rahmens wurden (Aschenberg 1997, S. 188-189). Durch die ,Humanisierung‘ des triviums rückte die Sprache, der im Mittelalter aufgrund des scholastischen Interesses an den18 Wissenschaften des quadriviums eine rein utilitaristische Verwendung zugekommen war, erneut ins Zentrum humanistischer Bildung. So erhielt die Grammatik als wissenschaftliche Disziplin eine Aufwertung19: Vor allem in Italien wurden die von Dante in seinem De Vulgari Eloquentia geäußerten scholastischen Ideen, die das Lateinische als durch seine Grammatik fixierte „lingua artificialis“ (Aschenberg 1997, S. 188) von der durch den usus 20, dem Gebrauch, bestimmten und sich verändernden Volkssprache trennten, von den Humanisten neu rezipiert. Auf diese Weise gelangte man zwar zu neuen Erkenntnissen über die romances und deren Ursprung, dennoch sollte es nach Nebrijas erster Grammatik einer romanischen Sprache noch dauern, bis es zu einer vollständigen Loslösung von der mittelalterlichen Sprachkonzeption kam und sich die romanischen Sprachen als eigenständige Sprachen etablieren konnten. Wie die Untersuchung der GC und des DL zeigen wird, galt dies auch für die konzeptionelle Übertragung von ars und usus auf die Grammatik der Volkssprachen.19
Dass das zur Weltmacht aufsteigende Spanien aufgrund der „avantgardistischen Position“ (Braselmann 1991, S. 148) des zu einer Standardsprache avancierten Kastilischen für die Entstehung einer Grammatik prädestiniert war, scheint zumindest aus heutiger Perspektive logisch: Seit den in romance verfassten Glossen hatte sich auf der Iberischen Halbinsel ein Bewusstsein gebildet, das eine Trennung von Latein und Volkssprache ermöglichte. Die beginnende Humanisierung Spaniens im 15. Jahrhundert, die mit der Publikation der GC im annus mirabilis einen ersten Höhepunkt finden sollte, resultierte in der Auseinandersetzung mit klassischen Werken und somit in einem durch ,Latinisierungen‘ aufgewertetes castellano sowie einem gefestigteren Sprachbewusstsein. Ob nun eine volkssprachliche Grammatik, die diese „lamentable fluctuation de la norma“ (Pozuelo Yvancos 1986, S. 78) fixieren, also dem lateinischen Vorbild anpassen würde, das Sprachbewusstsein des am Anfang stehenden Siglo de Oro abbildete und in welchem Maße sich dieses mit dem DL veränderte, soll anschließend analysiert werden. Vorher gilt es aber, die theoretischen Grundlagen des heutigen Verständnisses von Sprachbewusstsein zu umreißen, um Klarheit über den Analysegegenstand zu erhalten.
Unter Sprachbewusstsein wird eine Abstraktionsleistung verstanden, die das „Wissen über die Sprache“ (Gruber 2014, S. 74) umfasst20 und die Basis für die Abstraktionsleistung der Sprachreflexion, der konkreten metasprachlichen Äußerung, darstellt. Ausgehend von der „Kopräsenz“ (Gauger 1976, S. 34) des Sprachbewusstseins und des Sprachbesitzes hat Hans-Martin Gauger drei sprecherbezogene und zwei sprachbezogene Kategorien des Sprachbewusstseins erkannt. Das interne Sprachbewusstsein, auch „sapere 'epilinguistico'“ (nach Lia Formigari in Gruber 2014, S. 75) genannt, bezieht sich dabei auf die Abstraktionsleistungen durchschnittlicher Sprecher, deren Reflexionen jedoch keinen professionellen Grad erreichen. Das externe Sprachbewusstsein ist den Sprecherkategorien der literarischen Autoren und vor allem Philologen und Grammatikern vorbehalten, die alle ihr differenziertes Wissen über Sprache erörtern. Die so entstehenden metasprachlichen Reflexionen unterscheiden sich allerdings in ihrem Abstraktionsgrad voneinander (vgl. Gauger 1976, S. 44-52): Während sich die Autoren der „narrative[n] Formen der Sprachreflexion“ (Gruber 2014, S. 81) mit ihrem erweiterten Sprachbewusstsein ästhetischen Merkmalen ihrer Sprache widmen, bezeichnet Gauger das professionalisierte Sprachbewusstsein der Linguisten als ein durch Fachkenntnisse deformiertes.21 Für die konkrete Untersuchung des Ursprungs des spanischen Sprachbewusstseins im Renaissance-Humanismus des beginnenden Siglo de Oro als auch für dessen generelle historische Rekonstruktion22 gilt Folgendes: Für möglichst umfassende Analyseergebnisse zum Sprachbewusstsein und den daraus entstehenden metasprachlichen Reflexionen, sollte eine Quelle des professionalisierten Abstraktionsgrades einer literarischen Auseinandersetzung mit dem castellano gegenübergestellt werden. Welcher ,Ebene‘ die GC und der DL zuzuordnen sind, lässt sich hierbei erahnen. Das Sprachbewusstsein der durchschnittlichen Sprecher des Kastilischen kann nur schwer rekonstruiert werden, da diese ihre Sprachreflexionen nicht dokumentiert haben, sodass man sich auf die externen uns überlieferten Abhandlungen konzentrieren muss.
Dem sich im Renaissance-Humanismus auf der Iberischen Halbinsel festigenden Bewusstsein für die Volkssprache kommt auf Grund der hervorstechenden Rolle des Kastilischen als Standardsprache und seiner bevorstehenden Bedeutung als Machtfaktor im Siglo de Oro ein besonderes Forschungsinteresse zu. Zudem wurde das Sprachbewusstsein einerseits von Philologen, deren Arbeit in grammatikographischer und lexikographischer Hinsicht traditionsbegründend wirkte, andererseits aber auch von wissenschaftlichen Laien23 thematisiert. Laut Gerda Haßler und Hans-Josef Niederehe hat dies wahrscheinlich zu einer „Ausklammerung von Phänomenen des Sprachbewußtseins sowohl aus der Sprachgeschichtsschreibung als auch aus der Historiographie der Sprachwissenschaft“ (2000, S. 8) geführt.
4. Antonio de Nebrija und die Gramätica de la lengua castellana von 1492
Jahrelang widmete sich die Forschung der Biographie Nebrijas, sodass diese am häufigsten untersucht worden ist. Obwohl er jedoch vermehrt als großer Humanist gelobt worden ist und die Tür der ,Biblioteca Nacional‘ in Madrid neben anderen sein Abbild zeigt, wurde die GC während des gesamten Siglo de Oro entweder auf polemische Art kritisiert oder ignoriert. Doch gerade wegen Kritiken wie „de la Gramätica [castellana] no hay mucho que decir“ (Olmedo 1942, S. 238) [Anmerkung P. Scheerer] und der Tatsache, dass die erste humanistische Grammatik einer romanischen Sprache nur ein einziges Mal in ihrem Original von 1492 gedruckt worden ist, bietet es sich an, das in der GC deklarierte Sprachbewusstsein als wichtigen Teil der apologetischen Sprachreflexion im Prolog zu untersuchen. Ob die teils polemische Kritik des ebenfalls vom Humanismus geprägten Valdés in dessen DL allein auf das Sprachbewusstsein Nebrijas zurückzuführen ist, wird bei der Gegenüberstellung im fünften Kapitel thematisiert.
4.1 Nebrija als „humanista completo“
In der Frage des Geburtsjahres24 des im heutigen Lebrija25 geborenen Antonio Martinez de Cala y Xarana, der als Universitätslehrender und Autor unter seiner Herkunftsbezeichnung Antonio de Nebrija bekannt war, herrscht in der Forschung kein Konsens. Verstärkt geht man jedoch von dem Jahr 1444 aus, welches ebenso wie das Jahr 1441 den autobiographischen Angaben seines Vocabulario espanol- latino zu entnehmen ist (vgl. Sälzer 2016, S. 47-49 & Nebrija 1492, ed. Quilis, S. 926 ). Im Folgenden stehen das humanistische Gedankengut Nebrijas im Fokus sowie seine Beweggründe, eine Grammatik des Kastilischen zu verfassen. Weitere Etappen seines Lebens wie zum Beispiel seine oftmals von Streitigkeiten mit anderen Wissenschaftlern geprägte universitäre Lehrzeit oder auch seine Arbeit für den Erzbischof Juan de Zuniga, bei dem er unter anderem die GC verfasste, werden aufgrund der Vielzahl an biographischen Arbeiten dazu außer Acht gelassen (vgl. Braselmann, S. 79f.).
[...]
1 Im Verlauf der Arbeit werden Kastilisch und die spanische Übersetzung castellano synonym zueinander verwendet.
2 Für Näheres zum Spanischen als Weltsprache siehe Sinner 2013.
3 Im Folgenden mit GC abgekürzt.
4 Im Folgenden mit DL abgekürzt.
5 Im Verlauf der Arbeit werden die Begriffe romance und Volkssprache synonym zueinander verwendet.
6 Die Begriffe arabisch und maurisch bzw. Araber und Mauren werden synonym zueinander verwendet.
7 Für das Modell der Nähe- und Distanzsprache vgl. Koch/Oesterreicher 22011.
8 Für Näheres zum arabischen Einfluss vgl. Bollée/Neumann-Holzschuh 2009, S. 42-51.
9 Worterklärungen, mit denen lateinische Texte zum besseren Verständnis versehen wurden.
10 Für eine veranschaulichende Karte zur Expansion des Kastilischen im Verlauf der Reconquista siehe Anhang.
11 Die auf dem lateinischen Recht basierende Jurisdiktion war bis zu diesem Zeitpunkt auf Lateinisch verfasst, enthielt aber iberoromanische Elemente. Die Zusammenstellung einer ersten einheitlichen Gesetzessammlung in einer Volkssprache wurde unter Ferdinand dem III. begonnen. Vgl. dazu Marin 2006, S. 2139-2141.
12 Das Königreich Navarra wurde 1512 von Kastilien annektiert und das portugiesische Königreich ist von dieser Paraphrasierung ausgeschlossen.
13 Kritik an der Volkssprache kam hauptsächlich in der Übersetzungstradition Kastiliens zur Sprache, da es laut Hans-Martin Gauger zu dieser Zeit in Spanien keine humanistischen Literaturwerke gab, die sich nach italienischem Vorbild mit der Sprache auseinandersetzten. Vgl. Gauger 1986, S. 49.
14 So wurden Verben unter anderem ans Ende des Satzes gestellt.
15 Näher mit dem Sprachwandel beschäftig hat sich Sälzer 2016.
16 Kritik an der Volkssprache kam hauptsächlich in der Übersetzungstradition Kastiliens zur Sprache, da es laut Hans-Martin Gauger zu dieser Zeit in Spanien keine humanistischen Literaturwerke gab, die sich nach italienischem Vorbild mit der Sprache auseinandersetzten. Vgl. Gauger 1986, S. 49.
17 So wurden Verben unter anderem ans Ende des Satzes gestellt.
18 Hierbei ist anzumerken, dass die grammatikalischen Termini des Griechischen den Gegebenheiten des Lateinischen nicht gerecht wurden und dieses grammatische System seine Gültigkeit trotzdem bis in die Gegenwart hat. Vgl. dazu Braselmann 1991, S. 443-444.
19 Das antike Wissenschaftssystem der septem artes liberales war aufgeteilt in das trivium, das sich mit den Wissenschaften rund um die Sprache (Rhetorik, Logik, Grammatik) beschäftigte, und das quadrivium, welches die Naturwissenschaften umfasste. Vgl. dazu Schneider 2005.
20 Im Folgenden werden die Begriffe usus und der spanische Terminus uso synonym zueinander verwendet.
21 Vgl. Gauger 1986, z.B. S. 51: „deformacion profesional”.
22 Zur Geschichte des Sprachbewusstseins siehe Haßler/Niederehe 2000.
23 Daraus hat sich der Terminus Laien-Linguistik ergeben, vgl. ebd., S. 8.
24 Sälzer 2016, S. 48.
25 Zu Nebrijas Lebzeiten war sein Geburtsort aufgrund der noch nicht eindeutig fixierten Graphem- und Phonemlage unter Nebrixa bzw. Nebrissa (Veneria) bekannt. Demnach ist sein Name mit Nebrija ins moderne Spanisch transferiert worden.
26 Da sich die Arbeit hauptsächlich auf die Edition von Antonio Quilis aus dem Jahr 1981 bezieht, werden die Literaturverweise im Folgenden mit GCQ abgekürzt.