"Eine Reise in das Innere von Wien"

Über Gerhard Roth und das "Graue Haus"


Hausarbeit, 2006

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Einflüsse der Biographie Gerhard Roths auf sein Werk

3. Die Arbeitsmethoden Gerhard Roths

4. ‚Das Graue Haus’
4.1 Gebäudebeschreibung
4.2 Die vom Reporter befragten Personen im ‚Grauen Haus’
4.2.1 Der Gefängnisdirektor Hofrat Henkel – Führer durch das ‚Graue Haus’
4.2.2 Der Hilfsarchivar
4.3 Der Akt
4.4 Die Häftlinge - Disziplin, Tagesablauf, Strafen

5. Resümee

6. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Wien ist eine Stadt voll von Sehenswürdigkeiten und prächtiger Gebäude, die gerne von Touristen besucht werden. Zu sehen sind die Prachtbauten der Ringstraße, wie das gotische Rathaus, das Burgtheater im Stil des frühen Barock, die Universität und das Parlamentsgebäude, aber auch die Wiener Hofburg, der Prater und die Kaffeehäuser locken Touristen an. Der Schriftsteller Gerhard Roth hingegen interessiert sich für Bereiche und Gebäude, die für den „durchschnittlichen Wienbesucher nur schwer zugänglich sind“[1]. Mit dem siebten Band einer Serie von Reportagen unter dem Titel ‚Eine Reise in das Innere von Wien’ vollendet Roth seinen Zyklus ‚Die Archive des Schweigens’. Er besucht beispielsweise den ‚Narrenturm’, das ‚Heeresgeschichtliche Museum’, den unterirdischen Bereich der Österreichischen Nationalbibliothek und die Gruft der Habsburger. In seinen Essays, „die er selbst als Gebäudeanalysen bezeichnet, schildert Roth architektonische ‚Ausformungen’ des Größenwahns von Machthabern“[2], die zu verschiedenen Zeiten in Österreich an der Macht waren.

In dieser Arbeit geht es um den Essay ‚Das Graue Haus’, in dem Roth das Untersuchungsgefängnis von Wien, ein Gebäude des „staatlichen Disziplinierapparates“[3], beschreibt. Zunächst wird dargestellt, wie Roths Biographie seine Werke beeinflusst. Dann folgt eine Darstellung der Methoden, mit deren Hilfe er den Zyklus erarbeitet hat. Schließlich geht es darum, wie Gerhard Roth das Gebäude beschreibt, um die Personen, die er als Reporter befragt und um das Phänomen des ‚Aktes’. Letztlich folgen einige Aspekte in Bezug auf die Häftlinge: deren Tagesablauf, Disziplin und Strafmaßnahmen. Dadurch, dass Roth die Geschichte Österreichs in den Gebäuden sucht, die die Macht des Staates repräsentierten und dies teilweise noch tun, wird die Geschichte besser greifbar. Roth reflektiert dazu in einem Gespräch: „Ich habe sehr viel Neues bei meiner Arbeit über Österreich erfahren. Jetzt, wo der Zyklus so gut wie fertig ist, habe ich manchmal das Gefühl, daß ich in einen geöffneten österreichischen Kopf hineinschaue“[4].

2. Einflüsse der Biographie Gerhard Roths auf sein Werk

Gerhard Roth stammt aus einer gutbürgerlichen österreichischen Familie.[5] Er wurde am 24.6.1942, mitten im 2. Weltkrieg, in Graz geboren. Sein Vater Emil Roth ist Mediziner und seine Mutter Krankenschwester. Roths älterer Bruder Paul Werner arbeitet als Professor für Sozialgeschichte an der Universität Graz und der jüngere Helmut ist Beamter für Datenverarbeitung in der Geologischen Sammlung des Joanneums in Graz. Nach mehreren erzwungenen Umquartierungen im letzten Kriegsjahr 1945 musste die Familie mit der Eisenbahn vor der anrückenden Roten Armee zum Vater nach Würzburg flüchten. Während der Zugfahrt fand ein Ereignis statt, das Roth als seine „erste plastische Erinnerung“[6] beschreibt und zu den Kriegsereignissen zählt, die Roths Werk beeinflussen: Wegen eines Tieffliegerangriffs mussten die Passagiere den Zug verlassen. Auf einem Feld wurde neben Gerhard Roth ein Mann auf der Flucht von einem Tiefflieger getroffen „und ist mit aus dem Mund schießendem Blut zusammengebrochen und gestorben. Ich sehe das Gesicht noch vor mir“[7]. Durch dieses Ereignis geschockt, beschloss die Mutter einen anderen Zug nach München zu nehmen – ein unglaubliches Glück für die Familie, denn der ursprüngliche Zug wurde im Bahnhof von München bombardiert und zerstört. Dennoch waren die Weiterfahrt nach Würzburg und auch die Ankunft von Bombardierungen der Amerikaner geprägt. Dies müssen schreckliche Erlebnisse für den Dreijährigen gewesen sein, die er in seinem späteren Werk als Schriftsteller verarbeitet.

Nach mehreren Umzügen und dem Erlebnis von beengten Wohnverhältnissen, besuchte Roth die Volksschule in Gösting. Danach wechselte er auf ein Realgymnasium, dann aber durch Zwang des Vaters auf ein Gymnasium. Roth war jedoch kein guter Schüler, „von der ersten bis zur fünften Klasse Mittelschule hatte er jedes Jahr eine Nachprüfung“[8]. Die Gründe dafür lagen einerseits in seinen Konzentrationsproblemen, andererseits aber viel mehr in der „Auflehnung und Abneigung gegen alles Apodiktische, wie es Roth unter anderem in seinem Vater und seinen Lehrern verkörpert [sah]“[9]. Lehrer und Vater duldeten keinen Widerspruch und ließen keine andere Meinung zu. Dieses Problem bildet „später ein starkes Movens seines künstlerischen Schaffens“[10].

Seine Jugendjahre standen vor allem unter dem Eindruck der Bewältigung, oder eben der Nicht-Bewältigung, der Nazi-Zeit. Für Roth ist klar, dass eine nazistische Gesinnung heute noch unterschwellig weiterlebt. Er litt unter der sehr reaktionären Kirche ebenso wie ihn auch im Elternhaus „die räumliche Enge und Atmosphäre des Schweigens […] bedrück[ten]“[11]. Roth sieht die Atmosphäre des Schweigens und Verdrängens als „das größte Tabu in Österreich“[12]. „Was in den Zeiten Sigmund Freuds die Sexualität war, ist heute für die Österreicher der Nationalsozialismus. Er soll aus dem Bewußtsein ausgeklammert werden, aber kommt bei den Alten als Redezwang und am Biertisch als sentimental-brutale Kriegserinnerung zum Vorschein“[13]. Als Voraussetzung für die Verbrechen des Nationalsozialismus macht Roth das Schweigen verantwortlich: „Das Schweigen hat alle Verbrechen erst möglich gemacht. Ohne das Schweigen der Mehrheit wäre es nicht zu dieser Katastrophe gekommen“[14]. Die ‚Archive des Schweigens’ dürften daher einen Versuch darstellen, diese Atmosphäre des Schweigens zu durchbrechen, indem er beispielsweise die dunkle Vergangenheit des ‚Grauen Hauses’ in Wien in seinem Essay ganz nüchtern aufdeckt.

Ein weiteres Schlüsselerlebnis war der Besuch einer Kinovorstellung mit dem Titel „Der Nürnberger Prozeß. Dokumentarfilm“[15]. Völlig ahnungslos sah der junge Gerhard Roth zum ersten Mal die zu Skeletten abgemagerten Leichen in den KZ´s der Nazis aber auch die Aufnahmen der Hinrichtung der zum Tod durch den Strang verurteilten Kriegsverbrecher. In einem Interview beschreibt er:

Ich habe während des gesamten Films blankes Entsetzen empfunden, zu dem jetzt noch weiteres Entsetzen dazukam, verursacht durch die Todesstrafe von den Befreiern. Das habe ich damals nicht nachvollziehen können. Und ich bin auch Gegner der Todesstrafe geworden.[16]

Diese Abneigung gegenüber der Todesstrafe wird in dem Essay ‚Das Graue Haus’ gleich im ersten Abschnitt deutlich, als Roth über die Vollstreckung der Todesstrafe im Grauen Haus berichtet und Bilanz zieht. Er setzt sich jedoch nicht direkt mit dem Phänomen der NS-Zeit auseinander, „sondern mit den gesellschaftlichen Kräften und Voraussetzungen, die ihn ermöglichten und es seiner Meinung nach noch immer tun“[17]. Er will die Normen und Systeme aufbrechen, die für ihn die Menschheit bedrohen.

Das Verhältnis zu seinem Vater, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied, war in den Jahren seiner Jugend ambivalent. Einerseits litt er unter dem apodiktischen Druck und der Enge, andererseits konnte der Vater ihm mehrmals das Leben retten und nicht zuletzt dadurch eine gewisse emotionale Bindung aufbauen. Die Bindung zu seinem Großvater war aber dennoch stärker. Dieser hatte sich als Sozialdemokrat nie mit dem Nationalsozialismus identifizieren können und war durch seine beruflichen Wanderungen[18] ein Vorbild für den Schriftsteller Roth, der ebenso für seinen Zyklus durch ganz Österreich wanderte.

Mit 17 Jahren wurde Roth Vater einer Tochter. Dies widersprach grundsätzlich dem geltenden Moralkodex, führte zu familiären Spannungen und zusätzlich musste er dadurch für seine Matura eine Nachprüfung absolvieren. Trotz einiger früher schriftstellerischer Versuche nahm Roth „als Kompromiß zwischen seinen eigenen Wünschen und den Wünschen der Eltern“[19] ein Medizinstudium auf. Schließlich war er auch finanziell von ihnen abhängig und musste nebenher für ein Kind sorgen. Durch sein Studium und die Erfahrungen, die er in einer Medizinerfamilie gemacht hat, fließt immer wieder medizinisches Fachwissen in seine Werke ein. Zunächst versuchte Roth Medizinstudium und Schriftstellerei miteinander zu verbinden, wie auch Alfred Döblin und Gottfried Benn Mediziner und Schriftsteller waren, aber es kristallisierte sich immer mehr heraus, dass im Schreiben seine größeren Interessen lagen. Dies führte zu einem Zwiespalt, denn „auf der einen Seite war er genötigt, den Eltern, die seinen Lebensunterhalt bestritten und ihn immer wieder aufforderten, das Studium nicht aufzugeben, einen positiven Fortgang des Studiums vorzugaukeln“[20], andererseits fühlte er sich stark zur Schriftstellerei hingezogen. Was Roth aber von seinem Vater und während des Medizinstudiums gelernt hat, war der Umgang mit psychologischer Fachliteratur und den wissenschaftlichen Methoden des Beobachtens, Sammelns, Archivierens und im übertragenen Sinne des Sezierens. Allesamt Fähigkeiten, die er beim Schreiben immer wieder anwendet, vor allem auch bei den ‚Archiven des Schweigens’.

1967 brach Gerhard Roth endgültig sein Medizinstudium ab und begann eine Arbeit als Operator im Grazer Rechenzentrum im Schichtbetrieb. Obwohl er schnell eine höhere Position erreichen konnte, lebte er mit seiner Familie in eingeschränkten finanziellen Verhältnissen. Weil er seine schriftstellerische Tätigkeit nicht aufgeben wollte, bezeichnet er sich als „Sonntagsschriftsteller“ und schrieb „in der Nacht, am Wochenende, im Urlaub“[21]. In dieser Zeit kam es auch zur Entfremdung von seiner ersten Frau und zur Annäherung an Senta Thonhäuser. Durch einen Freund bekam Roth Kontakt zum Suhrkampverlag, der sich die vielen Manuskripte Roths ansehen wollte. Seine ersten Bücher erschienen 1972 und er wollte eigentlich seinen Beruf als Operator aufgeben, aber „in seiner Familie bestürmt[e] man ihn“[22], dies nicht zu tun. Der Entschluss jedoch war eigentlich schon gefasst, obwohl er von seinen ersten Veröffentlichungen nicht leben konnte.

[...]


[1] Schütte, Uwe: Auf der Spur der Vergessenen. Gerhard Roth und seine Archive des Schweigens (=Literatur und Leben Bd. 50). Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1997. S. 277.

[2] Muskala, Monika: Der Wahnsinn der Vernunft. Zum Zyklus Die Archive des Schweigens. In: Gerhard Roth (=Dossier. Die Buchreihe über österreichische Autoren, Bd. 9). Hrsg. von Marianne Baltl und Christian Ehetreiber. Graz: Droschl 1995. S. 216.

[3] Muskala, M.: Der Wahnsinn der Vernunft. S. 216.

[4] Weichinger, Robert: Anatomie des österreichischen Hirns. Gerhard Roth im Gespräch mit Robert Weichinger. In: Gerhard Roth. Materialien zu <Die Archive des Schweigens>. Hrsg. von Uwe Wittstock. Frankfurt am Main: Fischer 1992. S. 69.

[5] Vgl. für dieses Kapitel: Baltl, Marianne: Die Inspiration der Bilder. Zur Biographie Gerhard Roths. In: Gerhard Roth (=Dossier. Die Buchreihe über österreichische Autoren, Bd. 9). Hrsg. von Marianne Baltl und Christian Ehetreiber. Graz: Droschl 1995. S. 325-343.

[6] Baltl, M.: Die Inspiration der Bilder. S. 327. Zitiert nach einem Gespräch von Baltl mit Gerhard Roth vom 15.03.1995.

[7] Baltl, M.: Die Inspiration der Bilder. S. 327. Zitiert nach einem Gespräch von Baltl mit Gerhard Roth vom 15.03.1995.

[8] Baltl, M.: Die Inspiration der Bilder. S. 329.

[9] Baltl, M.: Die Inspiration der Bilder. S. 329.

[10] Baltl, M.: Die Inspiration der Bilder. S. 329.

[11] Baltl, M.: Die Inspiration der Bilder. S. 330.

[12] Baltl, M.: Die Inspiration der Bilder. S. 330. Zitiert nach einem Gespräch von Baltl mit Gerhard Roth vom 15.03.1995.

[13] Weichinger, R.: Anatomie des österreichischen Hirns. S. 69.

[14] Weichinger, R.: Anatomie des österreichischen Hirns. S. 69.

[15] Pichler, Georg: Von der Sehnsucht, die Identität zu wechseln. In: Gerhard Roth (=Dossier. Die Buchreihe über österreichische Autoren, Bd. 9). Hrsg. von Marianne Baltl und Christian Ehetreiber. Graz: Droschl 1995. S. 16.

[16] Pichler, G.: Von der Sehnsucht, die Identität zu wechseln. S. 16.

[17] Ensberg, Peter und Schreckenberger, Helga: Gerhard Roth. Kunst als Auflehnung gegen das Sein (=Stauffenburg Colloquium Bd.31). Tübingen: Stauffenburg Verlag 1994. S. 51.

[18] Der Großvater kam als Glasbläser bis an den Hof des Sultans in Konstantinopel und fuhr vier Jahre lang zur See.

[19] Baltl, M.: Die Inspiration der Bilder. S. 331.

[20] Baltl, M.: Die Inspiration der Bilder. S. 331f.

[21] Baltl, M.: Die Inspiration der Bilder. S. 334. Zitiert nach einem Gespräch von Baltl mit Gerhard Roth vom 15.03.1995.

[22] Baltl, M.: Die Inspiration der Bilder. S. 336.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
"Eine Reise in das Innere von Wien"
Untertitel
Über Gerhard Roth und das "Graue Haus"
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturgeschichte)
Veranstaltung
Proseminar: Wien. Stadtlektüren
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
22
Katalognummer
V113004
ISBN (eBook)
9783640125685
Dateigröße
406 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit ist ausgezeichnet! - eine sehr interessante Fragestellung - sehr gut dokumentiert - sehr präziser, pointierter Schreibstil - excellenter Umgang mit der Sekundärliteratur - akribisch recherchiert - sehr gut strukturiertDie Arbeit ist ausgezeichnet! - eine sehr interessante Fragestellung - sehr gut dokumentiert - sehr präziser, pointierter Schreibstil - excellenter Umgang mit der Sekundärliteratur - akribisch recherchiert - sehr gut strukturiert
Schlagworte
Eine, Reise, Innere, Wien, Proseminar, Wien, Stadtlektüren
Arbeit zitieren
David Hohm (Autor:in), 2006, "Eine Reise in das Innere von Wien", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113004

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