Die bürgerliche Familie scheint in einem dauerhaften Krisenzustand zu schweben. Fraglich ist, wie sie dennoch in fast unveränderter Form seit dem 18. Jahrhundert überdauern konnte. Die vorliegende Arbeit analysiert die literarischen Mittel, mit denen Theodor Fontane Familie in seinen Romanen konstruiert und dekonstruiert. Um die Frage der Darstellung der bürgerlichen Familie bei Fontane zu untersuchen, ist der zeitgenössische Diskurs zum Thema nachzuvollziehen. Inwiefern dieser bestätigt oder in Frage gestellt wird, soll anhand der Achsen eines gemeinsamen Wohnraums, finanzieller Abhängigkeit und Ein- beziehungsweise Ausschlussmechanismen analysiert werden. Anhand dieser miteinander verschränkten Elemente konstruieren und dekonstruieren die Texte das Konzept „Familie“ und zeigen es somit als instabiler, aber auch flexibler als gemeinhin für die Zeit angenommen.
‚Familie‘ ist ein wandelbarer Begriff. Das zeigt etwa die Öffnung der Ehe für alle im Jahr 2017 in Deutschland, einem Beispiel, dem seither zahlreiche Länder gefolgt sind. Der damals von Kritikern befürchtete Sittenverfall ist nicht eingetreten, wie auch schon frühere „Krisen der bürgerlichen Familie“ nicht zum Zusammenbruch dieses Konzepts des Zusammenlebens geführt haben.
Die Befürchtung, die aus Vater, Mutter und Kindern bestehende Kernfamilie könnte aufhören zu existieren, gibt es seit ihrer Entstehung. Das liegt daran, dass sie sich stets im Wandel befindet, was manche Theoretiker des 19. Jahrhunderts, wie Norbert Riehl, als Niedergang empfinden. Von Riehl stammt denn auch die Theorie von der ‚Auflösung des ganzen Hauses‘. Laut ihm war es schädlich für das Gemeinwesen, dass sich aus „Haus und Hof“ die bürgerliche Kleinfamilie mit der klassischen Arbeitsteilung des geldverdienenden Mannes und der häuslichen Frau entwickelte. In dieser neuen Familienform sollte der Mann zu Hause einen Rückzugsort vor der „feindlichen Welt“ finden. Sorgen wie jene Riehls vom „Verfall der Familie“ setzten sich in der Familienforschung weiter fort.
Inhaltsverzeichnis
- Was ist die „bürgerliche Familie“ bei Fontane?
- Theoretische Vorbetrachtungen
- Forschungsüberblick
- Poetologie der Familie
- Zeitgenössisches Familienverständnis
- Die Konstruktion der Familie durch Geschlechterrollen
- Zur Scheintrennung von Familie und Arbeit
- Das bürgerliche Haus als Brutkasten der Familienideologie
- Krise und Verfall der bürgerlichen Familie
- Familienkonstruktion bei Fontane
- Der Ort der Familie: L'Adultera
- Stadthaus: Der standardisierte Raum der Familie
- Landhaus: Ein transitorischer Ort?
- Palmenhaus: Austritt aus dem gesellschaftlichen Familienrahmen
- Italien: Die Reise zum Familienideal?
- Arbeiterhäuser: Familienglück im schlichten Rahmen
- Das Andere der Familie: Ausschlussmechanismen in Grete Minde
- Das Ausland in der Familie: Grete als „fremde Frau“
- Mythenfigur im eigenen Haus: Fremdheitsstilisierung anhand der Religion
- Alternative Familienformen: Eine wirkliche Option oder nur Schein?
- Der Preis der Familie: Die Poggenpuhls
- Der gute Name: Finanzielles Mittel oder nur Dekor?
- Die Ehe als ein Mittel gegen finanzielle Not?
- Weibliche Arbeit im Adel: eine Annäherung an das Bürgertum?
- Familienzusammenhalt oder Pflichtgefühl? Die Funktion reicher Verwandter
- Fremdheit als konstitutives Element der bürgerlichen Familie
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Konstruktion von Familie in den Romanen Theodor Fontanes, insbesondere inwiefern Fontane das zeitgenössische Verständnis von Familie nutzt und umdeutet. Ziel ist es, die literarischen Mittel zu analysieren, mit denen Fontane Familie konstruiert und dekonstruiert, und die dargestellten Familien im Kontext des bürgerlichen Familienideals zu betrachten.
- Die Darstellung der bürgerlichen Familie bei Fontane und ihr Vergleich mit dem zeitgenössischen Diskurs.
- Die Rolle des Raumes (Wohnraum, Natur, Arbeitsraum) in der Konstruktion von Familie.
- Mechanismen von Inklusion und Exklusion innerhalb der Familie.
- Die Bedeutung von finanziellen Abhängigkeiten innerhalb der Familie.
- Die Entwicklung der Darstellung von Familie in Fontanes Werk über seine verschiedenen Schaffensphasen.
Zusammenfassung der Kapitel
Was ist die „bürgerliche Familie“ bei Fontane?: Der einleitende Abschnitt beleuchtet den Wandel des Begriffs „Familie“ und die anhaltende Debatte um den vermeintlichen Verfall der bürgerlichen Familie seit ihrer Entstehung. Er setzt den Fokus auf Theodor Fontane als Autor, dessen Darstellung von Familien und insbesondere tragischen Frauenfiguren Fragen zum zeitgenössischen Familienideal aufwirft. Die Arbeit analysiert Fontanes literarische Mittel zur Konstruktion und Dekonstruktion von Familie in L'Adultera, Grete Minde und Die Poggenpuhls, um die Abweichungen vom bürgerlichen Ideal aufzuzeigen. Die Analyse konzentriert sich auf die Aspekte gemeinsamen Wohnraums, finanzieller Abhängigkeit und Inklusions-/Exklusionsmechanismen.
Familienkonstruktion bei Fontane: Dieses Kapitel analysiert die verschiedenen Orte und Räume, die in Fontanes Romanen die Konstruktion und Dekonstruktion von Familie repräsentieren. Es werden unterschiedliche Wohnformen untersucht, vom Stadthaus als standardisiertem Raum bis zum Landhaus als transitiver Ort und dem Palmenhaus als symbolischem Austritt aus dem gesellschaftlichen Familienrahmen. Weiterhin werden Arbeiterhäuser und die Erfahrung des Auslands im Kontext familiärer Beziehungen beleuchtet, sowie alternative Familienformen und die Frage, ob Fremdheit ein konstitutives Element der bürgerlichen Familie ist. Der Fokus liegt auf der literarischen Darstellung von Raum und seinen psychologischen Implikationen für die Figuren und ihre Beziehungen.
Häufig gestellte Fragen zu: Fontanes Konstruktion der bürgerlichen Familie
Was ist das zentrale Thema dieser Arbeit?
Die Arbeit analysiert die Darstellung von Familie in den Romanen Theodor Fontanes. Im Fokus steht die Konstruktion und Dekonstruktion von Familienstrukturen in Fontanes Werken, insbesondere im Vergleich zum zeitgenössischen Verständnis des bürgerlichen Familienideals. Analysiert werden literarische Mittel, räumliche Aspekte, finanzielle Abhängigkeiten und Mechanismen von Inklusion und Exklusion innerhalb der Familie.
Welche Romane von Fontane werden untersucht?
Die Analyse konzentriert sich hauptsächlich auf die Romane "L'Adultera", "Grete Minde" und "Die Poggenpuhls". Diese Romane dienen als Fallbeispiele, um Fontanes Darstellung von Familie und ihre Abweichungen vom bürgerlichen Ideal zu beleuchten.
Welche Aspekte der Familie werden besonders betrachtet?
Die Arbeit untersucht verschiedene Aspekte der Familie, darunter die Rolle des Raumes (Stadthaus, Landhaus, Palmenhaus, Arbeiterhäuser, Ausland), die Bedeutung finanzieller Abhängigkeiten, Mechanismen der Inklusion und Exklusion, alternative Familienformen und die Frage nach der Fremdheit als konstitutivem Element der bürgerlichen Familie.
Wie wird der Raum in der Analyse berücksichtigt?
Der Raum spielt eine zentrale Rolle in der Analyse. Unterschiedliche Wohnformen und Orte (Stadthaus als standardisierter Raum, Landhaus als transitiver Ort, Palmenhaus als symbolischer Austritt, Arbeiterhäuser, Ausland) werden untersucht, um ihre Bedeutung für die Konstruktion und Dekonstruktion von Familie herauszuarbeiten. Der Fokus liegt auf den psychologischen Implikationen des Raums für die Figuren und ihre Beziehungen.
Welche Rolle spielen finanzielle Aspekte?
Die finanzielle Abhängigkeit innerhalb der Familie wird als wichtiger Aspekt analysiert. Die Arbeit untersucht, wie finanzielle Verhältnisse die Familienstrukturen beeinflussen und die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern prägen.
Wie wird das zeitgenössische Familienverständnis einbezogen?
Die Arbeit vergleicht Fontanes Darstellung der Familie mit dem zeitgenössischen Diskurs über die bürgerliche Familie. Sie beleuchtet den Wandel des Begriffs "Familie" und die Debatte um den vermeintlichen Verfall der bürgerlichen Familie, um Fontanes literarische Auseinandersetzung mit diesem Thema zu kontextualisieren.
Welche Ziele verfolgt die Arbeit?
Die Arbeit zielt darauf ab, Fontanes literarische Mittel zur Konstruktion und Dekonstruktion von Familie zu analysieren und die dargestellten Familien im Kontext des bürgerlichen Familienideals zu betrachten. Sie untersucht, wie Fontane das zeitgenössische Verständnis von Familie nutzt und umdeutet.
Welche Kapitel umfasst die Arbeit?
Die Arbeit umfasst Kapitel zu folgenden Themen: "Was ist die ‚bürgerliche Familie‘ bei Fontane?", theoretische Vorbetrachtungen, Forschungsüberblick, Poetologie der Familie, zeitgenössisches Familienverständnis, Geschlechterrollen, die Scheintrennung von Familie und Arbeit, das bürgerliche Haus als Brutkasten der Familienideologie, Krise und Verfall der bürgerlichen Familie, und eine detaillierte Analyse der Familienkonstruktion bei Fontane anhand verschiedener Orte und Romane. Ein Literaturverzeichnis rundet die Arbeit ab.
- Quote paper
- Carolin Will (Author), 2021, Zur Konstruktion von Familie in Romanen Theodor Fontanes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1130235