Der Patient/Die Patientin in der evangelischen Krankenhausseelsorge - Theologische und seelsorgerliche Perspektiven


Epreuve d'examen, 2008

48 Pages, Note: 1


Extrait


I. Einleitung

Jeder, der schon einmal schwerer erkrankt war weiß, was es bedeutet, ins Krankenhaus zu müssen. Seine Erfahrungen, die er dabei gemacht hat, wird er immer in Erinnerung behalten. Der Gang zum Krankenhaus wird von den meisten Menschen als belastend empfunden. Egal, ob der Kranke plötzlich oder geplant ins Krankenhaus muss – er wird immer aus seinem alltäglichen Leben und aus seinem persönlichen Umfeld herausgerissen. Bei einer leichten Erkrankung bedeutet ein Krankenhausaufenthalt nur eine kurzzeitige Beeinträchtigung seines Lebensvollzugs. Sobald der Mensch aber mit einer schweren und lang andauernden Erkrankung konfrontiert wird, bedeutet das für ihn, dass er sein Leben gänzlich darauf einstellen und einen Weg finden muss, trotz und mit dieser Krankheit ein sinnvolles und erfülltes Leben zu führen.

In der vorliegenden Arbeit soll es darum gehen, aufzuzeigen, was es für den Menschen heißt, krank zu sein und sich im Krankenhaus aufhalten zu müssen und welche Bedeutung die Seelsorge für den kranken Menschen hat bzw. haben sollte. Dabei wird der Fokus zunächst auf die Rolle des Patienten und seinen Umgang mit der Krankheit gelegt. Das schließt eine Beleuchtung der Begriffe Krankheit und Gesundheit mit ein.

Im Zuge der Technisierung der modernen Medizin verändert sich auch die Situation des Patienten im Krankenhaus. Auch wenn kaum einer den Fortschritt der modernen Medizin missen wollen wird, so bedeuten doch die vermehrt computergesteuerten, technisierten Diagnostiken und Therapien für den Patienten eine zunehmende Verunsicherung. Er fühlt sich immer mehr den Apparaten ausgeliefert. Des weiteren führen immer knapper werdende Finanzmittel im Gesundheitswesen dazu, dass es eine große Personalnot gerade im Pflegebereich gibt, was wiederum dazu führt, dass die Pflegenden immer weniger Zeit für die Versorgung der Patienten haben.

Diese Entwicklung im modernen Gesundheitswesen bleibt auch für die Krankenhausseelsorge nicht ohne Folgen. Nicht nur, dass aufgrund von Einsparungen immer weniger hauptamtliche Seelsorger im Krankenhaus zur Verfügung stehen. Auch die immer kürzer werdenden Liegezeiten der Patienten im Krankenhaus führen dazu, dass Seelsorger immer mehr Menschen betreuen müssen.[1] Dies führt zwangsläufig zu Problemen und neuen Herausforderungen für die Seelsorge im Krankenhaus. Daher soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit dargestellt werden, welche Aufgaben und Funktionen die Seelsorge im Krankenhaus hat, mit welchen Schwierigkeiten sie konfrontiert wird und wie es demzufolge um ihre Stellung in der Institution Krankenhaus bestellt ist. Darauf folgend wird darzustellen sein, wie der Patient selbst der Seelsorge gegenüber steht. Was bedeutet es für den Patienten im Krankenhaus, das Angebot einer Seelsorge zu bekommen und welche Erwartungen hat er ihr gegenüber?

Am Ende der Arbeit werden schließlich Perspektiven einer patientenorientierten Seelsorge vorgestellt, die aufzeigen sollen, was eine Seelsorge im Krankenhaus leisten sollte, damit sich der Patient als Individuum und nicht nur als „Maschine Mensch mit Defekt“ anerkannt weiß.

Der einfacheren Lesbarkeit halber verwende ich in meiner Arbeit ausschließlich die maskuline Personalendung. So spreche ich z.B. vom „Seelsorger“ und nicht von der „Seelsorgerin“. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass die feminine Form damit automatisch eingeschlossen ist.

II. Die Entwicklung der Seelsorgebewegung und ihre Bedeutung für die Seelsorge im Krankenhaus – ein kurzer Überblick

Speziell im Bereich der Krankenhausseelsorge spiegeln sich Konzepte der allgemeinen Seelsorgelehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung wider. Es soll im Folgenden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, eine exemplarische Auswahl dargestellt werden, die besonders für die Seelsorge im Krankenhaus Auswirkungen hatten.

Das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert war durch ein starkes Interesse an Fragen zur Seelsorgelehre und zur seelsorglichen Praxis gekennzeichnet. Zum einen begründete sich das in der Theologie F. Schleiermachers und der unter seinem Einfluss stehenden Theologen wie A. Schweizer und C.I. Nitzsch, zum anderen wurde es durch die Reaktion auf den gesellschaftlichen Übergang zur ‚modernen Welt’ und die sozialen Nöte der Zeit bestimmt.[2]

Die Wende, die sich nach dem 1. Weltkrieg in der protestantischen Theologie unter der Führung Karl Barths anbahnte und zu einem theologischen Umbruch führte, fand seine nachhaltigste Ausprägung in der Seelsorgetheorie Eduard Thurneysens. In der dialektischen Seelsorgetheorie Thurneysens wird der Absolutheitsanspruch der Verkündigung des Wortes Gottes über die Homiletik hinaus auch für die Seelsorgelehre postuliert und konkretisiert. „Das Theologoumenon von ‚Rechtfertigung allein aus Gnaden’ wird zum absoluten Kriterium jeder Seelsorgetheorie und –praxis erhoben und als ihr theologisches Ziel die Erkenntnis der Sündhaftigkeit im Kontrast zur alleinigen Gnade Gottes fixiert. Möglich ist dies nur aufgrund der Selbsterschließung Gottes in seinem Wort, da die absolute Diastase zwischen Gott und Mensch Ausgangspunkt dieses theologischen Ansatzes ist.“[3] Im Gegensatz zur Predigt ist Seelsorge als Verkündigung des Evangeliums an die einzelne Person zu bestimmen. „Seelsorge findet sich in der Kirche vor als Ausrichtung des Wortes Gottes an den Einzelnen. Sie ist wie alles rechtmäßige Tun der Kirche begründet in der Lebendigkeit des der Kirche gegebenen Wortes Gottes, das darnach verlangt, in mancherlei Gestalt ausgerichtet zu werden.“[4] Die Verkündigung ist als streng zielgerichtetes Gespräch definiert. Seelsorge zielt auf einen Erkenntnisprozess mit theologischem Vorzeichen: alles menschliche Denken, Wollen und Handeln wird durch das Wort Gottes dem theologischen Urteil unterstellt. „Die sich hier vollziehende Vertauschung der anthropozentrischen Ebene durch die theozentrische wird programmatisch als notwendiger Bruch in jedem Seelsorgegespräch bezeichnet.“[5] Dieser kerygmatische Seelsorgeansatz wurde immer wieder kritisiert, vor allem wegen seiner mit Problemen behafteten praktischen Umsetzbarkeit. E. Naurath weist kritisch darauf hin, dass der der Immanenz verhaftete Mensch in seinen Gegebenheiten in diesem Seelsorgekonzept grundsätzlich entwertet werde. Gerade in der körperlichen und psychosomatischen Krisenerfahrung von Krankheit und Sterben führe dieser Ansatz zu einer faktischen Verdrängung der akuten Problemlage. Naurath ist der Ansicht, dass für Patienten, die von dieser Seelsorgepraxis betroffen waren, dies eine Verstärkung der Entfremdung vom eigenen Selbst bedeutete. „In der theologischen Verknüpfung von Krankheit und Sünde findet dieser Aspekt der Körperentfremdung seine dualistische Spitze. Es ist damit deutlich, dass dieser Ansatz – trotz der Betonung seiner ‚Ganzheitlichkeit’ – die Leiblichkeit des Menschen ignoriert oder sogar gezielt negiert. Dass er damit der spezifischen seelsorgerlichen Aufgabe am Krankenbett nicht gerecht werden kann, ist offensichtlich.“[6]

Aufgrund der wachsenden Kritik am kerygmatischen Ansatz kam es seit etwa 1950 zu einer Neuorientierung in der Seelsorgetheorie und –praxis, was sich besonders in der Krankenseelsorge zeigte. Hintergrund war die wachsende Verlagerung der Krankenseelsorge in die Institution Krankenhaus, verbunden mit einem Strukturwandel des Krankenhauses als Ort zunehmender Spezialisierung und Technisierung der medizinischen Diagnostik und Therapie. Das Problem der Funktions- und Beziehungslosigkeit der verkündigenden Seelsorge im Großbetrieb Krankenhaus führte dazu, dass die Seelsorge sich zunehmend von der Situation und Bedürfnislage der Patienten ableitete. Hieran anschließend setzte auch die Diskussion um verstärkte Integration psychologischer und psychotherapeutischer Erkenntnisse in die Seelsorgelehre ein.[7]

Mit der Rezeption der amerikanischen Seelsorgebewegung Ende der sechziger Jahre vollzog sich in Deutschland endgültig ein grundlegender Wandel im Seelsorgeverständnis. Es trat nun, als strikte Abkehr vom Verkündigungsmodell der kerygmatischen Seelsorgetheorie, der Aspekt der Lebenshilfe vor dem der Glaubenshilfe in den Vordergrund. Gerade das Krankenhaus wurde zum Brennpunkt der Notwendigkeit einer Neuorientierung, „weil hier angesichts eines breiten Spektrums von Menschen in der situativen Krise von Krankheit oder Unfall die Validität des theologischen Auftrags besonders zur Disposition stand. So begründet sich die Seelsorgebewegung aus dem [...] Ungenügen des mangelnden Praxisbezugs der theologischen Ausbildung und der institutionell vorgegebenen, strikten Trennung der Zuständigkeitsbereiche von Theologie und Medizin.“ So entstand schließlich das Programm des Clinical Pastoral Training.[8] Dieses Konzept der therapeutischen Seelsorge zeichnet sich dadurch aus, dass es in der Regel nicht-direktiv vorgeht und sich an dem klientenzentrierten Ansatz des humanistischen Psychologen C.R. Rogers, der die für den Aufbau einer helfenden Beziehung entscheidenden Therapeutenvariablen Echtheit, Wertschätzung und Empathie beschrieben hat, orientiert. Als Ausbildungskonzept in der Weiterbildung von Pastoren hat sich im Zuge der Seelsorgebewegung die sog. Klinische Seelsorgeausbildung (KSA) etabliert, die aus den USA über die Niederlande nach Deutschland kam.[9] Ihr Ziel ist es, in praxisorientierten und –begleitenden Kursen und mit Hilfe der Untersuchung von Seelsorgeprotokollen zu vertiefter Selbst- und Fremdwahrnehmung und dadurch zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit in der Seelsorge anzuleiten.[10]

III. Der Patient in der Institution Krankenhaus

Im Zeitalter von Wissenschaft, Technik und Fortschritt zeichnet sich das Gesundheitswesen dadurch aus, dass es immer komplexer, kostspieliger und personalaufwendiger wird. Die konsequente Anwendung von Naturwissenschaft und Technologie auf den Menschen hat zu großen Erfolgen geführt. Die Leistungen des gesamten medizinischen Apparates sind unverkennbar. Es werden immer bessere diagnostische Möglichkeiten durch immer präziser werdende operative Untersuchungsmethoden ermöglicht, die Qualität des therapeutischen Handelns durch Apparate und Medikamente der High-Tech-Medizin wird gesteigert. Infolgedessen können vormals heilungsresistente Krankheiten weitgehend überwunden werden und die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung wird verlängert. Ebenso wird die Lebensqualität von chronisch kranken und behinderten Menschen entscheidend und nachhaltig verbessert. In dieser Entwicklung ist ein hohes Gut zu erkennen und kaum einer will die moderne Medizin noch missen.[11]

In dem Zusammenhang ist nun aber zu fragen, wie sich diese Entwicklung auf den Patienten auswirkt. Daher soll im Folgenden dargestellt werden, was es für den kranken Menschen heißt, „Patient“ im Krankenhaus zu sein. In welcher Situation befindet er sich und welche Rolle nimmt er als Patient im Krankenhaus ein? Ebenfalls soll in diesem Kontext aufgezeigt werden, was das Kranksein für den Patienten als Individuum bedeutet. Das schließt eine Untersuchung der Begriffe „Krankheit“ und „Gesundheit“ wie auch die Frage nach Sinn von Krankheit und dem damit verbundenen Leiden mit ein.

III.1. Die Rolle des Patienten im Krankenhaus

Soziologisch betrachtet, sind Organisationen bzw. Institutionen Einrichtungen, in denen bestimmte Ziele durch das gemeinsame Handeln mehrerer erreicht werden sollen. Zu den wichtigsten Koordinationsinstrumenten gehören Regeln und Routine, durch die festgelegt werden, welche Behandlungen von den Beteiligten in definierten Situationen zu erwarten sind. Regeln und Routinen erleichtern zwar den alltäglichen Umgang der Organisationsmitglieder miteinander, aber andererseits schränken sie auch den Handlungsspielraum des Einzelnen und seine Entscheidungsfreiheit ein.[12] Dieser Sachverhalt trifft auf das Krankenhaus zu. Wenn ein Patient ins Krankenhaus aufgenommen wird, bedeutet das für ihn, dass er seine vertraute Umgebung verlassen und sich in die Obhut des Krankenhauses begeben muss. Ab diesem Moment wird von ihm erwartet, dass er sich den ‚Spielregeln’ des Krankenhauses unterordnet.

Das Leben im Krankenhaus ist von einem festen zeitlichen Rhythmus gekennzeichnet. Dieser gilt für alle Patienten verbindlich, Ausnahmen sind nur nach vorheriger Absprache und mit der Zustimmung des Personals möglich. Daneben gibt es auch noch Arbeitsvollzüge, die zeitlich nicht festgelegt sind, die also ‚bei Gelegenheit’, ‚wenn der Arzt Zeit findet’ oder ‚wenn die Laborwerte eingetroffen sind’ durchgeführt werden. Das bedeutet für den Patienten, dass er ständig präsent und verfügbar sein muss, was nicht nur seine Bewegungs- und Kontaktmöglichkeiten begrenzt, sondern auch einen Großteil seiner Privatsphäre einfordert.[13] Diese neue Rolle des Patienten bedeutet aber nicht nur den Verlust seiner Selbständigkeit, sondern auch eine Umwertung seiner Person. Es ist jetzt nur noch sein Krankheitsbild und sein Genesungsverhalten interessant. Ein guter und pflegeleichter Patient ist dann, wer sich fügt und ohne zu murren bei allem mitmacht – also funktioniert. Damit heißt ein Krankenhausaufenthalt für die Patienten auch Einschränkung ihrer Persönlichkeit. Sie werden in verschiedene Gebäudeteile geschoben, in Funktionsabteilungen oft serienmäßig abgefertigt, als Nummern hintereinander untersucht und von Personen betreut, die sie nie wieder sehen werden.[14]

Zu den organisatorischen Belastungen kommen noch weitere Belastungsmomente auf den Patienten im Laufe seines Krankenhausaufenthalts zu. Das beginnt bereits mit der Aufnahme auf die Station. Die Situation der Patientenaufnahme wird von den Beteiligten unterschiedlich empfunden. Für die Patienten ist die Situation emotional aufgeladen. Sie haben unter Umständen Angst vor einer ‚schlechten’ Diagnose oder vor schmerzhaften oder schambesetzten Eingriffen. Es ist daher anzunehmen, dass Patienten in dieser Situation mehr oder weniger verunsichert sind. Für das medizinische Personal dagegen handelt es sich bei der Patientenaufnahme um Alltagsroutine. Oft geschieht das unter Zeitdruck, weil noch andere Patienten aufgenommen werden wollen bzw. andere Patienten, die schon da sind, versorgt werden müssen. So kann es dazu kommen, dass sich unter Umständen erst einmal niemand um die Neuankömmlinge bemüht oder dass sie von Personen angesprochen werden, die sich nicht vorstellen. Diese Situation verstärkt für die Patienten das Gefühl, dieser Institution ausgeliefert zu sein.[15]

Ein weiterer Belastungsmoment für Patienten sind die Aufklärungsgespräche vor invasiven diagnostischen Maßnahmen oder Behandlungen. Aufklärungsgespräche sind stark durch juristische Maßnahmen bestimmt. Es geht den Ärzten vor allem darum, die Einwilligung der Patienten zu erhalten, damit sie juristisch gesehen keine Körperverletzung begehen. Problematisch ist, dass die Gespräche meist erst dann mit dem Patienten geführt werden, wenn die Entscheidung zur Behandlung eigentlich schon gefallen ist. Dazu kommt, dass eine Risikoaufklärung für die Patienten in der ohnehin schon belastenden Situation eine zunehmende Verunsicherung bedeutet und die Patienten aus dieser Situation heraus die Fülle von Informationen noch schlechter verarbeiten können. Damit wird die Einwilligung nahezu zu einer Farce. Für die Ärzte ist das Gespräch meist eine Aufgabe, das sie unter Zeitdruck schnell noch ‚hinter sich bringen’. Daher werden Informationen schnell präsentiert und der Patient bekommt noch mehr das Gefühl, oft auch aus Unwissenheit, vom Arzt anhängig zu sein. Für den Patienten ist es aber nicht getan, ihn mit den notwendigsten Informationen über seinen Zustand und die gebotenen ärztlichen Maßnahmen zu versorgen. Denn hierbei wird übersehen, dass der Patient diese Informationen auch emotional verarbeiten muss.[16] Daher wäre ein Informationsgespräch, das in Ruhe und mit der gewissen Zuwendung zum Patienten geschieht, sehr viel hilfreicher, da das für den Patienten eine emotionale Beruhigung bedeuten würde.[17]

Generell wirkt sich der personelle Notstand des Pflegepersonals und die daraus folgende Arbeitsüberlastung sowie der damit verbundene Zeitdruck erheblich auf die Patienten aus. Das schlägt sich auch in der Beziehung zwischen Arzt und Patient nieder.[18] Insbesondere in den klinischen Visiten, die im Durchschnitt nicht länger als 3-4 Minuten dauern, zeigt sich dieses Problem. Sie gehen kaum auf den Patienten ein bzw. geben ihm kaum Möglichkeiten, in der kurzen Zeit Fragen zu stellen. Das führt dazu, dass sich der Patient nicht als Person ernst genommen, sondern sich als ‚Nummer’ abgefertigt fühlt.[19]

Somit wirkt sich nicht nur die Krankheit des Patienten, sondern auch der Krankenhausaufenthalt selbst für den Patienten psychisch belastend aus. Je weiter die Entwicklung der medizinischen Technik in Diagnose und Therapie voranschreitet, desto wichtiger wird die menschliche Zuwendung und Begleitung von Patienten. Nur so verliert der Patient etwas von dem Gefühl des Ausgeliefertseins an das, was ihm Angst macht. Folgendes Beispiel soll diesen problematischen Sachverhalt verdeutlichen und zum Nachdenken anregen. Eine Krankenhausseelsorgerin, die als Dienstvorbereitung ein Krankenpflegepraktikum an einer Universitäts-Strahlenklinik machte, berichtet: „ Ich hatte einen älteren Mann, der unter starken Schmerzen litt, zu einer Untersuchung von einem Haus in das andere zu bringen. Es schien mir das Selbstverständlichste von der Welt zu sein, dass ich neben ihm sitzen blieb und wartete, bis die Untersuchung abgeschlossen war. Dieser Patient hat mir das Bei-ihm-Bleiben in einer Situation, die ihm Angst machte, bis zu seinem Tode nie vergessen. Hinterher wurde mir freilich klar gemacht, dass ich in dieser Zeit eigentlich auf der Station gebraucht worden wäre.“[20]

III.2. Anthropologische und ethische Überlegungen zu den Begriffen „Krankheit“ und „Gesundheit“

Die Begriffe Gesundheit und Krankheit sind nicht nur für die Medizin bedeutend, sondern auch für das individuelle und soziale Leben überhaupt. Daher hängt von der Klärung dieser Begriffe das Schicksal von Menschen ab bzw. werden ökonomische und juristische Entscheidungen dadurch bestimmt.[21]

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Gesundheit als den „Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur (als) das Freisein von Krankheit und Gebrechen“.[22] Diese Definition wird aufgrund ihrer eher utopischen Zielvorstellung von vielen Autoren kritisiert. U. Eibach weist darauf hin, dass mit dieser Definition eine Maximalgröße eingeführt wird, die eben wegen ihrer utopischen Züge nicht praktikabel, aber Ausdruck eines fraglichen Menschenbildes und ambivalenter gesellschaftlicher Erwartungen ist. Denn wenn die Definition trotz ihrer utopischen Züge als eine zu realisierende Zielgröße verstanden worden ist, entspringt sie einem Fortschrittsglauben, der vollkommenes Wohlbefinden für eine machbare Größe und die Beseitigung aller Krankheiten und Leiden für eine menschliche Möglichkeit hält. Für den modernen Menschen ist der Fortschritt zum „Heil“ nicht mehr Gottes Wunder und Gegenstand der Hoffnung (vgl. Röm 8,18ff.; Offb. 21,3f.), sondern offenbar Planungsziel und eine für machbar gehaltene Größe. Selbst wenn die Definition der WHO nicht Ausdruck dieser Geisteshaltung sein sollte, so Eibach, sei es bedenklich, dass durch sie jede Beeinträchtigung des Wohlbefindens als Hindernis am Glück und als Einschränkung wahrhaft menschlichen Lebens betrachtet werde, bei deren Auftreten man sich schnellstens an die Therapeuten wenden soll, damit sie die Störung beseitigen.[23]

Auch E. Naurath nimmt zur Definition der WHO kritisch Stellung. Positiv sieht sie in dem Definitionsversuch allerdings, dass der Komplexität von Gesundheit als Einheit körperlicher, geistiger und sozialer Zustände entsprochen wird und er sich damit gegen eine einseitige somatische Blickrichtung wendet. Aber kritisch beurteilt auch sie den utopischen Charakter. Sie macht deutlich, dass sich in dieser Definition typische Charakteristika eines modernen Gesundheitsideals widerspiegeln: „Mit dem Ideal von Gesundheit als umfassendem Wohlbefinden verbindet sich der Anspruch einer realisierbaren Heilsvorstellung, die theologisch-eschatologische Erwartungen auf immanente Verhältnisse transferiert und damit entwertet. [...] Der neuzeitlich-rationale Abschied von einer theologischen Weltdeutung führt damit zu einem säkularen Krankheitsverständnis, das in Korrelation zum medizinischen Fortschritt(sglauben) zu sehen ist. Krankheit ist ein aufgrund logischer Zusammenhänge erklärbares mechanistisches Phänomen, dem mit zunehmender medizinischer, technischer und pharmakologischer Forschung erfolgreich begegnet werden kann.“[24]

Um die Mängel der Gesundheitsdefinition der WHO auszuschalten, geht U. Eibach von einer formalen, stark am biologischen Verständnis von Leben als einer sich selbst regulierenden Ganzheit von Lebensvorgängen aus. „Gesundheit wäre dann dasjenige Geschehen, in dem eine sinnvolle, geordnete Einheit der Teile zum Lebensganzen einschließlich der Beziehungen zur Mit- und Umwelt gegeben ist, mithin das Geschehen, in dem die Regulation im Organismus und des Organismus zur Mit- und Umwelt geordnet und so eine Harmonie aller Lebensverhältnisse möglich ist. Dementsprechend wäre Krankheit eine Störung derjenigen Beziehungen, die Leben ausmachen, also eine Disharmonie im Gefüge der Lebensvorgänge.“[25] Gesundheit ist nach dieser Definition folglich Kraft und Voraussetzung zur Verwirklichung der dem Menschen aufgegebenen Lebensbestimmung. Damit wäre das Subjekt und seine Lebensbestimmung und Lebensauffassung Grundlage und Ausgangspunkt dieses Gesundheitsverständnisses, und ob jemand krank ist, entscheidet sich daran, ob und wie er seinen Lebenssinn verwirklichen kann.[26]

Ähnlich sieht es M. Klessmann. Er kritisiert an der Gesundheitsdefinition der WHO, dass sie die Begrenztheit menschlichen Lebens und menschlicher Gesundheit verschweigt. Daher müsse Gesundheit so definiert werden, dass jemand allein oder mit Hilfe anderer in seinen Grenzen ein zufriedenstellendes Gleichgewicht findet, das ihm erlaubt, das Leben, die Krankheit und das Sterben als das eigene anzuerkennen und anzunehmen.[27] J. Ziemer geht sogar soweit, dass er eine exakte Definition von Krankheit und Gesundheit ausschließt. Stattdessen schlägt er vor, zwischen einem Idealbegriff von Gesundheit, also einer umfassenden Gesundheit für alle als Utopie menschlichen Strebens, und einem Realbegriff zu unterscheiden. Beim letzteren bezieht sich Ziemer auf Karl Barth, der Gesundheit als leibseelische Kraft zum Menschsein beschreibt. Somit kann es zur Gesundheit auch gehören, eine Krankheit anzunehmen und mit gesundheitlichen Belastungen umzugehen. Daher kann ein Behinderter oder jemand, der mit einschneidenden Krankheitsfolgen leben muss, durchaus gesund genannt werden.[28]

[...]


[1] Siehe zu genaueren Zahlen und Statistiken im Anhang.

[2] Vgl. H. Eschmann, Theologie der Seelsorge, S. 5.

[3] E. Naurath, Seelsorge als Leibsorge, S. 46f.

[4] E. Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge, S. 9.

[5] E. Naurath, Seelsorge als Leibsorge, S. 48.

[6] E. Naurath, Seelsorge als Leibsorge, S. 64.

[7] Vgl. ebd., S. 64f.

[8] Vgl. ebd., S. 70.

[9] Mit Dietrich Stollberg und seinem Konzept der „therapeutischen Seelsorge“ gab es erstmals jemanden in Deutschland, der die amerikanische Seelsorgebewegung des Pastoral Clinical Training kritisch rezipiert und damit den Wechsel vom verkündenden zum klientenzentrierten Modell durchgesetzt hat.

[10] Vgl. H. Eschmann, Theologie der Seelsorge, S. 15.

[11] Vgl. J. Ziemer, Seelsorgelehre, S. 269f.

[12] Vgl. T. Kohlmann, Patient und Organisation, S. 391.

[13] Vgl. T. Kohlmann, Patient und Organisation, S. 392; so auch J. Siegrist, Seelsorge im Krankenhaus, S. 30.

[14] Vgl. R. Gestrich, Das seelsorgerliche Gespräch in der Krankenpflege, S. 39; so auch S. Allwinn, Krankheitsbewältigung als individueller, interaktiver und sozialer Prozess, S. 74f.

[15] Vgl. S. Allwinn, Krankheitsbewältigung als individueller, interaktiver und sozialer Prozess, S. 63; R. Gestrich, Das seelsorgerliche Gespräch in der Krankenpflege, S. 38f.; V. Gisbertz, Ist einer von euch krank, S. 22f.

[16] Vgl. H.-C. Piper, Kranksein – Erleiden und Erleben, S. 27.

[17] Vgl. hierzu auch S. Allwinn, Krankheitsbewältigung als individueller, interaktiver und sozialer Prozess, S. 66f.

[18] Vgl. H.-C. Piper, Kranksein – Erleiden und Erleben, S. 23.

[19] J. Siegrist weist als Ausweg aus diesem Missstand auf das sog. Ulmer Stationsmodell aus den siebziger Jahren hin. Dort wurde auf einer psychosomatischen Modellstation der Internistischen Abteilung einer Universitätsklinik die Arbeitsorganisation so umgestellt, dass wesentlich mehr Zeit für die tägliche Visite zur Verfügung stand und die Visite selbst in eine Vor- und Nachbesprechung außerhalb des Krankenzimmers sowie ein Gespräch mit dem Kranken aufgegliedert wurde. Zwischen Ärzten und übrigen Berufsgruppen auf Station entwickelte sich eine intensive Kooperation, die auch auf andere Tätigkeiten ausstrahlte. Dieses Modell erwies sich als sehr erfolgreich und zeigt, wie wichtig es ist, angesichts zunehmender Technisierung und Arbeitsteiligkeit des Organisationshandelns im Krankenhaus, sprachlich vermittelte Interaktionsleistungen und Zuwendungen zum Patienten besser zu schulen und systematisch zu fördern. (J. Siegrist, Seelsorge im Krankenhaus, S. 33f.).

[20] gefunden bei: G. Scharffenorth/ A.M.K. Müller, Patienten-Orientierung als Aufgabe, S. 296.

[21] Vgl. U. Eibach, Heilung für den ganzen Menschen, S. 19.

[22] Zit. nach ebd., S. 20.

[23] Vgl. ebd., S. 22f.

[24] E. Naurath, Seelsorge als Leibsorge, S. 142f.

[25] U. Eibach, Heilung für den ganzen Menschen, S. 25.

[26] Vgl. ebd., S. 28.

[27] Vgl. M. Klessmann, Die Stellung der Krankenhausseelsorge in der Institution Krankenhaus, S.41f.

[28] Vgl. J. Ziemer, Seelsorgelehre, S. 267f.

Fin de l'extrait de 48 pages

Résumé des informations

Titre
Der Patient/Die Patientin in der evangelischen Krankenhausseelsorge - Theologische und seelsorgerliche Perspektiven
Université
University of Hamburg  (Geisteswissenschaftliche Fakultät - Fachbereich Evangelische Theologie)
Note
1
Auteur
Année
2008
Pages
48
N° de catalogue
V113028
ISBN (ebook)
9783640132140
ISBN (Livre)
9783640134700
Taille d'un fichier
1141 KB
Langue
allemand
Mots clés
Patient/Die, Patientin, Krankenhausseelsorge, Theologische, Perspektiven
Citation du texte
Christine Hoppe (Auteur), 2008, Der Patient/Die Patientin in der evangelischen Krankenhausseelsorge - Theologische und seelsorgerliche Perspektiven, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113028

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