Wolodymyr Selenskiy und die Partei "Diener des Volkes" - ein populistisches Phänomen?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2021

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Theoretische Grundlagen
2.1. Populismus als Ideologie
2.2. Populismus als Strategie
2.3. Populismus als Denkstil

3. Historischer Kontext
3.1. Die Ukraine im Spannungsfeld zwischen Russland und der EU
3.2. Euromaidan-Revolution und ihre Folgewirkungen
3.3. Post-Maidan: Regierung Poroschenko
3.4. Wolodymyr Selenskiy und „Diener des Volkes“

4. Analytischer Teil
4.1. Analyse: Populismus als Ideologie
4.2. Analyse: Populismus als Strategie
4.3. Analyse: Populismus als Denkstil

5. Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Nach dem Sturz des zunehmend autoritar regierenden Janukowitsch-Regimes und dem Erfolg der Euromaidan-Revolution 2013/2014 erlebte die Ukraine im Jahr 2019 eine erneute Revolu- tion - diesmal an der Wahlurne. Mit einer überwaltigenden Mehrheit von über 73 Prozent der Stimmen setzte sich der ehemalige Comedian und Schauspieler Wolodymyr Selenskiyin der zweiten Runde der Prasidentschaftswahlen gegen den Amtsinhaber Petro Poroschenko durch. In den daraufhin vorgezogenen Parlamentswahlen gelang es Selenskiys neugegründe- ter Partei „Diener des Volkes“ (DdV), die ausschliefclich auf politische Novizen setzte, mit über 43 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit zu erreichen und ohne einen Koalitionspartner die Regierung des Landes zu stellen (vgl. Ukraine-Analysen Nr. 221: S.2). Die Reaktionen auf den Wahlerfolg Wolodymyr Selenskiys und seiner Partei waren gemischt. Einerseits wurde allgemein anerkannt, dass es grundsatzlich und vor allem in einem postsowjetischen Land ein hoher Wert sei, dass sich infolge eines von internationalen Wahlbeobachtern als „frei und kor- rekt“ (Apelt 2019: S.5) eingeschatzten Wahlprozesses ein friedlicher und demokratisch legiti- mierter Machtwechsel vollzogen hat. Andererseits waren in der deutschen Presse- und Medi- enlandschaft zahlreiche Stimmen zu vernehmen, die die Wahl eines Politik-Neulings zum uk- rainischen Prasidenten kritisch bewertetenund Selenskiy als „Populisten“ -und zwar in unter- schiedlichsten Facetten und Auspragungen - bezeichneten. „Der Sieg des Linkspopulismus“ (Konontschuk, 2019) lautet etwa ein von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffent- lichter Kommentar zu den Ergebnissen der Prasidentschaftswahl in der Ukraine. In der Tages- zeitung „Die Zeit“ wird Selenskiy stattdessen mit anderen Populisten wie etwa dem Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien Beppe Grillo oder dem ehemaligen US-Prasidenten Do- nald Trump verglichen (vgl. Brunner, 2019). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt über Selenskiy: „Der Prasident betreibt eine neue Form des Populismus“ (Klimeniouk, 2019). Wilfried Jilge von der Deutschen Gesellschaft für Auswartige Politik (DGAP) warnt gar vor „populistische[n] und autoritaren[n] Verhaltensweisen“ (Jilge, 2019) des neuen ukrainischen Prasidenten.

Die vorliegende Arbeit greift diese Debatte um den 2019 neu-gewahlten ukrainischen Prasi- denten auf und setzt sich zum Ziel, das Phanomen des Wolodymyr Selenskiyund seiner Partei „Diener des Volkes“ in den wissenschaftlichen Populismusdiskurs einzuordnen. Die For- schungsfrage, die in diesem Kontext beantwortet werden soll, lautet: inwieweit handelt es sich bei dem Wahlsieg von Wolodymyr Selenskiy bei den Prasidentschaftswahlen 2019 und dem darauffolgenden Erfolgseiner Partei „Diener des Volkes“ bei den vorgezogenen Parlaments- wahlen um ein populistisches Phanomen?

Die wissenschaftliche Relevanz der Fragestellung ergibt sich aus dem Blickwinkel der Popu- lismusforschung. Kaum ein anderes Phanomen hat in den letzten Jahren den politikwissenschaftlichen Diskurs derart bestimmt. Wie die Untersuchung „The PopuList“ (vgl. Rooduijn et al., 2019) zeigt, gewinnen populistische Parteien im 21. Jahrhundert immer weiter an Bedeutung. Ob die linkspopulistische Syriza in Griechenland, die rechtspopulistische AfD in Deutschland oder die euroskeptische UKIP-Partei im Vereinten Königreich - populistische Akteure unterschiedlichster politischer Couleur haben sich in den jeweiligen politischen Sys­temen ihrer Lander etabliert. Entsprechend hat sich die wissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren verstarkt dem Phanomen Populismus aus verschiedenen Perspektiven gewid- met. Die vorliegende Arbeit greift die zentralen Positionen und Standpunkte der Populismus- forschung auf und versucht, ein - möglicherweise neuartiges Phanomen - in ihr zu verorten. Die politische Relevanz der Fragestellung bzw. der Fallauswahl speist sich aus der besonde­ren strategischen Bedeutung der Ukraine für die Europaische Union (EU). Vor allem nach der pro-europaischen „Revolution der Würde“ unterstützt die EU das Land bei dem Übergang zu einer funktionierenden Demokratie und einer freien Marktwirtschaft. Die Ukraine gilt in diesem Zusammenhang als Zugpferd der östlichen Partnerschaft und ihre zentrale Rolle wurde 2014 mit der Unterzeichnung des tiefgreifendsten und umfassendsten Freihandels- und Assoziie- rungsabkommens, das die EU jemals mit einem Drittstaat abschloss, nochmals unterstrichen. Die Erfolge des schwierigen Reformprozesses könnten durch einen populistischen Um- schwung im Land gefahrdet sein. Ebenso ist es aufgrund der durch Russland völkerrechtswid- rig annektierten Krim und der, bis heute anhaltenden russischen Aggression in der Ostukraine, für die Sicherheit und Stabilitat der EU von entscheidender Bedeutung, dass sich in der Ukra- ine keine autoritar-populistischen Machtstrukturen bilden, sondern das Land weiterhin auf sei- nem europaisch-demokratischen Kurs bleibt.

Die Struktur der Arbeit unterteilt sich in die Abschnitte theoretische Grundlagen, historischer Kontext, analytischer Teil sowie Zusammenfassung und Ausblick. Der erste Teil dieser Arbeit gibt zunachst einen Überblick über die einschlagige wissenschaftliche Literatur im Populis- musdiskurs. Ziel ist es dabei, für die zentralen Theorien der Populismusforschung jeweils ei- nen Analyserahmen mit klaren Kriterien herauszuarbeiten, nach denen politische Akteure und Parteien hinsichtlich ihrer populistischen Beschaffenheit bewertet werden können. Im zweiten Teil dieser Arbeit wird Wolodymyr Selenskiys politischer Werdegang und die Entstehungsge- schichte seiner Partei „Diener des Volkes“ kurz skizziert. Zum allgemeinen Verstandnis der politischen und gesellschaftlichen Situation in der Ukraine werden in diesem Zusammenhang auch die historischen Rahmenbedingungen erklart, unter denen der Machtwechsel in der Uk- raine stattfand. Anschliefcend soll im analytischen Teil dieser Arbeit anhand der zuvor aufge- stellten Kriterien untersucht werden, inwieweit sich Wolodymyr Selenskiy und seine Partei „Diener des Volkes“ in die jeweiligen theoretischen Konzepte der Populismusforschung ein- ordnen lassen. Als empirische Daten für die Analyse werden vor allem Primarquellen wie etwa die Inaugurationsrede des neuen Prasidenten oder das Wahlprogramm der Partei „Diener des Volkes“ herangezogen1. Verwendung finden aber auch Sekundarquellen, die den jüngsten po- litischen Machtwechsel in der Ukraine thematisieren. Schliefclich werden in der Zusammen- fassung die wichtigsten Erkenntnisse der Untersuchung nochmal festgehalten und die For- schungsfrage wird beantwortet. Ein kurzer Ausblick richtet sich in diesem Zusammenhang auch auf möglichen weiteren Forschungsbedarf zu diesem Thema.

2. Theoretische Grundlagen

Eine allgemein gültige Definition des Phanomens Populismus existiert in der Politikwissen- schaft nicht. Stattdessen lassen sich in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedliche An- satze finden, die versuchen, den Begriff Populismus zu definieren, zu typologisieren und ihn von anderen politischen Strömungen und Konzepten abzugrenzen. Die vier vorherrschenden Gruppen von Definitionsansatzen zielen darauf ab, Populismus entweder als Ideologie, als Strategie des Machterwerbs, als Denkstil bzw. Mentalitat oder als Diskurspraxis zu begreifen (vgl. Priester 2011: S.185). Der Ansatz, Populismus als eine Diskurspraxis bzw. als ein rheto- risches Mittel zu verstehen, kann für den Zweck der Einzelbeobachtung durchaus sinnvoll sein, ist aber eher ungeeignet, wenn es darum geht, systematisch zu analysieren, inwieweit es sich bei neuaufkommenden politischen Akteuren und Parteien um ein populistisches Phanomen handelt. Darum werden im Folgenden lediglich solche theoretische Konzepte behandelt, die Populismus entweder als eine eigenstandige Ideologie, als eine Strategie des Machterwerbs oder als einen Denkstil definieren. Aus forschungsökonomischen Gründen kann innerhalb ei- ner Gruppe von Definitionsansatzen nicht die gesamte Bandbreite an Positionen dargestellt werden. Darum wird nachfolgend eine Auswahl an theoretischen Konzepten vorgestellt, die sich besonders dazu eignen, politische Akteure und Parteien hinsichtlich ihrer populistischen Beschaffenheit zu bewerten und diese im wissenschaftlichen Populismusdiskurs entspre- chend zu verorten. Ziel dieses Abschnittes ist es auch, für die jeweiligen Definitionsansatze einen Analyserahmen mit klaren Kriterien herauszuarbeiten, um in einem nachsten Schritt, mithilfe empirischer Daten, die Forschungsfrage angemessen beantworten zu können.

2.1. Populismus als Ideologie

Das in der modernen Politikwissenschaft vorherrschende Verstandnis von Populismus ist ins- besondere durch die Arbeiten des Niederlanders Cas Mudde gepragt. Seine Grundidee ist, Populismus als eine „manichaische Ideologie“ (vgl. Jörke/Selk 2017: S 81) zu definieren, der zufolge, die Gesellschaft in zwei homogene und einander antagonistisch gegenüberstehende Gruppen gespalten ist: das „pure Volk“ gegen die „korrupte Elite“ (Mudde 2004: S.543). Dar- über hinaus zeichnet sich diese Ideologie durch ein bestimmtes Politikverstandnis aus: Politik soll Ausdruck eines allgemeinen und homogenen Volkswillens sein (vgl. Mudde 2004: S. 543). Die Gegenspieler des Populismus sind Mudde zufolge, der Elitismus und der Pluralismus. Der Elitismus stehe in Opposition zum Populismus, weil er das Volk als korrupt und gefahrlich betrachte und gute Politik dadurch charakterisiere, dass der Volkswille in ihr gerade nicht zum Zuge kommt. Der Pluralismus stehe im Gegensatz zum Populismus, weil er dessen Vorstel- lung von der Homogenitat des Volkes kritisiere und die Gesellschaft als ein buntes Geflecht heterogener Individuen und Gruppen verstehe (vgl. Jörke/Selk 2017: S. 82). Aufcerdem wird Populismus in diesem Zusammenhang als eine „dünn besetzte Ideologie“ (Freeden, 2003) verstanden, die im Gegensatz zu anderen voll entwickelten politischen Ideologien, wie etwa dem Liberalismus oder dem Sozialismus, keine klare inhaltliche Bestimmtheit aufweist. Aus diesem Grund sei der Populismus mit anderen Ideologien, wie etwa dem Kommunismus, dem Nationalismus oder auch dem Ökologismus kombinierbar. Dies gebe ihm erst eine konkrete inhaltliche Farbung und eine politisch-programmatische Ausrichtung (vgl. Jörke/Selk 2017: S. 82). Zusammenfassend lasst sich sagen, dass das ideologische Populismus-Verstandnis nach Mudde zwei zentrale Komponenten aufweist: einen Antielitismus gepaart mit der Vorstellung, eines homogenen, mit einem einheitlichen Willen versehenen Volkes (vgl. Schafer/Zürn 2021: S.45). Aufgrund seiner inhaltlichen Unbestimmtheit kann Populismus aufcerdem mit gehaltvol- leren Ideologien kombiniert werden und erscheint deshalb auch in unterschiedlichen Facetten, wie etwa einem Links- oder Rechtspopulismus.

Armin Schafer und Michael Zürn folgen in ihrem Buch „Die demokratische Regression“ dem Vorschlag von Mudde, dass „Populismus nicht blofc Politikstil oder Strategie zum Machterwerb ist, sondern durch ein Set von substantiellen politischen Positionen und Ideen gekennzeichnet wird“ (Schafer/Zürn 2021: S.45). Im Gegensatz zu Mudde betrachten sie Populismus aller- dings als mehr als eine „dünne Ideologie“, die lediglich auf der Gegenüberstellung zwischen dem einfachen Volk und dem Establishment sowie einer homogenen Vorstellung des Volkes beruht. Die Autoren argumentieren, dass sich der derzeitige Populismus vielmehr durch „ein spezifisches Politik- und Demokratieverstandnis“ (Schafer/Zürn 2021: S.45) auszeichnet, was ihn zu einem autoritaren Populismus macht, der sich anhand von vier Wesensmerkmalen be- schreiben lasst. Zunachst stellen sie fest, dass der gegenwartige Populismus nationalistisch sei. Wer zum Volk gehöre, stehe fest und sei nicht wandelbar. Zu diesem Verstandnis zahlt auch, dass die Politik nur die Interessen der eigenen Bevölkerung berücksichtigen müsse. „Grenzüberschreitende Verantwortung und Solidaritat gilt als Verrat an den einfachen Men- schen“ (Schafer/Zürn 2021: S.45). Darüber hinaus hat der autoritare Populismus eine homo­gene Volksvorstellung, denn zwischen dem wahren Volk und denen, die nicht dazugehören - wie etwa Migrant*innen - wird eine scharfe Trennlinie gezogen. Zudem argumentieren die Autoren, dass der gegenwartige Populismus dezisionistisch sei. Die Interessen und Ziele des Volkes stünden von vornherein fest, sodass es keine politischen Auseinandersetzungen und daher auch keine komplizierten Verfahren braucht, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Schliefèlich argumentieren Schafer und Zürn, dass der autoritare Populismus ei ne mehrheits- fixierte Komponente aufweist. Das bedeutet, politische Amtstrager*innen sind vor allem dazu da, den Mehrheitswillen unverfalscht umzusetzen. „ Am besten dienen diesem Zweck schnelle Volksentscheide, wenn sie dem Volkswillen adaquat Ausdruck verleihen können. Individual- und Minderheitenrechte gelten dabei als störend“ (Schafer/Zürn 2021: S.46). Diesen vier We- sensmerkmalen schreiben die Autoren aufcerdem gewisse autoritare T endenzen zu, die sich etwa in Angriffen auf die Gewaltenteilung, auf Oppositionsparteien, auf die freie Presse und in der offenen Missachtung von Gerichtsentscheiden oder parlamentarischen Verfahren bemerk­bar machen (vgl. Schafer/Zürn 2021: S.47).

Im Gegensatz zu Mudde begreifen Schafer und Zürn den gegenwartigen Populismus also als einen autoritaren Populismus, der für sich eine eigenstandige und vollwertige politische Ideo­logie darstellt und durch die oben genannten Bestimmungsmerkmale definiert werden kann. Dabei lassen sich - ahnlich wie bei Mudde - rechte und linke Varianten des autoritaren Popu- lismus unterscheiden. Wahrend der linksautoritare Populismus gegen die korrupten Eliten wet- tert, eine homogene Vorstellung von Gerechtigkeit innerhalb der Bevölkerung voraussetzt, die nationale Ökonomie zu schützen versucht und umfassende Sozialleistungen anbietet, fokus- siert sich die rechte Variante „primar auf die Exklusion von Menschen, die aus ihrer Sicht keine Mitglieder der Volksgemeinschaft sind und setzt sich für Steuererleichterungen und Privatisie- rungen ein“ (Schafer/Zürn 2021: S.50).

2.2. Populismus als Strategie

Eine andere Definition von Populismus wurde insbesondere von dem deutschen Politikwis- senschaftler Kurt Weyland mit Blick auf Erfahrungen in Lateinamerika entworfen. Weyland versteht Populismus nicht als eine voll entwickelte Ideologie, sondern als ein rein politisches Phanomen und konzentriert sich handlungstheoretisch vor allem auf die spezifisch populisti- schen Strategien zum Machterwerb, „wobei Strategien nicht mit Stil, Auftreten oder Rhetorik gleichzusetzen sind“ (Priester 2011: S.192). Ihm zufolge besteht Populismus aus dem Versuch einer ambitionierten Führungsperson, mittels einer Reihe von populistischen Methoden und Instrumenten, die Unterstützung einer nicht organisierten und sich politisch benachteiligt füh- lenden Masse zu gewinnen. Der zentrale Akteur ist hierbei der Populist selbst, der in einer direkten, nicht-mediatisierten Form mit seinen Unterstützer*innen kommuniziert und sich ihnen gegenüber als Heilsbringer inszeniert. Er nutzt soziale Missstande bewusst aus und propagiert deren Ursache bei der bestehenden Elite. Der Populist positioniert sich selbst dabei stets au- fcerhalb des Establishments und nimmt die Stellung eines politischen „Outsiders" ein. Als „he- roischer Heilsbringer“ (Jörke/Selk 2017: S 85) forciert er eine persönliche Beziehung zu seinen Unterstützern, was die Rolle von Parteien bei der Interessensartikulation und Übermittlung politischer Botschaften entkraftet (vgl. Weyland 2001: S.14f.). Entsprechend ist die Unterstützung, die er ersucht, auf ihn als Führungsfigur gemünzt und bleibt inhaltlich eher dif- fus, das heifct, sie ist nicht an eine detaillierte politische Programmatik geknüpft. Kontur ge- winnt er durch das Versprechen nationaler Widergeburt sowie in seinem vorgeblichen oder tatsachlichen Kampf gegen Establishment, Privilegien und Korruption (vgl. Weyland 2001: S.14). Darüber hinaus hebt Weyland eine gewisse Schnelllebigkeit des Populismus hervor. Populismus als eine Strategie des Machterwerbs sei immer transitorisch: Gelingt der Versuch, durch direkte Unterstützung der Massen, Regierungsmacht zu erlangen, kommen anschlie- fcend die Zwange des Regierens zur Geltung und der populistische Charakter der Führungsfi- gur verblasst. Gelingt der Machterwerb hingegen nicht, so schwindet der Glaube an den Po­pulisten als „heroischen Heilsbringer“ (vgl. Jörke/Selk 2017: S 86).

2.3. Populismus als Denkstil

Der Ansatz, Populismus als Mentalitat bzw. als Denkstil zu verstehen, ist besonders prominent durch die deutsche Politikwissenschaftlerin Karin Priester vertreten. Sie argumentiert, dass sich Populismus weder als Ideologie noch als eine politische Handlungsstrategie verstehen lasst, sondern vielmehr „eine latent immer vorhandene elitenkritische Mentalitat mittlerer und unterer sozialer Segmente“ (Priester 2011: S.196) darstellt. Der Begriff der populistischen Mentalitat wird vor allem durch drei zentrale Kriterien gekennzeichnet. Zum einen soll er dem programmatisch eher unterentwickelten Charakter populistischer Parteien und Politiker*innen Rechnung tragen. Zum anderen unterstreicht dieses Verstandnis, dass Populismus als Denk- stil stark von einer „gefühlsmafcig-affektiven und vordiskursiven Protest-, Abwehr oder Empö- rungshaltung lebt“ (Jörke/Selk 2017: S 84), die zum Teil in ideologiehaltigen Aussagen zum Ausdruck kommt, aber keine eigenstandige voll-entwickelte Ideologie darstellt. Darüber hinaus weitet Priester ihren Blick auch auf die Unterstützer*innen populistischer Parteien und Akteure aus und verortet sie in bestimmten gesellschaftlichen Schichten, die sich vor allem durch einen möglichen sozialen Abstieg bedroht fühlen.

3. Historischer Kontext

3.1. Die Ukraine im Spannungsfeld zwischen Russland und der EU

Seit ihrer Unabhangigkeit im Jahr 1991 befindet sich die Ukraine im Spannungsfeld zwischen Russland und der Europaischen Union. Wahrend die EU die Ukraine bei dem Übergang zu einer funktionierenden Demokratie und einer freien Marktwirtschaft unterstützt, versucht Russ- land nach dem Zerfall der Sowjetunion systematisch Einfluss auf die Ukraine zu nehmen und eine freiheitlich-demokratische Entwicklung des Landes zu verhindern. Die Ukraine selbst war lange Zeit bemüht, einen Ausgleich zwischen europaischer und russischer Ausrichtung ihrer Politik zu finden. Allerdings spitzten sich die Gegensatze zwischen einer vertieften EU-Integra- tion und der Annaherung an Russland in den letzten 20 Jahren immer weiter zu und spalteten das Land. Wahrend sich die Bevölkerung in der West- und Zentralukraine im Zuge der Oran- genen Revolution von 2004 klar für eine europaische Integration aussprach, bedeutete die Machtübernahme des vorwiegend im Osten u nterstützten Janukowitsch-Regimes im Jahr 2010, einen groten Rückschritt für die europaische Entwicklung des Landes (vgl. Kappeler 2015: S.297ff.).

3.2. Euromaidan-Revolution und ihre Folgewirkungen

Die Euromaidan-Revolution 2013/2014 bildet den Höhepunkt dieses Spannungsverhaltnisses und stellt das zentrale politische und gesellschaftliche Ereignis seit der Unabhangigkeit der Ukraine dar. Der Auslöser für die „Revolution der Würde“ war die Aussetzung der Unterzeich- nung des Assoziierungsabkommens durch den damaligen Prasidenten Wiktor Jan ukowitsch. Er gab dem massiven Druck der russischen Regierung nach, die sich wiederholt gegen das Assoziierungsabkommen ausgesprochen hatte, das den Planen einer Eurasischen Union, un- ter Einschluss der Ukraine, zuwiderlief und „Russlands Anspruch auf Hegemonie im postsow- jetischen Raum gefahrdete“ (Kappeler 2015: S.334). Als Antwort darauf demonstrierten Hun- derttausende Ukrainer*innen gegen das zunehmend autoritar agierende Janukowitsch-Re- gime und für europaische Grundwerte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschen- rechte. Insgesamt lieden im Zuge der „Revolution der Würde“ 122 Menschen ihr Leben, ehe Prasident Janukowitsch nach Russland floh und das ukrainische Parlament vorgezogene Par- laments- und Prasidentschaftswahlen ansetzte (vgl. Kappeler 2015: S.344).

Wahrend in Kiew in den Tagen nach der Euromaidan-Revolution eine Übergangsregierung gebildet wurde, überschlugen sich die Ereignisse auf der Krim und im Osten des Landes. Russland reagierte auf den Sieg des Euromaidans aufcerst negativ und behauptete, es handle sich um ein vom Westen inszeniertes, gegen Russland gerichtetes Komplott. Die vom russi- schen Fernsehen verbreitete Propaganda bezeichnete die neue Regierung in Kiew als eine „faschistische Junta“ und rief zum Widerstand gegen sie auf. Den Sturz des autokratischen Prasidenten Janukowitsch, die Hinwendung der Ukraine zur Europaischen Union und die da- mit mögliche Errichtung einer demokratischen Ordnung, die der Opposition in Russland als Vorbild dienen könnte, gaben schlieRJich den Ausschlag für die militarische Aggression Russ- lands gegen die Ukraine (vgl. Kappeler 2015: S. 351). Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Frühjahr 2014 und der anschliefcende Einmarsch in das ostukrainische Donbass-Ge- biet stellen in diesem Zusammenhang „die erste gewaltsame Grenzverschiebung eines Staa- tes in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ (Wahlers 2014: S.5) dar.

[...]


1 Alle ukrainisch- und englischsprachigen Zitate werden ins Deutsche übersetzt

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Wolodymyr Selenskiy und die Partei "Diener des Volkes" - ein populistisches Phänomen?
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto-Suhr-Institut)
Veranstaltung
Demokratische Regression
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
21
Katalognummer
V1130767
ISBN (eBook)
9783346495716
ISBN (Buch)
9783346495723
Sprache
Deutsch
Schlagworte
wolodymyr, selenskiy, partei, diener, volkes, phänomen
Arbeit zitieren
Yevgen Lozynskyy (Autor:in), 2021, Wolodymyr Selenskiy und die Partei "Diener des Volkes" - ein populistisches Phänomen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1130767

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