Mit dem völlig zutreffenden Hinweis, dass nicht einmal drei Prozent aller Behinderungen rein genetisch bedingt und die übrigen das Ergebnis des ganz normalen Lebensrisikos sind, wird man, so befürchte ich, nicht verhindern können, dass die gesellschaftliche Akzeptanz des Lebens von und mit Behinderten mehr und mehr schwinden wird.
Das hat (eher schlechte) Gründe: Lange habe ich geglaubt, es sei ein Widerspruch, wenn einerseits Behinderte zunehmend als Teil gesellschaftlicher Pluralität anerkannt werden, sie zumindest als exotischer Part gesellschaftlicher »Vielfalt« massenmedial vermarktet werden,
sie in der Gesetzgebung oder der Wissenschaft (»Disability Studies«) angemessene Berücksichtigung finden und doch gleichzeitig die vermeintlichen »Fortschritte« der Gentechnologie auf immer breitere gesellschaftliche Akzeptanz stoßen, so dass mit der scheinbar realen Möglichkeit auch der allgemeine Wunsch wächst, Behinderung unter allen Umständen zu vermeiden. Und doch bilden beide Entwicklungen, wenn man sie aus der Perspektive der Gesamtgesellschaft
betrachtet, keineswegs einen so scharfen Gegensatz, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Die Frage nach dem Verhältnis von Gentechnologie und Behinderung verbindet sich mit der nach dem Charakter eines modernen Gemeinwesens. Und es geht dann vor allem um die Frage, welche behinderten Menschen welcher Art von Gesellschaft förderlich sind.
Walter Grode
>Behinderte queren<
Zwischen Exotik und Vermeidung. Warum Behinderung (auch) ein gesellschaftliches Versprechen ist; in: >Freitag<, Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 31 – 27. Juli 2001
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Mit dem völlig zutreffenden Hinweis, dass nicht einmal drei Prozent aller Behinderungen rein genetisch bedingt und die übrigen das Ergebnis des ganz normalen Lebensrisikos sind, wird man, so befürchte ich, nicht verhindern können, dass die gesellschaftliche Akzeptanz des Lebens von und mit Behinderten mehr und mehr schwinden wird.
Das hat (eher schlechte) Gründe: Lange habe ich geglaubt, es sei ein Widerspruch, wenn einerseits Behinderte zunehmend als Teil gesellschaftlicher Pluralität anerkannt werden, sie zumindest als exotischer Part gesellschaftlicher »Vielfalt« massenmedial vermarktet werden, sie in der Gesetzgebung oder der Wissenschaft (»Disability Studies«) angemessene Berücksichtigung finden und doch gleichzeitig die vermeintlichen »Fortschritte« der Gentechnologie auf immer breitere gesellschaftliche Akzeptanz stoßen, so dass mit der scheinbar realen Möglichkeit auch der allgemeine Wunsch wächst, Behinderung unter allen Umständen zu vermeiden
Und doch bilden beide Entwicklungen, wenn man sie aus der Perspektive der Gesamtgesellschaft betrachtet, keineswegs einen so scharfen Gegensatz, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Die Frage nach dem Verhältnis von Gentechnologie und Behinderung verbindet sich mit der nach dem Charakter eines modernen Gemeinwesens. Und es geht dann vor allem um die Frage, welche behinderten Menschen welcher Art von Gesellschaft förderlich sind.
Die Biomedizin fördert in der Gesellschaft ganz bewusst eine Erwartungshaltung für gesunde Kinder und suggeriert damit zugleich, man könne Behinderungen überhaupt abschaffen. Die Präimpantationsdiagnostik (PID) bildet da lediglich einen Anfang.
Doch wie einst das Angebot exklusiver Schulen oder heute das Angebot exklusiver Wohnsiedlungen, so verheißen morgen die Angebote der Genforschung und Humanprothetik nicht bloß das vermeintlich gute Leben, sondern vor allem auch gesellschaftliche Distinktion. Zu diesem »Club der genetisch Vollkommenen« werden nur verhältnismäßig wenige Zutritt haben. Man kann davon ausgehen, schreibt der Soziologe Zygmunt Bauman, dass die enormen Kosten der Mitgliedschaft in diesem Zirkel keine Kinderkrankheit einer neuen Technologie darstellen, sondern ihr ständiges Merkmal bleiben werden.
Es wird immer wieder neue, unvermutet auftauchende Leiden zu kurieren geben, immer wieder neue Gene, denen die Gunst entzogen wird und die ersetzt werden müssen. Man kann sich dieses Privilegs also sicher sein - während die meisten traditionellen Privilegien von Tag zu Tag wackliger und zweifelhafter werden.
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in dem Text "Behinderte queren" von Walter Grode?
Der Text analysiert die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen einerseits und den gleichzeitig wachsenden Wunsch, Behinderungen durch Gentechnologie zu vermeiden, andererseits. Er argumentiert, dass diese Entwicklungen nicht unbedingt im Widerspruch zueinander stehen und die Frage nach dem Verhältnis von Gentechnologie und Behinderung eng mit dem Charakter einer modernen Gesellschaft verbunden ist.
Welche Befürchtung äußert der Autor bezüglich der gesellschaftlichen Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen?
Der Autor befürchtet, dass die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen schwinden wird, trotz der zunehmenden Anerkennung und Vermarktung von Behinderung als Teil gesellschaftlicher Vielfalt.
Was ist die Rolle der Gentechnologie in diesem Kontext?
Die Gentechnologie, insbesondere die Präimplantationsdiagnostik (PID), wird als Mittel zur Vermeidung von Behinderungen dargestellt. Der Autor argumentiert jedoch, dass die Angebote der Genforschung und Humanprothetik nicht nur ein gutes Leben versprechen, sondern auch gesellschaftliche Distinktion schaffen.
Wie bewertet der Autor die Möglichkeit, Behinderungen durch Gentechnologie zu vermeiden?
Der Autor sieht die Vermeidung von Behinderungen durch Gentechnologie kritisch, da er befürchtet, dass dies zu einer gesellschaftlichen Spaltung führen könnte, bei der nur wenige Zugang zu den Vorteilen der Gentechnologie haben werden.
Welchen Vergleich zieht der Autor zur Verdeutlichung der gesellschaftlichen Distinktion durch Gentechnologie?
Der Autor vergleicht die Angebote der Genforschung und Humanprothetik mit exklusiven Schulen oder Wohnsiedlungen, die ebenfalls gesellschaftliche Distinktion erzeugen.
Wie sieht der Autor die Kosten der "Mitgliedschaft" im "Club der genetisch Vollkommenen"?
Der Autor zitiert Zygmunt Bauman, der argumentiert, dass die enormen Kosten der Mitgliedschaft in diesem Zirkel kein vorübergehendes Problem einer neuen Technologie sind, sondern ihr ständiges Merkmal bleiben werden.
Was ist das "neue Privileg", das durch Gentechnologie entsteht?
Das neue Privileg besteht darin, genetisch "vollkommen" zu sein. Der Autor argumentiert, dass diese Art von Statusüberlegenheit schwerer anzugreifen ist als traditionelle Formen der Überlegenheit, da sie auf den Genen basiert.
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- Dr. phil. Walter Grode (Author), 2001, Behinderte queren. Zwischen Exotik und Vermeidung. Warum Behinderung (auch) ein gesellschaftliches Versprechen ist, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113114