Politische Bestrebungen zur Reproduktivität in Deutschland und die Position der Klimaaktivist*innen. Eine Darstellung der Vereinbarkeit


Hausarbeit, 2021

25 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Demografiepolitik im 21. Jahrhundert
2.1. Demografischer Wandel in Zahlen
2.2. Herausforderungen des Geburtendefizits
2.3. Nachhaltige Familienpolitik
2.4. Pronatalismus und Biopolitik

3. Kinderlosigkeit in Deutschland
3.1. Quantitative Entwicklung
3.2. Gründe eines bewussten Entschlusses

4. Kinderlosigkeit zum Klimaschutz
4.1. Ursachen der Klima-, Umwelt- und Ressourcenprobleme
4.2. Aktivistische Bewegungen
4.3. Antinatalismus und Neomalthusianismus

5. Kinderlosigkeit als klimapolitische Lösung?

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der vom Menschen verursachte Klimawandel stellt ein weiterhin globales Problem dar und dringt seit den letzten Jahren immer mehr in die alltäglichen Diskussionen ein. Auch auf politischen und wirtschaftlichen Ebenen werden mögliche Lösungswege und nachhaltige Gestaltungsoptionen zunehmend betrachtet, um bevorstehende Katastrophen auszubremsen. Da dringende Umbrüche nur schleppend in die Realität umgesetzt werden, setzen einige Klimaaktivist*innen ein Zeichen. Eine bewusste Entscheidung für Kinderlosigkeit soll dabei als ein Aufruf für eine radikale Wendung in der Klimapolitik dienen. Sie plädieren dazu, die eigene Umweltbelastung zu reduzieren, indem sie den Problemen der Überbevölkerung entgegenwirken. Im Gegensatz dazu problematisiert die Politik die schrumpfende Bevölkerung in Deutschland.

Dabei stellt sich die Frage: Können Kinder als Klimakiller angesehen werden und inwiefern gestalten sich die politischen Bestrebungen zur Reproduktivität in Deutschland?

Im Verlauf der vorliegenden Arbeit werden die Perspektiven der Politik sowie einzelner Klimaaktivist*innen auf das Reproduktionsverhalten genauer analysiert und verglichen. Ziel dessen wird es sein, einen Einblick in die jeweils divergierenden Bezugsrahmen und Strategien zu bekommen.

Für eine Betrachtung der politischen Perspektive werden anfangs der Status quo sowie Prognosen der Bevölkerungsstruktur in Deutschland deskriptiv dargestellt. Infolge einer quantitativen Analyse werden daraus resultierende gesellschaftliche Herausforderungen eines Geburtendefizites näher betrachtet. Solchen Konsequenzen wird durch eine Demografiepolitik versucht entgegenzuwirken. Diesbezüglich werden Ziele und Maßnahmen eines möglichen Handlungsfeldes der Familienpolitik illustriert. Hinsichtlich dessen soll die Demografiepolitik, in Anlehnung an die Begriffe des Pronatalismus und der Biopolitik, analytisch reflektiert werden.

Für einen Einstieg in das Themenfeld der Kinderlosigkeit werden vorab empirischen Daten kinderloser Frauen in Deutschland veranschaulicht. Während eine grundlegende Differenzierung zwischen einer gewollten und ungewollten Kinderlosigkeit zu ziehen ist, werden mögliche Gründe eines bewussten Entschlusses gegen Kinder anhand von makrosoziologischen Trends beleuchtet. In diesem Zuge werden lediglich Frauen thematisiert, wobei zu beachten ist, dass Fertilitätsentscheidungen meistens paarinterne Entscheidungen darstellen. Des Weiteren ist es relevant zu verdeutlichen, dass es sich zum einen in der vorliegenden Arbeit um ethnozentristische Sichtweisen handelt, zum anderen gibt es durchaus zahlreiche Argumente für Kinder, welche hier allerdings nicht vertieft werden.

Daran anknüpfend tritt eine spezifische Position kollektiver Akteure bezüglich der Fertilitätsentscheidung in den Fokus – die Kinderlosigkeit zum Klimaschutz. Während der Forschungsstand noch sehr dünn ist, werden insbesondere medial repräsentierte aktivistische Bewegungen herangezogen. Neben internationalen Protesten und wissenschaftlichen Studien, die sich mit den Konsequenzen einer Überbevölkerung befassen und diesen versuchen entgegenzuwirken, ruft auch die feministische und ökologische Aktivistin Verena Brunschweiger durch ihr Buch „Kinderfrei statt kinderlos“ den ersten Appell für einen Gebärstreik in Deutschland aus. Nachdem Grundannahmen und Ziele aufgegriffen werden, soll eine mögliche radikale Sichtweise einer staatlichen Geburtenkontrolle kurz kritisch hinterfragt werden. Letztlich wird anhand der Studienergebnisse von Kimberly A. Nicholas und Seth Wynes sowie Corey J. A. Bradshaw und Barry W. Brook diskutiert, inwiefern der Verzicht auf Kinder als eine klimapolitische Lösung angesehen werden kann, welche Nebeneffekte dies mit sich ziehen würde und welche anderen Lösungswege gesellschaftlich und politisch angestrebt werden könnten.

2. Demografiepolitik im 21. Jahrhundert

2.1. Demografischer Wandel in Zahlen

Seit Beginn der Jahrtausendwende rücken zahlreiche Diskussionen über die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur in Deutschland sowie dessen branchenübergreifenden Konsequenzen in den Fokus. Bevor Rückschlüsse auf qualitative Effekte gezogen werden, ist eine quantitative Analyse der aktuellen Gegebenheiten von Relevanz.

Der Begriff ,demographischer Wandel‘ steht für eine veränderte Zusammensetzung in der Bevölkerungsgröße und der Bevölkerungsstruktur. Die Einflussfaktoren: Geburtenrate, Lebenserwartung, Sterblichkeitsrate und Wanderungsrate, tragen maßgeblich zum Wohlstand und dem wirtschaftlichen Wachstum bei und prägen die Entwicklung des demographischen Wandels. (Bollessen, 2016, S. 4)

Laut der Erhebungen des statistischen Bundesamtes leben in Deutschland zum Ende des Jahres 2020 rund 83,2 Millionen Menschen. Diese Zahl hat im Zeitverlauf ein Wachstum erfahren. So waren es 2011 rund 80,3 Millionen. Die Geburtenrate hatte zwischen 1950 und 2019 ihren Höhepunkt im Jahr 1965 mit rund 1 400 000 Geburten, verglichen daran lag die Geburtenrate für 2019 bei knapp 800 000. Ein deutlicher Tiefpunkt der Geburten war im Jahr 2010 zu verzeichnen, wo die Geburtenrate etwas über 600.000 lag. Die zusammengefasste Geburtenziffer hat sich mit derzeit 1,54 Kindern je Frau im Vergleich zu 1990 erhöht, wobei sie seit 2016 mit 1,59 Kindern je Frau wieder dezent gesunken ist (Statistisches Bundesamt, 2021a). Um ein bestandserhaltendes Wachstum zu erzeugen, sei eine konstante Geburtenziffer von 2,1 nötig (BMFSFJ, 2019, S. 19). Die Anzahl potentieller Mütter wird in den nächsten 20 Jahren zurückgehen, da sich die geburtenschwachen 1990-Generationen im gebärfähigen Alter befinden werden. Insgesamt besteht seit 1973 ein Geburtendefizit, da seitdem die Zahl der Gestorbenen, die der Geborenen übertraf. Zudem wird die Sterblichkeitsrate aufgrund der Babyboom-Generation der 1965 Jahre in Zukunft zunehmen. Somit ist die Bevölkerungsstruktur von anhaltenden Alterungsprozessen gekennzeichnet. Um es zu verdeutlichen: Jede zweite Person ist über 45 Jahre alt und jede fünfte hat das 66. Lebensjahr überschritten. Dies liegt u.a. an der steigenden Lebenserwartung. Während die Lebenserwartung bei Neugeborenen seit Ende des 19. Jahrhunderts enorm zugenommen hat, weist auch die Lebenserwartung in höheren Altersjahren einen steigenden Trend auf. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnten Männer durchschnittlich 74,6 Lebensjahre erwarten, in den Jahren 2017 / 2019 lag der Durchschnittswert bereits bei 82,9 Jahren. Bei Frauen ist eine deutlich ausgeprägtere Entwicklung zu erkennen. Die Lebenserwartung einer Frau in Deutschland liegt heutzutage bei durchschnittlich 86,1 Jahren. Auf diese Entwicklung wirken auch zukünftig viele Faktoren positiv, wie der medizinische Fortschritt sowie ein ausgewogener Lebensstil. Laut der Bevölkerungsvorausberechnungen werde bis 2039 ein Höhepunkt der Seniorenzahlen mit mindestens 21 Millionen Menschen beobachtbar sein, gleichzeitig werde die Bevölkerung im Erwerbsalter bis zum Jahre 2035 auf rund 46 Millionen sinken. Des Weiteren kompensiert das positive Wanderungssaldo die negative natürliche Bevölkerungsbilanz, insbesondere seit dem rasanten Anstieg von Zuwanderern ab 2010 bis 2015. Insbesondere junge Menschen wanderten nach Deutschland ein, was einen positiven Einfluss auf die Erwerbszahl und die Gesamtfertilität hatte. Aktuell beträgt der Ausländeranteil, welcher Personen mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft umfasst, rund 12,5 Prozent. Dabei hatten im Jahr 2019 rund 21,2 Millionen Menschen und somit 26 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund (Statistisches Bundesamt, 2021a).

Die Prognosen unterstreichen eine Ausweitung der Kluft zwischen sinkenden Geburtenraten einerseits und einer steigenden Alterung andererseits. Auch wenn die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland spezifischer nach Raumtypen betrachtet werden kann, wo intranationale Disparitäten bezüglich der Geburtenraten, Sterblichkeitsraten und Wanderungssalden herausstechen (Maretzke, 2017, S. 542), gelte die Bundesrepublik insgesamt als die rascheste alternde Bevölkerung der Welt (Schmid, 2017, S. 31).

2.2. Herausforderungen des Geburtendefizits

Infolge der kurz aufgelisteten demografischen Entwicklungen entfalten sich zahlreiche Herausforderungen, welche in Wechselwirkung zueinanderstehen. Ausschlaggebende Indikatoren sind u.a. die sinkenden Geburtenzahlen, eine demografische Alterung sowie ein wachsender Internationalisierungsgrad (Maretzke, 2017, S. 534). Dabei werde insbesondere die Geburtenrate als Problem der Alterungsprozesse angesehen, da die nachfolgenden Generationen die Elterngenerationen numerisch nicht ersetzen können. Im Gegenzug werde eine verlängerte Lebenszeit sogar als positiv dargestellt, da diese einen wissenschaftlichen Fortschritt impliziere, welcher wiederum neben des Geburtendefizits an Relevanz gewinne (Kreitsch, 2011, S. 119f.). Da die Geburtenrate bereits seit längerem stagniert, werde der Bevölkerungsstand voraussichtlich ein neues, niedrigeres Niveau erreichen, wenn die quantitativen Generationenunterschiede nicht mehr so enorm sind. Gerade diese Übergangsphase sei als problematisch zu betrachten (ebd., S. 124f.). Ob eine Alterung jedoch ein Problem darstellt, sei zu hinterfragen, da der Begriff bereits Aspekte von Schwäche suggeriere. Möglicherweise zeigen die neueren kleineren Generationen eine höhere Innovationskraft, eine effizientere Nutzung der Potenziale und ein höheres Leistungsniveau durch mehr Bildung auf. Hinzukomme, dass ältere Menschen im Vergleich zu früher insgesamt kognitiv und physisch leistungsfähiger und leistungswilliger seien (Lutz, 2017, S. 22f.).

Im Folgenden werden, hingegen der vorherigen Perspektive, voraussichtliche Konsequenzen langfristiger Schrumpfungs- und Alterungsprozesse in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht angeschnitten, welche sich für den Staat ergeben.

Im Bereich der Bildung erzeugen rückläufige Entwicklungen der Schülerzahlen im Zeitverlauf deutliche Über- und Unterkapazitäten im Bildungssystem. Die Auswirkungen eines ausbleibenden Nachwuchses äußern sich in einem sinkenden Bedarf an Betreuungs- und Bildungseinrichtungen und einem nachfolgenden Abbau von Lehrpersonal (Kreitsch, 2011, S. 128). Des Weiteren wird betont, dass mit einer häufigeren Kinderlosigkeit Hochqualifizierter und tendenziell niedrigeren Ansprüchen an die kindlichen Bildungswege Niedrigqualifizierter, ein gesellschaftlich sinkendes Qualifikationsniveau einherginge, welches die internationale Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit Deutschlands negativ beeinflusse (ebd., S. 131).

Hinzu kämen Konsequenzen für die politische Partizipation und demokratische Legitimation. Da politische Entscheidungen durch das Mehrheitsprinzip legitimiert werden, richten Interessenvertreter des Volkes ihre Wahlprogramme an ein überwiegendes Kollektiv. Aufgrund des zunehmenden Anteils Älterer, werden Ansichten der jüngeren Generationen vergleichsweise schwach repräsentiert. Daraus können langfristige politische Meinungs- und Generationenkonflikte folgen, welche mit einer politischen Spaltung und Destabilisierung einhergehen können (ebd., S. 136).

Als weiteren Punkt haben die demografischen Entwicklungen bedeutende Folgen für die nationale und europäische volkswirtschaftliche Stellung. „Zwar ist Deutschland nicht nur das wirtschaftsstärkste, sondern auch bevölkerungsreichste Mitglied der EU […]“ (ebd., S 139), allerdings sorgen langfristige Schrumpfungs- und Alterungsprozesse zu einer Verringerung des internationalen politischen Einflusses und einer Beschränkung politischer Gestaltungsmöglichkeiten. Aus geopolitischer Sicht seien zudem negative Auswirkungen auf die Einflussnahme auf knappe Ressourcen, die Innen- und Außensicherheit sowie den militärpolitischen Machterhalt voraussehbar (ebd., S. 140f.).

Bezüglich des nationalen Arbeitsmarktes ergeben sich durch ein sinkendes Erwerbspersonenpotenzial steigende Arbeitskräftemängel. Dabei sei gerade das Humanvermögen einer Gesellschaft äußerst wichtig für Wissensvermittlungen und perspektivreiche Innovationen. Als fiskalpolitische Konsequenz einer sinkenden Erwerbspersonenzahl ergeben sich u.a. durch weniger Steuerzahler staatliche Einnahmeausfälle, welche zu negativen ökonomischen Entwicklungen führen (ebd., S. 153f.).

Zuletzt sind die Herausforderungen für das soziale Sicherungssystem nennenswert. Im Vordergrund zahlreicher Forschungen stehen dabei die Renten-, Kranken-, und Pflegeversicherung. Aufgrund einer steigenden Anzahl potenzieller Empfänger und voraussichtlich sinkenden Anzahl von Beitragszahlern, sei der umlagebasierte Generationenvertrag einer Solidargemeinschaft gefährdet (Pötzsch, 2017, S. 92). In diesem Zuge befasst sich auch Prof. Dr. Martin Werding der Ruhr-Universität Bochum mit der langfristigen Tragfähigkeit der Finanzen. Er greift ein grundsätzliches Dilemma bezüglich der Handlungsoptionen auf: Entweder es komme zu Veränderungen der Regelaltersgrenze, oder zu einem Anstieg der Sozialbeiträge. Insgesamt sei ein Anstieg altersspezifischer Pro-Kopf-Ausgaben zu prognostizieren (Werding, 2017, S. 517f.) So würden die Beitragssätze der Sozialversicherungen, laut des Bundesministeriums für Gesundheit, von 2015 mit 39,3 Prozent bis 2060 auf knapp 55 Prozent steigen, wobei dazu noch die Lohn- und Einkommenssteuer für die individuelle Erwerbsperson hinzukämen. Damit einher ginge eine allgemeine Belastung der inländischen Wertschöpfung (ebd., S. 522). Letztlich ist aus Werdings Schlussfolgerungen hervorzuheben, dass „[e]ine Erhöhung der jahrzehntelang niedrigen Fertilität sich nur sehr langsam günstig aus[wirkt] […]. Aber sie bietet letztlich die einzige Chance, nach 2035/40 eine nachhaltige Trendwende beim Alterungsprozess einzuleiten“ (ebd., S. 527).

Aus den kurz dargelegten demografischen Herausforderungen lassen sich diverse Handlungsbedarfe und politische Handlungsmöglichkeiten ableiten. Diesbezüglich agiert die Demografiepolitik der Bundesregierung in allen Handlungsfeldern, die für die politische Gestaltung des demografischen Wandels wichtig sind.

Diese zielt einerseits darauf, mit den Folgen demografischer Entwicklungen umzugehen, indem daraus resultierende Chancen genutzt werden und Problemen begegnet wird. Andererseits ist es ihr Ziel, die drei demografischen Prozesse Fertilität, Mortalität und Migration zu beobachten und strategisch zu beeinflussen. (Bonin, 2013, S. 10)

Insgesamt wurden sechs zentrale Handlungsfelder von der Bundesregierung aufgelistet. Dabei stand die Familie als Gemeinschaft zu stärken als erster Punkt. Die beiden Letzten sind Grundlagen für nachhaltiges Wachstum und Wohlstand zu sichern sowie die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten (ebd., S. 11).

2.3. Nachhaltige Familienpolitik

Eine der vielseitigen politischen Reaktionen zur Steuerung der Demografie stellt das Handlungsfeld der Familienpolitik dar. Insofern werden dessen Ziele und Maßnahmen über demografische und ökonomische Begründungszusammenhänge legitimiert.

Nachhaltige Familienpolitik begründet ihren Anspruch auf der Gestaltung der Rahmenbedingungen familiären Lebens mit dem Grundsatz, zukünftigen Generationen die gleichen Chancen zur Gestaltung eigener Lebensvorstellungen und Ziele zu ermöglichen, wie das für die jetzt aktive Generation möglich ist. (BMFSFJ, 2005, S. 6)

Die Ziele und Maßnahmen der Familienpolitik in Deutschland sind im Zeitverlauf von historisch- normativen und demografischen Veränderungsprozessen geprägt worden (Correll / Kassner, 2018, S. 91ff.). Seit 2003 etablierten sich erstmals Überlegungen hinzu einer nachhaltigen Familienpolitik, um den demografischen Herausforderungen entgegenzuwirken. Grundlegende Ziele seien in diesem Zuge eine Steigerung der Geburtenrate, um den Schrumpfungs- und Alterungsprozessen gegenzusteuern, als auch eine Erhöhung der Müttererwerbsquote, für eine erweiterte Nutzung des inländischen Erwerbspersonenpotenzials (BMFSFJ, 2019, S. 9). In Anbetracht der Agenda 2030 des Bundesfamilienministeriums werden nun, neben zahlreichen anderen Zielformulierungen der vorherigen Familienberichte, die Fortschrittsziele einer nachhaltigen Familienpolitik aufgegriffen, welche die zukünftigen Rahmenbedingungen für eine Familiengründung verbessern sollen. Dazu zähle eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine partnerschaftliche Aufgabenteilung am Familien- und Erwerbsleben sowie eine daraus ermöglichte wirtschaftliche Stabilität der Familienmitglieder (ebd., S. 24).

Für eine mögliche Umsetzung dieser Ziele gebe es seit längerem zahlreiche und verschiedene familienpolitische Maßnahmen. Darunter fallen u.a. „familienbezogene Geldleistungen und öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Zeitpolitik für Familien sowie eine familienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt […]“ (ebd., S. 55). Bezüglich der Geldleistungen gebe es verschiedene ergriffene Maßnahmen, welche bereits Wirksamkeit erwiesen haben und stetig ausgebaut und an die Bedürfnisse der Bevölkerung angepasst werden. Subventionierung der Kinderbetreuung, Unterhaltsvorschuss, steuerlicher Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, Kinderzuschlag, Kindergeld und Kinderfreibeträge sowie Elterngeld sollen zu einer finanziellen Entlastung der Familien führen. Während die monetären Leistungen den Erhalt eines späteren Arbeitsanreizes nicht gefährden sollen, haben sie dennoch das Ziel, eine armutsreduzierende Wirkung aufzuweisen und für das Wohlergehen der Kinder zu sorgen. Diesbezüglich sollen speziell die Leistungen für Familien mit geringen Erwerbseinkommen verstärkt werden (ebd., S. 14ff.). Des Weiteren solle eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch einen bedarfsgerechten Ausbau der frühkindlichen Betreuung sowie Ganztagesbetreuung für Grundschulkinder erleichtert werden. Dabei bestehe ein Rechtsanspruch auf Betreuungsplätze. Zugleich fördere eine erweiterte öffentliche Betreuung die Chancengleichheit von Kindern (ebd., S. 25). Hinzu käme eine betriebliche Anpassung an familiäre Lebensphasen durch betriebliche Kinderbetreuungsangebote, flexible Arbeitszeitmodelle, Weiterbildungen in der Elternzeit oder Maßnahmen zur Gewährleistung eines besseren Einstiegs nach der Mutterschaft (ebd., S. 30f.). Infolge veränderter partnerschaftlicher Rollenbilder solle das Zwei-Verdiener-Modell durch eine erweiterte Müttererwerbstätigkeit unterstützt werden. Dadurch trage zum einen die Erwerbstätigkeit von Müttern zur materiellen Gleichstellung von Männern und Frauen und zur unabhängigen ökonomischen Absicherung im Alter bei (ebd., S. 23). Zum anderen führe die Inanspruchnahme familienpolitischer Maßnahmen zu einer Stärkung der väterlichen Teilhabe am Familienleben. Insofern sei eine egalitäre partnerschaftliche Aufgabenteilung möglich (ebd., S. 37). Letztlich kann hervorgehoben werden, dass die Ziele und Maßnahmen der nachhaltigen Familienpolitik stark an arbeitsmarkt-, gleichstellungs- und bildungspolitischen Zielen gekoppelt sind und somit einen großen Einflussbereich darstellt.

2.4. Pronatalismus und Biopolitik

Während die Demografiepolitik, durch die beispielsweise vorher bündig aufgeführten familienpolitischen Leistungen, für gewisse Zielerreichungen in das Bevölkerungsgeschehen eingreift, stellt sich die Frage, inwiefern dieses Vorgehen normativ begründet ist. Zudem sei von Interesse, die Maßnahmen der Familienpolitik mithilfe der Begriffe des Pronatalismus und der Biopolitik analytisch zu reflektieren.

Da die Bevölkerungsentwicklung von der Souveränität des Volkes geprägt ist, sei eine normative Positionierung der Demografiepolitik von hoher Bedeutung und müsse logisch begründet und empirisch erfasst werden (Hüther, 2017, S. 467). Dabei sei die Demografiepolitik für eine dauerhafte Aufrechterhaltung von Leistungen kollektiver Institutionen verantwortlich. Zudem verfolge sie den Grundsatz einer freiheitlichen Ordnung und eines zufriedenstellenden Lebens für alle Generationen sowie die staatliche Gewährleistung einer lebensverhältnismäßigen Daseinsvorsorge (ebd., S. 470). Die politischen Maßnahmen werden durch empirisch erfasste Daten gerechtfertigt. Bezüglich der Bevölkerungsforschung sei allerdings die vermeintliche Objektivität der Erhebungen zu hinterfragen. Da die Wissenschaft auf gängigen Denk- und Analysetraditionen basiere, welche abhängig von dem politischen, sozialen und zeitlichen Kontext seien, beurteile sie bevölkerungsrelevante Entwicklungen auf Basis staatlicher Bedürfnisse und Interessen (Wintzer, 2017, S. 363). Dadurch implementieren Zahlen und deren Darstellung immer Normen und sind somit nie wertfrei (ebd., S. 368). Im Vordergrund der kritischen Betrachtung stehen somit die politischen und wissenschaftlichen Eingriffe in die individuelle Lebensplanung. Diese äußern sich nicht durch direkte Zwänge, sondern eher indirekt, durch eine gelenkte Forschung und einer daraus resultierenden politisch legitimierten Strategie. „Diese Unterwerfung des Individuums unter die Interessen eines Staates einerseits und die Versuche der Regulation des Bevölkerungskörpers andererseits nennt Foucault Biopolitik“ (ebd., S. 367). Dabei stehe die Nutzung von Machtverhältnissen und Steuerungsmechanismen einerseits, und die normative Positionierung der Demografiepolitik andererseits, welche dem Individuum autonome Entscheidungen und Handlungsspielräume verspreche, im Widerspruch zueinander (Hajek, 2019, S. 197). Zudem werde der Frauenleib im gesellschaftspolitischen Diskurs als „öffentlicher Ort“ (Correll / Kassner, 2018, S. 90) konstruiert. Es werden im Zeitverlauf der Familienpolitik größtenteils Frauen thematisiert. Dabei steche eine Verantwortlichkeit der Frauen für die biologische Reproduktion der Bevölkerung heraus und eine eher negativ besetzte Haltung gegenüber kinderlosen Frauen (ebd., S. 94). Zudem werden die familienpolitischen Maßnahmen aufgrund der Ausdifferenzierung familiärer Lebensstile und weiblichen Biografien so angepasst, dass es zu keinem „Fertilitätshindernis“ komme (Hajek, 2019, S. 202). Der Begriff des Pronatalismus spezifiziert den Hintergedanken zahlreicher Maßnahmen. „Pronatalism can be defined as an ideological and political project that aims to encourage childbearing by members of a collectivity. Pronatalism is based on the assumption that the population’s size or growth is insufficient, which puts the population at risk.“ (Haskova / Dudova, 2020, S. 2).

[...]

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Politische Bestrebungen zur Reproduktivität in Deutschland und die Position der Klimaaktivist*innen. Eine Darstellung der Vereinbarkeit
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Veranstaltung
Familiengründung und Kinderlosigkeit zwischen individueller Lebensplanung und politischem Interesse im europäischen Vergleich
Note
1.0
Autor
Jahr
2021
Seiten
25
Katalognummer
V1131403
ISBN (eBook)
9783346498366
ISBN (Buch)
9783346498373
Sprache
Deutsch
Schlagworte
politische, bestrebungen, reproduktivität, deutschland, position, klimaaktivist*innen, eine, darstellung, vereinbarkeit
Arbeit zitieren
Natali Bungic (Autor:in), 2021, Politische Bestrebungen zur Reproduktivität in Deutschland und die Position der Klimaaktivist*innen. Eine Darstellung der Vereinbarkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1131403

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