Erzählungen über Sexualität. Eine Analyse der Protokollliteratur aus der späten DDR


Masterarbeit, 2020

115 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Forschungsstand

3. Methodik

4. Quellenkritik
4.1. Oral History und Protokollliteratur - eine Abgrenzung
4.2. Protokollliteratur in der DDR
4.3. Kritische Betrachtung der DDR-Protokollliteratur und ihr Mehrwert als historische Quelle
4.4. VerwendeteProtokollbände
4.4.1. Maxie Wander: Guten Morgen, du Schöne (1975, hier 19782)
4.4.2. Christine Müller: Männerprotokolle (1985)
4.4.3. Christine Lambrecht: Männerbekanntschaften. Freimütige Protokolle (1986)
4.4.4. Jürgen Lemke: Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männer aus der DDR (1989)
4.4.5. Kerstin Gutsche: Ich ahnungsloserEngel. Lesbenprotokolle (1991)

5. Geschlechtergerechtigkeit in der späten DDR
5.1. Geschlechtergerechtigkeit in der DDR - historischer Kontext
5.2. Analyse des Datenmaterials - Geschlechtergerechtigkeit
5.2.1. Narrative über Weiblichkeit
5.2.1.1. Selbstwahmehmung ihrer Rolle als Frau
5.2.1.2. Fremdwahrnehmung derFrauenrollen
5.2.2. Narrative über Männlichkeit
5.2.2.1. Selbstwahmehmung derRolle als Mann
5.2.2.2. Fremdwahrnehmung Männlichkeit
5.2.3. Narrative über Gleichberechtigung

6. Beziehungsalltag in der späten DDR
6.1. Paarbeziehungen in der späten DDR - historischer Kontext
6.1.1. Pronatalistische Maßnahmen der DDR-Regierung
6.1.2. Eheschließung in der DDR
6.1.3. Nichteheliche Lebensgemeinschaften in derDDR
6.1.4. Ehescheidungen in derDDR
6.2. Analyse des Datenmaterials - Paarbeziehungen
6.2.1. Gründungen von Paarbeziehungen
6.2.2. Konfliktmanagement in Paarbeziehungen
6.2.3. Trennungsverläufe

7. Sexualität in der späten DDR
7.1. Sexualmoral und Sexualpolitik im historischen Kontext
7.1.2 Sexualität - Liebe - Ehe
7.2. Analyse des Datenmaterials - Sexualität
7.2.1. Die Aufklärung und „das erste Mal“
7.2.2. Narrative über Sexualität

8. Homosexualität in der späten DDR
8.1. Homosexualität in der DDR - historischer Kontext
8.2. Analyse des Datenmaterials - Homosexualität
8.2.1. Umgang mit der eigenen sexuellen Orientierung
8.2.2. Homophobie in der Gesellschaft

9. Fazit und Ausblick

Literatur- und Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
Gedruckte Quellen und Gesetzestexte
Protokollbände

Anhang
1. Codesystem der qualitativen Inhaltsanalyse
2. Verzeichnis der Personen mit statistischen Merkmalen

1. Einleitung

„Etwas fällt mir ein, das wirst du sonderbar finden. Wir schluckenjetzt alle diese grüne Pille zum Frühstück, die uns die Freiheit gebracht hat,ja? Ich weiß genau, ich gehe kein Risiko mehr ein, wenn ich mit einem Mann schlafe. Weißt du was? Wenn ich einen Mann liebe, dann will ich dieses Risiko eingehen! Weil der ganze Sex sonst auf die Dauer öde wird. Da wird eben was Wichtiges ausgeklammert, eine große Erschütterung. Man wird flach ohne dieses Risiko. Sex ist für michja nicht nur ein Spaß, sondern gelegentlich etwas Totales. Im Sex drücke ich meine ganze Persönlichkeit aus, viel direkter als sonstwoja? Ich bin keine Sexmaschine, ich bin eine Frau. Und es geht wunderbar, sobald ein Mann das begriffen hat. Enthemmung ist hervorragend, doch es bleibt eine Leere, die schlimm sein kann, wenn das alles überhaupt nichts mehr mit Verantwortung zu tun hat.

Eine gesunde Sexualität muß dem Menschen anerzogen werden. Wer denkt dar­über denn nach? Ich bin der Auffassung, daß man alles lernen kann, die Liebe wie den Sex.“ - Rosi1 Sexualität wird in unserer heutigen Gesellschaft regelmäßig in den öffentlichen Diskurs gezogen. Produkte werden mit sexualisierten Inhalten vermarktet, wir führen einen steti­gen Diskurs darüber, wie denn eine gelungene Sexualität aussehen könnte oder wir dis­kutieren darüber, dass die heterosexuelle Kleinfamilie - als „normale“ Familienform - durch die frühzeitige Sexualaufklärung über differente Sexualitäten im Kindesalter in Ge­fahr geraten könnte. Sexualität und Sexualitäten scheinen also etwas Totales zu sein.

In der Onlinepräsenz der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde ein Gastbeitrag mit dem Titel „Das Thema Gender-Identität überfordert Kinder“2 veröffentlicht. Der ur­sprüngliche Titel in der „FAZ“ am 03.09.2020 lautete noch „Die klassische Familie wird zum Ausnahmefall“, dieser wurdejedoch aufgrund diverser Beschwerden in der Online­Version wie vorgenannt geändert. Dennoch scheint auch der neue Titel nicht unproble­matisch zu sein, denn Kinder können weitaus besser als manche Erwachsene mit sexueller Vielfalt umgehen. Der Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschreibt nun anhand der Transsexuellen-Bewegungen in den USA, wie sich eine neue Bewegung ent­wickelt, die gezielt die heterosexuelle Kleinfamilie unterläuft und diese zu einem anti­quierten Einzelstück gestalten will.

„Heterosexualität und die klassische Familie werden inzwischen in eine Randposition ge­drängt. Sie gelten fast schon als etwas Exotisches, das sich besonders legitimieren muss.“3 In Deutschland passiere dies durch Medienkoffer im Kindergarten oder der Schule. Ein Widerspruch seitens der Verantwortlichen in der Regierung sei nicht zu vermelden, da diese schließlich sonst als reaktionär bezeichnet werden könnten. Man kann nun einwen­den, dass es sich hierbei um ein Problem der konservativen Medienberichterstattung han­dele, aber das wäre schlichtweg zu kurz gegriffen. Es ist aber eine allgemein bekannte Verhaltensweise, die eigene Ablehnung von Andersartigkeiten mit dem Schutz der Kin­der und Jugendlichen zu begründen. Kritisiert werden hierbei meist eine vorgebliche Frühsexualisierung der Kinder durch versteckte Botschaften in Kinderbüchern, die nicht der heterosexuellen Lebenswelt entsprechen. Ahrbeck und Felder schreiben weiter: „Längst geht es nicht mehr darum, dass sexuelle Minderheiten und unterschiedliche Le­bensformen in ihrer Eigenheit geachtet und vor Entwertungen geschützt werden. Kinder und Jugendliche sollen durch die 'gendergerechte' Pädagogik in eine bestimmte weltan­schauliche Position gedrängt werden.“4

Sollen die Kinder also nun alle zu Mitgliedern der LGBTQ+-Szene umgewandelt werden und so eine Queere-Weltmacht begründet werden oder existiert diese vielleicht schon? Unumstritten ist doch, dass in der gesamten Menschheitsgeschichte die Heterosexualität niemals großflächig in Gefahr geraten ist. Viele Menschen achten heute noch peinlich genau darauf, in die entsprechenden Normierungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu passen. Frauen wenden Stunden dafür auf, ihre Haare am Körper zu entfernen, Männer versuchen, ihre Gefühle zu kontrollieren, sofern diese nicht gerade durch Aggressivität konnotiert sind. Es scheint vielmehr, als ob hier immer wieder versucht wird, etwas auf der Grundlage von: „Wieso dürft ihr das und wir dürfen das nicht?“ zu konstruieren. In der Realität führt dies dazu, dass eine Trans-Frau oder ein Trans-Mann zu sein mit sehr vielen Diskriminierungserfahrungen verbunden ist. Man möge sich nur vorstellen, dass man gezwungen ist, mit einem Arzt oder einer Ärztin darüber zu diskutieren, ob man sich im „falschen“ Körper befindet, bevor dieser*diese überhaupt einer Geschlechtsumwand­lung oder der Gabe von Hormonen zustimmt. Sollte es tatsächlich eine Queere-Welt­macht geben, so wäre dieses Prozedere wahrscheinlich bereits obsolet.

Welchen Bezug haben diese Ausführungen zum Thema der vorliegenden Arbeit?

Dies ist leicht erklärt. Das Reden über Sexualität kann nicht unabhängig von Themen wie Geschlechtergerechtigkeit oder zwischenmenschlichen Beziehungen im Allgemeinen diskutiert werden. Die Sexualität - sei sie nun körperlicher Akt oder sexuelle Orientie­rung - ist immer in einem vorgegebenen Wertesystem der Gesellschaft verortet. Dieses Wertesystem hängt, außer von den Diskursen und Narrativen in der medialen Gesellschaft, auch von der transgenerationalen Weitergabe von Normativen ab, gleich­falls aber auch von den Ausgestaltungen durch normative Grundlagen des Rechts.

Bereits seit dem 19. Jahrhundert wird in theoretischen Abhandlungen postuliert, dass in einem Wirtschaftssystem, das auf Privateigentumsanhäufung und Profitmaximierung ausgerichtet ist, die Verlierer*innen eines solchen Systems meist die Frauen sind. Sie sind es, die bei einem wirtschaftlichen Aufschwung als letzte in die Berufstätigkeit kommen und bei einem wirtschaftlichen Abschwung als erste wieder entlassen werden.

Eines brachte der Versuch des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft allerdings mit sich - die Integration der Frauen in die Arbeitswelt, sei es auch nur aufgrund des, nach dem Zweiten Weltkrieg und durch die große Bevölkerungsabwanderung in die westlichen Teile Deutschlands produzierten Arbeitnehmer*innen-Mangels. Bereits Friedrich Engels propagierte, dass die Emanzipation der Frau eines der Ziele des Sozialismus sein sollte. Diese Emanzipation sollte notwendigerweise über den Weg der Arbeitstätigkeit der Frau verlaufen. Die DDR und andere Staaten mit einem ähnlichen Wirtschaftssystem und ähn­licher Sozialstruktur investierten große Summen in die Bildung der Frauen, um diese auch in traditionelle Männerberufe integrieren zu können. Da sich diejeweiligen Regierungen jedoch auch der Möglichkeit der Schwangerschaft einer Arbeiterin bewusst waren, schu­fen sie neben einer vergleichsweisen liberalen Abtreibungspolitik und der staatlich ge­steuerten Propaganda der „Wunschkindpille“ auch eine Möglichkeit, die Kinder umfas­send während der Berufstätigkeit der Eltern zu betreuen. Dies geschah vor allem durch die Einrichtung von Krippen-, Kindergarten- und Hortplätzen. Diese sollten neben der Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch eine Formung der „sozialistischen Persönlich­keit“ bereits im Kindesalter gewährleisten. Infolge der sozialen Absicherung und der ei­genen Berufstätigkeit lässt sich so zumindest theoretisch zu der Erkenntnis kommen, dass die Frauen in sozialistischen Gesellschaften ökonomisch unabhängiger von ihren Part­nern waren als die Frauen in westlichen Gesellschaften. Doch spiegelt sich dieses Postulat auch in der Eigenwahmehmung der Bevölkerung dieser Gesellschaft wider? Inwieweit entsprechen die in derartigen theoretischen Diskursen erarbeiteten Ideen der realen Wahr­nehmung der Frauen und Männer in der ehemaligen DDR?

Zusammengefasst lautet die Fragestellung der vorliegenden Arbeit:

- Wie konnten die DDR-Bürger*innen sichjene individuelle Freiheit, in Bezug auf Geschlechterrollen, Partnerschaft und Sexualkultur, verschaffen? Was erzählen die Menschen über ihre eigenen Wahrnehmungen innerhalb dieses Rahmens?

In Beantwortung dieser Frage sind zwangsläufig nicht nur heterosexuelle Paarbeziehun­gen zu untersuchen, sondern vor allem auch homosexuelle Beziehungen, die in Kontrast zur Heteronormativen-Gesellschafts-Konstruktion stehen und standen. Damit hierbei die Aussagen eines möglichst breiten Spektrums innerhalb der Bevölkerung untersucht wer­den können, wird auflnterviews aus Protokollbänden als Hauptquellen zurückgegriffen.

Das Genre der Protokollliteratur stellt eine Mischform aus Biographie-, Doku­mentar- und Interviewliteratur dar. Die Protokollliteratur der DDR befindet sich demzu­folge in einem Spannungsfeld aus biographischen Erzählungen, publizistischen Erzeug­nissen und Belletristik. Jedoch bietet gerade diese Struktur einen guten Einblick in die Denk-Konstrukte der Menschen und der Wahrnehmung ihres Beziehungsalltages. In der vorliegenden Arbeit sollen vor allem Protokollbände aus dem Zeitraum zwischen 1978 und 1991 untersucht werden, da diese in den Zeitraum der Durchsetzung weiterführender Liberalisierungsbestrebungen der DDR fallen. Die Interviews sind den Editionen entnom­men, die am Ende der Literaturliste vermerkt sind. In einem weiteren Kapitel wird auf die Autorinnen sowie die Gattung der Protokollliteratur selbst genauer eingegangen werden.

Auf welche Weise erschließt sich uns der Zugang zu einem derartig komplexen Themengebiet, dass sich mit den individuellen Erfahrungen von Menschen beschäftigt? Die Antwort ist so einfach wie komplex. Der Schlüssel liegt im Zugang zur Erfahrungs­gesc hichte. Dieser muss aber, damit die theoretischen Rahmenbedingungen geklärt wer­den, immer durch einen historisierenden, normativen Bereich ergänzt werden, damit die subjektiven Erinnerungen eingeordnet werden können. Erfahrungsgeschichte basiert also immer auf subjektiven Wahrnehmungen innerhalb eines objektivierbaren gesellschaftli­chen Kontextes. Dabei gilt es stets mitzudenken, dass diese Erfahrungen ihre Verortungen in verschiedenen sozialen Gruppierungen haben und dadurch immer einer sozialen Über­formung unterliegen. Erfahrungsgeschichte kann damit also nicht mit einer „klassischen“ Geschichtsschreibung unter dem Motto: „So war es und nicht anders“ erzählt werden, da die Aussagen der Männer und Frauen im Sample nicht für alle Menschen der DDR spre­chen können. Die Erfahrungen sind so vielfältig wie die Menschen, die in der DDR leb­ten. Die Ergebnisse dieser Arbeit können also nicht als absolute Wahrheit angenommen werden, da sie immer nur als ein Einblick in die subjektiven Lebenswelten der Protago­nistinnen angesehen werden können.

Die Auswertung der genannten Quellen soll unter Benutzung der Methode der Inhaltsan­alyse erfolgen, um so die einzelnen Topoi der Quellen herauszuarbeiten und diese in einem letzten Schritt im Sinne der vorgenannten Fragestellung miteinander vergleichen zu können.

Aus diesem Grund ist die Arbeit wie folgt gegliedert:

Zunächst soll der Forschungsstand zu den Bereichen der Protokollliteratur, Sexualität, Geschlechterrollen, Paarbeziehungen und Homosexualität erarbeitet werden. Anschlie­ßend wird die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse vorgestellt. In einem weiteren Ka­pitel soll versucht werden, eine Verbindung zur Erfahrungsgeschichte in Bezug auf Prob­leme und Erkenntnisgewinne zu erarbeiten - die Protokollliteratur wird in diesem Zusam­menhang beleuchtet werden. Anschließend wird anhand der einzelnen Topoi, die einen Bezug zur Thematik aufweisen - Geschlechtergerechtigkeit, Paarbeziehungen, Sexualität und Homosexualität - versucht werden, die vorgegebene Fragestellung zu beantworten. Dies wird immer anhand eines entsprechenden historischen Kontextes, der die Rahmen­bedingungen absteckt, vorgenommen und dann durch die Analyse der betreffenden Daten differenziert werden.

2. Forschungsstand

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet, existieren bereits einige Zugänge zur Protokollliteratur der DDR. Hierbei seien die Werke von Reinhard Andress5, Sabine Schmidt6 und Hans Joachim Schröder7 genannt. In ihnen wurde versucht, auf literatur­wissenschaftlicher Ebene, einen Zugang zum Thema zu schaffen. Schröder stellte in sei­nem Werk eine Systematisierung des breiten Spektrums der Interviewliteratur zur Verfü­gung. Schmidt diskutiert in ihrem Werk einen gendergestützten Zugang zu den Lebens­Wirklichkeiten der Erzählenden, um sie dadurch in das Spannungsfeld der Rolle der so­zialistischen Frau einzuordnen. Andress hingegen versucht, die Spezifika dieser Litera­turgattung zu erarbeiten.

Eine Arbeit, die auf der Basis eines alltagsgeschichtlichen Hintergrundes heraus auf diese Quellengattung zugreift, ist mir derzeitjedoch nicht bekannt. Dietrich Mühlbergs8 Arbeit versucht, die Sexualität und den ostdeutschen Alltag miteinander zu synthetisieren. Ne­ben einem Vergleich der Sexualitätsmuster aus beiden deutschen Staaten demonstriert er, dass die ökonomische Unabhängigkeit der Frau ein wichtiger Faktor innerhalb der diffe­renten Sexualitäten war und ist. Liebe, Sex und Sozialismus9 von Josie McLellan ist die neuste Arbeit zur Sexualität innerhalb der DDR-Gesellschaft. Hierbei versucht die Auto­rin, anhand der Interviews, welche sie retroperspektiv führte, dem Lebensgefühl der DDR-Bürger*innen nachzuspüren. Sie behandelt dabei nicht nur heterosexuelle Erfah­rungen, sondern auch gleichgeschlechtliche Sexualitätserfahrungen im Spannungsfeld der sozialistischen Lebenswirklichkeit in der DDR. Neben diesen Werken zu Liebe und Sexualität existieren noch zwei ältere Studien zum Thema Ehescheidung in der DDR, welche jedoch keine umfassende Darstellung der Thematik ermöglichen, da hier für die Fragestellung einige notwendige Aspekte nicht beleuchtet werden.10 Auf der Ebene der Geschlechterbeziehungen existieren weitaus mehr Arbeiten, welche die Rolle der Frau innerhalb der DDR bevorzugt aus einer retrospektiven Sicht beleuchten.11 Es bleibt an dieser Stelle zu vermerken, dassjede dieser Publikationen retroperspektiv erschienen ist. Dies ist in der historischen Forschung sicher nicht weiter verwunderlich, da nur wenige DDR-soziologische Arbeiten in Bezug auf Liebe, Sexualität und Paarbeziehung existie­ren. Diese sind, sofern sie zugänglich sindjedoch immer unter Betrachtung der ideolo­gischen Prägung zu lesen, damitjedoch nicht weniger aufschlussreich.

In Bezug auf den Bereich der Homosexualität lässt sich ein Ungleichgewicht bezüglich auf die Publikationen hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse bemerken. Schwule Le­benswelten12 werden durchaus häufiger als lesbische Lebenswelten13 Objekte der Dar­stellung. Neben diesen, auf eine Sexualität bezogenen Arbeiten, müssen an dieser Stelle noch zwei Sammelbände erwähnt werden, die sich mit verschiedenen Aspekten des Le­bens als Mitglied der LGBTQ+-Community auseinandersetzen.14 Dabei ist jedoch eine deutlich größere Rezeption von Schwuler-Geschichte als der der lesbischen Frauen fest­stellbar. Die Rezeption homosexueller Sichtbarkeit innerhalb der DDR-Publikationen kann nur als eingeschränkt bezeichnet werden. So lässt sich in Siegfried Schnabels15 Mann und Frau intim ein Kapitel über Homosexualität finden, doch wird diese vornehm­lich durch einen biologischen Erklärungsansatz dargelegt. Gleiches trifft im Übrigen auch auf die Arbeit von Reiner Werner16 zu.

3. Methodik

Das Ziel der Inhaltsanalyse ist die Analyse von Material, das sich mit Kommunikation auseinandersetzt. Es existiert keine eindeutige Definition, in welcher Form sich diese Kommunikation manifestieren muss. Es kann sich hierbei um Texterzeugnisse handeln, jedoch genauso um Bilder, Radiointerviews oder Karikaturen. So ist es nicht verwunder­lich, dass innerhalb der Forschungslandschaft kein eindeutiger Konsens darüber besteht, was exakt unter einer Inhaltsanalyse zu verstehen ist. Eine eindeutige Definition hängt in diesem Rahmen auch immer vomjeweiligen Forschungsinteresse des oder der Autor*in ab, doch bleibt beijeder möglichen Definition ein gemeinsamer Konsens bestehen.

Als Ziel setzt sich die Inhaltsanalyse folgende Punkte:

Erstens soll die Kommunikation, welche in irgendeiner Art und Weise fixiert ist, analy­siert werden. Die Fixierung kann dabei durch Text, Abbildung, Noten, gewährleistet sein. Es handelt sich somit um symbolisches Material, welches erst durch Analyse und Inter­pretation den gesamten Inhalt seiner Selbst freigibt. Dabei will sie zweitens systematisch und drittens regelgeleitet vorgehen. Sie soll also auch für externe Betrachterinnen nach­vollziehbar und überprüfbar sein. Und viertens besitzt sie ein theoriegeleitetes Vorgehen - dies äußert sich so, dass nicht eine willkürliche Analyse vollzogen wird, sondern diese durch theoriegeleitete Überlegungen auf der Basis der Fragestellung durchgeführt wird. Ihr höchsteigenes Ziel besteht also darin, Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte der Kom­munikation zu ziehen. Das bedeutet, dass sie die Absichten des*der Sender*in und die entsprechende Wirkung bei dem*der Empfängerin herausarbeiten will.17

Eine qualitative Inhaltsanalyse darf dabei aber nie die Vorzüge der quantitativen For­schung aus ihrem Konzept verlieren, da sie sonst angreifbar wird. Sie muss somit zuje- dem Zeitpunkt an der beschriebenen Methodik überprüfbar und nachvollziehbar sein.18 Innerhalb der Analyse darf das Material nicht aus seinem kommunikativen Rahmen her­ausgelöst werden, es muss vielmehr als Teil einer Kommunikationskette verstanden wer­den.19 Ein solcher Punkt bietet immer einen Angriffspunkt für Kritiker*innen, da hierbei angeführt werden kann, dass Sinnstrukturen nicht in Gänze erfasst werden können. Wäh­rend der Erarbeitung der Kategorien ist es deshalb unerlässlich, diese genau zu definieren. Dies ist besonders bei der in dieser Arbeit verwendeten induktiven Kategorienbildung unentbehrlich. Es istjedoch grundlegend, dass die Kategorien trotz ihrer freien Bildung in einem theoretisch begründeten Rahmen gebildet und festgelegt werden. Dieser Rah­men muss hinreichend erklärt werden, damit es durch Dritte nachvollzogen und intersub­jektiv überprüft werden kann.20 Bei einer qualitativen Inhaltsanalyse handelt es sich je­doch nicht um eine vorgefertigte Technik, die ein standardisiertes Verfahren widerspie­gelt. Sie muss von Material zu Material und von Fragestellung zu Fragestellung immer wieder neu erarbeitet werden. Es handelt sich hierbei um ein Instrument, das sich an Ana­lysen alltäglicher Kommunikationsprozesse orientiert.

Die Inhaltsanalyse ist, wie oben bereits beschrieben, nicht nur in einer Erscheinungsform vorhanden. In ihr existieren dabei drei strukturelle Grundverfahren, diese sind die Zusam­menfassung, Explikation und die Strukturierung.

In einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse besteht das Ziel darin, das vorhandene Ma­terial so zu reduzieren, dass die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben und durch den Pro­zess der Abstraktion einen überschaubaren Textkorpus bilden.21

Bei einer Explikation ist es das Ziel der Analyse, die fraglichen Textbestandteile so zu ergänzen, dass das Textverständnis erweitert wird. Sie dient also zur Erklärung, Erläute­rung und Ausdeutung des Materials.22

Bei einer Strukturierung des Materials ist es das Ziel, einen Querschnitt durch dieses zu legen oder das Material aufgrund bestimmter Kriterien einzuschätzen. Dies geschieht un­ter Anwendung vorher festgelegter Ordnungskriterien.23

Die vorliegende Arbeit soll ihrer Form nach auf einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse basieren, welche sich durch ein induktives Kategoriensystem auszeichnet. In Folge dieser Zusammenfassung werden die Inhalte der einzelnen Protokolle auf die für die Arbeit re­levanten Aspekte reduziert. Dies bedeutet, dass sie auf ein einheitliches Sprachniveau gehoben und gleichartige Textpassagen zusammengefasst werden. Die verwendeten Ka­tegorien werden, wie bereits erwähnt, durch die vorliegenden Protokolle und die Frage­stellung gebildet. Diese Methode wird als die induktive bezeichnet. Durch das mehrma­lige Bearbeiten des Materials bilden sich die entsprechenden Codes weiter aus. Anschlie­ßend werden Paraphrasen und Abstraktionen der Textpassagen vorgenommen, welche die entsprechenden Kategorien stärker hervortreten lassen.

Das erarbeitete Kategoriensystem lässt sich in vier große Topoi fassen, welche ihrerseits durch die Einführung entsprechender Unterpunkte besser handhabbar gemacht werden können. Diese Topoi sind im Einzelnen: Geschlechterverhältnisse, Beziehungen, Sexua­lität und Homosexualität, letztere unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Homophobie. Daneben bleibt festzuhalten, dass diese Kategorien nicht anjeder Stelle immer eindeutig voneinander zu unterscheiden sind, da viele ihrer Unterkategorien sowohl den einen als auch den anderen Topos tangieren. Das hierbei benutzte Codesystem wird im Anhang dieser Arbeit wiedergegeben. Insgesamt kann festgehalten werden, dass im benutzten Sample 74 Interviews von 42 Männern und 32 Frauen vorhanden sind und 1381 Codes erstellt wurden, welche im Rahmen der zugrundeliegenden Methodik bearbeitet worden sind.

Nach erfolgreicher Auswertung und Abstraktion kann auf diese Weise ein Ergebnis prä­sentiert werden und in weiteren Schritten eine Interpretation des Datenmaterials erfolgen.

4. Quellenkritik

Die Protokollliteratur bietet eine Möglichkeit, in die Alltagswirklichkeit der Menschen in der DDR einzutauchen. Sie bietet einen Zugang sowohl zur biographischen Forschung als auch zur alltagsgeschichtlichen Forschung. Die Protokollliteratur wird in der Litera­turwissenschaft bei einigen Autorinnen auch unter dem Begriff Dokumentarliteratur ge­führt.24 Aus einer literaturtheoretischen Perspektive heraus grenzt sie sich damit von fik­tionalen Texten ab, doch kann die Frage nach dem Fiktionalen innerhalb der Literatur hierbei nie in Gänze geklärt werden. Wo liegen die Grenzen zwischen „fiktional“ und „authentisch“? Wieviel literarische Bearbeitung ist innerhalb einer Publikation möglich und hinzunehmen und wieviel ist es nicht? Miller macht in seiner Arbeit z.B. auf die Fragwürdigkeit und Angreifbarkeit des Begriffes selbst aufmerksam:

„Der Begriff ist aber nicht nur leer, er scheint zudem in sich widersinnig zu sein. Denn entweder verleiht er der Sachliteratur (Interviews, Reportagen, Selbstzeugnisse) einen ästhetischen Rang, den diese selbst nicht beanspruchen (>Dokumentar//'teratwr<), oder aber er thematisiert überflüssigerweise die dokumentarische Substanz, die nochjedes Kunstprodukt (Roman, Drama, Gedicht) zur selbstverständlichen Voraussetzung hat (»Do^wrnewtarliteraturc).25

Die Protokollliteratur der DDR und die Protokollliteratur im Allgemeinen muss jedoch von dem oben beschriebenen Genre unterschieden werden. Die Protokollliteratur besitzt zwar an sich einen autobiographischen Aspekt, der sich durch den gemeinsamen Nenner der Selbstdarstellung auszeichnet. Jedoch erhebt ein autobiographisches Werk meist ei­nen literarischen Anspruch, besonders wenn hier an klassische Formen wie beispiels­weise Goethes Dichtung und Wahrheit gedacht wird.

Zunächst muss jedoch danach gefragt werden, was eigentlich unter dem Begriff „Proto­koll“ gefasst werden kann und darf. Hierbei wird das Wort „Protokoll“ nicht in der Be­deutung von „Etwas im Sinne der vorhandenen gesellschaftlichen Verhaltensnorm zu er­ledigen“ verstanden werden können. Vielmehr wird hier „Protokoll“ als „etwas zu Proto­koll geben“ definiert. Die verwendeten Protokolle wurden durch Gespräche der Autorin­nen mit den Befragten auf einem Tonband mitgeschnitten und das so Gesagte in einem weiteren Schritt durch Transkription festgehalten.26 Anschließend wurden die so erhalte­nen Protokolle in Prosa umgearbeitet, um dann veröffentlicht zu werden. Hierbei ist es auffällig, dass die Veröffentlichungen stets einem Monolog der Protagonistinnen äh­neln. Dies hängt unmittelbar mit der Tatsache zusammen, dass die Interviews ohne entsprechende Nachfragen und Fragen veröffentlicht worden sind. Injedem Falle bilden sie „die erlebte und erzählte, öffentliche und private sowie vergangene und gegenwärtige Alltagswirklichkeit“27 der Protagonistinnen ab. Mit Hilfe der Editionen stellt die Proto­kollliteratur deshalb einen Zugriff auf diese Interviews im Sinne der Oral History her. Auch wenn in ihnen nicht mehr die Fragen der Autorinnen abgedruckt sind, so lassen sie sich an vielen Stellen immer wieder durch Bemerkungen der Interviewten rekonstru­ieren. Es bleibt also festzuhalten, dass das vorliegende Datenmaterial zwar in Prosa ver­öffentlicht wurde, diese Interviewsjedoch in großen Teilen dazu geeignet sind, die All­tagswirklichkeit der Befragten abzubilden. Die literarische Überformung wurde durch die Autorinnen nicht kenntlich gemacht und kann somit auch nicht kritisch reflektiert wer­den. Bei der Auswertung des vorhandenen Datenmaterials ist dieser Umstand immer zu berücksichtigen.

4.1. Oral History und Protokollliteratur - eine Abgrenzung

Durch die Nähe der Protokollliteratur zur Oral History ist es unumgänglich, sich mit die­ser Methode der Geschichtsaneignung im Folgenden etwas näher zu beschäftigen. In ge­wisser Weise muss dies über die methodische Herangehensweise geschehen, soll aber auch den Wert des gewonnenen Quellenmaterials in den Blick nehmen, da in dieser Ar­beit zur Generierung des Quellenmaterials nicht die Methode der Oral History im klassi­schen Sinne angewendet wurde.

Protokollliteratur und Oral History stehen, wie bereits beschrieben, in engem Zusammen­hang zueinander. Menschen waren schon immer darauf bedacht, ihre Geschichten mitei­nander zu teilen und sie einander zu erzählen. Die Oral History bietet demzufolge eine Möglichkeit des Zugriffs auf das „kulturelle Gedächtnis“ der Menschheit.

Jan Assmann definierte das „kulturelle Gedächtnis“ 1988 wie folgt:

„Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir denjeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren >Pflegec sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.“28

Durch den Rückgriff auf das „kulturelle Gedächtnis“ und die schriftliche Fixierung der Protokollliteratur ist damit ein ständiger Zugriff auf diese Quellengattung möglich, ohne dass sie noch weiteren, aktuelleren Erinnerungen und Umwelteinflüssen ausgesetzt ist. Dies ist freilich auch bei der klassischen Oral History zu verzeichnen, nachdem sie über das Transkript fixiert wurde.

Die Oral History beschäftigt sich weitestgehend mit der Erforschung von „Alltagsge­schichte“, der Historiker Alf Lütdke umreißt diesen Teil der Geschichtsschreibung wie folgt:

„Im Mittelpunkt alltagsgeschichtlicher Forschungen und Darstellungen stehen Han­deln und Leiden derer, die häufig als „kleine Leute“ ebenso vielsagend wie ungenau etikettiert werden. Es geht um ihr Arbeiten und Nicht-Arbeiten. Geschildert werden Wohnen und Wohnungslosigkeit, Leiden und Nacktheit, Essen und Hungern. Das In­teresse gilt dem Lieben und Hassen, dem Streiten und Kooperieren, den Erinnerun­gen, Ängsten und Zukunftserwartungen. Bei Alltagsgeschichte richtet sich die Auf­merksamkeit nicht mehr nur auf die Taten (und Untaten), auf das Gepränge der „Gro­ßen“, d.h. der weltlichen oder kirchlichen Herren. Wichtig werden vielmehr Leben und Über-Leben der in der Überlieferung weithin Namenlosen, bei täglicher Mühsal wie bei gelegentlicher „Verausgabung“.29

Oral History trägt in diesem Verständnis durch ihren Ansatz dazu bei, den Geschichts­schreibungsprozess zu demokratisieren. Sie arbeitet mit subjektiven Zugängen zur Ge­schichte und entfernt sich vom politisch-Normativen. Ähnliches kann man auch der Pro­tokollliteratur der DDR zuschreiben. Sie bietet einen unverzerrten Blick auf die Lebens­wirklichkeit der DDR-Bürger*innen. In diesem Sinne kann also davon gesprochen wer­den, dass Oral History und Protokollliteratur ihrem intentionalen Gehalt nach weitgehend zusammenfallen.

Der wesentliche Unterschied beider Quellengattungen bestehtjedoch darin, dass sich die Herausgeberinnen von Protokollen aus dem Text exkludieren und die Interview-Part­nerinnen für sich selbst sprechen lassen. Eine vollkommene Abwesenheit der Autorin­nen ist jedoch auch in der Protokollliteratur nicht vorhanden. Sie wird aber nicht wie in Oral History-Projekten durchaus üblich, mit dem Abdrucken der gestellten Zwischenfra­gen oder genereller Fragen veröffentlicht.

4.2. Protokollliteratur in der DDR

Die DDR-Protokollliteratur entwickelte sich in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahr­hunderts zu einem eigenständigen Genre. Neben Erinnerungen der ältesten Generationen der DDR-Bevölkerung, wie beispielsweise in Wolfgang Noas „Leben in Preußen“ (1983) oder Wolfgang Herzbergs „So war es“ (1985), wird auch ein gewisses Augenmerk auf die Geschlechterrollen der DDR gelegt. Manche Bände wurden zunächst vor allem durch ihre Art der Betrachtung der weiblichen Seite der DDR bekannt. Hierbei sei Sarah Kirschs „Die Pantherfrau“ (1973) zu benennen, da mit diesem Band die Protokollliteratur Einzug in die literarische Szene der DDR fand. Auch das in der vorliegenden Arbeit benutzte Werk von Maxie Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ (1975), gehört in diese Reihe. Aber auch die Männer der DDR-Gesellschaft wurden über ihre Lebenswelt befragt und ihre Antworten in separaten Bänden zu diesem Thema veröffentlicht. 1985 erschien Christine Müllers „Männerprotokolle“, 1986 folgten Christine Lambrechts „Männerbe­kanntschaften“ und 1989 veröffentlichte Jürgen Lemke sein Buch: „Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männer aus der DDR.“ Die Gennannten drei Protokollbände fanden innerhalb dieser Arbeit ebenso Verwendung. Zusätzlich wurde noch der Band von Kerstin Gutsche „Ich ahnungsloser Engel, Lesbenprotokolle“ von 1991 in den Literaturkanon die­ser Arbeit aufgenommen.

Die Protokollliteratur genoss innerhalb der DDR-Literatur-Szene eine große Popularität und wurde auch in der Bundesrepublik rezipiert. So landete Maxie Wanders „Guten Mor­gen, du Schöne“ umgehend auf der Bestsellerliste in der DDR,30 ähnliches lässt sich auch für die Werke von Lambrecht und Müller vermerken.31 Doch bleibt die Frage, aus wel­chem Grund die Bücher und die adaptierten Theaterstücke rezipiert wurden. Die Literatur besaß im Vergleich zu anderen Medien in der DDR einen weiteren Spielraum. Durch die interne Stabilisierung der DDR nach dem Bau der Mauer wurde es möglich, einen größe­ren Spielraum innerhalb der Publikationen selbst zu erreichen. Mit ihrer Darstellung der subjektiven Befindlichkeiten der Protagonistinnen konnte die Ebene der Bevormundung verlassen werden. Schließlich sprachen keine Parteikader auf indirekte Weise zu den Le­serinnen, sondern Menschen mit realen Problemen. Die Leserinnen konnten sich mit den Protagonistinnen identifizieren und sich deren Lebensverläufe und Konzepte von Sozialismus, Arbeit und Familie anschauen und mit ihren Konzepten vergleichen.

Protokollliteratur kann in diesem Sinne auch als Verständigungstext interpretiert werden.

„Zusammenfassend ist festzustellen, daß Verständigungstexte in Gruppenprozesse einzugreifen vermögen. Durch die Reduktion literarischer Optionen verschleiern die Verständigungstexte ihre Literarizität, verkürzen die ästhetische Distanz zwischen Text und Leser und initiieren Rezeptionsprozesse, deren einziges Ziel darin zu beste­hen scheint, die dargestellten und als ,authentisch‘ propagierten Erfahrungen auf die Anschließbarkeit an den eigenen Erfahrungshaushalt zu testen und im folgenden in Gruppendiskussionen in ihrerjeweiligen Relevanz zu bestätigen.“32

Durch diesen „authentischen“ Zugang zur Lebenswirklichkeit der Menschen ist es den Rezipient*innen möglich, ihre eigenen Erfahrungen mit denen anderer Menschen zu ver­gleichen und somit einen Weg zur eigenen Identitätskonstruktion zu beschreiten. Dies ist ein verständlicher Prozess, der bereits durch den Barden des Mittelalters oder auch durch heutige Dokumentation bekannt ist. Auch ist es Historikerinnen auf diese Art und Weise möglich, einen Vergleich zwischen den offiziellen Narrativen des SED-Parteiapparats und der subjektiven Wahrnehmung der Bevölkerung vorzunehmen.

4.3. Kritische Betrachtung der DDR-Protokollliteratur und ihr Mehrwert als histo­rische Quelle

Trotz aller positiven Aspekte der DDR-Protokollliteratur und deren Erkenntniswert und Nutzen für die historische Forschung muss die Protokollliteratur aber auch kritisch hin­terfragt werden.

Es existieren kritische Literaturrezeptionen, die den Menschen die Fähigkeit absprechen, Leben sprachlich so exakt zu formulieren, dass autobiographisches Schreiben die Lebens­wirklichkeit realiter abbilden kann.33 Darauf soll innerhalb dieser Arbeit aber nicht weiter eingegangen werden.

Ein weitaus bedeutender Faktor, den sowohl die Oral History als auch die Protokolllite­ratur immer wieder kritisch betrachten muss, ist die Erinnerung selbst. Erinnerungen sind etwas höchst Subjektives und können durch Umwelteinflüsse und Verdrängungsmecha­nismen immer wieder geändert werden.34 Die Berücksichtigung der Einflüsse der Leben­sumwelt erfordert es, dass immer mitgedacht werden muss, dass der Mensch innerhalb eines Kollektivs lebt und sich nicht autonom innerhalb seiner Lebenssphäre bewegt.

Dies bedeutet, dass er durch geführte Diskurse und andere Menschen in seiner Wahrneh­mung beeinflusst wird. Er ist immer auch Teil einer sozialen Gruppe und diese Gruppe besitzt selbst entsprechende identitätsstiftende Merkmale.35 Gleichfalls ist zu beachten, dass die Interviewten innerhalb dieser sozialen Konstruktion nur Dinge erzählen, welche sozial anerkannt sind und nicht unter einem Stigma stehen.36 In diesem Zusammenhang sollte auch beachtet werden, dass es sich bei der DDR um ein totalitäres, einer bestimmten Ideologie folgendes, Regime handelte. Die Durchdringung der Gesellschaft mit den durch die Regierung gewünschten Narrativen, kann ebenfalls Erinnerung und eigene Wahrneh­mung beeinflusst haben. Dies darf in der Arbeit mit lebensgeschichtlichen Erzählungen niemals unbeachtet gelassen werden.

Resümierend bleibt festzuhalten, dass die Vergangenheit immer durch einen Filter der Gegenwart erinnert wird und niemals die Gedanken und Wertvorstellungen zum Zeit­punkt des Ereignisses in Gänze abbilden kann. Dieser Filter der Gegenwart bezieht seine erinnerungsverändernde Wirkung auch aus dem soziokulturellen Lebensraum der erzäh­lenden Person, also seiner Stellung innerhalb der Gesellschaft, seiner Erziehung, seines Geschlechts, seiner Interessen, seiner Arbeit usw.

Alle diese Komponenten können Erinnerungen verändern und es ist deshalb um so wich­tiger, in der gebotenen Kürze im Folgenden auf die Entstehungszeiträume der einzelnen Protokollbände einzugehen. Dies ist methodisch notwendig, da neben der Subjektivität der Erinnerungen des Einzelnen auch die Arbeit der Interviewerinnen einen wichtigen Einfluss auf die Entstehung dieser Texte besitzt. Hier sei darauf zu verweisen, dass sich die Interview-Situationen durch gewisse äußere Umstände ganz differenziert darstellen können. So kann es beispielsweise darauf ankommen, welchem Geschlecht und welcher Ethnie die Interview-Partnerinnen angehören, welchen sozio-kulturellen Hintergrund beide haben, welche allgemeinen Umstände während der Interviews herrschten - bei­spielsweise ist es interessant zu wissen, ob sie sich zu Hause bei dem*der Interviewtin oder in einem Café befanden, oder waren weitere Personen anwesend. Alle diese Ein­flüsse können unterschiedliche Grade der Intimität herstellen.

Es ergibt sich ebenso die Frage, ob diese Protokolle nach exakt dem Wortlaut der Tran­skripte veröffentlicht wurden oder Änderungen existierten, um einen dramaturgischen Leitfaden zu erhalten, der sie besser lesbar erscheinen ließ? Wurden einige der Protokolle eventuell ausgelassen, weil sie als nicht interessant genug erschienen? Oder wurden den Protagonistinnen einige authentisch klingende Passagen in den Mund gelegt? All dies kann schwerlich ohne einen exakten Abgleich der Protokolle und der Tonbandaufzeich­nungen festgestellt werden. So konnte und musste an einigen Stellen sogar ein Eingriff des*der Autorin vorgenommen werden.

„Interviews beschränken sich nicht [...] auf das Aufzeichnen von Statements, sondern sind selbst komplizierte Erkenntnis- und Bewußtmachungsprozesse. Die Befragten haben ihre Erfahrungen nicht ständig abrufbar parat, sie müssen sie erst selbst produ­zieren. Manchmal muß viel geredet werden, bis man zur Sache kommen kann: es würde Menschen, die bereit sind, etwas zu erzählen, wirklich übel mitspielen, wenn man dies alles wörtlich wiedergeben würde, so als ob die verbreiteten Vorurteile, Meinungen, Ressentiments, Selbststilisierungen, als ob die gedankenlosen Sätze, die manchmal zuerst über die Lippen kommen, die Essenz ihrer Subjektivität wären.“37

Graf illustriert im Grunde sehr gut die Notwendigkeit einer gewissen editorischen Bear­beitung innerhalb der Publikation, da die zukünftigen Leser*innen einer bestimmten Er­zählstruktur folgen wollen. Es kann daher nicht in Gänze geklärt werden, welche Ele­mente aufgrund der angewandten Dramaturgie ergänzt wurden. Letztendlich mussjedoch davon ausgegangen werden, dass diese Ergänzungen „der literarischen oder sozialen Wahrhaftigkeit [...] keinen Abbruch“38 getan haben.

4.4. Verwendete Protokollbände

Die Darstellung der Protokollbände erfolgt in der Reihenfolge der Erscheinungsjahre und stellt daher keine Aussage hinsichtlich der Wichtigkeit der einzelnen Publikationen dar. Sie dient ebenso dazu, aufzuzeigen, aus welchen Gründen diese Werke für ihre Analyse innerhalb dieser Arbeit ausgewählt wurden.

4.4.1. Maxie Wander: Guten Morgen, du Schöne (1975, hier 19782)

Die innerhalb dieser Arbeit genutzte Ausgabe ist nicht die erste Ausgabe, sondern es han­delt sich um die 1978 veröffentlichte zweite Auflage dieses Werkes. Eine Änderung des Textes im Vergleich zu demjenigen der Erstausgabe wurde aber nicht vorgenommen. Dies geschah lediglich bei den Ausgaben, die in der Bundesrepublik erschienen sind. Maxie Wanders Titel wurde einem „Zigeunerlied“ entnommen, welches sie vor ihre Pro­tokolle stellte. In diesem Lied wird die Frau als erotisches Objekt beschrieben, das sich bedingungslos dem Manne unterzuordnen hat, es endet mit der Drohung: „Kommst du nicht, / ziehe ich das Messer aus dem Brot, / wische die Krumen vom Messer / und treffe dich mitten ins Herz“39. Die solcherart postulierte Unterordnung steht in starkem Kontrast zu den Aussagen der selbstbewussten Frauen des Bandes. So schreibt Wander auch in der Vorbemerkung: „Wir können uns eigentlich nicht wundern, daß in der sozialistischen Gesellschaft Konflikte ans Licht kommen, diejahrzehntelang im Dunkeln schmorten und Menschenleben vergifteten. Konflikte werden uns erst bewußt, wenn wir uns leisten kön­nen, sie zu bewältigen.“40

So enthält die Arbeit von Maxie Wander insgesamt 19 Protokolle, welche für sich bean­spruchen können, einen Querschnitt durch die Gesellschaft abzubilden. So sind Texte über Frauen aus verschiedenen Alterskohorten enthalten. Die jüngste Interviewte ist 16 und die älteste Interviewpartnerin 92 Jahre alt.

Jedoch eint sie alle, dass sie sich in ihrer sexuellen Orientierung größtenteils als hetero­sexuell artikulieren. Lediglich zwei Interviewpartnerinnen äußern sich dahingehend, dass sie entweder Frauen attraktiv finden oder gern eine Affäre mit einer Frau hätten. Thema­tisch umfassen die Interviews neben der Frage der Selbstverwirklichung auch die ver­schiedenen Themengebiete der Sexualität. So wird über die ersten sexuellen Erfahrungen berichtet, ebenso über Orgasmen, sexuelle Naivität oder Masturbation. Daneben erzählen die Frauen auch über ihr Verständnis von Männer- und Frauenrollen oder über ihre Be­ziehungen.

Maxie Wanders Protokollband wurde für diese Arbeit ausgewählt, da er zum einen auf­grund seiner Rezeptionsgeschichte einer der meistgelesenen Bänder dieses Genres ist und in ihm zum anderen die Narrative eines breiten Spektrums an Frauen aufgenommen wurde, die relativ offen über ihr Leben und ihre Sexualität sprechen. Des Weiteren exis­tiert kein anderes Werk, das sich in diesem Umfang mit Frauen beschäftigt. Meist haben die in den anderen Bänden enthaltenen Protokolle einen anderen thematischen Schwer­punkt und lassen die Frauen für gewöhnlich nicht in dieser Freiheit über sich selbst spre­chen.

4.4.2. Christine Müller: Männerprotokolle (1985)

In Müllers Protokollband finden sich Texte über 16 Männer im Alter zwischen 16 und 63 Jahren. Im Vorwort schreibt Johannes Helm:

„Sie glaubte, durch fiktives Erzählen bestimmte Eigenschaften der Person präziser darstellen zu können, als diese im Gespräch erschienen. Um denjeweiligen Interview­ten transparent zu machen, erfand sie zuweilen Episoden und fügte sie hinzu. Gerade weil Christine Müller spürte, wie schwierig es für einen Menschen sein kann, sich selbst unverzerrt zu beschreiben, an sich selbst „wirklich dran zu sein“, versuchte sie, wo es ihr notwendig erschien und möglich war, stellvertretend für die anderen zu sprechen. [...] Doch ihre Absicht war immer die zuverlässige Kennzeichnung einer realen Person.“

Müller bewegt sich damit in der Tradition von Sarah Kirsch und Maxie Wander, welche selbst noch einen Männerband zu ihrem Frauenband erstellen wollte. Neben kurzen An­gaben zum Alter, dem Beruf und dem Familienstand, ist ebenso eine Überschrift zu finden. Sie greift auf ein Ankerzitat aus den Protokollen zurück oder wurde durch die Autorin selbst verfasst. Meist sind diese provokant gestaltet, sodass sie dem*der Leser*in einen ersten diskursiven Ansatz bieten können. Auch in diesem Band steht das Erzählen über alltägliche Dinge im Vordergrund des Interesses. Anders als bei Maxie Wander steht hier jedoch der Mann im Mittelpunkt, der mit der neuen Arbeits- und Familiensituation innerhalb der DDR-Gesellschaft umgehen muss. Die Männer reden meist über ihre Arbeit und streifen am Rande das Themagebiet Familie und Frauen. Sie reden darüber, dass die Arbeitsbelastung der Frau zu internen Spannungen führen kann oder berichten über ihre eigenen Schwierigkeiten innerhalb der neuen Gesellschaft.

Der Band wurde trotz der Überarbeitung durch die Autorin als Quelle der vorliegenden ausgewählt, da er ebenfalls einen breiten Querschnitt durch die Bevölkerung bietet. Ebenso bemerkenswert ist, dass hierin nicht nur der rein heterosexuell orientierte Mann zu Wort kommt, sondern auch ein homosexueller Mann über seine Erfahrungen berichten darf. Auf diese Weise zeigt sie bereits durch die Auswahl der interviewten Männer einen Ansatz zur Diversität.

4.4.3. Christine Lambrecht: Männerbekanntschaften. Freimütige Protokolle (1986)

Dieser Band besteht aus insgesamt zwölf Protokollen von Männern im Alter zwischen 20 und 68 Jahren. Lambrecht schreibt über ihre Arbeitsweise an diesem Band folgendes im Vorwort:

„Ich habe Männer unterschiedlichen Alters gefragt, was ihnen ihr Beruf bedeutet, welche Frauen sie mögen, worauf sie hoffen, was sie ängstigt und was sie unter Männ­lichkeit verstehen. Wir haben oft miteinander gesprochen, an Kaffeehaus- und Knei­pentischen, im Büro, zu Hause, mit und ohne Mikrophon. Ich habe Familienangehö­rige und Freunde gefragt und äußere mich selbst, denn schließlich will ich möglichst genau zeigen, wer und wie sie sind, diese Männer.“43

Das Besondere an diesem Protokollband im Vergleich zu den anderen hier benutzen Bän­den ist, dass sich Lambrecht, wie aus dem Zitat bereits ersichtlich, auch an die Freundin­nen und Familienangehörigen gewandt hat und diese kurzen Protokolle ebenfalls in ihren Band aufgenommen hat. Diese werfen einen anderen Blick auf die subjektiven Wahrneh­mungen der Männer. Beispielsweise werden Aussagen der Männer wieder aufgegriffen und durch die eigene Ehefrau entweder relativiert oder verifiziert. Somit enthält dieser Band im Vergleich zu den anderen ein breiteres Spektrum an Meinungen, womit es mög­lich ist, die befragten Personen besser in ihrer Vielschichtigkeit zu begreifen. Auch nimmt die Autorin keine zusätzlichen Eingriffe durch eingefügte Überschriften der Protokolle vor, sie gibt lediglich den Namen, das Alter und den Beruf des jeweiligen Interviewten an.

In ihrem Buch reden die Männer vor allem über ihre Alltagswirklichkeit, sie bilden einen breiten Querschnitt aller Schichten und Altersstrukturen der Gesellschaft. Lambrecht nimmt in der Mitte ihrer Protokolle ebenso ein Interview mit einem homosexuellen Mann auf, vermutlich, um das Bild des reinen heterosexuellen DDR-Mannes zu brechen.

Dieser Band wurde ebenfalls aufgrund seines Charakters - im Sinne eines gesellschaftli­chen Querschnittes - in das Sample dieser Arbeit aufgenommen. Die Erweiterung der Interviewebene durch Angehörige und Freundinnen ist als eine sinnvolle und nützliche Erweiterung des Samples zu betrachten, da hierdurch, wie bereits erwähnt, die durch die Protagonisten vorgebrachten Erzählungen auf eine weitere Weise reflektiert werden kön­nen. Dies ist vor allem dann sinnvoll, wenn es um Erzählungen über den Wunsch der Partnerin nach Sexualität geht.

4.4.4. Jürgen Lemke: Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männer aus der DDR (1989)

In diesem Protokollband werden bereits im Titel die Intention und die zu Wort kommen­den Protagonisten benannt. Die in ihm enthaltenen 14 Protokolle stammen von Männern, die zwischen 1900 und 1963 geboren wurden. Meist sind nur die Initialen, das Geburts­jahr und der Beruf vermerkt.

Weitere Besonderheiten dieses Bandes sind, dass ein Interview mit einem Paar vorge­nommen wurde und dieses in einem der Protokolle zu Wort kam. Dieses erzählt sein Le­ben zwar gemeinsam, jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven und durch eine Tren­nung im Text dieses Protokolls. Eine zweite Besonderheit stellt das Protokoll von T. dar. Hier wurde ein zweites Interview in einem Abstand von sechs Jahren durchgeführt, Lemke ging in seiner Fragestellung höchstwahrscheinlich auf den Wandel der Lebens­umstände von T. ein. Auch ist auffällig, dass Lemke sich als Interviewer und Autor des Bandes nicht aus den Protokollen herauseditiert. Er ist weiterhin sichtbar, auch wenn seine Fragen nicht mit abgedruckt werden. Thematisch dreht sich dieser Band nicht nur um die allgemeine Lebenssituation in der DDR, sondern auch um die Suche nach der Liebe, den Umgang mit dem Coming Out und dem Umgang mit der weiterhin vorherr­schenden Homophobie der Gesellschaft. Er vermittelt ebenso einen Einblick in die Kon­struktion von Männlichkeit durch die Absenz der Frauen in den Beziehungen der Befragten. Somit bieten sie einen durchaus kontrastierenden Blick auf die gängigen, he­teronormativ geprägten Sichtweisen aufMännlichkeit.

Der Band fand deswegen Einzug in das Sample dieser Arbeit, da er einen wichtigen Ein­blick in die Lebenswirklichkeit der Männer bietet und damit dem Anspruch dieser Arbeit nach Diversität innerhalb der sexuellen Orientierung dient.

4.4.5. Kerstin Gutsche: Ich ahnungsloserEngel. Lesbenprotokolle (1991)

Damit auch die Lebensrealität der Homosexuellen Frauen der DDR in dieser Arbeit sicht­bar wird, wurde dieser Protokollband aus dem Jahre 1991 in das Sample aufgenommen. Lesbische Sichtbarkeit wurde in der DDR nicht in Gänze ermöglicht - dies meint zum einen die Sichtbarkeit in der Opposition der späten DDR, zum anderen aber auch die Möglichkeiten, eigene Treffpunkte zu erschaffen, um sich besser untereinander zu ver­netzen beziehungsweise sich kennenzulemen - dieser Umstand lässt sich auch in den ins­gesamt 13 Protokollen wiedererkennen. In diesem wurden Frauen im Alter zwischen 25 und 66 Jahren zu ihrem Leben befragt, als Besonderheit ist anzumerken, dass die Mutter einer Frau ebenfalls zu ihrem Leben und dem Umgang mit der Homosexualität ihrer Tochter befragt wurde. Gutsche selbst schrieb zu ihrem Vorgehen:

„Ich war bemüht, meine Gesprächspartnerinnen in ihren Äußerungen nicht zu beein­flussen, wollte deshalb auf Fragen verzichten. Ich gebe zu, daß mir das nicht durch­weg gelungen ist und ich nicht ohne Fragen auskam. Eigentlich wollte ich mir nur erzählen lassen, was den einzelnen Frauen selbst wichtig erschien. [...] Fast alle Ge­sprächspartnerinnen stießen sich beim Lesen ihrer Protokolle am eigenen Sprachge­brauch und Ausdruck. Kaum eine der Frauen hatte sich bisher so umfangreich über das eigene Leben geäußert, um es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. [...] Ei­nige nahmen sogar Abstand von der Veröffentlichung, was ich akzeptieren mußte. Im nachhinein waren die Frauen oft verwundert, daß sie eher über Schwierigkeiten spra­chen als über Höhepunkte und Glücksgefühle. [...] Ich selbst geriet während der Ar­beit oft in’s Zweifeln, ob ich mich zu viel oder zu wenig einbringe. Letztendlich habe ich mich dafür entschieden, den dokumentarischen Charakter in der Form zu erhalten, wie er jetzt vorliegt. Es ging mir nicht darum literarischen Ansprüchen gerecht zu werden. Viel wichtiger war mir die Authentizität der Äußerungen.“

Dieser Band fand Eingang in das Sample, da er, wie bereits erwähnt, das Bild der Gesell­schaft der DDR zu komplettieren geeignet ist. Auch wenn er erst im Jahr 1991 erschien, handelt es sich doch um Frauen, die ihr Lesbischsein in der DDR entdeckten und zum größten Teil auch lebten. Deshalb ist es unumgänglich, diesen Band in das Sample auf­zunehmen, wenn in dieser Arbeit ein größeres Bild gezeichnet werden soll.

5. Geschlechtergerechtigkeit in der späten DDR

Sprechen wir in dieser Arbeit über Frauen und Männer in der DDR, so müssen wir zu­nächst einen Konsens darüber finden, wie wir die Rollen der Männer und Frauen inner­halb der DDR-Gesellschaft definieren. Ein Frauen- oder Männerbild kann nicht ohne Weiteres definiert werden, da es ein wandelbarer Begriff ist, welcher zwischen einer Öf­fentlichkeit und einer Veröffentlichung von Bildern changiert.41

So nimmt Irene Dölling eine Dreiteilung der Geschlechterrollen vor, die auch für diese Arbeit von Relevanz sein soll.

Zum Ersten existieren „programmatische Vorstellungen über das Verhältnis von Män­nern und Frauen [...], wie sie etwa in der Verfassung niedergelegt sind. Sie dienen als Orientierungshilfen für die Gesellschaft, Politik und Individuum.“42 Diese programmati­schen Vorstellungen sind anhand ihrer Normativität überprüfbar, könnenjedoch nicht als alleinige Narrative innerhalb der Gesellschaft gewertet werden, da sie nicht allein durch Gesetze und Verfassungen derjeweiligen Staatsform tradiert sind.

Diese Vorstellungen konkretisieren sich zweitens in Leitbildern, welche in der „Politik umgesetzt werden beziehungsweise in den individuellen Lebenskonzepten die Richtung weisen sollen.“43

Ein dritter, entscheidender Teil für die Konstruktion von Frauen- und Männerbildern sind „kollektive kulturelle Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die als tiefverwurzelte Ge­wohnheit den praktischen, alltäglichen Lebensprozeß der Individuen weitgehend unter­schwellig formen.“44 Durch die transgenerationale Weitergabe stereotyper Vorstellungen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ existieren Vorstellungen über „die Zuweisung von bestimmten Tätigkeiten, Eigenschaften, Machtbefugnissen usw. [, die] mit dem einen oder anderen Geschlecht »verkoppelt« werden.“45 Dieses Verflechtung von Zuweisungen wird als natürlich gegeben betrachtet und diesem Postulat folgend wird eine natürliche Hierarchie der Geschlechter konstruierbar und auch konstruiert. Diese Geschlechterord- nungen werden bereits in der frühsten Kindheit eingeübt, beispielsweise mithilfe von Spielen oder Büchern. Darin besteht auch der Grund, weshalb dieses Narrativ so zählebig in der Gesellschaft weiterleben kann.

Ein ähnliches Phänomen wird, auch durch die stetige Wiederholung dieser Stereotypen, in der Werbung, den Massenmedien etc. erzeugt und führt ebenfalls zur Verfestigung dieser Denk- und Deutungsmuster innerhalb aller bekannten Gesellschaften. Ein Eingriff durch staatliche Institutionen kann zwar erfolgen, dies vermag aber nicht die kollektive Wahrnehmung der Geschlechterrollen vollständig zu durchbrechen.

Die drei oben benannten Formen der Geschlechterrollen können sich ergänzen oder sich in einem Widerspruch zueinander befinden, der in Folge eine kognitive Dissonanz bei der*dem Rezipient*in auslösen kann. So kann zwar das Postulat einer gleichberechtigten Teilung der Care-Arbeit durch die Regierung über die Massenmedien oder die Gesetzge­bung verbreitet werden, doch solange Care-Arbeit beispielsweise als der weiblichen Sphäre zugehörig in den Köpfen der Menschen verortet ist, wirdjeder staatliche Eingriff wenig Erfolg haben können.

Irene Dölling stellt abschließend fest, dass die „symbolische Geschlechterordnungen, die durch eine ausgeprägte Hierarchie und durch männliche Suprematie gekennzeichnet sind.“46 Demzufolge ist die „Folge dieser symbolischen (und auch faktischen) männli­chen Herrschaft [...], daß das Männerbild [...] in der Regel weitaus weniger ausformu­liert ist als das Frauenbild.“47 Dies hat zur Folge, dass es schwierig ist, eine umfassende Definition von Männerrollen zu erstellen, da sich dieses Rollenbild über Jahre manifes­tieren konnte und nicht den Schwankungen unterworfen war, denen die Definition der Rolle der Frau innerhalb unterschiedlicher Zeiten und Gesellschaften ausgesetzt war. Deshalb wird sich in dieser Arbeit zunächst auf die Rolle der Frau in der DDR kon­zentriert, um anschließend in Erfahrung zu bringen, welche Rolle ein Mann innerhalb dieser Gesellschaft zu erfüllen hatte.

5.1. Geschlechtergerechtigkeit in der DDR - historischer Kontext

Mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 setzte die Provisorische Volkskammer die erste Verfassung der DDR in Kraft. Diese setzte - hier in paraphrasierter Form wie­dergegeben - die folgenden, für das Thema dieses Kapitels relevanten Aspekte in Kraft: Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau48, das Recht auf Arbeit und gleichen Lohn bei gleicher Arbeit49, der besondere Schutz der Frauen im Arbeitsprozess50, das gleiche Recht auf Bildung51, die gemeinsame Verantwortung von Mann und Frau bei der Erziehung der Kinder52 und der staatliche Schutz der Mutterschaft53. Betrachtet man die Auflistung derjenigen Artikel, die sich auf spezifische Weise mit den Geschlechtern und der Familienkonstruktion befassen, so ist durchaus auffällig, dass sie Ansichten, die auf Engels und Bebel zurückgehen, enthalten. Eine Befreiung von kapitalistischer Ausbeu­tung kann dieser Ansicht zufolge nur durch die Lösung der Frauenfrage erfolgen. Im Rah­men dieser Denkkonstruktion, ging man deshalb von den nachstehenden Annahmen aus:

- „[daß] Benachteiligung, Unterdrückung und die rechtlose Stellung der Frau Re­sultate der Entstehung des Privateigentums seien und mit dessen Überwindung auch die Zweitrangigkeit der Frau verschwinden würde;
- der Kern der Emanzipation der Frau in ihrer Einbeziehung in die gesellschaftliche Produktion liege und
- entsprechend der Einbeziehung der Frauen in die Erwerbsarbeit, ihre Entlastung von den Pflichten der Hausarbeit und der Kindererziehung durch eine »Vergesell­schaftung« dieser Bereiche gesichert werden müsse.“54

Diese Trennung zwischen „produktiver“ Arbeit und „nicht-produktiver“ Care-Arbeit, welche im Wesentlichen die Haushaltsführung und die Kindererziehung umfasst, ist ein typisches Konstrukt, das die Situation der Unterdrückung der Frau durch den Kapitalis­mus illustrieren soll. Diese Ansicht trennt die Geschlechter bereits seit dem Beginn der Erwerbsarbeit. Care-Arbeit wurde somit nicht als Arbeit anerkannt und musste demzu­folge in produktive Arbeit umgewandelt werden, da dieser Auffassung zufolge, andern­falls die Unterdrückung der Frau nicht beendet werden konnte. So bezeichnete bereits Lenin die Hausarbeit als eine Tätigkeit, „die nicht enthält, was die Entwicklung der Frau irgendwie fördern könnte.“55 Diese Sichtweise verweist auf die bereits beschriebene Zu­gehörigkeit der Frau in die inner-häusliche Sphäre des Haushaltes und damit auch auf die Minderwertigkeit der verrichteten Care-Arbeit im Vergleich zu produktiven Tätigkeiten der sozialistischen Produktion.

Die DDR-Regierung trugjedoch auch selbst zur Verfestigung des Rollenbildes der Frau bei. So wurde der 1952 ins Leben gerufene monatliche Hausarbeitstag bis in das Jahr 1977 nur den berufstätigen Müttern und nicht den Vätern gewährt. 1977 bekamen dann auch die Väter die Möglichkeit, den Hausarbeitstag in Anspruch zu nehmen. Dies gelang aber nur, wenn sie alleinstehend waren und Kinder hatten oder ihre Ehefrau pflegebedürf­tig war.56 In gleicher Weise galt dies auch für das Babyjahr in der DDR - hier fand eine entsprechende Änderung erst 1984 Eingang in die Gesetzgebung.

Es bleibt die Erkenntnis festzuhalten, dass die Vordenker des real existierenden Sozialis­mus, auf deren Gedanken die ideologische Position der DDR fußt, der Annahme waren, dass die Gleichberechtigung der Frau durch die Integration in den Arbeitsprozess der Wirtschaft erfolgen würde. Sobald die Frau an der sozialistischen Produktion als gleich­berechtigte Teilnehmerin partizipieren könne, würde die Last der Hausarbeit nicht mehr nur auf ihren Schultern lasten. In den 1970er Jahren lag die Frauenerwerbsquote bereits zwischen 70 und 80 Prozent, bis sie in den 1980er Jahren schließlich auf einen Spitzen­wert zwischen 80 und 90 Prozent stieg.57 Damit waren die Leitlinien der DDR-Politik zur Lösung der Frauenfrage weitestgehend abgesteckt. Alle weiterführenden Probleme wur­den in die Privatsphäre verlagert und bedurften damit keines weiteren Zugriffes durch die Politik. Durch diese vermeintliche Lösung der Frauenfrage wurde lediglich eine Legiti­mation für eine weiter andauernde und sogar steigende Mehrfachbelastung der Frau ge­schaffen. Dies erwies sich jedoch nicht als entscheidender Schritt in die Auflösung der Geschlechterrollen, da die symbolische Hierarchie der Geschlechter durch diese Maßnah­men nicht in Frage gestellt wurde.

Letztendlich lässt sich auch im Falle der DDR behaupten, dassjahrhundertelange Tradi­tionen nicht kurzfristig durch normative Eingriffe aus dem Gedächtnis der Bevölkerung verschwinden. Das Familien- und Mütterlichkeitsideal, dass Kindererziehung und Haus­haltsführung als weibliche Sphäre konnotiert, reicht auch bis in die heutige Zeit hinein und erfreute und erfreut sich einer stabilen Kontinuitätslinie.58

[...]


1 Wander, S. 14.

2 Ahrbeck/Felder.

3 Ebd.

4 Ahrbeck/Felder.

5 Andress.

6 Schmidt.

7 Schröder.

8 Mühlberg.

9 McLellan.

10 Klose, Mertens. Die Studie von Klose beschäftigt hauptsächlich mit den rechtswissenschaftlichen Per­spektiven der Ehescheidung der DDR. Die Studie von Mertens nährt sich der Thematik vornehmlich aus einer historischen Perspektive heraus.

11 Eine Auswahl der Publikationen sei an dieser Stelle angeführt: Gerhard, Merkel; Trappe, Sänger.

12 Starke, Werner. Hierbei sollte angemerkt werden, dass es sich in der Publikationvon Werner ein Kapi­tel über weibliche Homosexualität finden lässt. Dieses Umfasst insgesamt fünf Seiten.

13 Silge. Lesbische Lebenswelten werden, wenn sie thematisiert werden, meist im Zusammenhang mit der allgemeinen revolutionären Umbruchsstimmung der 1980er Jahre benannt. Zu benennen ist hier: Krautz. Gleichfalls lässt sich noch eine Arbeit über lesbische Lebenswelten in der DDR-Literatur finden: Meiß- geier.

14 Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt, LSVD Sachsen-Anhalt; Marbach/Weiß.

15 Schnabl.

16 Werner.

17 Vgl. Mayring, S. 13.

18 Vgl. Ebd., S. 29.

19 Vgl. Ebd.

20 Vgl. Mayring, S. 51.

21 Vgl. Ebd., S. 67.

22 Vgl. Ebd.

23 Vgl. Ebd.

24 Vgl. Derbacher, S. 108.

25 Miller, S. 9.

26 Vgl. Andress, S. 2.

27 Andress, S. 2.

28 Assmann, S. 15.

29 Lüdtke, S. 9.

30 Wander, Leben, S. 220.

31 Vgl. Andress, S. 22.

32 Keitel, S. 448.

33 Vgl. de Man.

34 Vgl. Wierling, S. 97.

35 Vgl. Wierling, S. 99.

36 Vgl. Andress, S. 29.

37 Graf, S.101.

38 Wander, Leben, S.213.

39 Wander, S. 5.

40 Wander, S. 7.

41 Vgl. Dotting, S. 23

42 Ebd. S. 23

43 Ebd.

44 Ebd. S. 23f.

45 Ebd. S. 24.

46 Dotting, S. 24.

47 Ebd.

48 DDR-Verfassung: Artikel 7.

49 DDR-Verfassung: Artikel 18, 4.

50 DDR-Verfassung: Artikel 16, 3.

51 DDR-Verfassung: Artikel 35, 1.

52 DDR-Verfassung: Artikel 31,1.

53 DDR-Verfassung: Artikel 32, 1.

54 Dölling, S. 26.

55 Lenin, S. 26.

56 Vgl. Sachse, S. 119.

57 Merkel, S. 381.

58 Vgl. Budde, S. 15.

Ende der Leseprobe aus 115 Seiten

Details

Titel
Erzählungen über Sexualität. Eine Analyse der Protokollliteratur aus der späten DDR
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Geschichte)
Veranstaltung
-
Note
1,8
Autor
Jahr
2020
Seiten
115
Katalognummer
V1132052
ISBN (eBook)
9783346499288
ISBN (Buch)
9783346499295
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sexualität, Deutsche Demokratische Republik Homosexualität Ehe
Arbeit zitieren
Franziska Stuchlik (Autor:in), 2020, Erzählungen über Sexualität. Eine Analyse der Protokollliteratur aus der späten DDR, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1132052

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