Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Hauptteil
2.1 Aktueller Sachstand
2.1.1 Aktuelle Pandemielage
2.1.2 Aktuelle Impfsituation
2.1.2.1 Priorisierung
2.1.2.2 Impfbereitschaft
2.1.2.3 Lockerungen für Geimpfte
2.2 Für und Wider einer Impfpflicht
2.3 Vereinbarkeit einer Corona-Impfpflicht mit dem Grundgesetz
2.3.1 Betroffene Grundrechte
2.3.2 Schutzbereich
2.3.2.1 Sachlicher Schutzbereich
2.3.2.2 Persönlicher Schutzbereich
2.3.3 Eingriff
2.3.4 Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
2.3.4.1 Einschränkbarkeit des Grundrechts
2.3.4.2 Gesetzliche Grundlage
2.3.4.2.1 Formelle Verfassungsmäßigkeit
2.3.4.2.2 Materielle Verfassungsmäßigkeit
2.3.4.2.2.1 Legitimer Zweck/legitimes Ziel
2.3.4.2.2.2 Geeignetheit
2.3.4.2.2.3 Erforderlichkeit
2.3.4.2.2.4 Angemessenheit/Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn
3 Schlussteil
3.1 Alternativen
3.2 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„Impfen? Ja klar!“ steht zurzeit auf dem Profilbild meines Facebook-Accounts. Aber warum? Ist das nicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit? Das Impfen schützt schließlich vor gefährlichen Infektionskrankheiten und in den meisten Fällen auch vor der Übertragung solcher oder etwa nicht? Warum also ist es nötig, Werbung für das Impfen zu machen?
Seit fast eineinhalb Jahren hält uns die Coronapandemie in Schach. „Diese Pandemie ist ein Jahrhundertereignis, ein Naturereignis, ja gleichsam eine Naturkatastrophe“ so Gesundheitsminister Jens Spahn.1 Bisher wurden seit Ausbruch der Pandemie in Deutschland mehr als 3,7 Millionen Infektionen registriert, 90.187 Menschen sind in Zusammenhang mit dem Virus SARS-CoV-2 (Coronavirus) verstorben (Stand 10.06.2021).2 Einen Weg aus der Pandemie können nur Impfungen bringen, so der allgemeine Konsens.3
Seit Ende Dezember 2020 wird in Deutschland gegen das Coronavirus geimpft.4 Laut Robert-Koch-Institut (RKI) müssten ca. 60 – 70 % der Bevölkerung geimpft sein, um die zur Eindämmung notwendige Herdenimmunität zu erreichen5 ; wobei bei dieser Einschätzung keine Einigkeit besteht. Da das Infektionsgeschehen aufgrund immer neuer Virusvarianten sehr dynamisch ist, könnte die tatsächlich erforderliche Impfrate durchaus höher sein.6 Die Impfbereitschaft ist allerdings im Laufe des letzten Jahres stark gesunken, sodass bis Anfang des Jahres nur noch ca. jeder zweite Bundesbürger7 bereit war, sich impfen zu lassen.8
Grund für die Frage, ob es möglich ist, das Impfen gegen Corona zur Pflicht zu machen, wie es seit März 2020 auch bei der Impfung gegen Masern der Fall ist. Was spricht dafür, was spricht dagegen? Welche gesetzlichen Möglichkeiten stehen zur Verfügung?
Ziel dieser Bachelorarbeit war es daher, durch Literaturrecherche die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Impfpflicht gegen das Coronavirus zu prüfen.
Schwerpunktmäßig soll bei der Arbeit die Vereinbarkeit einer gesetzlichen Impfpflicht mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) geprüft werden.
Dazu wird zunächst dargestellt, wie die aktuelle Situation in Bezug auf die Coronapandemie aussieht und welchen Sachstand das Impfgeschehen hat. Dabei wird auch darauf eingegangen, wie die Bestimmungen zur Priorisierung bei der Impfstoffverteilung aussehen, wie die Impfbereitschaft sich entwickelt und inwieweit geimpfte Personen anders behandelt werden können als ungeimpfte.
Anschließend erfolgt die eigentliche Zulässigkeitsprüfung. Dafür wird zunächst der Schutzbereich des Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG definiert und geprüft, ob die Impfpflicht einen Eingriff darstellen würde. Darauf folgt die Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, bei der die formelle und die materielle Verfassungsmäßigkeit beleuchtet werden. Der Schwerpunkt soll dabei auf der Verhältnismäßigkeitsprüfung liegen, die ganz klassisch in die Bereiche „Legitimer Zweck“, „Geeignetheit“, „Erforderlichkeit“ und „Angemessenheit“ unterteilt ist.
Abschließend werden Alternativen zur Impfpflicht aufgezeigt und es folgt ein Fazit.
2 Hauptteil
2.1 Aktueller Sachstand
2.1.1 Aktuelle Pandemielage
Aktuell befinden wir uns am Ende der dritten Infektionswelle mit dem Virus SARS-CoV-2 (Coronavirus).9 Deutschland befand sich seit November 2020 im teilweisen und seit Januar 2021 im harten Lockdown. Viele Einzelhändler und Gastronomen mussten schließen, es gab Einschränkungen in Schulen und Kindergärten, private Kontakte wurden begrenzt und zuletzt sogar Ausgangssperren erlassen. Genauere Regelungen und Lockerungen bestimmen die Bundesländer unter Beachtung der Infektionszahlen.10
Seit dem 23.04.2021 gilt in Deutschland eine bundeseinheitliche „Notbremse“. Diese „Notbremse“ bestimmt strenge Schutzmaßnahmen in Abhängigkeit von Inzidenzzahlen für Kreise und kreisfreie Städte in ganz Deutschland. Ausschlaggebend für den Eintritt der „Notbremse“ ist dabei die 7-Tages-Inzidenz, die angibt, wie viele Menschen pro 100.000 Einwohner eines Kreises oder einer kreisfreien Stadt sich innerhalb von 7 Tagen neu mit dem Coronavirus infizieren. Die Notbremse tritt ab einer konstanten 7-Tages-Inzidenz von über 100 in Kraft.11
Momentan liegt die 7-Tage-Inzidenz in Deutschland bei 17, kein Land weist mehr einen Wert von über 50 auf. Auch in keinem der Landkreise oder kreisfreien Städte liegt die 7-Tage-Inzidenz aktuell über 100, sodass die Notbremse aktuell nicht greift (Stand 13.06.2021).12 Und der Lockdown ist in den meisten Gegenden mittlerweile stark gelockert.
Ein Grund für die stetig sinkenden Infektionszahlen könnte die steigende Anzahl an Impfungen sein.
2.1.2 Aktuelle Impfsituation
Vier verschiedene Impfstoffe sind bisher in der EU zugelassen und stehen in Deutschland zur Verfügung. Alle vier sind genbasiert. Das Vakzin von BioNTech/Pfizer, welches Ende Dezember 2020 als erster Coronaimpfstoff eine EU-Zulassung erhielt, basiert ebenso wie der im Januar 2021 zugelassene Impfstoff von Moderna auf der neuartigen mRNA-Technologie.13 Dabei werden der Impfperson im Gegensatz zu den meisten anderen Impfstoffen keine Krankheitserreger der entsprechenden Krankheit oder dessen Bestandteile injiziert. Stattdessen wird die Immunreaktion von Spike-Proteinen ausgelöst, die der Körper anhand von Erbinformationen aus der Boten-RNA (mRNA), die über Lipid-Nanopartikel in die Zelle gelangen, selbst bildet. Eine Veränderung der eigenen DNA gilt dabei als ausgeschlossen.14 Die Vakzine von AstraZeneca und Johnson&Johnson, die im Januar und im März dieses Jahres von der EU zugelassen wurden, sind vektorbasiert. Ähnlich wie bei mRNA-Impfstoffen bildet der Körper die Spike-Proteine, die die Immunreaktion auslösen, selbst. Allerdings wird die Erbinformation über die DNA abgeschwächter Adenoviren in die Zelle transportiert. Diese Technologie ist nicht ganz neu, es gab bereits vor der Coronapandemie Zulassungen für Vektorvakzine.15
Mit Ausnahme der Impfung mit dem Johnson&Johnson-Impfstoff müssen alle Impfungen nach ein paar Wochen aufgefrischt werden. Vollständigen Impfschutz erreicht man ca. 14 Tage nach der zweiten Impfung (bzw. 14 Tage nach der einmaligen Impfung mit dem Johnson&Johnson-Vakzin).16
Die Impfstoffe werden bisher in einem der rund 400 Impfzentren und seit April zusätzlich von niedergelassenen Ärzten verabreicht. Im Juni wurden außerdem Betriebsärzte einbezogen17. Bisher wurden in Deutschland über 40 Millionen Menschen geimpft. Allein am 19. Mai 2021 wurden 1.059.061 Impfdosen in Deutschland verabreicht. Damit sind 48,1 % aller deutschen Einwohner bereits mindestens einmal geimpft und 25,7 % genießen bereits vollständigen Impfschutz (Stand 13.06.2021).18
2.1.2.1 Priorisierung
Gemäß § 1 Absatz 1 der Coronavirus-Impfverordnung (CoronaImpfV), die am 08. Februar 2021 in Kraft getreten ist, haben grundsätzlich alle in Deutschland lebenden Personen Anspruch auf eine Schutzimpfung gegen das Coronavirus.
Bislang steht allerdings nicht genug Impfstoff zur Verfügung, um den gesamten Bedarf zu decken.19 § 1 Absatz 2 CoronaImpfV bestimmt daher eine Reihenfolge, nach der die knappen Impfstoffe verteilt werden sollen. Dabei werden insbesondere das Risiko eines besonders schweren oder tödlichen Verlaufs einer Covid-19-Erkrankung und die Arbeit mit Personen, die solch ein Risiko tragen, berücksichtigt. Zu Beginn der Impfkampagne wurden dementsprechend über 80-Jährige sowie Kranken- und Pflegepersonal geimpft, für die nach § 2 CoronaImpfV die höchste Prioritätsstufe gilt. Mittlerweile hatten auch Personengruppen mit hoher (nach § 3 CoronaImpfV) und mit erhöhter Priorität (nach § 4 CoronaImpfV) Zugang zu den Impfungen. Seit dem 7. Juni 2021 ist die Priorisierung komplett aufgehoben.20
Unabhängig von der Frage, ob eine Priorisierung bei der Vergabe von knappen Impfstoffen sinnvoll oder gerecht ist, wurde im Vorfeld stark darüber diskutiert, ob die Regelung einer Impfpriorisierung im Rahmen einer Rechtsvorordnung ausreicht oder ob sie in einem formellen Gesetz geregelt werden muss.
Dem Vorbehalt des Gesetzes folgend, ist die Regierung nur dann berechtigt eine Rechtsvorordnung zu einer bestimmten Sache zu erlassen, wenn ein formelles Gesetz sie dazu ermächtigt. Dabei muss das Gesetz Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung bestimmen (Artikel 80 Absatz 1 GG).
Eine Verordnungsermächtigung zum Thema Schutzimpfungen ist in § 20i Absatz 3 des fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) zu finden. Allerdings regelte diese Norm bis zur Änderung vom 28.03.2021 lediglich den grundsätzlichen Anspruch von Schutzimpfungen und die Kostenübernahme. Auch der im November 2020 neu eingefügte Zusatz eines besonderen Anspruchs „wenn sie [die Personen] aufgrund ihres Alters oder Gesundheitszustandes ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben, wenn sie solche Personen behandeln, betreuen oder pflegen oder wenn sie in zentralen Bereichen der Daseinsvorsorge und für die Aufrechterhaltung zentraler staatlicher Funktionen eine Schlüsselstellung besitzen“ (§ 20i Absatz 3 Nummer. 1 Buchstabe a) SGB V) reicht nicht aus, um eine priorisierte Behandlung bei der Impfkampagne zu rechtfertigen, denn auch hier werden lediglich Ansprüche definiert und keine Reihenfolgen. Nach der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts müssen wesentliche Entscheidungen vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber selbst getroffen werden.21
Als wesentlich werden vor allem Entscheidungen mit Grundrechtsbezug angesehen. Im vorliegenden Fall kann das Vorenthalten einer Impfung unter Umständen zwischen Leben und Tod entscheiden, womit das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG betroffen ist. Ebenso müssen Priorisierungsentscheidungen mit dem Gleichheitsgrundsatz aus Artikel 3 GG vereinbar sein.22 Entscheidungen über Priorisierungsmaßnahmen für die Verteilung von Coronaimpfstoffen sind daher als wesentlich anzusehen.23
Auch § 5 Absatz 2 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) ermächtigt die Bundesregierung zum Erlass einer Rechtsverordnung. Unter anderem heißt es: „Das Bundesministerium für Gesundheit wird im Rahmen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite unbeschadet der Befugnisse der Länder ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln einschließlich Impfstoffen […] Regelungen […] zur Abgabe […] vorzusehen“ (§ 5 Absatz 2 Nummer 4 Buchstabe f IfSG). So kann danach zwar die Abgabe von Impfstoffen durch Rechtsverordnung geregelt werden, doch fehlt es auch hier an wesentlichen Regelungen bezüglich der Priorisierung.24
Aufgrund der Dringlichkeit möglichst schnell mit den Impfungen beginnen zu können, im Hinblick auf die hohe Dynamik der pandemischen Lage, auf die der Verordnungsgeber deutlich schneller reagieren kann als der Gesetzgeber25 und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Impfstoffknappheit zeitlich begrenzt ist, war man jedoch der Meinung, dass § 20i SGB V und § 5 IfSG zumindest gemeinsam ausreichende Vorgaben für die Ermächtigung einer Rechtsverordnung über Priorisierungsmaßnahmen beinhalten.26
Der Gesetzgeber hat dennoch nachgebessert und zum 31. März 2021 sowohl in § 20i SGB V27 als auch in § 5 IfSG28 ausdrücklich die Möglichkeit von Priorisierungen in die Verordnungsermächtigung aufgenommen.
2.1.2.2 Impfbereitschaft
Die Impfbereitschaft der deutschen Bevölkerung hat seit Anfang des Jahres stark zugenommen. Wollte sich im Januar nur etwa jeder Zweite impfen lassen, so geben laut aktuellen Befragungen rund 73 % der Erwachsenen an, sich auf jeden Fall impfen lassen zu wollen und lediglich rund 5 % schließen die Impfung für sich komplett aus.29
Mögliche Gründe für die höhere Impfbereitschaft könnten zum einen in der Aufklärungsarbeit liegen, in den immer weitreichenderen Erkenntnissen über Sicherheit und Wirksamkeit oder aber auch in der Inaussichtstellung von Lockerungen.
Mit dem Coronaimpfstoff von BioNTech/Pfizer hat erstmalig ein Medikament mit mRNA-Technologie eine Zulassung erhalten.30 Eine völlig neue Technologie, noch dazu genbasiert und in Rekordzeit zugelassen, war Futter für die knapp 3 % der Deutschen, die Impfungen ohnehin kritisch gegenüberstehen31 und hat Unsicherheit in großen Teilen der Bevölkerung ausgelöst. Genbasierte Impfstoffe könnten die eigene DNA verändern, Nebenwirkungen seien nicht ausreichend erforscht und die Geschwindigkeit der Impfstoffzulassung sei zu Lasten der Sicherheit gegangen. Intensive Aufklärung über die Homepages der Bundesregierung und des RKI, sowie zahlreiche wissenschaftliche Aufklärungsvideos auf SocialMedia-Plattformen haben allerdings Wirkung gezeigt. Mittlerweile ist in weiten Teilen der Bevölkerung bekannt, dass das genetische Material aus den Impfungen nicht in die eigene DNA eingebaut wird und dass die Entwicklung und Zulassung wesentlich schneller als bei früheren Impfstoffen ging, weil dem Coronaimpfstoff höchste Priorität eingeräumt wurde. Es haben mehr Unternehmen und mehr Mitarbeiter an der Entwicklung geforscht, es wurden mehr finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt und viele Zulassungsschritte, die gewöhnlich hintereinander ablaufen würden, wurden nun parallel durchgeführt.32
Ein Grund dafür, dass sich viele Menschen, die der Coronaimpfung vorher skeptisch gegenüberstanden, intensiver darüber informiert und damit eventuell ihre Skepsis verloren haben, könnte außerdem sein, dass Geimpften bestimmte Lockerungen der Coronaschutzmaßnahmen in Aussicht gestellt wurden.
2.1.2.3 Lockerungen für Geimpfte
Solange es nicht genügend Impfdosen gibt, sodass jedem impfwilligen Bürger ein Impfangebot unterbreitet werden kann, scheinen Privilegien für Geimpfte höchst ungerecht und unsolidarisch.33
Fraglich ist allerdings, ob die Aufrechterhaltung der Einschränkung bei Geimpften weiterhin verfassungskonform ist und damit rechtlich überhaupt noch möglich ist.
Der Gleichheitsgrundsatz aus Artikel 3 Absatz 1 GG verbietet es ohne sachlichen Grund etwas wesentlich Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln.34
Die Coronaschutzmaßnahmen stellen „weitreichende kollektive Grundrechtsbeeinträchtigungen“ dar. Als Beispiele seien die Quarantänepflicht als Eingriff in die Freiheit der Person aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG oder die Kontaktbeschränkungen als Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Artikel 2 Absatz 1 GG genannt. Gerechtfertigt werden die Eingriffe über die staatliche Schutzpflicht mit dem Ziel der Pandemieeindämmung.35 Grund für die Maßnahmen ist die Tatsache, dass zurzeit jeder Einzelne am Infektionsgeschehen beteiligt sein kann, da man sich unbemerkt mit dem Coronavirus infizieren und wegen der langen Inkubationszeit von 5-6 Tagen bereits Dritte anstecken kann, bevor überhaupt bemerkt wird, dass eine Infektion vorliegt.36
Unklar ist bislang, ob durch die Impfung tatsächlich keine Viren mehr auf Andere übertragen werden können. Gesichert ist allerdings, dass die Wahrscheinlichkeit sich bei einer vollständig geimpften Person anzustecken zumindest stark verringert ist.37 Die wesentliche Ungleichheit liegt damit im Impfstatus der von den Coronaschutzmaßnahmen betroffen Personen, die unterschiedlichen Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben.38
Wenn allerdings Geimpfte nicht mehr wesentlich am Infektionsgeschehen beteiligt wären, wäre die Einschränkung ihrer Grundrechte nicht mehr geeignet, den Zweck der Pandemieeindämmung zu erfüllen, weshalb die Eingriffe verfassungswidrig werden würden.39
Daher ist weniger von Privilegierung der Geimpften zu sprechen als eher von einer Wiederherstellung der Verfassungsmäßigkeit.40
Die gleichen Lockerungen gelten außerdem für Genesene, also für Personen, die sich nachweislich bereits mit dem Coronavirus infiziert haben und seit mindestens 14 Tagen genesen sind, da auch diese als ausreichend immunisiert gelten.
Die Solidaritätsfrage wurde entschärft, indem bereits vor den Lockerungen für Geimpfte, in den Bundesländern einige Lockerungen für Bürger beschlossen wurden, die einen aktuellen negativen Coronatest vorweisen können. Laut COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung (SchAusnahmV) werden Geimpfte und Genesene den Negativgetesteten gleichgestellt, sodass für sie die Testpflicht entfällt.
Immunisierte profitieren allerdings von weiteren Lockerungen, wie etwa der Aufhebung der Quarantänepflicht als Kontaktperson, da von ihnen eine noch geringere Ansteckungsgefahr ausgeht als von Negativgetesteten.41
2.2 Für und Wider einer Impfpflicht
Die Frage, ob eine Impfpflicht sinnvoll ist oder nicht, kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern muss für jede Infektionskrankheit und das jeweilige Infektionsgeschehen gesondert betrachtet werden.42 Dabei können zwar grundsätzliche Argumente aus den Überlegungen für die eine Impfpflicht auf die für eine andere Impfpflicht übertragen werden, die Wertungen müssen jedoch stets individuell erfolgen.43
Ziel von Impfungen ist in der Regel nicht nur der individuelle Schutz, sondern das Erreichen einer Herdenimmunität, durch die die Ansteckungsrate so stark gesenkt werden kann, dass eine Epidemie endet oder gar nicht erst ausbricht. Im besten Fall werden Infektionskrankheiten durch flächendeckende Impfungen sogar komplett ausgerottet, wie zum Beispiel die Pocken. Durch Herdenimmunität werden außerdem auch diejenigen Menschen vor Infektionen geschützt, die sich aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands nicht selbst durch Impfung schützen können.44
Aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG resultiert eine Schutzpflicht des Staates.45 So gibt es zwar kein Grundrecht auf Gesundheit, allerdings besteht „ein allgemeiner Anspruch auf aktive gesundheitsbezogene staatliche Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr“.46 Menschen, die sich ohne medizinische Kontraindikation nicht impfen lassen wollen und damit zur Gefahr für andere werden können, zur Impfung zu verpflichten, könnte unter epidemiologischen Gesichtspunkten daher eine gute Entscheidung sein.
Die Entscheidung über eine Impfpflicht obliegt dem demokratisch gewählten Gesetzgeber und ist daher nicht nur eine medizinische, sondern auch eine rechtliche und eine politische. Der Gesetzgeber hat vor allem die Grundrechtsrelevanz des Themas zu beachten. „Grundrechte sind die Stoppschilder des politischen Diskurses – anhalten und nachdenken.“47 Im Referentenentwurf zum Masernschutzgesetz im vergangenen Jahr wurde die mögliche Beeinträchtigung von Grundrechten nicht thematisiert.48 Um eine Akzeptanz für eine solche Verpflichtung zu erreichen, muss aber die Problematik von konkurrierenden Grundrechten erkannt werden und eine Abwägung stattfinden49, wie im späteren Gesetzesentwurf – wenn auch nicht umfassend – geschehen.50
Politisch gesehen ist aus heutiger Sicht ein wichtiges Argument gegen eine Corona-Impfpflicht auch der medienwirksam kommunizierte Ausschluss einer solchen durch Gesundheitsminister Jens Spahn: „Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben!“51 Würde nun doch eine Pflicht zur Impfung gegen das Coronavirus beschlossen werden, könnte daraus ein massiver Verlust an Glaubwürdigkeit der Bundesregierung resultieren, weshalb dies in Anbetracht der im Herbst dieses Jahres anstehenden Bundestagswahlen und den bereits sinkenden Umfragewerten der Regierungsparteien52 zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu erwarten ist.
Da das Infektionsgeschehen langfristig allerdings nicht absehbar ist und auch die Impfbereitschaft mit sinkenden Inzidenzzahlen abzunehmen droht, ist die Verfassungsmäßigkeit einer Corona-Impfpflicht dennoch zu prüfen.
2.3 Vereinbarkeit einer Corona-Impfpflicht mit dem Grundgesetz
2.3.1 Betroffene Grundrechte
Eine staatliche Pflicht sich impfen zu lassen kann mehrere Grundrechte berühren.
Die allgemeine Handlungsfreiheit aus Artikel 2 Absatz 1 GG und das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG sind bei einer Impfpflicht immer betroffen.53
Ebenso kann die Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Artikel 4 GG berührt sein, wenn die Impfung im Konflikt mit der eigenen Religion steht. So gaben beispielsweise 10 % der Europäer an, dass ihre religiöse Überzeugung und das Impfen nicht oder eher nicht miteinander vereinbar seien.54
Bei einer Impfpflicht, die nicht für jeden Bürger gilt, sondern nur für solche, die in bestimmten Einrichtungen betreut werden oder arbeiten, wie beispielsweise der Masernimpfpflicht, muss außerdem der Gleichheitsgrundsatz aus Artikel 3 GG beachtet werden.
Die Impfpflicht gegen Masern betrifft darüber hinaus überwiegend Kinder und Jugendliche sowie Beschäftigte in bestimmten Einrichtungen, weshalb auch das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Absatz 2 GG55 und die Berufsausübungsfreiheit aus Artikel 12 Absatz 1 Satz 2 GG56 relevant sein können.
In dieser Arbeit ist die Grundrechtsprüfung auf die mögliche Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit beschränkt.
2.3.2 Schutzbereich
2.3.2.1 Sachlicher Schutzbereich
„Das Recht auf körperliche Unversehrtheit schützt die biologisch-physische Existenz des Menschen im Sinne seiner Gesundheit und körperlichen Integrität.“57
Die World Health Organization (WHO) definiert Gesundheit als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefinden[s]“.58 Im grundrechtlichen Sinne meint „Gesundheit“ allerdings lediglich die „Abwesenheit von Krankheit, Verletzungen und somatischen Funktionsstörungen“ sowie „von Schmerzen und manifesten psychopathischen Zuständen“.59 Das bloße Wohlbefinden ist nicht geschützt, wohl aber psychische Beeinträchtigungen, die physische Folgen haben können, wie beispielweise Fluglärm.60
[...]
1 Spahn, ZDF 2020, 1:30 Minuten.
2 Statista Research Department, Statista 2021, Infektionen und Todesfälle mit Coronavirus (COVID-19) in Deutschland 2021.
3 Wolff/Zimmermann, NVwZ 2021, 182 – 186 (182).
4 Radtke, Statista 2021, Impfungen gegen das Coronavirus nach Ländern weltweit 2021.
5 https://www.zusammengegencorona.de/impfen/logistik-und-recht/impfquote/#id-62eceedb-5921-54a8-94dc-c1e162c8ff46 (abgerufen am 13.06.2021).
6 Hohmann-Jeddi, PZ 2021.
7 Zum Zwecke der besseren Lesbarkeit wird im Text das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind jedoch immer alle Geschlechter.
8 Radtke, Statista 2021, Umfrage zur Corona-Impfbereitschaft in Deutschland 2021.
9 Spahn, ZDF 2021, 0:20 Minuten.
10 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-lockdown-november-100.html (abgerufen am 21.05.2021).
11 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/guv-19-lp/4-bevschg-faq.html?fbclid=IwAR0P9Vuz6xtHb-pqxHDglN5LtrWKWkfQKQy78vJNeInVbO_nJn5foDK9U50 (abgerufen am 21.05.2021).
12 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Fallzahlen_Kum_Tab.html (abgerufen am 13.06.2021).
13 Dingermann/Hohmann-Jeddi, PZ 2020.
14 Hohmann-Jeddi, PZ 2020.
15 Dingermann/Hohmann-Jeddi, PZ 2020.
16 https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html (abgerufen am 20.05.2021).
17 https://www.deutschlandfunk.de/corona-impfungen-in-der-praxis-die-rolle-der-hausaerzte-in.2897.de.html?dram:article_id=493853 (abgerufen am 20.05.2021).
18 https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus (abgerufen am 13.06.2021).
19 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 271/20, S. 3.
20 https://www.zusammengegencorona.de/impfen/basiswissen-zum-impfen/aufhebung-der-impfpriorisierung/(abgerufen am 25.05.2021).
21 BVerfG, 08.08.1978 - 2 BvL 8/77 70 (https://lexetius.com/1978,2, abgerufen am 23.05.2021).
22 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 271/20 (S. 8).
23 Stüer, DVBl 2021, 373 – 377, 374.
24 Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 2071/20, S. 6.
25 Leisner-Egensperger, NJW 2021, 202 – 208, 204.
26 Stüer, DVBl 2021, 373 – 377, 374.
27 https://www.buzer.de/gesetz/2497/al144034-0.htm (abgerufen am 25.05.2021)
28 https://www.buzer.de/gesetz/2148/ v268429-2021-03-31.htm (abgerufen am 25.05.2021)
29 Radtke, Statista 2021, Umfrage zur Corona-Impfbereitschaft in Deutschland 2021.
30 Dingermann/Hohmann-Jeddi, PZ 2020.
31 Podbregar, scinexx 2020.
32 https://www.pei.de/DE/service/faq/coronavirus/faq-coronavirus-node.html (abgerufen am 28.05.2021).
33 Schöbel, rbb24 2021.
34 BVerfGE 2 BvR 2227/08, Rn. 3 (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2010/07/rk20100726_2bvr222708.html, abgerufen am 08.06.2021).
35 Katzenmeier, MedR (2020) 38, 461 – 465, 463.
36 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html (abgerufen am 27.05.2021).
37 https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html (abgerufen am 27.05.2021).
38 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 001/21, S. 7.
39 Wolff/Zimmermann, NVwZ 2021, 182 – 186, 185.
40 Fischer, Spiegel 2021.
41 https://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Corona-Sind-Lockerungen-fuer-Geimpfte-medizinisch-sinnvoll,coronavirus5144.html (abgerufen am 08.06.2021).
42 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 019/16, S. 5.
43 Pieper/Schwager-Wehming, DÖV 2021, S. 287 – 297, 289/290.
44 https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/impfen/herdenimmunitaet (abgerufen am 30.05.2021).
45 Steiner/Müller-Terpitz, in: Spickhoff Medizinrecht, GG Art. 2, Rn. 15.
46 Steiner/Müller-Terpitz, in: Spickhoff Medizinrecht, GG Art. 2 Rn. 16.
47 Rixen, ZRP 2019, 93.
48 Referententwurf Masernschutzgesetz.
49 Rixen, ZRP 2019, 93.
50 Deutscher Bundestag, Drucksache 19/13452, S. 29 – 31.
51 Spahn, ZDF 2020, 5:50 Minuten.
52 https://www.wahlrecht.de/umfragen/ (abgerufen am 30.05.2021).
53 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 019/16, S. 3.
54 Pieper/Schwager-Wehming, DÖV 2021, 287-297, 295, zitiert nach Larson et al., State of vaccine confidence in the EU 2018, S. 15, 18.
55 Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? 2019, S. 41.
56 Deutscher Bundestag, Drucksache 19/13452, S. 31.
57 Horn, in: Stern/Becker Grundrechte-Kommentar, GG Art. 2, Rn. 60.
58 Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Präambel.
59 Horn, in: Stern/Becker Grundrechte-Kommentar, GG Art. 2, Rn. 60.
60 Schmidt, in ErfK, GG Art. 2, Rn. 102.