Die Türkei auf dem Weg nach Europa

Reformbestrebungen zwischen Islam und Kemalismus


Seminararbeit, 2008

35 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Europa und Türkei
1.1 Bisherige EU-Erweiterungen
1.2 Verhältnis der EU zur Türkei

2 Türkei
2.1 Rahmenbedingungen
2.1.1 Republikwerdung und Kemalismus
2.1.2 Islam
2.2 Hindernisse auf dem Weg nach Europa
2.2.1 Militär
2.2.2 Die Kurdenfrage
2.2.3 Nicht-muslimische Minderheiten

3 Fazit

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

„Die Türkei gehört nach Europa“1 lautete die eindeutige Forderung des Economist im Dezember 2002. Ein EU-Beitritt der Türkei bedeute „das Ende der Europäischen Union“2 äußerte dagegen der frühere französische Staatspräsident und damalige Vorsitzende des Konvents über die Zukunft Europas Valéry Giscard d’Estaing.

Die Meinungen über einen EU-Beitritt der Türkei gehen offensichtlich weit auseinander. Kaum ein anderes Thema wird im Zusammenhang mit der Europäischen Integrationspolitik so kontrovers diskutiert wie die Frage, ob die Türkei in die Europäische Union (EU) aufgenommen werden sollte.

Innerhalb der Gruppe der EU-Beitrittskandidaten nimmt die Türkei eine Sonderrolle ein. Kein anderes Land hat sich dermaßen ausdauernd um eine EU- Mitgliedschaft bemüht. Kein anderes Land ist dabei so oft enttäuscht worden. Ein Wendepunkt der Beziehung zwischen der Türkei und der EU stellt der Gipfel von Helsinki 1999 dar, auf dem der Türkei offiziell der Status eines Beitrittskandidaten verliehen wurde. Durch die Eröffnung einer Beitrittsperspektive machte sich in der Türkei eine EU-Euphorie breit, die sie ihre vormalige Blockadehaltung aufgeben ließ. Unter dem innenpolitisch in Bedrängnis geratenen Präsidenten Ecevit wurden Reformen durchgesetzt, die die Türkei der EU ein gutes Stück näherbrachten. Nach dem Wahlsieg der islamisch geprägten Partei für Wohlstand und Gerechtigkeit (AKP) im Jahr 2002 wurde der Reformkurs intensiviert, was dazu führte, dass die EU im Jahr 2005 offiziell Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnahm. Ein Eskalieren des Kurdenkonflikts, anhaltende Probleme bei der praktischen Umsetzung der Reformen sowie eine gewisse „Reformmüdigkeit“ trüben jedoch das ansonsten seit 1999 für viele überraschend positive Gesamtbild.

Die Dilalektik von Islam und Kemalismus ist für ein Verständnis der Türkei zentral. Die unter Atatürk von oben durchgesetzte kemalistische Revolution sollte die Rückständigkeit der Türkei beenden und sie auf das Entwicklungsniveau westeuropäischer Nationen bringen. Als Ursache für die Rückständigkeit der Türkei machte Atatürk den Islam aus, den er durch einen strengen Laizismus aus dem öffentlichen Leben verbannte. Hätte die kemalistische Revolution nicht stattgefunden und wäre der Laizismus somit niemals in die Türkei implementiert worden, bliebe ein Türkeibeitritt zur EU vermutlich ausgeschlossen. Ein durch islamisches Recht geprägter Gottesstaat wäre mit den Werten der EU wohl unvereinbar.

Andererseits verursachen die von vielen Türken als geradezu heilig empfundenen Prinzipien des Kemalismus auch Probleme in Hinblick auf einen EU-Beitritt. Die Armee, die sich selbst als Hüterin des Kemalismus sieht, ist in der Vergangenheit bereits des Öfteren gegen eine Politik vorgegangen, die sie im Widerspruch zu den kemalistischen Prinzipien sah und beansprucht damit eine politische Rolle, die weit über das von der EU als akzeptabel definierte Maß hinausgeht.

Atatürk war vor dem Hintergrund separatistischer Tendenzen und dem als Schmach empfundenen Vertrag von Sèvres, der die Türkei auf einen Bruchteil des ehemaligen Gebietes reduziert hätte, vor allem auf eine Einigung der türkischen Republik aus. Da der Islam als einigendes Element ausschied, blieb zur Sicherung der Einheit nur noch ein (übersteigerter) Nationalismus, der für die Rechte von Minderheiten wenig Raum ließ.3 Die strenge Durchsetzung des Laizismus führte zu einem kontrollierend und autoritär agierenden Staat, der im Gegensatz zu den Grundsätzen von Meinungsfreiheit und Minderheitenschutz steht.

Ziel dieser Arbeit ist es, einerseits zu zeigen, worin genau die Hauptschwierigkeiten der Türkei bei der Erfüllung der Aufnahmekriterien bestehen; andererseits soll der Blick für die zugrunde liegenden Entwicklungen geschärft und somit ein besseres Verständnis für die innenpolitische Dynamik des Reformprozesses geschaffen werden.

Dazu wird zunächst die Entwicklung der europäischen Einigung von der Montanunion mit ursprünglich sechs Mitgliedern bis zur EU mit inzwischen 27 Mitlgiedsstaaten skizziert (1.1). Vor diesem Hintergrund wird die lange, oft von Krisen geprägte Beziehung der Türkei zur EU umrissen (1.2). Im Anschluss soll die Bedeutung und das Wirken der beiden Antagonisten Islam (2.1.2) und Kemalismus (2.1.1) für die heutige Türkei verdeutlicht werden. Darauf aufbauend werden die Hauptprobleme der Türkei bei der Anpassung an die von der EU geforderten Maßstäbe untersucht (2.2). Insbesondere wird auf die problematische Stellung des Militärs (2.2.1), die Kurdenfrage (2.2.2) und den Umgang mit nicht-muslimischen Minderheiten (2.2.3) eingegangen.

1 Europa und Türkei

1.1 Bisherige EU-Erweiterungen

Vor dem Hintergrund des unbeschreiblichen Leids, das zwei Weltkriege über Europa gebracht hatten, schien die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reif für einen radikalen aber friedlichen Neuanfang zu sein. Zwar war Winston Churchill nicht der erste, der für ein vereintes Europa eintrat, dennoch ist seine 1946 an der Universität Zü- rich gehaltene Rede wohl das berühmteste Statement zugunsten einer friedlichen Vereinigung Europas.4

Das wichtigste Ziel der europäischen Einigung war die dauerhafte Sicherung des Friedens. Altkanzler Helmut Kohl brachte dies auf eine griffige Formel, als er sagte, dass die Europäische Einigung „eine Frage von Krieg und Frieden“5 sei.

Am 9. Mai 1950 schlug der französische Außenminister Robert Schuhmann die Integration der westeuropäischen Stahlund Kohleindustrie vor. Dahinter stand auch der Gedanke, weitere europäische Kriege durch enge wirtschaftliche Verflechtungen unmöglich zu machen. Am 18. April 1951 gründeten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, und die Niederlande die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS).

Nachdem der Fokus bei der EGKS, die auch als Montanunion bezeichnet wird, auf wirtschaftliche Aspekte gerichtet war, sollte mit der Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) auch die politische Integration vorangetrieben werden. Allerdings scheiterten eine gemeinsame europäische Armee sowie eine weitere politische Integration zunächst an der französischen Nationalversammlung, die 1954 die Ratifizierung des Vertrags zur Gründung der EVG ablehnte.

Mit den Römischen Verträgen von 1957 gründeten die gleichen sechs Nationen, die Mitglieder der Montanunion waren, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM). Die Verträge waren bereits erweiterungsoffen ausgelegt, wie die Präambel des EWG-Vertrags deutlich macht:

„ENTSCHLOSSEN durch diesen Zusammenschluss ihrer Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen, und mit der Aufforderung an die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen [...]“.6

Art. 237 EWG-Vertrag und Art. 205 EURATOM-Vertrag ermöglichten es jedem europäischen Staat, einen Antrag auf Mitgliedschaft in den Gemeinschaften zu stellen. Diese Funktion übernimmt heute Art. 49 EU-Vertrag (EUV).7

Als Großbritannien erkannte, dass die Europäische Freihandelszone EFTA nicht den erhofften Erfolg hatte, stellte es am 10. August 1961 einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EWG. Aufgrund von Vorbehalten des damaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle, der bei einem strikten „Non“ blieb, verzögerte sich der Beitritt jedoch. Erst als Georges Pompidou das französische Präsidentenamt übernahm, wurde ein Beitritt Großbritanniens möglich. Am 1. Januar 1973 wurde Groß- britannien dann – zusammen mit Irland und Dänemark – in der ersten „Norderweiterung“ Mitglied der Europäischen Gemeinschaften (EG).8 Ein Beitritt Norwegens war zwar ebenfalls ausgehandelt, fand dann aber aufgrund eines negativen Votums einer Volksabstimmung nicht statt.

Zum 1. Januar 1981 trat Griechenland den EG bei, nachdem es schon 1962 ein Assoziationsabkommen mit der EWG geschlossen hatte. Im Zuge der Süderweiterungen wurden Spanien und Portugal 1986 ebenfalls Mitglied der Gemeinschaften. Beiden Ländern war es zuvor gelungen, aus dem Schatten ihrer Diktatoren Franco und Salazar zu treten. Beide Seiten erhofften sich von einem Beitritt eine Festigung der jungen Demokratien.

Eine faktische erste Osterweiterung stellte der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 dar. Allerdings wurde festgestellt, dass diese Gebietserweiterung „ohne Änderung des Primärrechts der Verträge [...] durchgeführt werden könne.“9

In der relativ unproblematischen, zweiten „Norderweiterung“ traten Schweden, Finnland und Österreich zum 1. Januar 1995 der EU bei, womit die Anzahl der EU-Mitgliedstaaten auf 15 anstieg.

Nach dem Ende des Kalten Krieges begann in den ehemals kommunistischen Ländern Mittelund Osteuropas (MOE) ein rasanter Reformund Aufholprozess, der nicht zuletzt von einer Beitrittsperspektive zur EU motiviert war. Als Richtschnur für die Aufnahme dienten vorrangig die Kopenhagener Kriterien (vgl. Abschnitt 1.2). Am 1. Mai 2004 hatten zehn von zwölf Beitrittskandidaten (Estland, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern, Lettland, Litauen, die Slowakei und Malta) die Beitrittsreife erreicht und traten der EU bei. Nur Bulgarien und Rumänien wurde der Beitritt zunächst verwehrt. In der bis heute letzten Erweiterung traten diese beiden Länder am 1. Januar 2007 ebenfalls der EU bei, deren Mitgliederanzahl damit auf 27 anstieg.10

Die EU-Kommission zieht heute eine positive Bilanz der verschiedenen Erweiterungen und sieht sie als Kernstück der Entwicklung der EU:

„Es liegt im Wesen der europäischen Integration, die Teilung Europas zu überwinden und zur friedlichen Einigung des Kontinents beizutragen. In politischer Hinsicht hat die EU-Erweiterung die Bewältigung großer Veränderungen, wie des Sturzes von Diktaturen und des Zusammenbruchs des Kommunismus, unterstützt. Die Erweiterung hat eine Konsolidierung von Demokratie, Menschenrechten und Stabilität auf dem gesamten Kontinent bewirkt. In ihr spiegelt sich die weiche Macht der EU wider, die durch ihre Anziehungskraft weitaus mehr erreicht hat als mit anderen Mitteln möglich gewesen wäre. In wirtschaftlicher Hinsicht hat die Erweiterung zur Steigerung von Wohlstand und Wettbewerbsfä- higkeit beigetragen und die erweiterte EU in die Lage versetzt, besser mit den Herausforderungen der Globalisierung umzugehen. Dies hat zu direktem Nutzen für ganz Europa geführt. Danke [sic!] der Erweiterung

hat die EU in der Welt an Gewicht gewonnen und ist zu einem stärkeren internationalen Akteur geworden.“11

Insbesondere die sog. politische Konditionalität gilt als wirksames Instrument bei der Heranführung von Staaten an die Beitrittsreife. Der stärkste Hebel der EU ist dabei sicherlich die Eröffnung einer möglichen Mitgliedschaft als Belohnung für politische Reformen im Sinne der Kopenhagener Kriterien (s.u.). Die Türkei und Osteuropa werden oftmals als Beispiel für den Erfolg der Konditionalitätsstrategie angeführt.12

1.2 Verhältnis der EU zur Türkei

Die Westausrichtung, die die Republik Türkei seit ihrer Gründung prägte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent fortgesetzt. Bereits 1963 schloss die Türkei im Vertrag von Ankara ein Assoziationsabkommen mit der EWG, das das Ziel einer Zollunion und einer eventuellen Mitgliedschaft beinhaltete. Schon damals forderte die Türkei eine schriftliche Garantie für eine Vollmitgliedschaft innerhalb eines Zeitraums von 22 Jahren. Dies blieb ihr jedoch aus Gründen verwehrt, die sich auch in den Argumenten der heutigen Debatte wiederfinden: Frankreich und Italien befürchteten eine Überflutung ihres Marktes mit landwirtschaftlichen Produkten. Außerdem wurden aus Paris Bedenken hinsichtlich der europäischen Identität der Türkei laut. Weiterhin wurde die Befürchtung geäußert, man hole sich mit der Türkei ein „trojanisches Pferd“ Washingtons in die Gemeinschaft. Zumindest dieses Argument konnte die Türkei während des Irakkriegs 2003 weitgehend entkräften.13 Nach dem Militärputsch 1980 brachte Turgut Özal die Türkei auf einen politischen und wirtschaftlichen Liberalisierungskurs. 1987 stellte Özal den ersten Antrag auf Vollmitgliedschaft in der EG, mit dem er versuchte „einen gordischen Knoten zu durchhauen, den Generationen türkischer Politiker vor ihm nur noch komplizierter geschnürt hatten.“14 Mit Hinweisen auf den Zypern-Konflikt, das geringe Einkommensniveau und die unzureichende demokratische Entwicklung der Türkei positionierte sich Griechenland damals strikt gegen einen Türkei-Beitritt.15 Am 5. Februar 1990 wurde der Antrag mit der Begründung abgelehnt, die EU könne aufgrund der nun anstehenden Realisierung des Binnenmarktes keine weiteren Beitrittsverhand lungen aufnehmen.16

Auf einer Tagung des Europäischen Rats in Kopenhagen wurden 1993 Kriterien festgelegt, deren Erfüllung durch neue EU-Mitglieder zwingend erforderlich sein sollte. Die Kopenhagener Kriterien lauten wie folgt:

„Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt ferner voraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der Politischen Union sowie der Wirtschaftsund Währungsunion zu Eigen machen können.“17

Mit der Anfang 1996 in Kraft getretenen Zollunion wurde der wirtschaftliche Annäherungsprozess zwar fortgesetzt, dennoch waren die Beziehung zwischen der Türkei und der EU im Zeitraum von 1963 bis 1999 nicht intensiv genug, um eine Beschleunigung des Reformprozesses zu bewirken. Die europäische politische Führung achtete in erster Linie auf die wirtschaftlichen Aspekte der Partnerschaft. Zu einer Verschlechterung der türkisch-europäischen Beziehungen kam es, als die EU sich Beitrittsbemühungen seitens osteuropäischer Länder offen zeigte, einen Beitritt der Türkei aber in unbestimmte Zukunft verschob.18

Der Gipfel von Helsinki 1999 stellt einen Wendepunkt der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU dar. Mit der formalen Verleihung des Kandidatenstatus19 wurde die „politische Hauptverantwortung für einen Erfolg des türkischen Beitrittsstrebens nach Ankara verlagert.“20 Aufgrund der bis dahin gesammelten Erfahrungen glaubte man nicht, „daß die Türkei in der Lage wäre, gerade die politischen Bedingungen in absehbarer Zeit zur Zufriedenheit der EU zu erfüllen.“21

Dass die Vollmitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde, führte dennoch dazu, dass ein Beitritt im Bewusstsein sowohl der türkischen Eliten als auch der im Bewusstsein Öffentlichkeit zu einer konkreten Möglichkeit wurde.22

„Mit der Benennung der Türkei als EU-Beitrittskandidat [...] brach in der Türkei eine EU-Euphorie aus. Sowohl die politischen Akteure und die Medien als auch große Teile der Gesellschaft wurden hiervon erfasst. [...] Es begann eine lebhafte Diskussion darüber, wann die angestrebte

Vollmitgliedschaft erreicht werden könnte und welche Reformen vollzogen werden müssten, um die Türkei an die EU-Standards heranzuführen.“23

Auf dem Gipfel von Nizza im Jahr 2000 wurde das Dokument über die Beitrittspartnerschaft mit der Türkei unterzeichnet, im dem die Prioritäten für die notwendigen Reformen festgelegt wurden. Im Rahmen einer Beitrittspartnerschaft wird ein Beitrittskandidat bei der Vorbereitung auf einen Beitritt unterstützt, insbesondere bei der Übernahme des acquis communautaire, dem gemeinschaftlichen Besitzstand des EU-Rechts. Außerdem können finanzielle Unterstützungen erfolgen. Die Fortschritte der Türkei bei der Umsetzung der geforderten Reformen werden in dem jährlich erscheinenden Fortschrittsbericht dokumentiert.

Schließlich bestätigte ein Bericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004 der Türkei die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien im institutionellen Sinne. Auch wenn hinsichtlich der politischen Kriterien noch gravierende Mängel festgestellt wurden, empfahl die EU-Kommission eine Aufnahme der Beitrittsverhandlungen. Der Empfehlung wurde im Oktober 2005 nachgekommen.24

Die Empfehlung der Kommission war jedoch mit Einschränkungen und Hinweisen verbunden, die es bei der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen so noch nicht gegeben hatte. Ziel der Verhandlungen blieb zwar naturgemäß die Mitgliedschaft, dennoch wurde betont, dass die Verhandlungen „ergebnissoffen“ geführt werden. Außerdem wies die Kommission darauf hin, dass es zu dauerhaften Schutzklauseln in sensiblen Bereichen wie z.B. der Freizügigkeit kommen könne. Weiterhin sei nicht mit einem Ende der Verhandlungen vor 2013 zu rechnen, da die finanziellen Folgen eines Türkeibeitritts erst mit der ab 2014 gültigen Finanzvorschau absehbar seien. Bei schwerwiegenden Verstößen gegen die Wertgrundlagen der EU sollen die Verhandlungen ausgesetzt werden können.25

Die Beitrittsverhandlungen begannen zunächst unspektakulär. In einem sog. Screening-Verfahren sollte nach und nach überprüft werden, inwieweit noch Anpassungsbedarf bei den insgesamt 35 Verhandlungskapiteln in Bezug auf den acquis communautaire besteht. Im Herbst 2005 kam es jedoch zum Eklat, als sich zeigte, dass die Türkei nicht bereit war, ihren Verpflichtungen aus dem Zusatzprotokoll zum Assoziationsvertrag nachzukommen. Dieses legte fest, dass die Zollunion zwischen der EU und der Türkei auf alle der EU im Jahr 2004 neu beigetretenen Mitgliedsstaaten – also auch die Republik Zypern – ausgedehnt werden sollte. Daraufhin beschloss der Rat der EU-Außenminister, die Beitrittsverhandlung für acht Kapitel auszusetzten, die im Zusammenhang mit der Zollunion stehen. Obwohl das Klima der

Verhandlungen inzwischen etwas ruhiger geworden ist, konnte bisher noch keine Lösung für den Konflikt gefunden werden.26

Kramer stellt fest, dass trotz der insgesamt positiven Entwicklungen in der Türkei die Entscheidung über einen Beitritt mangels einer Erweiterungsdoktrin letztlich eine politische bleiben muss. Deshalb „kann und muß die Frage künftiger Mitgliedschaften ebenso willkürlich entschieden werden wie bisher.“27 Es gibt zwar das Recht, einen Antrag auf Mitgliedschaft zu stellen, es lässt sich jedoch kein Recht auf Mitgliedschaft ableiten, auch nicht bei Erfüllung der Kopenhagener Kriterien.28

Außerdem ist festzuhalten, dass ein tatsächlicher Beitritt der Türkei zur EU unter den gegenwärtigen Umständen unwahrscheinlich ist, selbst wenn die Türkei eines Tages die Kopenhagener Kriterien vollständig erfüllen sollte. Ein Beitrittsvertrag müsste von allen EU-Mitgliedern ratifiziert werden. In einigen Ländern ist die Ratifikation jedoch an einen Volksentscheid gekoppelt, der bei der derzeitigen Unbeliebtheit der Türkei29 wohl in einigen Ländern negativ ausfallen dürfte.

2 Türkei

2.1 Rahmenbedingungen

2.1.1 Republikwerdung und Kemalismus

Das Osmanische Reich trat als Verbündeter der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg ein. Ein für das Reich ungünstiger Verlauf des Krieges zwang es am 30. Oktober 1918 zur Kapitulation.

Mustafa Kemal, dem der Namenszusatz Atatürk (Vater der Türken) erst später (1934) vom Parlament verliehen wurde, erhielt den Befehl des Sultans, nationalistische Unruhen in Zentralanatolien niederzuschlagen. Am 19. Mai 1919 ging Mustafa Kemal in Samsun an Land. Anstatt den Aufstand niederzuschlagen, setzte er sich jedoch an seine Spitze.30

Für Griechenland schien die prekäre Situation, in der sich das osmanische Reich befand, eine günstige Gelegenheit zu sein, seinen Traum der Megali Idea (großen Idee) von einem griechischen Großreich in die Tat umzusetzen. So besetzten griechische Truppen am 15. Mai 1919 Smyrna (Izmir) und riefen in Trapezunt (Trabzon) eine griechische Republik aus.

Am 23. Februar 1919 trat die Große Nationalversammlung (Büyük millet meclisi) unter der Präsidentschaft von Mustafa Kemal in Ankara zum ersten Mal zusammen. Zwar wurde die Autorität des Sultans formal anerkannt, dennoch verstand sich das Parlament als legitimer Vertreter des Volkes, dem die Souveränität zuerkannt wurde.

[...]


1 The Economist (5.12.02).

2 Le Monde (9.11.02).

3 Dieser Nationalismus orientierte sich durchaus am Stand westeuropäischer Nationalstaaten zu dieser Zeit. Da die Türkei vom Schrecken des zweiten Weltkriegs im Wesentlichen verschont blieb, erlebte sie auch nicht die darauf folgende Infragestellung des Nationalstaates. Steinbach spricht deshalb von einer „Ungleichzeitigkeit“ der türkischen und westeuropäischen Entwicklung und nicht von einer prinzipiellen Verschiedenheit. Vgl. Steinbach (2004).

4 Für einen Überblick über Europa in Nachkriegszeit vgl. Centre Virtuel de la Connaissance sur l’Europe http://www .ena.lu (05.01.08).

5 Welt Online (7.04.07).

6 EWG-Vertrag vom 25. März 1957 (Hervorhebung im Original).

7 Vgl. Hellriegel (2007) S. 1 f.

8 Die EWG und EURATOM wurden zwischenzeitlich (1967) zu den Europäischen Gemeinschaften (EG) zusammengefasst.

9 Hellriegel (2007) S. 3.

10 Vgl. ebd. (2007) S. 4.

11 Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2006) S. 2.

12 Vgl. Lippert (2005) S. 39.

13 Vgl. Schlötzer-Scotland (2004) S. 215.

14 Steinbach (1996) S. 213.

15 Auch wenn der Zypern-Konflikt noch nicht gelöst werden konnte, ist Griechenland inzwischen zu einem der vehementesten Befürworter eines Türkeibeitritts geworden. Athen hofft mit einer reformierten und in EU-Institutionen eigebetteten Türkei einen verlässlicheren und rationalen Partner zu haben. Vgl. Schlötzer-Scotland (2004) S. 216 ff.

16 S¸en (2001) S. 27.

17 Zitat nach Die Bundesregierung (2005).

18 Vgl. Öni¸s (2004) S. 8 ff.

19 Konkret bedeutet dies, die 1993 formulierten Kopenhagener Kriterien auch auf die Türkei anzuwenden. Aufgrund der besonderen politischen Lage in der Türkei wurden weitere Kriterien hinzugefügt, insbesondere in Bezug auf türkisch-griechische Konflikte. Vgl. Kramer (2002) S. 8.

20 Ebd.

21 Ebd.; für eine Darstellung, wie es zu einem Umdenken in der EU insbesondere Deutschland kam vgl. Kramer (2007) S. 3 f.

22 Vgl. Öni¸s (2004) S. 9 f.

23 S¸en (2001) S. 27.

24 Vgl. Dietert (2006).

25 Vgl. Kramer (2007) S. 9.

26 Vgl. ebd. (2007) S. 13 f.

27 Kramer (2004) S. 143.

28 Vgl. Lippert (2005) S. 34.

29 Zur Unbeliebtheit der Türkei vgl. Steinbach; Cremer (2006).

30 Vgl. Steinbach (1996) S. 106.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Die Türkei auf dem Weg nach Europa
Untertitel
Reformbestrebungen zwischen Islam und Kemalismus
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg
Veranstaltung
Politische Systeme
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
35
Katalognummer
V113316
ISBN (eBook)
9783640139996
ISBN (Buch)
9783640140121
Dateigröße
502 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Türkei, Europa, Politische, Systeme
Arbeit zitieren
Christoph Pfeiffer (Autor:in), 2008, Die Türkei auf dem Weg nach Europa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113316

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