Prosperos Natur


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

12 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


William Shakespeares The Tempest ist in der vierhundertjährigen Forschungsgeschichte bereits von diversen Blickwinkeln und unter Zuhilfenahme der unterschiedlichsten Theorien analysiert und interpretiert worden – in jüngster Vergangenheit nicht selten auch unter bewusster Ignorierung der eigentlichen Intentionen Shakespeares bzw. seines mutmaßlichen (Er-)Kenntnisstandes. Diese interpretative Vielfältigkeit des Werkes trägt aufgrund der oftmals aus ihr resultierenden Gegensätzlichkeit der Herangehensweisen und Schlussfolgerungen, nicht zuletzt aber auch dank seines anscheinend unbegrenzten Kontextualisierungspotentials, immer mehr zu seiner Mystifizierung bei.

Auf den folgenden Seiten sollen lediglich zwei dieser zahllosen Möglichkeiten, das Stück zu verstehen, vorgestellt werden. Die erste und hier extensiver ausgeführte Lesart lehnt sich an Überlegungen vor allem naturphilosophisch-kosmologischen Charakters an, die unter den Denkern und Forschern der Renaissance für viel Diskussionsstoff sorgten. Die alchemistischen Theorien beinhalteten vor allem die Relationen zwischen dem Universum, den Planeten, der Erde, der Natur und dem Menschen aus einer holistischen Perspektive unter gleichzeitiger Annahme einer göttlichen Kraft als oberster Instanz. In dieser Arbeit soll das Hauptaugenmerk auf den dem Verhältnis Mensch-Natur gewidmeten Lehren liegen.

Die namenlose und geographisch höchst arbiträre Insel, die als Hauptschauplatz in The Tempest dient, versinnbildlicht den Austragungsort des in der Renaissance viel diskutierten Konflikts zwischen den dichotomen Konstituenten der Natur: zum Einen ihrer tugendhaften, unverfälschten und spirituellen Seite und, in Opposition dazu, ihr lasterhafter, korrumpierter und dämonischer Konterpart. Der Mensch wird als Teil dieses Naturbildes während seiner gesamten irdischen Existenz als Objekt dieses Tauziehens zwischen den ihm inhärenten und ihn gleichzeitig von außen her einschließenden Kräften betrachtet, die sowohl von oben, d.h. von göttlicher Seite, als auch von unten, also vonseiten des Teufels, entweder in Form von göttlich inspirierender Kraft oder als sündhafte Versuchungen auf ihn einwirken. Jedoch steht der Mensch (und die Natur generell), so wie er im England des 16. und 17. Jahrhundert gesehen wurde, diesem inneren Konflikt nicht gänzlich ohnmächtig und teilnahmslos bei. Während Mensch und Natur bis in das Mittelalter noch als Spielball der göttlichen Launen und als rein schicksalsgesteuert galten, kam es, wie Eric LaGuardia erklärt, in der Renaissance zu einem Sichtwandel, nach dem der Natur weit mehr Autonomie und Entscheidungspotential zuerkannt wurde. Jenes „potential of man and all nature to become perfected or restored fully within the world of temporal human experience“[1] entlässt den Menschen wiederum in eine erhöhte Eigenverantwortung über den Verlauf seines Lebens. Es liegt an ihm, sich entweder nach „oben“ oder aber nach „unten“ zu orientieren. Er kann sich für ein sünd- und lasterhaftes, auf die rein leiblichen Bedürfnisse ausgerichtetes Leben entscheiden, oder aber er wählt ein Leben in religiöser Ehrfurcht, materieller Genügsamkeit und dem Bestreben nach geistiger Reifung.

Die Entscheidung zugunsten einer solchen spirituellen Perfektion hat Prospero bereits in seiner Heimat getroffen; jedoch erst die Insel ist es, die, als von der Außenwelt unabhängiger Raum, irgendwo zwischen Neuer, Alter und „ganz alter“ Welt gelegen, die Realisierung seines Vorhabens möglich werden lässt. Bereits der beschwerliche Weg über das Meer, den er zurücklegen muss, um auf der Insel rettende Zuflucht für sich und sein Kind zu finden, evoziert ein kathartisches Ereignis, welches hier als Initiierungsritual in einem aktiven Prozess der sukzessiven Selbstbestimmung zu sehen ist.

Auf dem Eiland angelangt, trifft er auf den dort lebenden Caliban, der, von Prospero selbst als „earth“ (I.2.313) bezeichnet, die Natur nicht nur in ihrer Rohform, die es zu vervollkommnen gilt, verkörpert, sondern selbst ein Teil von Prosperos bipolarer Psyche symbolisiert. Diese den finsteren Mächten innerhalb der natürlichen Ordnung dienenden und somit der spirituellen Läuterung zuwiderlaufenden Seite schafft Prospero nach und nach zu in seine Kontrolle zu bringen, was in der Versklavung und Gefangenhaltung Calibans konkret wird. Als Produkt aus der Vereinigung des Teufels mit der Hexe Sycorax gilt Caliban als die Ausgeburt des Bösen schlechthin: „Thou poisonous slave, got by the devil himself/ Upon thy wicked dam“ (I.2.319-320). Während sich Miranda und Prospero die erste Zeit ihres Zusammenlebens auf der Insel gütig zeigen und versuchen, ihn an dem kostbarsten aller Güter zivilisatorischer Überlegenheit teilhaben zu lassen, indem sie ihm Kultur und Sprache beibringen, erweist sich Caliban als ein aufgrund seiner angeborenen Boshaftigkeit dem menschlichen Geschlecht unwürdiges Wesen. Die Abartigkeit Calibans wird unter anderem durch die Verwendung von Abstrakta in Form von direkter Anrede für ihn deutlich gemacht, wie z. B. in „Shrug’st thou, malice?“ (I.2.368).[2] So kann Miranda nach allen an Caliban unternommenen Versuchen, ihn zu kultivieren, sich nur noch Wut und Resignation äußern:

Abhorred slave,

Which any print of goodness wilt not take,

Being capable of all ill! I pitied thee,

Took pains to make thee speak, taught thee each hour,

One thing or other: when thou didst not, savage,

Know thine own meaning, but wouldst gabble like

A thing most brutish, I endowed thy purposes

With words that made them known. But thy vile race,

Though thou didst learn, had that in’t which good natures

Could not abide to be with; therefore wast thou

Deservedly confined into this rock, who hadst

Deserved more than a prison. (I.2.352-362)

Eine Bekehrung Calibans[3] zu einem Wandel von der animalisch-dämonischen Welt hinüber zu der spirituellen Seite der Natur wird also bereits sehr früh im Stück als unmöglich und die Versuche dazu als gescheitert erklärt. Es ist demnach nicht das bloße Vermögen, Wissen aufzunehmen, es zu memorisieren und abzurufen, das über den Grad an Kultiviertheit bestimmt, sondern etwas über diese rein kognitiven Vorgänge hinausreichendes. Menschen können nicht mit einem Wesen in Harmonie leben, das die Bosheit per se verkörpert. So kann Miranda, die nach dem Schema der vier Funktionen des Bewusstseins, wie sie in C. G. Jungs Kreis der Psyche[4] schematisch dargestellt sind, die intuitiv-fühlende Position einnimmt, deren Bewusstsein also zu einem Großteil ohne rationelle Implikationen funktioniert, nicht genau festmachen, was es ist, das sie so abstoßend an Caliban findet. Sie ist es dennoch, die als einzige diese starke auf reiner Intuition basierende Aversion gegen ihn verbalisiert: „’Tis a villain, sir,/ That I do not love to look on.“ (I.2.308-309). Sie nimmt das böse Naturell Calibans durch Rezeptoren war, die jenseits der sinnlichen Wahrnehmungsweisen liegen – gewissermaßen mit einer Art sechstem Sinn. Der abschließende implizit ausgesprochene Ausschluss Calibans von den „good natures“[5] und die damit einhergehende Notwendigkeit einer Züchtigung ist essentieller Bestandteil des Experimentes Prosperos zur Einswerdung mit den göttlichen Kräften und der dadurch bedingten Perfektionierung seiner selbst.

Die sehr häufige Zuweisung von Übernamen in The Tempest weist ebenfalls auf die Zugehörigkeit der Figuren zu einer der beiden Seiten innerhalb der Natur hin, was sich, wie in dem Fall der „good natures“, aus einer klaren Opposition heraus ergibt. So erhält zum Beispiel die tugendhafte Miranda eindeutig positiv konnotierte Übernamen wie „wonder“ (Ferdinand, I.2.427) oder „goddess“ (Ferdinand, I.2.422; Alonso, V.1.186), in denen ihre Zuordnung zu den der göttlichen Ordnung entgegenstrebenden Naturwesen klar ersichtlich wird. Ähnlich verhält es sich mit der Wahrnehmung Mirandas von Ferdinand als „spirit“ (I.2.411, 413) und „thing divine“ (I.2.419). Im Gegensatz dazu wird Caliban das gesamte Stück hindurch mit despektierlichen Beinamen wie „monster“, „fish“ „Filth“ und dergleichen erniedrigt.

Wie Noel Cobb aus einer tiefenpsychologischen, einerseits an die alchemistischen Überlegungen des 16. Jahrhunderts, andererseits an die Arbeiten C. G. Jungs orientierten Perspektive heraus argumentiert, wird mit Prosperos durch Usurpation erwirkten Expatriierung ein Prozess der Katharsis, Selbstfindung und Selbstvollendung in ihm motiviert, der sich in den darauf folgenden zwölf Jahren seinem Höhepunkt nähern und zuletzt durch die erfolgreiche Absolvierung seines „project“ (V.1.1) einen Abschluss finden soll.

Prosperos angestrebte Reifung und Vervollkommnung innerhalb der natürlichen Ordnung, der er als Mensch angehört und die ihrerseits zwischen göttlicher und dämonischer, also zwischen zwei übernatürlichen Machtinstanzen situiert ist, muss sowohl auf empirischem als auch auf spirituellem Wissen begründet sein, da nur auf diese Weise der Idealzustand einer durch die kulturellen Errungenschaften des Menschen ergänzte und optimierte Natur erreicht werden kann. Als er und seine dreijährige Tochter Miranda des Nachtens ihrer Heimat verwiesen und auf hoher See ausgesetzt werden, gibt ihnen der „honest old counsellour“ (dramatis personae) Gonzalo heimlich diverse Gegenstände mit, die Vater und Kind das Überleben erleichtern sollen. Unter jenen Objekten befinden sich einige Bücher aus Prosperos Bibliothek, die ihm wertvoller als sein gesamtes Herzogreich sind („volumes that/ I prize above my dukedom“, I.2.167-8). Um welche Bücher es sich dabei genau handelt, ist und bleibt offen. Somit symbolisieren sie ganz allgemein das von Prospero aus der Zivilisation mitgebrachte Wissen, von dem er sich in der Heimat so sehr hatte einnehmen lassen, dass es genau diese seine Studien, die obsessive Vertiefung in selbige und die daraus hervorgegangene Vernachlässigung seiner Regierungspflicht gewesen sind, die in seinem Bruder Antonio die Begierde und sichere Aussicht auf eine Machtübernahme heraufbeschworen und, in gewisser Weise, gerechtfertigt und erforderlich gemacht haben. Denn die von Prospero hinterlassene Leerstelle im gouvernementalen Gefüge seines Hoheitsgebietes Mailand wird durch Antonio lediglich neu besetzt; unabhängig von eventuellen qualitativen Unterschieden in der Politik des einen oder des anderen Regenten übernimmt Antonio somit die politischen Pflichten und Verantwortungen, denen sein Bruder nicht mehr (ausreichend) nachkam. Während Antonio nun die widerrechtliche Machtübernahme vorbereitet, widmet sich Prospero in aller Zurückgezogenheit („closeness“) der „bettering of [his] mind“ (I.2.90), die ihn immer weiter von seinem realen Umfeld abschottet (gleichsam als würde er sich bereits auf einer einsamen Insel befinden) und die sämtliches menschliches Verständnis übersteigt: „by being so retired,/ [it] O’er-prized all popular rate“ (I.2.91-92). Dadurch kommt der Landung auf der Insel eine weit über das bloße Überleben hinausreichende Signifikanz zu: Prospero muss sich einer solchen totalen Loslösung von dem heimatlichen Umfeld der seelischen Korruption unterziehen, wenn er die „Besserung seines Geistes“ erreichen will, da ein solcher Läuterungsprozess nicht in einem Umfeld der geistigen und moralischen Dekadenz (wie sie an Antonio, Sebastian und Alonso dargestellt ist) stattfinden kann. Prospero muss zuerst einen Schritt zurück machen und sich mit den abgründigeren Fassetten seines Wesens kritisch auseinandersetzen, bevor er als geläuterter Mensch gewissermaßen wiedergeboren und in sein altes Leben zurückkehren kann. In dem Stück selbst wird diese anfängliche Selbstentfremdung durch Gonzalo verbalisiert, indem er am Schluss wie folgt resümiert:

[…] in one voyage/ Did Claribel her husband find at Tunis,/ And Ferdinand her brother found a wife/ Where he himself was lost; Prospero his dukedom/ In a poor Isle; and all of us ourselves/ When no man was his own. (V.1.208-213)

[...]


[1] LaGuardia, Nature Redeemed, 53.

[2] Analog zu dieser Abstrahierung der Figuren im Stück erhält u.a. auch Ariel eine derartige Bezeichnung: „Bravely, my diligence.“ (V.1.242); und der Bootsmann wird von Gonzalo mit „blasphemy“ (V.1.218) angesprochen. Durch dieses stilistische Merkmal wird letztendlich der symbolische Wert des Textes nochmals hervorgehoben.

[3] Caliban wird in diesem Fall zu einem Objekt und folglich als konkrete handelnde Figur begriffen und nicht, wie allgemein in dieser Analyse, als Symbol für eine abstrakte Machtinstanz.

[4] Vgl. Jung, Der Mensch und seine Symbole, 58-66.

[5] An einer weiteren Stelle im Text wird von der „evil nature“ Antonios gesprochen (I.2.93). In diesem Dualismus von „evil“ und „good natures“ besteht die der Natur innewohnende Polarität zwischen dem Göttlichen und dem Dämonischen.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Prosperos Natur
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Shakespeares spätes Werk
Note
3,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
12
Katalognummer
V113395
ISBN (eBook)
9783640142057
Dateigröße
408 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prosperos, Natur, Shakespeares, Tempest, Sturm, Caliban
Arbeit zitieren
Alexander Zuckschwerdt (Autor:in), 2008, Prosperos Natur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113395

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