Zur Musikanschauung Jean Pauls in seinem Erziehungsroman "Flegeljahre"


Examensarbeit, 1986

86 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALT

Vorwort

Einleitung

1) Werkimmanente Mehrfachorientierung

2) Historisch-epochale Mehrfachorientierung

3) Produktion und Rezeption von Musik Interpretation

1) Reaktionen auf die Krise der Musikkultur um 1800. Zuschauer und Zuhörer

2) Das Reich des Romantischen: Auge und Ohr

3) Heimweh nach Zukunft

4) Die "List" des Humors (und der Musik)

5) Hörertypologie. Entwurf einer Rezeptions­ästhetik der Musik: Vermittlung zwischen dem "Besonderen" und dem "Allgemeinen"

6) Herzensgenuß und Kunstgenuß

7) Vereinigung des Organischen und Mechani­schen (oder : die Vorzüge einer Prügel-Partie unter Musikern)

8) "Vokalmusik"

9) Masken-Tanz-Musik

10) Traum-Musik

Literaturverzeichnis

Seitenkonkordanz

VORWORT

Ziel dieser Arbeit ist es, einige Aspekte der Musikan­schauung Jean Pauls vorzustellen, soweit sie in einem für seinen Erziehungsroman "Flegeljahre" konstitutiven Sinnzusammenhang stehen. Die im Roman dargestellte orga­nische Vielfalt der Lebensverhältnisse und der zwischen­menschlichen Beziehungen konnte hier nicht ausführlich behandelt werden.

Den Mittelpunkt der Untersuchung bildet Jean Pauls Ent­wurf einer Rezeptionsästhetik, die bisher in der Sekun­därliteratur kaum oder gar nicht bedacht wurde.

Diese Arbeit läßt empirische Daten über Jean Pauls Bezie­hungen zur Musik vermissen. Ausführlich behandelt wird der hier ausgesparte historisch-personelle Kontext bei Georg Schünemann und Gustav Jäger (1949) (vgl. Litera­turverzeichnis, S. 72 und 70). Beide Arbeiten sind unter diesen Gesichtspunkten sehr zu empfehlen.

Einleitung

Am 30. Mai 1805 hat Jean Paul den vierten und letzten Band der "Flegeljahre " abgeschlossen. Seiner Einladung zufolge besucht Karl August Varnhagen von Ense ihn am 23. und 24. Oktober 1808 in Bayreuth: "Ich fragte nach den Flegeljahren und hörte zu meiner größten Freude, daß er sie ganz gewiß fortsetzen wird; er betrachtet sie wie sein bestes Werk, worin er recht eigentlich wohne, da sei ihm alles heimisch und behaglich, wie eine freund­liche Stube, ein bequemes Sofa und vertraute fröhliche Gesellschaft. Auch ist er überzeugt, seine eigentüm­lichste und wahrste Richtung in diesem Buche befolgt, seine wahre Art gewiß darin getroffen zu haben; andre seiner Bücher, meinte er, könnte er mit seinem Talent gemacht haben, in den Flegeljahren aber habe sein Talent ihn selbst ergriffen, auch seien Vult und Walt nur die beiden entgegengesetzten und doch verwandten Personen, aus deren Vereinigung er bestehe."1 Die beiden Zwillingsbrüder Vult und Walt sind die Haupt­akteure des Romans, dessen Untertitel "Eine Biographie" heißt. Jean Paul selbst beschreibt sein Verhältnis zu den "beiden entgegengesetzten ... Personen" in seinen Vorstudien zu den Flegeljahren2 folgendermaßen: "W.s und V.s Dissonanz mus sich höher lösen, wenigstens bei mir, wenn auch nicht bei ihnen." Die Charakterduplizität Vult - Walt erfährt im Roman eine Lebenswirklichkeit, die von beiden Personen unterschiedlich wahrgenommen und bewältigt werden muß. Vult und Walt sind zwei verschie­dene Menschen, die zwar im dialogischen Miteinander ihre Erfahrungen austauschen, letztendlich aber aus ihrer je­weils eigenen Haut nicht herausschlüpfen können. "Indes müssen beide in ihr(em?) System ausschweifen, insofern ihnen der synthesierende Dichter fehlt."3 Während Jean Paul einerseits "aus deren Vereinigung ... bestehe", er­schöpfen sich Vult und Walt nicht ausschließlich in der Person Jean Pauls. "Gerechtigkeit gegen alle Karaktere ist das Beste, Darüberschweben. - ... Weder W. noch V. mus unbedingt oder stets Recht oder Unrecht gegeben wer- den."4 Diesen scheinbar neutralen archimedischen Stand­punkt wird Jean Paul jedoch spätestens dann ad absurdum führen (müssen), wenn Vult und Walt sich im Laufe der Romanhandlung argumentativ aneinander abarbeiten, so daß der Erzähler Jean Paul sich wertend in die Handlung ein­bringt und in einem der letzten Romankapitel Walt die Präferenz erweist, indem er prognostiziert: "... und der Mensch wird sein wie Walt, ...".5 Diese Perspektive muß insofern relativiert werden, als Jean Paul den Roman fortsetzen wollte.6 Im Hinblick auf die Prämisse, daß "weder W(alt) noch V(ult) ... stets Recht oder Unrecht gegeben werden" darf, kann vermutet werden, daß im Falle einer Fortsetzung des Romans die Person des Vult eine Rehabilitation erfahren hätte.7 Jean Paul hat die Inten­tion seiner Vorstudien, "mal alles aus einem Gesichts- g punkt rein, der zweite mildernde kommt erst nach"8, g nicht mehr verwirklichen können.9

Dieser Tatbestand wirft mehrere Fragen auf: Inwieweit darf eine Interpretation der Flegeljahre werkimmanent vorgestellt werden, und inwieweit müssen die Äußerungen des Autors Jean Paul zu einem bestimmten Themengebiet (z.B. der Musik) berücksichtigt werden, die den Rahmen der inneren Logizität der Flegeljahre überschreiten? Dür­fen die Reflexionen über Musik im Kontext der Flegeljahre in eine Beziehung gebracht werden zu den gleichsam apho­ristischen und aus jedem Zusammenhang herausgelösten Be- merkungen über Musik in Jean Pauls Nachlaßpublikationen?10 Dürfen schließlich die Reflexionen über Musik aus anderen Romanen Jean Pauls11 ihrer spezifischen Stellung inner­halb des Romanganzen beraubt werden, um dem Primat einer vorgeschalteten Systematik Folge zu leisten, welche mit unvollständigen (und vielleicht auch "uninteressanten") Untersuchungskriterien Jean Pauls Werke auf ihre Verwert­barkeit hin abtastet?

Eine Interpretation der Flegeljahre unter dem Gesichts­punkt, die Musikanschauung Jean Pauls vorzustellen, muß berücksichtigen, daß Walt und Vult in einen Kontext ganz bestimmter LebensVerhältnisse delegiert werden.12

Wenn auch viele autobiographische Momente mitspielen, so darf doch der Romanhandlung nicht eine spezifische Ei­gendynamik abgesprochen werden. Jean Paul arrangiert und inszeniert seinen Roman, auf dessen Hintergrund den Mit­spielern Walt und Vult aber eine eigene Interpretations­möglichkeit zugestanden wird. Nicht zuletzt bedeutet dies eine Differenz zwischen der Intentionsästhetik des Au­tors Jean Paul und den rezeptionsästhetischen Freiheiten seiner Leser. "Auf der einen Seite ist der Text nur eine Partitur, und auf der anderen sind es die individuell verschiedenen Fähigkeiten der Leser, die das Werk instru- 13 mentieren."13 Vult und Walt sind Partitur und Instrumente zugleich, weil sowohl Jean Paul aus deren Vereinigung besteht als auch seinen Lesern ein breites Spektrum an Identifizierungsmöglichkeiten geboten wird. Die Charakter­duplizität Vult - Walt birgt einen Mehrwert an Handlungs­qualitäten. Sie kann der Lebenswirklichkeit mit einer Doppelstrategie entgegentreten, indem zwei einander ent­gegengesetzte Personen in einer Ich-Du-Beziehung ihre Le­bensprobleme kommunikativ zu bewältigen imstande sind.

Das "Apriori der Kommunikationsgemeinschaft" zwischen Vult und Walt kann als eine Bedingung der Möglichkeit verstanden werden, die von Jean Paul in seinen Vorstudien geforderte "Synthese des Dualismus zwischen Poesie und Wirklichkeit"14 zu realisieren.15

Es ist bemerkenswert, daß die hier angestrebte Versöh­nung zwischen Poesie und Wirklichkeit kunstphilosophisch reflektiert wird. Varianten dieser Versöhnungsproble­matik können analogisiert werden mit den Beziehungsebenen Geist und Natur (naturphilosophisch), Subjekt und Objekt (erkenntnistheoretisch), Individuum und Gesellschaft (sozialwissenschaftlich), Gesetz und Evangelium (heils­geschichtlich), Gegenwart und Utopie (geschichtsphilo­sophisch) .

Die Realisation des Synthesegedankens erfordert vermut­lich eine Mehrfachorientierung, die in werkimmanenter Hinsicht durch Vult und Walt repräsentiert wird.

Das Phänomen dieser Mehrfachorientierung läßt sich zu­gleich historisch deuten. Heinrich Heine charakterisiert Jean Paul im dritten Buch seiner 1835 erschienenen Stu­die "Die romantische Schule": "Ich rede von Jean Paul Friedrich Richter. Man hat ihn den Einzigen genannt. Ein treffliches Urteil, das ich jetzt erst ganz begreife, nachdem ich vergeblich darüber nachgesonnen, an welcher Stelle man in einer Literaturgeschichte von ihm reden müßte. Er ist fast gleichzeitig mit der romantischen Schule aufgetreten, ohne im mindesten daran Anteil zu nehmen, und eben so wenig hegte er später die mindeste Gemeinschaft mit der Goetheschen Kunstschule. Er steht ganz isoliert in seiner Zeit, eben weil er, im Gegensatz zu den beiden Schulen, sich ganz seiner Zeit hingegeben und sein Herz ganz davon erfüllt war. Sein Herz und seine Schriften waren eins und dasselbe."16 Wenn Heines Pau­schalurteil Jean Paul in eine "Weder-Noch"-Position ver­setzt, so muß dies verstanden werden im Zusammenhang ei­ner polemischen Frontstellung gegen "die neue ästhetische Doktrin"17 der "romantischen Schule".18 Heines Litera­turpolitik macht es erforderlich, Jean Paul als "ganz isoliert in seiner Zeit" zu verstehen, um ihn für die Interessen des "jungen Deutschlands" zu reklamieren.19 Nichtsdestoweniger geht Heine richtig in der Annahme, Jean Paul einen literaturästhetischen Sonderstatus anzu­erkennen.

Ganz im Sinne eines rezeptionsgeschichtlichen Korrektivs spricht der Literaturwissenschaftler Peter Szondi im Hin­blick auf Jean Pauls Verhältnis zur Klassik und Romantik von einer "Weder-Noch und Sowohl-als-Auch - Haltung".20 Jean Paul unterscheidet in seiner 1803 - 1804 fast gleich­zeitig mit den Flegeljahren entstandenen "Vorschule der Ästhetik" zwischen "Poetischen Nihilisten" und "Poeti- sehen Materialisten".21 Während diese die Wirklichkeit künstlerisch verdoppeln22 , erdichten jene nur noch ihre eigene Wahn-Welt "mit Versäumung aller Wirklichkeit".23 Der "Poetische Nihilist" repräsentiert den Romantiker, der "Poetische Materialist" den Klassizisten.24 "Wie er (Jean Paul) ... der Meinung ist, daß 'die rechte Ästhetik (...) nur einst von einem, der Dichter und Philosoph zu- gleich zu sein vermag, geschrieben werden (wird)'25 , so hat auch seine Behandlung des Gegensatzes klassisch - romantisch es auf dessen Überwindung, auf die Vereinigung 2 6 der beiden Pole, abgesehen."26 Szondi stellt weiterfüh­rend folgende Analogiebeziehungen fest: "nihilistisch und materialistisch sind die überspitzten Synonyma von idea­listisch und realistisch. Der Gegensatz, den Jean Paul im Auge hat, ist der von Idealem und Realem, Subjektivem und Objektivem ...".27 Hier wird der Kreis der Gleichungen geschlossen.

Die werkimmanent interpretierbare Problematik einer Syn­these des Dualismus zwischen Idealem und Realem, zwischen Poesie und Wirklichkeit, verweist auf ein historisch - epochales Pendant: die ästhetische Pluralität eines Zeit­geistes, der einen Paradigmenwechsel von Klassik zur Romantik erfährt, bietet die Möglichkeit einer Mehrfach­orientierung. Dennoch wäre es vereinfacht, die Gegensätze "Vult - Walt" und "Klassik - Romantik" analogisieren zu wollen. Im Begriffsgegensatz von "Objektivem" und "Sub­jektivem" aber finden Werkimmanenz und historisches Um- feld einen gemeinsamen Nenner.28 Unter diesem Gesichts­ punkt lassen sich Beziehungen hersteilen zwischen Einzel­werk und Epoche, zwischen - weniger anspruchsvoll ver­standen - dem Einzelwerk und dem vom Autor reflektierten EpochenVorrat an ästhetischer Theorie. Für eine Interpre­tation der Flegeljahre bedeutet dies eine Orientierung an Jean Pauls "Vorschule der Ästhetik".29

Eines ihrer zentralen Kapitel expliziert den "Begriff des Humors".30 Jean Paul bezeichnet den Humor als "ein auf das Unendliche angewandte Endliche"31 und bestimmt seine Funktion: "Der Humor ... vernichtet ... das Endliche durch den Kontrast mit der Idee."32 Im gleichen Sinne versteht Jean Paul die Funktion der Musik: "... die Musik (ist) die Mittlerin (...) zwischen Gegenwart und Zu-kunft."33

Jean Pauls Musikbegriff ist doppeldeutig: einerseits hat die Musik Anteil am vergesellschafteten Konzertbetrieb, der den Lebensunterhalt der " Berufs"-Musiker finanzieren muß, andererseits kommt ihr die Aufgabe zu, bei und jen- seits aller Vermarktung eine utopische "zweite Welt"34 in die Wirklichkeit zu transplantieren. Musik ist darauf an­gewiesen, produziert, interpretiert und rezipiert zu wer­den, sei es innerhalb oder außerhalb des institutionellen Konzertrahmens einer ( ver)bürgerlich(t)en Musikkultur. "Die Musik selbst gibt es ... eigentlich gar nicht, ... sie (ist) eine bloße Hilfskonstruktion des Geistes gewor­den, eine nicht ganz korrekte Abbreviatur, um sich gewis- se mentale Operationen zu vereinfachen."35 Erst im Rahmen von Produktions- und Rezeptionsverhalten kann der im 18. Jahrhundert entstehende Autonomieanspruch der Kunst wahr­genommen werden. Auf produktionsästhetischer Ebene wird eine "eng mit dem Geniekult verbundene neue Auffassung des ästhetischen Schaffensvorgangs"36 propagiert. Im Ge­ gensatz zur zweckgebundenen Arbeit des Handwerkers wird die Produktionsweise des Künstlers jenseits von Zweckden­ken und Vermarktungsinteressen betrachtet. Unter der Prä­misse, daß "der Künstler (...) nur Gebrauchs-, nicht Tauschwert (schaffe)"37 , wird das Kunstprodukt in einen ästhetischen Bereich verwiesen, in dem wiederum nur ein ganz bestimmtes Sprechen über Musik erlaubt ist. Der Künstler wird einen musikästhetischen Diskurs an die Öffentlichkeit tragen, der schließlich für den Gebrauchs­wert seines Produkts (Komposition, Interpretation) ein "zweckfreies" Rezeptionsverhalten fordert: das Postulat, daß die Musik um ihrer selbst willen gehört werden und nicht als Mittel zum Zwecke einer Gefühlsmassage fungie­ren soll, bestimmt ideengeschichtlich den Paradigmen­wechsel von der "Gefühlsästhetik" zur "Metaphysik der Instrumentalmusik", einen Wechsel, der gattungsspezifisch die Differenz zwischen Vokal- und Instrumentalmusik be­nennt.38

Die ästhetische Emanzipation der Musik - ihr Autonomie­anspruch betrifft Produktion und Rezeption - ermöglicht eine "ästhetische Opposition von Kunst und Nicht-Kunst",39 eine Differenzierung von Kunst und Lebenswirk­lichkeit .

In den Flegeljahren wird der Autonomiegedanke durch den Flötenvirtuosen Vult repräsentiert, der daran interes- siert ist, sein Künstlerimage zu wahren und der deshalb seine Fähigkeiten, über Musik zu reflektieren, ideolo­gisch zu verklären versucht. Auf der anderen Seite reprä­sentiert der Jurist und Hobby-Poet Walt den Gedanken ei­ner Entdifferenzierung von Kunst und Lebenswirklichkeit. Walt lebt in seiner eigenen Welt und ist oftmals nicht in der Lage, die Probleme der "realen" Welt wahrzunehmen. Während Vult an der Gesellschaft leidet, arrangiert sich Walt mir ihr, indem er alles poetisch verklärt. Während Vult eine (Über)Lebensstrategie benötigt, geht Walt mit aller erdenklichen Naivität durchs Leben. Vults strategi­sches Bewußtsein unterordnet das musikalische Rezeptions­vermögen dem Autonomieanspruch der Kunst. Walt hingegen rezipiert Musik, ohne sich einer übergeordneten Hör- Doktrin verpflichtet zu fühlen.40

Es wäre dennoch verfehlt, den Autonomiegedanken aus­schließlich dem Ideologieverdacht überantworten zu wol­len. Der Rezeptionsanspruch, die Musik um ihrer selbst willen zu hören, legitimiert sich in der Komposition selbst, indem die Musik mit einer "musikalischen Logik" identifiziert wird.

Zusammenfassend und richtungsweisend muß bis hierher festgehalten werden: Die Problematik einer Synthese zwi- sehen Wirklichkeit und Poesie verweist auf einen Humor­begriff, der das Endliche mit der Idee kontrastiert, und auf einen Musikbegriff, der zwischen Gegenwart und Zu­kunft vermittelt. Die Charakterduplizität Vult - Walt repräsentiert schließlich das Doppelangebot einer Diffe­renzierung bzw. Entdifferenzierung von Lebenswirk liehkeit und Kunst.41

Interpretation

Vierzehn von insgesamt vierundsechzig Kapiteln der Fle­geljahre thematisieren schwerpunktmäßig musikästhetische, -philosophische und -soziologische Überlegungen.

Der nun folgende Interprétâtionsversuch beabsichtigt nicht, "chronologisch" am Text entlang die Kapitel 13, 15, 20, 25, 26, 27, 30, 35, 40, 57, 60, 61, 63, 64 vorzu­stellen, sondern bemüht sich um eine systematische Expli­kation der im Romantext angesprochenen Problemkomplexe.

Reflektiert werden u.a. die Krisensituation der bür­gerlichen Musikkultur um 1800, die Bewertung der Vokal­musik, die Bedeutung des Tanzes, schließlich der Begriff einer Musik als Verheißung einer utopischen "zweiten Welt".42

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht Jean Pauls Entwurf einer Rezeptionsästhetik der Musik.

Jean Pauls musikästhetische Erwägungen außerhalb des Romans werden insofern berücksichtigt, als sie den hier überwiegend werkimmanenten Interpretationsversuch ver­deutlichen.

Hilfreich sind außerdem die poetologischen Studien der "Vorschule der Ästhetik". Jean Pauls Begriff der "roman­tischen Poesie" läßt sich auf die Musik beziehen, da "die Musik romantische Poesie durch das Ohr" (s. Anm. 28) ist.

Vult entwirft einen "Plan, daß er nämlich vorhabe, so ge­sund auch sein Auge sei, es jeden Markttag im Wochenblatt für kränker und zuletzt für stockblind auszurufen und als ein blinder Mann ein Flötenkonzert zu geben, das ebenso viele Zuschauer als Zuhörer anziehe."1 Vults Strategie wird verständlich auf dem Hintergrund ei­ner Krise des Konzertbetriebs, die als eine "allgemeine Krise in den Jahren nach 1800 deutlich beobachtet wer-den"2 kann. Als Ursache kann neben ungünstigen wirtschaft­lichen Verhältnissen in Deutschland eine Publikumskrise beobachtet werden: "neue Schichten kommen empor, sie ha­ ben andere als geistige Interessen oder ihnen fehlt die Bildungsenergie."3 Kulturelle Einrichtungen wie das Kon­zertwesen werden uninteressant für eine Bevölkerungs­schicht, die ihr Nützlichkeitsdenken auf finanziellen Profit ausgerichtet hat. "Vor 1800 sehen wir überall die Konzertveranstaltungen wachsen, plötzlich beklagt man sich allenthalben über leere Konzertsäle, über einen Rückgang im Konzertbetrieb."4 Die seit 1798 in Leipzig erscheinende "Allgemeine Musikalische Zeitung" beschreibt 1807 rückblickend die gesellschaftliche Situation folgen-

[...]


1 K.A. Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten und ver­mischte Schriften, erschienen Mannheim 1837-1859, III, 64. Zitiert in: Jean Pauls Persönlichkeit in Berich­ ten der Zeitgenossen, hrsg. von Eduard Berend, Weimar 1956 (= Ergänzungsband der historisch-kritischen Aus­gabe), S. 102. Varnhagen hat sein Gespräch mit Jean Paul am 24. Oktober 1808 aufgezeichnet.

2 Jean Paul zitiert in: Freye, Karl, Jean Pauls Flegel­jahre. Materialien und Untersuchungen, Berlin 1907 (= Palaestra Bd. 61), S. 91. Freye hat u.a. ausführ­liches Handschriftenmaterial von Jean Pauls Vorarbei­ten zusammengestellt.

3 Ebenda, S. 89

4 Ebenda, S. 130

5 Flegeljahre, S. 491

6 Ein weiteres Zeugnis stammt von dem Schriftsteller Karl Mayer, der Jean Paul am 29. August 1810 in Bay­reuth besucht: "Auf meine Frage, ob er denn die Fle­ geljahre nicht fortsetzen werde, antwortete Jean Paul: 'Gewiß!' und wenn er es nicht mehr erlebe, so habe er einem Freunde, dem Musiker Tirion in Genf (Thieriot), den ganzen Plan zur Kundgebung mitgeteilt. Sie seien ein Lieblingswerk von ihm, worüber er sich weiter verbreitete." Zitiert in: Jean Pauls Persönlichkeit ..., a.a.O., S.

7. Eduard Berend merkt an, daß Thieriot "leider ... von dem ihm mitgeteilten Plan der Fortsetzung der Fle­geljahre nie etwas (hat) verlauten lassen", a.a.O., S. 413

8 Vult erlebt im vierten Band der Flegeljahre mehrere Enttäuschungen: Sein Berufsethos als Musiker mit un­ terkühlten zwischenmenschlichen Beziehungen ("Kälte ... imponiert", Flegeljahre S. 131) läßt seine Liebe zu Wina scheitern.

9 Freye, a.a.O., S. 130

10 Jean Paul ist am 14. November 1825 gestorben. Er hät­te in den zwanzig Jahren die Zeit finden können, den Roman fortzusetzen. Die sich hieraus ergebende Frage wird in Anm. 12 beantwortet.

11 Wahrheit aus Jean Pauls Leben, Heftlein 1-8, hrsg. von Christian Otto (1 - 3) und Ernst Förster (4-8), Breslau 1826 ff., insbes. S. 102 - 105

Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Fried­rich Richter, hrsg. von Ernst Förster, Bd. 1-4, München 1863, insbes. S. 163: Jean Pauls Unterschei­dung zwischen "Kunstgenuß" und "Herzensgenuß" ist aufschlußreich für die Interpretation der Flegeljah­re .

12 bes. "Unsichtbare Loge" und "Hesperus"

13 Jean Paul unterscheidet in seiner "Vorschule der Ästhetik" (§ 72 = S. 253 - 257) drei Romanklassen: "die erste Klasse bilden die Romane der italienischen Schule" (z.B. "Titan"). Zur zweiten Klasse, den Roma­nen der "deutschen Schule", "gehören z.B. ... Sieben­käs und besonders die Flegeljahre etc.". Die dritte Klasse bilden die Romane der "niederländischen Schu­le" (z.B. Wutz, Fixlein, Fibel"). Hans. G. Helms hat überzeugend nachgewiesen, daß "die Klassen des Romans (...) die Klassen der Gesellschaft (repräsentieren)" (S. 13). Die Flegeljahre themati­ sieren den Erfahrungshorizont einer "zwischen Ober­und Unterklasse lavierenden Mittelklasse" (S. 13/14). Helms, H.G., Über Jean Pauls Romankategorien, in: Ar­nold, H.L. (Hrsg.), Jean Paul. Sonderband Text + Kri­tik, München 31983, S. 10 - 16 Jean Paul erkennt hierin ein literaturästhetisches Problem, die Flegeljahre fortzusetzen: "Der Held im Roman der deutschen Schule, gleichsam in der Mitte und als Mittler zweier Stände, so wie der Lagen, der Sprachen, der Begebenheiten, und als ein Charakter, welcher weder die Erhabenheit der Gestalten der ita­lienischen Form, noch die komische oder auch ernste Vertiefung der entgegengesetzten niederländischen an­nimmt, ein solcher Held muß dem Dichter nach zwei Richtungen hin die Mittel, romantisch zu sein, ver­teuern, ja rauben, und wer es nicht einsehen will, setze sich nur hin und setze die Flegeljahre fort." (Vorschule der Ästhetik, S. 255).

14 Iser, Wolfgang, Der Akt des Lesens, Mönchen 1976, S. 177

15 Freye, a.a.O., S. 25. Die Formulierung stammt aus der Zeit von April - Juni 1801; anderthalb Jahre später heißt es: "Summa: Poesie und Liebe im Kampfe mit der Wirklichkeit" (Freye, S. 130). Marie-Luise Gansberg versteht die zweite Formulierung als Einschränkung: "Der Abschluß des 'Titan' scheint gewisse Zweifel an der Synthesemöglichkeit genährt zu haben". Gansberg, M.-L., Welt-Verlachung und 'das rechte Land'. Ein literatursoziologischer Beitrag zu Jean Pauls "Flegeljahren" (1968), in: Schweikert, Uwe (Hrsg.), Jean Paul, Darmstadt 1974, S. 380.

16 Peter Sprengel bemerkt, daß die Notiz aus dem Jahre 1801 noch gar nicht auf die Charakterduplizität ange­wandt werden konnte, da erst die Person des Vult ab Dezember 1802 konzipiert wurde. Diese Überlegung in­teressiert in dem Zusammenhang nicht: Selbst wenn Jean Paul den Duplizitätsgedanken nicht als Antwort auf die Syntheseproblematik gefunden haben sollte, ist es rezeptionsästhetisch legitim, die Relevanz dieser Beziehung herauszuanalysieren. Siehe Sprengel, P., Innerlichkeit. Jean Paul oder das Leiden an der Gesellschaft, München 1977, S. 281.

17 Heine, Heinrich, Die romantische Schule, in: Heinrich Heine Werke, Vierter Band; Schriften über Deutsch­land, hrsg. von Helmut Schanze, Frankfurt a.M. 1968 (Insel Heine), S. 265. In einer noch nicht endgültigen Fassung hat Heine diese Studie 1833 in Paris veröffentlicht unter dem Titel "Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland".

18 Ebenda, S. 180

19 Am schärfsten richtet sich Heines Kritik gegen August Wilhelm Schlegel: "Der Chef der Romantiker heuratete die Tochter ... des Chefs der deutschen Rationa­listen. Es war eine symbolische Ehe, die Romantik vermählte sich gleichsam mit dem Rationalismus; sie blieb aber ohne Früchte. Im Gegenteil, die Trennung zwischen der Romantik und dem Rationalismus wurde da­durch noch größer, ... und, sobald er die hölzerne Nichtigkeit der romantischen Kunst erkannt, lief er davon" (S. 220). In diesem konnotativen Zusammenspiel wird verständlich, warum Heine das Wort "romantisch" ausschließlich im pejorativen Sinne verwendet hat.

20 Ebenda, S. 265 (Fortsetzung des Zitats Anm. 16): "Sein Herz und seine Schriften waren eins und dassel­be. Diese Eigenschaft, diese Ganzheit finden wir auch bei den Schriftstellern des heutigen jungen Deutsch­lands, die ebenfalls keinen Unterschied machen wollen zwischen Leben und Schreiben, die nimmermehr die Po­litik trennen von Wissenschaft, Kunst und Religion, und die zu gleicher Zeit Künstler, Tribune und Apostel sind."

21 Szondi, Peter, Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung. (= Studienausgabe der Vorlesungen, Band 2), hrsg. von Senta Metz und Hans- Hagen Hildebrandt, Frankfurt a.M. 21976 (1974), S. 256 ( auch S. 535) . Die Vorlesung über Jean Paul findet sich auf S. 249­265.

22 Vorschule der Ästhetik, § 2 und § 3.

23 "Aber ist es denn einerlei, 'die' oder 'der' Natur nachzuahmen, und ist Wiederholen Nachahmen? - Eigent­lich hat der Grundsatz, die Natur treu zu kopieren, kaum einen Sinn." Ebenda, S. 34.

24 Ebenda. "Allerdings ahmen sie der Natur nach, aber einem Stücke, nicht der ganzen, nicht derem freien Geiste mit einem freien Geist." Ebenda, S. 33.

25 Szondi, a.a.O., S. 257: "Der Romantiker heißt bei ihm 'Poetischer Nihilist', der Klassizist wird von ihm 'Poetischer Materialist' genannt. Zum Porträt des Ro­mantikers ... stand Friedrich Schlegel Modell ...".

26 Vorschule der Ästhetik, S. 24 (Vorrede zur ersten Ausgabe), zitiert in: Szondi, a.a.O., S. 257.

27 Szondi, a.a.O., S. 256/257.

28 Ebenda, S. 257

29 Die hier formal einander zugeordneten Begriffsdicho­tomien werden hinsichtlich ihrer musikästhetischen Relevanz im interpretativen Teil dieser Arbeit in­haltlich fundiert.

30 Der Verfasser nennt sie "ebensowohl das Resultat als die Quelle" seiner Werke. (Vorschule der Ästhetik, S. 22)

31 Vorschule der Ästhetik, § 31 - 35 (= S. 124 - 144)

32 Ebenda, S. 125

33 Ebenda

34 Flegeljahre, S. 183

35 Ebenda, S. 184

36 Metzger, Heinz-Klaus, Musikalische Qualität als Ver­innerlichung von Gebrauchs- und Tauschwerten (1973), S. 255, in: Musik wozu. Literatur zu Noten, hrsg. von Rainer Riehn, Frankfurt a.M. 1980, S. 244 - 262.

37 Sprengel, Peter, a.a.O., S. 93/94

38 Ebenda, S. 94

39 a) Vgl. Dahlhaus, Carl, Metaphysik der Instrumental­ musik, in: ders., Die Musik des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1980 (= Neues Handbuch der Musikwissen­schaft, hrsg. von Carl Dahlhaus, Band 6), S. 73 - 79. b) Vgl. Dahlhaus, Carl, Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978, S. 47 - 80 und 91 - 104.

40 Sponheuer, Bernd, Zur ästhetischen Dichotomie als Denkform in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 3, in: AfMw 32 (1980), S. 1 - 31. Geschichtlich transferiert meint das den Gegensatz von E- und U- Musik.

41 Jean Pauls Unterscheidung von Kunstgenuß und Herzens­genuß wird im interpretativen Teil dargestellt.

42 Dahlhaus, Carl, a.a.O. b) S. 105 ff.

1 Flegeljahre, S. 117

2 Preußner, Eberhard, Die bürgerliche Musikkultur. Ein Beitrag zur deutschen Musikgeschichte des 18. Jahr­hunderts, Hamburg 1935, S. 48.

3 Ebenda, S. 49

4 Ebenda, S. 48

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Zur Musikanschauung Jean Pauls in seinem Erziehungsroman "Flegeljahre"
Hochschule
Folkwang Universität der Künste
Note
1,0
Autor
Jahr
1986
Seiten
86
Katalognummer
V113564
ISBN (eBook)
9783640141500
ISBN (Buch)
9783640141623
Dateigröße
3003 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Musikanschauung, Jean, Pauls, Erziehungsroman, Flegeljahre
Arbeit zitieren
Detlef Rüdiger (Autor:in), 1986, Zur Musikanschauung Jean Pauls in seinem Erziehungsroman "Flegeljahre", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113564

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