"Ey, du Opfer"

Nachdenken über Jugendgewalt, Religion und religiöse Bildung


Fachbuch, 2008

85 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

1. Friedenssehnsucht und Gewalt: Das Unvereinbare vereint in den Weltreligionen?

2. Erklärungen
a. Sakralisierung der Gewalt
b. Sakralisierung der Liebe
c. Vermischungen

3. Jugend und Gewalt

4. Der Religionsunterricht als friedenspädagogisches Kernfach

5. Schlussüberlegung

Literatur

Vorbemerkungen

Seit einigen Jahren interessiert mich der Zusammenhang von Jugend und Gewalt. Das hängt einerseits mit Medienberichten über spektakuläre Gewaltverbrechen Jugendlicher zusammen, die – man denke an Erfurt oder an das uckermärkische Potzlow – so grauenhaft sind, dass trotz aller Erklärungsversuche immer einen Rest an Unverständnis bleiben wird. Das hängt andererseits mit meiner Arbeit an Schulen zusammen, an denen ich immer wieder Gewalt erlebe. Seit Jahren arbeite ich als evangelischer Religionslehrer an Schulen zur individuellen Lernförderung, besser bekannt unter dem früheren Begriff Sonderschulen. Die Arbeit an diesen Schulen ist insgesamt bereichernd, zumal die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen interessiert und umgänglich ist. Manche Schüler aber sind schwierig – und wenden sehr schnell Gewalt an, wenn sie meinen sich verteidigen zu müssen. So gibt es immer wieder Situationen, in denen ich mit Gewalt in ihren unterschiedlichen Ausprägungen konfrontiert bin: mit mutwilligen Sachbeschädigungen, üblen Verunreinigungen etc.; mit Demütigungen, Schlägereien, gar Erpressungen. (Besonders bedrückend ist dabei, dass es in der Regel immer die gleichen Schüler sind, die attackiert werden.) Gelegentlich erlebe ich aber auch Gewalttätigkeiten, an denen Lehrkräfte beteiligt sind. Selten als ‚Täter’ (freilich haben auch manche Lehrer Schülern gegenüber einen demütigenden Tonfall, manchmal berichten Schüler auch, einem Lehrer sei – wie es dann verniedlichend heißt – ‚die Hand ausgerutscht’), häufiger als Opfer. Ich denke hier an Ausdrücke und Beleidigungen, aber auch an bisweilen vorkommende tätliche Übergriffe.

Mein bislang eindrücklichstes schulisches Gewalt-Erlebnis ereignete sich wie folgt: Auf dem Pausenhof hatte ich eine heftige verbale Auseinandersetzung mit einem 13-jährigen Schüler. Begonnen hatte diese mit einer Kleinigkeit: Er hatte mich provozierend angeschaut (später stellte sich heraus, dass das an meinem Ohrring lag, den ich seiner Meinung nach auf der ‚falschen’, nämlich vermeintlich schwulen Seite trage), woraufhin ich den Schüler (wie ich meine: freundlich) ansprach. Sofort wurde ich von ihm ordinär beschimpft und seine Körpersprache signalisierte eine hohe Aggressionsbereitschaft. Nun veränderte sich auch mein Ton, ich wies ihn schroff zurecht, Schüler kamen dazu, einige versuchten zu mäßigen, andere taten das Gegenteil. Irgendwann standen so viele zwischen uns, dass wir auseinander gingen. In der Überzeugung, dass ein so aggressives Auftreten nicht ungeahndet bleiben sollte, kam anschließend aus dem Kollegenkreis der Vorschlag mit einer Anzeige zu reagieren. Noch ehe ich mich dafür oder dagegen entschieden hatte, bekam die ganze Geschichte aber eine andere Wendung. Der Schüler hatte nämlich erfahren, was wir im Kollegenkreis debattierten – und trat die Flucht nach vorne an. Nun beschuldigte er mich, ich hätte ihn im Verlauf der Auseinandersetzung angegriffen und gewürgt – und tatsächlich hatte er nicht nur Würgemale am Hals aufzuweisen (die ihm, wie sich später herausstellte, ein Freund beigebracht hatte), sondern auch eine stattliche Zahl von Zeugen, die seine Anschuldigungen gegen mich bestätigten. Dergestalt munitioniert erstattete der Schüler nun eine Anzeige gegen mich, so dass ich bei der Polizei nicht – wie gedacht – als Zeuge oder Kläger, sondern als Angeklagter erscheinen musste.

Erfreulicherweise ging die Sache gut für mich aus. Es fand sich ein Kollege, der die Szene beobachtet hatte und meine Version bestätigen konnte, die angeblichen Zeugen widerriefen, die Anzeige wurde zurückgezogen und der Junge sollte sich bei mir entschuldigen (was er aber nicht tat). Dennoch: Für mich war es erschütternd zu erleben, dass ich der beschriebenen Dynamik zunächst kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Obgleich der Vorgang lediglich mit einer Kleinigkeit begonnen hatte und es in dessen Verlauf auch zu keiner manifesten Gewalt kam, tauchte innerhalb kurzer Zeit ein existentiell bedrohliches Szenario am Horizont auf: nämlich die unehrenhafte Entlassung aus dem Schuldienst, ein Gerichtsverfahren mit ungewissem Ausgang, letztlich das berufliche Aus.

Ab und an höre ich auch, wie Schüler (manchmal auch Lehrer) bei einem Wortwechsel als ‚Opfer’ tituliert werden. Tatsächlich ist das Schmähwort „Ey, du Opfer…“ bei vielen Jugendlichen sehr beliebt. Das macht den evangelischen Religionslehrer, der gelernt hat, dass es seit Christus keiner Opfer mehr bedarf, hellhörig. Ist der so betitelte Schüler denn wirklich ein Opfer? Welche Eigenschaften hat er (bzw. welche fehlen ihm), die ihn zu einem solchen machen? Und – vor allem – warum braucht denn derjenige, der ihn so betitelt, eines? Wem würde er das Opfer darbringen wollen? Und was geschähe denn bei der potentiellen Opferung? Mit dem Opfer? Mit dem Täter?

Meine schulischen Gewalt-Erfahrungen haben mich also nicht nur gegenüber Gewalt im Allgemeinen sensibilisiert, sie haben mich auch im Besonderen auf die Frage gestoßen, wie zufällig eine Wortwahl ist, die das Gegenüber zum Opfer macht. Liegt hier lediglich eine simplifizierende Weltsicht zugrunde, die die Menschheit leichtfertig in zwei Gruppen aufteilt, eine minderwertig, eine höherwertig – und damit die Brutalität den vermeintlich Minderwertigen gegenüber legitimiert? Oder könnte nicht der ursprünglich aus dem Bereich der Religionen stammende Begriff Opfer ein Hinweis darauf sein, dass sich hinter solchen Klassifizierungen und dann eben auch hinter den nachfolgenden Gewalttaten ein religiöses Motiv verbirgt? Und – wenn ja – finden sich solche Motive auch bei anderen Gewalttaten Jugendlicher, bei denen ja auch Opfer gesucht werden, auch wenn diese nicht in jedem Fall als solche bezeichnet werden?

Nun wurde bereits gesagt, dass der von Jugendlichen so gerne verwandte Begriff Opfer ursprünglich ein religiöser war. Dass das nicht zufällig ist und hier tatsächlich eine religiöse Dimension durchschimmern mag, darauf könnte auch der Umstand hindeuten, dass Religion und Gewalt erwiesenermaßen keine Gegensätze bilden. Im Gegenteil. Zwar gibt es in den meisten Religionen auch eine starke Friedenssehnsucht. Wie es aber scheint, wohnt allen Religionen in bestimmten Situationen die Neigung inne Gewalt zu akzeptieren und zu legitimieren. Religionen waren in langen Phasen der Geschichte gewaltaffin und sie sind dies oft genug bis heute. Wenn denn aber eine Nähe zwischen Gewalt und Religion besteht, warum sollte diese dann nicht auch bei der Gewalt Jugendlicher vorliegen?

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Um die aufgeworfene Frage zu klären, ob die Gewalt Jugendlicher eine religiöse Dimension hat, muss zunächst das Phänomen Religion in den Blick genommen werden, speziell der Zusammenhang von Religion und Gewalt. In den ersten zwei Kapiteln wird dementsprechend nach Ansätzen gesucht, die es erklärlich werden lassen, warum die Geschichte der meisten Religionen in der Gewaltfrage so widersprüchlich ist.

Es ist ein Glücksfall für diese Arbeit, dass vor einigen Jahren vom Ökumenischen Rat der Kirchen eine Dekade zur Überwindung von Gewalt ausgerufen wurde. Demnach sollen sich Christen von 2001 bis 2010 in ihrem Umfeld mit der Gewaltproblematik auseinandersetzen und für ein Leben in Gewaltfreiheit eintreten. Diese Dekade hat ein neues intensives Nachdenken über die Zusammenhänge von Religion und Gewalt ausgelöst. Zahlreiche Publikationen sind erschienen, in denen mit religionsgeschichtlichen und religionswissenschaftlichen Zugriffen die entsprechenden Zusammenhänge deutlich erhellt worden sind.

Auf der Grundlage der dann vorgenommenen Klärungen richtet sich im dritten Kapitel der Blick auf das Phänomen Jugendgewalt. Aktuelle, durch ihre besondere Brutalität spektakulär gewordene Fälle aus der jüngeren Vergangenheit werden hier vorgestellt, um diese in einem weiteren Schritt auf möglicherweise darin enthaltene religiöse Elemente hin zu analysieren. Ziel dieses Abschnittes ist es, Analogien herauszufinden und zu benennen, die zwischen der Gewalt, die wir aus der Geschichte der Religionen kennen, und eben der von Jugendlichen ausgeübten Gewalt bestehen könnten.

Als evangelischer Religionslehrer interessiert mich aber noch eine weiterführende Frage: Wenn denn die Gewalt Jugendlicher tatsächlich eine religiöse Dimension hat, ist dann nicht vielleicht gerade der Religionsunterricht herausgefordert, darauf zu reagieren? Der Frage, wie dies geschehen könnte, wird im letzten Kapitel nachgegangen.

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Im Vorfeld einer solchen Untersuchung sind begriffliche Klärungen hilfreich. Die Begriffe, die im Zentrum dieser Arbeit stehen, sind Gewalt und Religion; von ihnen soll zum Abschluss der Einleitung die Rede sein.

Das Wort Gewalt ist eine Ableitung vom althochdeutschen Verb walten, das herrschen und wirken bedeutet. In diesem Kontext haftet dem Begriff Gewalt zunächst nichts Negatives an. Herrschaft kann Ordnung schaffen und Sicherheit garantieren – eine Bedeutungsebene, die noch bei Begriffen wie An walt, Ver walt ung oder Ge walt monopol durchschimmert und erklärlich werden lässt, wieso der Begriff Gewalt bspw. in der Reformationszeit noch deutlich positiv konnotiert gewesen ist (vgl. Lienemann, S. 11).

Freilich kann Herrschaft auch dazu genutzt werden, um andere unrechtmäßig zu unterdrücken, zu unterwerfen etc. Auf dieser – heute im öffentlichen Sprachgebrauch dominierenden – Bedeutungsebene wird Gewalt zu recht als negativ empfunden. Die in dieser Arbeit zu untersuchende Jugendgewalt ist dabei dem zweiten Bereich zuzuordnen, geht es bei ihr doch um unfreiwilliges Unterwerfen und um Unterdrückung.

Wann aber fangen Unterwerfung und Unterdrückung an? Welches Ausmaß bzw. welche Form müssen diese annehmen, damit man von Gewalt sprechen kann – oder ist jede Form von Unterwerfung und Unterdrückung Gewalt? In den 70er Jahren hat bspw. der norwegische Friedensforscher Johan Galtung für eine Ausweitung des Gewaltbegriffes plädiert und den Begriff der strukturellen Gewalt eingeführt. Mit einigem Recht wies Galtung darauf hin, dass Menschen auch ohne Anwendung physischer Gewalt zu etwas gezwungen werden können, was ihrem Willen nicht entspricht (vgl. Lienemann, S. 20). Mit ebensolchem Recht ist dieser weiten Definition von Gewalt aber entgegengehalten worden, dass dabei eine „differenzlose Totalisierung von Gewalt“ (Lienemann, S. 21) stattfinde, die zu einer erheblichen terminologischen Unklarheit führt. Um begriffliche Klarheit zu schaffen, sei es deshalb „wünschenswert, einen engen Gewaltbegriff zu verwenden“ (ebd.) und den Begriff Gewalt dem Bereich der manifesten physischen Gewalt vorzubehalten (vgl. ebd.).

Die Jugendgewalt, um die es in dieser Arbeit geht, gehört zweifellos zur manifesten physischen Gewalt und fällt damit in den Bereich, der durch den engeren Gewaltbegriff markiert wird. Über die Legitimität eines weiten Gewaltbegriffs, wie Galtung ihn vorschlug, ist damit noch nichts gesagt, allerdings würde eine sorgfältige Auseinandersetzung mit diesem im Kontext einer Arbeit, die insbesondere Jugendgewalt thematisiert, zu weit führen.

Nun ist es – wie dargelegt – nicht leicht, den Begriff Gewalt zu definieren. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Definition des Begriffs Religion auftun, sind allerdings ungleich größer. Wer sich mit den gängigen Definitionsversuchen beschäftigt, wird schnell feststellen, dass diese oft bemerkenswert nebulös sind und tendenziell mehr Fragen aufwerfen, als dass sie welche beantworten. Religion bspw. als „Tiefendimension des Menschen“ (zit. nach Feil, Sp. 265) zu begreifen, kann nicht überzeugen, weil dadurch der falsche Schluss nahegelegt wird, überall dort, wo Religion ist, müsse auch Tiefe sein. Ebenso problematisch ist es wiederum, Religion grundsätzlich mit einer wie auch immer bestimmten Transzendenz in Verbindung zu bringen, weil dadurch der Bereich der Profanreligion aus dem Blick gerät.

Da kaum zu erwarten ist, dass noch ein überzeugender Religionsbegriff vorgelegt wird, wurde vorgeschlagen, auf den Religionsbegriff künftig ganz zu verzichten; das freilich wird allein aus wissenschaftsorganisatorischen Gründen kaum Akzeptanz finden können (vgl. ebd.).

Nun mag es angesichts dieser desolaten Lage fruchtlos sein, den Begriff Religion definieren zu wollen, eine begriffliche Annäherung indes sollte dennoch versucht werden, um zumindest ansatzweise den im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Begriff zu klären. Tatsächlich scheint es mir vor dem Hintergrund dessen, was in dieser Arbeit näher zu entfalten sein wird, geraten, einen engen Zusammenhang zwischen Religion und Heil anzunehmen. Religion, so legt es ein Blick auf unterschiedliche religionsgeschichtliche Epochen und Phänomene nahe, beginnt für viele Menschen dort, wo sie nachhaltig Heil erfahren. Ein solches Heil-Erlebnis kann durch innerweltliche (profanreligiöse) Ereignisse ausgelöst werden, Gleiches kann aber auch durch einen wie auch immer qualifizierten Kontakt zum Jenseitigen geschehen.

Umgekehrt wird man sagen können, dass eine Religion, die Menschen keinen Ausweg aus ihrem Unheil bieten kann, für sie auch keine wirkliche Religion darstellen wird.

Mit der im Idealfall nachhaltigen, oftmals freilich nur kurzzeitigen Befreiung oder Erlösung von einem wie auch immer gearteten Un-Heil bricht etwas in das Leben eines Menschen ein, das dieser dann mit zumindest subjektivem Recht als heil ig empfinden wird. Die These, dass bei solchen als heilig erlebten Befreiungserlebnissen Gewalt eine große, wenn nicht entscheidende Rolle gespielt hat und immer noch spielt, soll in dieser Arbeit verifiziert werden.

1. Friedenssehnsucht und Gewalt: Das Unvereinbare vereint in den Weltreligionen?

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen die Begriffe Gewalt und Religion. Setzt man diese beiden Begriffe in Relation zueinander, kommt schnell der bemerkenswerte Umstand in den Blick, dass wir bei vielen Religionen neben pazifistischen Tendenzen und Traditionen immer auch Gegenteiliges finden, nämlich eine religiöse Legitimierung, bisweilen sogar Verklärung von Gewalt. An zwei Beispielen möchte ich dieses eigentümliche Spannungsverhältnis verdeutlichen: am Christentum und am Islam.

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Eine gewisse Spannung in der Gewaltfrage finden wir bereits im Neuen Testament. Jesus hat gewaltfrei gehandelt, hat in der Bergpredigt Gewaltfreiheit und Vergeltungsverzicht zu Leitmotiven der Nachfolge definiert, hat zur Friedfertigkeit auch gegenüber den Feinden aufgerufen und denen, die so handeln, die Gottessohnschaft prophezeit. Diese starken Motive stehen in den Evangelien fast unangefochten, in eine andere Richtung weist allenfalls die Erzählung von der rabiaten Tempelaustreibung nebst wenigen anderen Begebenheiten (vgl. Janowski, S. 203). Im Neuen Testament sind es insbesondere die Visionen der Apokalypse, die in der Gewaltfrage eine andere Tonart anschlagen, denn hier wird in bemerkenswert grausamen Bildern das Ende derer geschildert, die nicht zu den Erwählten gehören. So heißt es in Apk 20,15: „Und wenn jemand nicht gefunden wurde geschrieben in dem Buch des Lebens, der wurde geworfen in den feurigen Pfuhl.“

Luther übersetzt das griechische Wort limnh mit ‚ Pfuhl’, was heute aber kaum mehr geläufig ist; um die Dramatik des entwickelten Szenarios besser zu verstehen, sollte man deshalb eher die auch mögliche Übersetzung ‚feuriger Sumpf’ wählen, weil das die zu erwartenden Qualen und die Ausweglosigkeit gleichsam verdoppelt und damit der Intention des Autors wohl entspricht.

Das erinnert an Rachephantasien, die in einer Spannung zu der Friedfertigkeit stehen, die Jesus allen, auch seinen Feinden gegenüber walten ließ.

Dieselbe Spannung begegnet uns dann auch in der Kirchengeschichte. Über bald drei Jahrhunderte schaffte es die junge Kirche relativ friedfertig zu existieren. Zumindest war man sich darüber einig, dass für einen Christen der Dienst an der Waffe nicht in Frage komme.

Das darf freilich nicht mit einer grundsätzlichen Ächtung des Militärdienstes verwechselt werden; tatsächlich gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Christen damals im römischen Heer dienen konnten, ohne damit kirchlicherseits Anstoß zu erregen; hier gilt es zu bedenken, dass das römische Militär immer auch zivile Aufgaben zu erfüllen hatte – wogegen aus christlicher Sicht nichts einzuwenden war; lediglich der Militärdienst in Kriegszeiten wurde theologisch geächtet (vgl. George, S. 146f).

Bemerkenswert – und in einem deutlichen Gegensatz zu dieser Friedfertigkeit – steht der Eifer, mit dem von Anbeginn an sich Christen untereinander befehdeten. Damalige Auseinandersetzungen über Rechtgläubigkeit und Häresie wurden mit einer solchen Schärfe und Unerbittlichkeit geführt (vgl. Halbfas, S. 158), dass in der Altertumswissenschaft angenommen wird, einige der damaligen Christenverfolgungen seien nicht aus dem Gegensatz von Heidentum und Christentum erwachsen, sondern in ihnen seien Maßnahmen zur Wiederherstellung des durch innerkirchlichen Streit bedrohten Staatsfriedens zu sehen (vgl. u.a. Portmann, S. 247 u.ö.).

Nach der Konstantinischen Wende und der damit einhergehenden Aufwertung des Christentums zur Staatsreligion veränderte sich die Situation grundlegend: Zum einen wurde es schwieriger, den Waffendienst theologisch zu ächten: Immerhin war der Staat, den es zu schützen galt, nunmehr ein christlicher. Zum anderen stellte die Möglichkeit, die als Häresie verstandenen Richtungen des Christentums nun mithilfe der Staatsgewalt wirksam zu unterdrücken, eine große, in manchen Zeiten zu große Versuchung dar. So fand sich die Tradition des Gewaltverzichts bald nur noch in kleinen Gruppen wieder, die von der offiziellen Kirche oft als Ketzer verfolgt und (wie die Katharer) nach Möglichkeit vernichtet wurden.

Eine ähnliche Unentschiedenheit begegnet auch in der evangelischen Kirche. Einerseits hatte Luther ein unbekümmertes Verhältnis zur Gewalt, wenn sie ihm geboten schien. Bekanntlich forderte er ein brachiales Vorgehen gegen aufständische Bauern, bekehrungsunwillige Juden, gegen Türken u.a. (vgl. Wendelborn, S. 245ff, v.d. sowie v.d. Osten Sacken, S. 128ff). Besonders problematisch war dabei seine immer wieder durchbrechende Unfähigkeit, hinter gegnerischen Gruppierungen etwas anderes als den Teufel höchstpersönlich zu erblicken. „Denn der Türke ist (wie gesagt) ein Diener des Teufels…“ (Luther 1529, S. 99) – solche Zuschreibungen finden sich bei Luther allenthalben, wenn es um die Bestimmung der Hintergründe seiner Gegner geht. Die Möglichkeit, Meinungsverschiedenheiten diskursiv auszutragen bzw. mit den Gegnern kompromissorientiert zu verhandeln, war damit verbaut – womit Luther als historischer Bezugspunkt für friedensethische Bemühungen weitgehend ausfällt. Das kann dann auch nicht mehr der Umstand ändern, dass sich Luther – auf der anderen Seite – bspw. einige Verdienste um die Ächtung von Angriffskriegen erworben hat (vgl. Führer, S. 163f).

Radikaler Gewaltverzicht wurde so auch im Bereich der evangelischen Kirche über lange Jahrhunderte vor allem in Randgruppen praktiziert: bspw. in den so genannten Historischen Friedens- bzw. Täuferkirchen, zu denen insbesondere Mennoniten und Quäker zu zählen sind. Bereits im Jahre 1527 hatten diese in den Schleitheimer Artikeln postuliert, selber nur durch Bann, nie aber durch das Schwert strafen zu wollen (vgl. Dellsperger/van Wijnkoop Lüthi, S. 109). Selbst immer wieder schweren Repressionen wie Verhaftung, Enteignung oder Verbannung ausgesetzt, sind sie diesem hohen Anspruch in den folgenden Jahrhunderten in aller Regel treu geblieben (vgl. ebd., S. 112).

Welches friedensethisches Potential den Friedenskirchen eignet – und mit welcher Härte gegen sich selbst dieses Ideal gelebt wird – ist übrigens auf faszinierend dichte Weise in dem Hollywood-Thriller ‚Der einzige Zeuge’ dargestellt worden: Ein junges, kräftiges Mitglied der Amischen Leit, einer vormodern lebenden, pazifistischen Glaubensgemeinschaft, wird von einem US-Teenager provoziert, lächerlich gemacht, attackiert. Beklemmender Höhepunkt: Der Teenager schmiert genüsslich sein Eis in das Gesicht des eigentlich kräftigeren Mannes, der sich aber – trotz erkennbarer innerer Erregung – auch weiterhin nicht wehrt. Damit entsteht für den an solcherlei Friedensfähigkeit nicht gewohnten Zuschauer eine Schieflage, eine schwer zu ertragende, auf Vergeltung abzielende Spannung, die dann der ‚Held’ (Harrison Ford) auflöst, indem er dem pöbelnden Jugendlichen mit gezieltem Schlag das Nasenbein bricht.

Interessant ist, dass im Friedensverständnis der Täuferkirchen in den vergangenen Jahrzehnten eine bedeutende Modifizierung stattfand: Galt ihnen ehedem die eigene (passive) Friedfertigkeit als entscheidendes Nachfolge-Kriterium, wird nunmehr verstärkt aktiv für Frieden und Gerechtigkeit weltweit eingetreten (vgl. ebd., S. 118f).

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Für das Schwanken der christlichen Kirchen zwischen Friedenssehnsucht und Gewaltverstrickung ließen sich unschwer weitere Beispiele finden. Und – wie gesagt – ein solches Schwanken lässt sich auch in anderen Religionen aufspüren. In knappen Strichen soll das für den Islam versucht werden, weil dieser in der jüngeren Vergangenheit besonders nachdrücklich mit dem Vorwurf konfrontiert worden ist, er leiste einer religiös legitimierten Gewalt Vorschub. Ein Blick in die heilige Schrift des Islams, in den Koran, zeigt, dass dieser Vorwurf zwar nicht unberechtigt, aber einseitig ist. So lassen sich zwar tatsächlich problemlos Suren finden, die zu Gewalttätigkeit auffordern. Insbesondere ist hier an die Gewalt gegen Anders- bzw. Ungläubige zu denken. Da heißt es: „Wahrlich, in die Herzen der Ungläubigen werfe ich Schrecken. So haut ein auf ihre Hälse und haut ihnen jeden Finger ab.“ (Koran, Sure 8, 12); oder: „Sind aber die heiligen Monate verflossen, so erschlaget die Götzendiener, wo ihr sie findet, und packet sie und belagert sie und lauert ihnen in jedem Hinterhalt auf.“ (Sure 9, 5); oder der viel zitierte Schwertvers: „Kämpfet wider jene von denen, welchen die Schrift gegeben ward, die nicht glauben an Allah und an den Jüngsten Tag und nicht verwehren, was Allah und sein Gesandter verwehrt haben…“ (Sure 9, 29). Weitere Beispiele ließen sich anführen, die belegen, dass dem Koran ein dualistisches Weltbild zugrunde liegt, das die Menschheit in vermeintlich Rechtgläubige und vermeintlich Ungläubige einteilt und das es nicht nur erlaubt, sondern sogar fordert, zum Schutz der einen die anderen notfalls zu töten.

In diesen Zusammenhang gehört auch die ebenfalls bereits im Koran begründete Tradition der Gewalttätigkeit gegenüber Frauen. So heißt es in Sure 4, 38: „Die Männer sind den Weibern überlegen … Die rechtschaffenen Frauen sind gehorsam und sorgsam in der Abwesenheit (ihrer Gatten) …. Diejenigen aber, für deren Widerspenstigkeit ihr fürchtet – warnet sie, verbannet sie in die Schlafgemächer und schlagt sie.“

Auf der anderen Seite erbrachten zahlreiche im Koran enthaltene Rechtsvorschriften aber auch erhebliche zivilisatorische Fortschritte in den arabischen Stammesgesellschaften. In diesem Zusammenhang wird gerne und zurecht darauf verwiesen, dass die arabische Halbinsel bis dahin von den Entwicklungen in den Kulturländern geographisch abgetrennt war, so dass sich hier vielerlei archaisch-gewalttätige Bräuche hatten halten können, die andernorts bereits abgemildert oder aufgehoben worden waren. So belegt der Vers „Und wenn einem von ihnen eine Tochter angekündigt wird, dann bedeckt ein schwarzer Schatten sein Gesicht, und er grollt. Er verbirgt sich vor dem Volk wegen der üblen Nachricht: Soll er es zur Schande behalten oder im Staub vergraben?“ (Sure 16, 60f) das im vorislamischen Arabien verbreitete Töten des als minderwertig empfundenen weiblichen Nachwuchses. Diese Praxis fand auf der arabischen Halbinsel offenbar erst durch die in dieser Frage expliziten koranischen Bestimmungen ein Ende. Ebenfalls milderte der Koran die bis dahin verbreitete Praxis der Blutrache. „Und wenn ihr euch rächen wollt, so rächt euch in gleichem Maße, als euch Böses zugefügt ward.“ (Sure 16, 127). Damit wurde auch auf der arabischen Halbinsel das andernorts bereits etablierte Talionsrecht eingeführt, mit dem das ehedem maßlose Rächen unterbunden wurde. Mehr noch: Wenn es in der genannten Sure weiter heißt: „Und so ihr duldet, so ist dies besser für die Duldenden.“, so deutet das darauf hin, dass der Koran das Talionsrecht auch nur als einen Zwischenschritt begreift und letztlich auf die Durchbrechung von Gewaltstrukturen durch Dulden oder gar Verzeihen abzielt (vgl. auch Sure 42, 38; zu anderen zivilisatorischen Fortschritten vgl. Baudler, Gewalt, S. 167ff).

Zweitens gehört in diesen Zusammenhang, dass der Koran – wie oben erwähnt – zwar Andersgläubige als Ungläubige abwertet und in bestimmten Fällen Gewalt ihnen gegenüber gestattet. Im Koran enthalten sind aber auch Schutzbestimmungen für Andersgläubige. Wenn es beispielsweise heißt: „Ausgenommen sind jedoch diejenigen der Götzendiener, mit denen ihr einen Vertrag geschlossen habt und die es hernach in nichts fehlen ließen und noch keinem wider euch beistanden. Ihnen gegenüber müßt ihr den Vertrag bis zu der (ihnen bewilligten) Frist halten.“ (Sure 9, 4), dann wird ersichtlich, dass bereits im Koran eine bestimmte Form religiöser Toleranz angelegt ist: Wer nämlich ‚vertragsgemäß’ Tributzahlungen leistete, brauchte nicht zu konvertieren – und genoss zusätzlich den Schutz, den die islamische Herrschaft bot (vgl. Krämer, S. 58ff).

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass laut Koran im islamischen Herrschaftsbereich eigentlich Frieden herrschen soll. Wenn es heißt: „Und Allah ladet ein zur Wohnung seines Friedens…“ (Sure 10, 26; in anderen Übersetzungen heißt es: Haus seines Friedens), dann wird hier eben nicht nur eine eschatologische Friedenshoffnung ausgedrückt, sondern auch ein gegenwartsbezogener Friedensappell.

Ein zweiter Bereich, in dem die durch die Begriffe Friedenssehnsucht und Gewalt gekennzeichnete Polarität im Islam ihren Ausdruck findet, ist das Leben Mohammeds selbst. Es ist bekannt, dass Mohammed für seine Ziele mit Mitteln gekämpft hat, die mit der eben zitierten Sure schwer zu vereinbaren sind. So bezieht sich eine Vielzahl der von Mohammed überlieferten Taten auf seine Kriegszüge. Hierzu zählen Angriffe auf Karawanen, Raubzüge und Schlachten (insbesondere gegen das lange Zeit verfeindete Mekka), aber auch Kämpfe gegen jüdische Stämme, denen Verrat unterstellt wurde. Bemerkenswert ist dabei, dass sich Mohammed bei seinen kriegerischen Unternehmungen immer wieder über damalige Regeln der Kriegsführung hinweg setzte. Wenn er beispielsweise seine Widersacher in den heiligen Monaten angriff oder die Palmenanpflanzungen seiner belagerten Gegner abhauen ließ (vgl. Bobzin, S. 96ff), so mochte das zwar seinen Zielen zuträglich sein, gleichwohl verstieß er damit gegen Regelungen, die das Kriegswesen ursprünglich hatten zivilisieren sollen. Man wird konstatieren müssen, dass das Auftreten Mohammeds zumindest in diesem Punkt als zivilisatorischer Rückschritt bewertet werden muss. Dazu kommen all die Äußerungen Mohammeds, die einen besonderen paradiesischen Lohn für den Märtyrertod in Aussicht stellen. So ist beispielsweise die Aussage überliefert: „Niemand im Paradies möchte wieder auf die Erde zurückkehren, mit Ausnahme des Märtyrers, der im Kampf für die Sache Gottes gefallen ist. Er möchte auf die Erde zurückkehren, um noch zehnmal getötet zu werden, nach all den Ehrbezeigungen, die ihm im Paradies zuteil wurden.“ (al-Buhari, S. 304). Oder kürzer ausgedrückt: „Seid euch darüber im klaren, daß das Paradies im Schatten der Schwerter liegt!“ (ebd., S. 305). Es ist evident, dass eine auf Friedfertigkeit und Ausgleich ausgerichtete Haltung mit solchen Äußerungen nicht befördert wird.

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die innerislamische Diskussion um die Bedeutung des Lebens Mohammeds für gläubige Muslime. Tatsächlich wird in radikaleren Kreisen eine solche Bedeutung verneint, weil einzig der Koran Richtschnur für Moslems sein könne (vgl. Ramadan Al-Buti, S. 32). Die andere, gemäßigte Position ist allerdings weiter verbreitet und weist den in den Hadithen überlieferten Taten Mohammeds eine herausragende Bedeutung zu; sie seien „göttlich inspirierte Akte zur Vervollkommnung der göttlichen Botschaft“ und deshalb „als Quelle seiner [i.e.: des Moslems] Religion neben dem Qur’an anzuerkennen“ (vgl. Wentzel, S. 59f).

Diesem Befund steht die Tatsache gegenüber, dass das Wirken Mohammeds in einem wichtigen Aspekt in der damaligen Gesellschaft befriedend wirkte. So trat an die Stelle der bis dahin üblichen Rivalität zwischen den einzelnen Stämmen die Umma, die islamische Gemeinschaft, in der Frieden herrschen sollte – was in der Regel zunächst auch der Fall war. Freilich darf die friedensethische Bedeutung dieser Entwicklung auch nicht überschätzt werden; sie führte ja nicht zu einer sukzessiven Verringerung kriegerischer Aktivitäten, sondern lediglich zu einer Richtungsverschiebung, insofern sich die Aggression nun gegen die außerhalb der Umma stehenden Nicht-Muslime wandte (vgl. hierzu Malik, S. 72).

Dasselbe Schwanken zwischen Friedenssehnsucht und Gewalttätigkeit lässt sich drittens auch in der Geschichte des Islams wieder finden. In seiner Frühphase wurde der Islam mit militärischen Mitteln verbreitet. Das hatte bereits unter Mohammed begonnen und wurde nach seinem Tode durch den Aufbau einer islamischen Armee perfektioniert (vgl. Tibi, S. 58). Innerhalb weniger Jahrzehnte konnte so das islamische Herrschaftsgebiet auf drei Kontinente, nämlich Nordafrika, Asien und Europa, ausgeweitet werden (ebd., S. 59ff). Diese bis heute in ihrer Dynamik beeindruckende Expansion fand allerdings bereits um das Jahr 750 – nach militärischen Niederlagen, einer wachsenden inneren Krise und einem Wechsel im Herrschergeschlecht (vgl. Krämer, S. 62ff) – ihren Abschluss. Mit der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts begann eine lange Phase zwar nicht innerer, wohl aber äußerer Ruhe, die mit einer prosperierenden Wirtschaft und aufblühenden Wissenschaften, Künsten etc. einherging (vgl. Krämer, S. 70ff und S. 89ff) und in deren Folge zeitweilig auch ein ebenso friedlicher wie fruchtbarer Austausch mit dem christlichen Europa gelang (vgl. Tibi, S. 168ff). Die Verbreitung des Islams erfolgte in dieser Zeit mit friedlichen Mitteln, ihre Träger waren nicht Djihad-Kämpfer, sondern Kaufleute und Karawanen (vgl. Tibi, S. 71).

Diese relativ friedliche Epoche wurde gewaltsam beendet. Zum einen durch die so genannten Kreuzzüge, zum anderen durch den in mehreren Wellen erfolgenden Ansturm der (ursprünglich in Zentralasien ansässigen) Turkstämme. Seit dem neunten Jahrhundert waren diese „mit größter Brutalität“ (Krämer, S. 172) in das islamische Herrschaftsgebiet eingefallen und hatten dort mit Mord, systematischer Zerstörung und dauerhafter Verwüstung ganzer Landstriche die Herrschaft der Abbasiden-Dynastie zunächst erschüttert, dann ersetzt (vgl. Tibi, S. 136ff). Darauf spezialisiert, ihre wirtschaftliche und politische Machtstellung durch Raub und Plünderung zu sichern, fielen sie anschließend nicht nur über die islamischen Gebiete Nordafrikas her (vgl. Tibi, S. 157), sondern drangen nun auch ins christliche Europa ein. Ihnen fiel 1453 das lange bedrängte Byzanz zum Opfer, ebenso der Balkan und erst vor den Toren Wiens fand ihr monströser Raubzug ein Ende.

Zwar wurde diese letzte, gegen das christliche Europa gerichtete Phase der Expansion religiös legitimiert. Mittlerweile zum Islam konvertiert, propagierten die Turkvölker ihren Ansturm auf Europa als Wiederaufnahme des Djihad, der Europa in das islamische Dar-es-salaam integrieren sollte. Angesichts der Tatsache, dass ihre Raubzüge immer wieder auch in islamische Länder führten, scheint es allerdings angeraten, diese religiöse Komponente nicht allzu stark zu gewichten.

Interessanterweise lässt sich übrigens auch in diesem Raubzug, der das europäische Islambild bis heute entscheidend prägt, ein Moment finden, der zu der anderen religiösen Tradition gehört, also mit Friedenshoffnung und -sehnsucht verbunden ist. Anscheinend waren die turkmenischenEroberer in Teilen der christlich-europäischen Gesellschaft nämlich keineswegs unwillkommen. Im Wissen, dass Zwangsbekehrungen nicht stattfinden würden (nur eine Sondersteuer wurde nichtmuslimischen Untertanen abverlangt, vgl. Tibi, S. 160f), barg die islamische Herrschaft insbesondere bei den Unterschichten die Hoffnung auf eine Verbesserung der oftmals völlig desolaten sozialen und wirtschaftlichen Situation; schlimmer als unter den ‚christlichen’ Fürsten – so lässt sich diese Position zusammen fassen – könne es unter den islamischen Herrschern einfach nicht werden.

Luther hat in seiner Schrift ‚Vom Kriege wider die Türken’ aus sicherlich gegebenem Anlass eindringlich davor gewarnt, die Möglichkeiten christlicher Existenz unter türkischer Herrschaft zu idealisieren; er schreibt: „Denn obwohl etliche sein Regiment deswegen loben, weil er jedermann glauben läßt, was man will, lediglich daß er der weltliche Herr sei, so ist doch solch Lob nicht wahr. Denn er läßt die Christen wahrlich nicht öffentlich zusammenkommen, und darf auch niemand öffentlich Christus bekennen, noch gegen Mohammed predigen oder lehren. Was ist das aber für eine Freiheit des Glaubens, da man Christus nicht predigen noch bekennen darf…?“ (Luther 1529, S. 99). Es ist im Übrigen erstaunlich, dass diese Zustandsbeschreibung in etwa auch die gegenwärtige Situation von Christen in der Türkei beschreibt, sich in den letzten 500 Jahren also wenig zum Besseren entwickelt hat (vgl. Reimann/Musharbash, o.S.).

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Eingangs wurde behauptet, dass sich die Polarität zwischen Friedenssehnsucht und Gewaltlegitimation in wahrscheinlich allen Religionen nachweisen lässt. Nun konnte diese Behauptung hier am Beispiel zweier Weltreligionen gestützt werden. Abschließend sei angemerkt, dass sich ebendiese Polarität sogar im Buddhismus, immerhin oft als die friedlichste aller Religionen bezeichnet, nachweisen lässt (vgl. Kollmar-Paulenz, S. 31ff).

2. Erklärungen

Wie kommt es zu diesem engen Nebeneinander von so Widersprüchlichem? Wie ist es zu erklären, dass der Sammelbegriff Religion ethische Haltungen umfassen kann, die denkbar konträr zueinander stehen?

Eine Antwort auf diese Fragen leuchtet auf, wenn man bedenkt, welche Erfahrungen ursprünglich den Begriff Religion qualifizierten. Tatsächlich macht eine Analyse früherer Stadien menschlicher Entwicklung die Annahme plausibel, dass Religion in ihren Ursprüngen gewaltaffin gewesen ist, ja dass Gewalt gleichsam der ursprüngliche Ort von Religion bzw. Transzendenzerfahrung gewesen ist. Diese These möchte ich im Folgenden durch eine knappe religionswissenschaftliche Analyse einiger früher Stadien der Menschheitsgeschichte erhärten.

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a. Sakralisierung der Gewalt

Ausgangspunkt der Überlegungen in diesem Kapitel ist die Situation des Urmenschen vor Millionen von Jahren: in der Altsteinzeit. Die Lebensbedingungen der damaligen Hominiden liegen weitgehend im Dunkeln. Weil wenig aus dieser Zeit überliefert ist, ist Spekulation erforderlich, um überhaupt ein Bild von den damaligen Verhältnissen zu bekommen. Und nicht immer ist man davor gefeit, bei diesen Spekulationen von Projektionen geleitet zu werden, die letztlich mehr über uns und unsere Leitbilder aussagen, als über die damalige Zeit. Andererseits ist eine solche Annäherung reizvoll und wichtig, weil damals Weichenstellungen stattfanden, die bis heute nachwirken – und zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf dem Gebiet, das in dieser Arbeit von besonderem Interesse ist: der Religion.

Wie nun lebten damals unsere Vorfahren? Lange Zeit ist angenommen worden, dass das menschliche Leben in der Altsteinzeit ein Jägerleben war. Um ihren Hunger zu stillen, hätten unsere Vorfahren gleichsam als Raubtier gelebt, hätten gejagt, getötet und sich anschließend am Gejagten gesättigt (vgl. Ehrenreich, S. 47ff). In den letzten Jahren ist diese Jägerhypothese allerdings grundsätzlich in Frage gestellt worden.

Das Verdienst, die entsprechenden Thesen verbreitet zu haben, kommt insbesondere der amerikanischen Wissenschaftsjournalistin Barbara Ehrenreich zu; auf ihre Untersuchungen werde ich mich im Folgenden hauptsächlich beziehen.

So lassen neuere archäologische, aber auch ethnologische Untersuchungen beispielsweise vermuten, dass das Jagen in der Frühzeit des Menschen keineswegs die Bedeutung für dessen Ernährung hatte, die die Jägerhypothese implizierte; vielmehr sei der Hominide eher Aasfresser als Jäger gewesen. Vor allem aber: Er sei eher gejagt worden, als dass er selber jagte (vgl. Ehrenreich, S. 50ff). Nun muss man sich diesen frühen Menschen deshalb nicht friedlich vorstellen, wohl aber weniger kämpferisch als vielmehr ängstlich und fluchtbereit.

Diese wohl ständig präsente Angst, von Raubtieren gejagt und gefressen zu werden, hat das Leben des frühen Menschen vermutlich so sehr geprägt, dass manche in ihr ein menschliches „Urtrauma“ sehen (vgl. Ehrenreich, S. 60). Eine solche Seinsweise zeitigt aber auch tief greifende Konsequenzen in dem Bereich, den wir heute als religiös bezeichnen. Zu denken ist hier an das durch das wiederholte Angegriffen-Werden gesteigerte Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit (vgl. Baudler, Gewalt, S. 18f); an die Erfahrung, dass die angegriffene Gruppe gerettet werden kann, wenn ein Glied der Gruppe (vermutlich das schwächste) geopfert wird (vgl. ebd., S. 21); vor allem aber an die maßlose Ehrfurcht, die ein Tier hervorrufen musste, vor dem man ständig auf der Hut war, das über Leben und Tod entschied, das in seiner Allmacht aber auch faszinierte.

Der Religionsphänomenologe Rudolph Otto hat in seiner berühmten Studie über das Heilige herausgearbeitet, dass Faszination und Schrecken wesentliche Elemente des Heiligen (bzw. in seiner Terminologie: des Numinosen) sind. „Für diese Kontrast-Harmonie, für diesen Doppelcharakter des Numinosen zeugt“, so Otto, „die ganze Religionsgeschichte“ (Otto, S. 42), die – so verstanden – eben bereits in der Frühphase der Menschheit ihren Anfang hat.

Es wird vor diesem Hintergrund erklärlich, dass es eben Raubtiere waren, die in vielen archaischen Kulturen als Gottheiten verehrt worden sind – je nach örtlichen Gegebenheiten Wölfe, Haie, Bären, Tiger u.a.m. Und obgleich in viel späterer Zeit verfasst, schimmert diese archaische Ehrfurcht auch noch an manchen Stellen der Bibel durch. Zu denken ist hier beispielsweise an Num 24,8f, wo es heißt: „Gott … ist für ihn (d.i.: Jakob und Israel) wie das Horn des Wildstiers. Er wird die Völker, seine Verfolger, auffressen und ihre Gebeine zermalmen… Er hat sich hingestreckt, sich niedergelegt wie ein Löwe und wie ein junger Löwe – wer will ihn aufstören?“ Oder an Hos 5,14: „Denn ich bin für Ephraim wie ein Löwe und für das Haus Juda wie ein junger Löwe. Ich, ich zerreiße sie und gehe davon; ich schleppe sie weg, und niemand kann sie retten.“ Eine solche Analogisierung von Gott und Raubier ist in der Hebräischen Bibel allerdings selten.

Letztlich leuchtet diese archaische Ehrfurcht auch in den endzeitlichen Kampfszenarien der Offenbarung auf; so heißt es dort: „Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie eines Löwen Rachen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht. … Und die ganze Erde verwunderte sich des Tieres, und sie beteten den Drachen an, … und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich und wer kann wider es streiten?“ (Apk 13,2-4).

Diese aus Faszination und Schrecken gespeiste Ehrfurcht wurde bereits in diesem frühen Stadium allerdings durch eine konträre Erfahrung ergänzt. Knochenfunde aus der Frühzeit der Menschheit belegen, dass das Raubtier für den Hominiden keineswegs nur bedrohlich gewesen ist; vielmehr begünstigte es auch dessen Leben, insofern es Tiere tötete, die der Hominide dann – als Aasfresser – weiter essen konnte (vgl. Baudler, Gewalt, S. 21f). Auch das hat eine religiöse Dimension. So musste der frühe Mensch dem, der das eigene Leben willkürlich beenden konnte, nun auch noch dankbar sein. Er befand sich damit in einem komplexen, gleichsam dialektischen Abhängigkeitsverhältnis, das den oben beschriebenen „Doppelcharakter des Numinosen“ noch weiter vertiefte.

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Dabei blieb es bekanntlich nicht. Irgendwann versuchte der frühe Mensch, seine geistigen, sozialen und handwerklichen Fähigkeiten einzusetzen, um sich zu wehren, um nicht länger hilfloses Opfer zu sein. Nun kann dieser Versuch nicht sofort zu dem gewünschten Ergebnis geführt haben. So ist im Gegenteil mit einer langen Übergangszeit zu rechnen, in der der Wunsch sich zu wehren einen verlustreichen, blutigen, oft genug wohl auch tödlichen Ausgang hatte.

Ehrenreich schreibt dazu: „Die Herrschaft über die Erde wurde uns nicht geschenkt; unsere Vorfahren erkämpften sie sich gegen weit stärkere, schnellere und besser gerüstete Geschöpfe. Es war ein langer Kampf voll panischer Angst, zerrissen und verschlungen zu werden, sobald man sich vom Licht des wärmenden Lagerfeuers hinaus ins Dunkel wagte.“ (Ehrenreich, S. 60; vgl. auch S. 97).

Wie wir wissen, waren unsere Vorfahren letztlich erfolgreich. Irgendwann im Laufe dieses Aufbegehrens hatten sie ihre Kampftechniken so weit perfektioniert, dass sie erst gleichwertige, dann sogar bessere Kombattanten wurden. So wurden aus den Gejagten Jäger – und aus den Jägern Ge- bzw. Verjagte.

Die Bedeutung dieser Rebellion für das Selbstverständnis des Hominiden und später des Menschen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. In dem gemeinsamen Widerstand gegen das Raubtier sehen manche beispielsweise die ersten Ansätze einer ‚Kultur’ der Hominiden, möglicherweise haben gar Tanz und Gesang (ausgeübt, um das Raubtier zu vertreiben) hier ihren Ursprung (vgl. Ehrenreich, S. 101). Die enorme Relevanz des Geschehens wird auch dadurch belegt, dass es in zahllosen Mythen verschiedenster Völker über Jahrtausende wach gehalten worden ist.

Eine sicherlich unvollständige, gleichwohl erhellende Auflistung entsprechender Mythen aus der ganzen Welt findet sich bei Ehrenreich, S. 95. Obgleich sie stark märchenhafte Züge aufweist, hat mit der Legende vom erfolgreichen Drachenkampf des Heiligen Georg auch das Christentum bis in die Gegenwart eine entsprechende Erzählung bewahrt.

Dieser Widerstand veränderte nicht nur das Selbstverständnis des Hominiden, er hatte – wiederum – auch eine mehrschichtige religiöse Dimension. Ehrfurcht vor todbringender Gewalt hatte der Hominide ja bereits entwickelt, als er noch Opfer war. Nun lehnte er sich gegen das zuvor ehrfürchtig verehrte Raubtier auf – wobei eine Chance auf Erfolg, auf Wahrung des Heils der Gruppe nur dann bestand, wenn dem weiterhin drohenden Übel mit Todesverachtung und eben roher Gewalt entgegengetreten wurde. Gewalt und Heil liegen hier so eng beieinander, dass es plausibel klingt, wenn nach Ehrenreich hier „höchstwahrscheinlich der Ursprung der Gewohnheit des Menschen“ zu erblicken ist, „Gewalt zu sakralisieren“ (Ehrenreich, S. 60).

Mehr noch: Baudler macht darauf aufmerksam, dass der nun immer wieder aufgenommene Kampf auf Leben und Tod auch insofern ein „existentiell-religiöses Motiv“ hatte, als hierbei eine rauschhafte „Orgie der Gewalt“ stattfand (Baudler, Gewalt, S. 31). Gemeinsam auf Leben und Tod kämpfen, töten, fließendes Blut erblicken: All das hatte eben auch eine ekstatisch-lustvolle Dimension, half den schweren Alltag zu transzendieren, löste einen gleichsam religiösen Rausch aus.

Stimmt die Darstellung bis hierher, dann wird ersichtlich, dass Gewalt und Religion keineswegs Gegensätze sind. Vielmehr war es die im Widerstand gegen die Bedrohung durch übermächtige Raubtiere angewandte Gewalt, die Transzendenz und Heil hervorbrachte, so dass der Schluss nahe liegt, Religion ursprünglich gleichsam als Kind der Gewalt zu verstehen.

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Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
"Ey, du Opfer"
Untertitel
Nachdenken über Jugendgewalt, Religion und religiöse Bildung
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Institut für Evangelische Theologie II)
Autor
Jahr
2008
Seiten
85
Katalognummer
V113770
ISBN (eBook)
9783640133697
ISBN (Buch)
9783640135394
Dateigröße
841 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Opfer
Arbeit zitieren
Dr. Olaf Kühl-Freudenstein (Autor:in), 2008, "Ey, du Opfer", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113770

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Titel: "Ey, du Opfer"



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