Lew Tolstois "Krieg und Frieden" als Spiegel der Frankophonie in Russland. Die Verwendung des Französischen zur Darstellung fingierter Mündlichkeit


Masterarbeit, 2021

106 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Verbreitung des Französischen im neuzeitlichen Europa
2.1 Südeuropa
2.2 Mittel- und Nordeuropa
2.3 Osteuropa

3. Russland und der Westen

4. Frankophonie in Russland
4.1 Französischunterricht in der russischen Aristokratie
4.2 Verwendung des Französischen in der Kommunikation der russischen Aristokratie
4.3 Russisch-französischer Bilingualismus
4.4 Frankophonie und russische Identität
4.5 Frankophonie und die russische Literatursprache
4.6 Frankophonie in Russland zur Zeit der Napoleonischen Kriege und Tolstois

5. Zur Biografie Lew Tolstois

6. Krieg und Frieden

7. Verwendung des Französischen zur Darstellung fingierter Mündlichkeit in Krieg und
Frieden
7.1 Fingierte Mündlichkeit
7.2 Anreden, Begrüßungen, Verabschiedungen, Glückwünsche und Aufforderungen
7.3 Charakterisierung der Romanfiguren durch Sprachkompetenzen
7.3.1 Die Kuragins
7.3.2 Die Bolkonskis
7.3.3 Die Rostows
7.3.4 Pierre Besuchow
7.3.5 Weitere Romanfiguren
7.4 Imitation der Romanfiguren
7.5 Russisch und Französisch: Funktionen im Sprachgebrauch der Romanfiguren
7.6 Oppositionen zwischen Russland und Frankreich

8. Vergleichende Untersuchung deutscher Übersetzungen von Krieg und Frieden
8.1 Deutsche Übersetzung von Hermann Röhl
8.2 Deutsche Übersetzung von Barbara Conrad
8.3 Fazit des Übersetzungsvergleichs

9. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Lew Tolstois 1867 erschienenes Werk Krieg und Frieden zählt zu den größten Werken der Weltliteratur und ist umso wichtiger für die russische Literatur. In seinem Werk, in dem schon im Titel die Universalität anklingt, zeichnet Tolstoi ein weit angelegtes Porträt der russischen Gesellschaft zur Zeit der Napoleonischen Kriege, vom einfachen Volk über den Landadel in der Provinz bis zur Aristokratie in den St. Petersburger und Moskauer Salons. Dabei nimmt er die historischen Ereignisse in Europa und Russland zu dieser Zeit ebenso in den Blick wie die grausame Erfahrung des Krieges und die schöne Erfahrung der Liebe. In Krieg und Frieden klingt vor allem Tolstois Liebe zu Russland und zur russischen Nation an. Doch wer eine Ausgabe des russischen Originals aufschlägt, der liest zuerst Zeilen auf Französisch, die im weiteren Verlauf des Romans nicht weniger werden. Tolstoi konfrontiert seine Leser1 mit vielen französischen Wörtern, Sätzen und ganzen Textpassagen. Damit stellt Tolstoi die Frankophonie der russischen Aristokratie nach, die im 18. und 19. Jahrhundert in Russland vorherrschte. Tolstoi selbst sprach fließend Französisch, doch hinderten ihn seine Frankophonie und seine aristokratische Herkunft nicht daran, in Krieg und Frieden Kritik am frankophonen Adel Russlands zu üben. Sprache ist eng verbunden mit der Identitätsbildung und die russische Aristokratie sprach Französisch, während sie sich immer weiter vom einfachen russischen Volk und der eigenen russischen Kultur entfernte. Diese Umstände wollte Tolstoi darstellen und kritisieren. Dafür schien es ihm selbstverständlich, seine Romanfiguren Französisch sprechen zu lassen, so, wie es der Realität entsprach. Damit gelingt Tolstoi durch die Verwendung des Französischen die Darstellung fingierter Mündlichkeit, die die Kommunikation in Krieg und Frieden lebhaft und authentisch wirken lässt. Doch so pedantisch Tolstoi als Schriftsteller arbeitete, so wenig ist es ein Zufall, wenn eine seiner Romanfiguren Französisch spricht oder Tolstoi selbst in seiner Erzählung Französisch verwendet. Die französischen Textelemente gehören zur durchdachten Komposition von Krieg und Frieden und tragen die Intention des Autors in sich. In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, warum Lew Tolstoi französische Textpassagen in sein Werk Krieg und Frieden einband, wie er durch die Verwendung des Französischen fingierte Mündlichkeit darstellt und welche Bedeutung für seine Romanfiguren und Tolstois eigene Sicht auf die Frankophonie in Russland sich daraus ableiten lassen.

In Kapitel 2 wird ein Überblick über die Ausbreitung des Französischen im neuzeitlichen Europa gegeben. In Kapitel 3 wird die innerrussische Debatte über die Opposition zwischen Russland und dem Westen, insbesondere Frankreich, in Zusammenhang mit der Frankophonie erörtert. In Kapitel 4 erfolgt eine nähere Betrachtung der Frankophonie in Russland. Kapitel 4.1 widmet sich der Frage, wie in Russland Französisch gelernt wurde, Kapitel 4.2 beschäftigt sich mit den Situationen und Kontexten, in denen die russische Aristokratie Französisch sprach oder schrieb. Kapitel 4.3 setzt sich mit dem russisch-französischen Bilingualismus auseinander und Kapitel 4.4 mit dem Identitätskonflikt der russischen Aristokratie in Bezug auf die Frankophonie und das Verhältnis zum Westen. Kapitel 4.5 beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen der Frankophonie und der Entwicklung der russischen Sprache, insbesondere in der Literatur. Kapitel 4.6 beschreibt die Frankophonie in Russland während der Napoleonischen Kriege und zur Zeit, als Tolstoi Krieg und Frieden schrieb. In Kapitel 5 wird ein Überblick über das Leben Lew Tolstois mit Fokus auf seine frankophone Erziehung und seine aristokratische Herkunft gegeben. Kapitel 6 beschreibt die Entstehungsgeschichte und die Besonderheit von Tolstois Werk Krieg und Frieden. In Kapitel 7 wird die Verwendung des Französischen zur Darstellung fingierter Mündlichkeit in Krieg und Frieden analysiert. In Kapitel 7.1 wird zunächst die fingierte Mündlichkeit näher definiert. In Kapitel 7.2 folgt eine Auflistung von Beispielen für die Verwendung französischer Phrasen und Höflichkeitsformeln durch die russische Aristokratie, ehe in Kapitel 7.3 eine Beschreibung der Charakterisierung von Tolstois Romanfiguren in Krieg und Frieden durch die Verwendung des Französischen und die Darstellung fingierter Mündlichkeit folgt. Kapitel 7.4 betrachtet Tolstois Imitation der Romanfiguren durch französische Einschübe im Text, Kapitel 7.5 kontrastiert die Verwendungskontexte des Russischen und Französischen in Krieg und Frieden. Kapitel 7.6 beschreibt, wie in Krieg und Frieden die Opposition zwischen Russland und Frankreich thematisiert wird. Kapitel 8 setzt sich schließlich mit der Frage auseinander, wie die französischen Textpassagen in deutschen Übersetzungen von Krieg und Frieden behandelt wurden. Dazu erfolgt die Durchführung eines Übersetzungsvergleichs zwischen einer deutschen Übersetzung von Hermann Röhl, bei der die französischen Textstellen in Krieg und Frieden eingedeutscht wurden, und einer deutschen Übersetzung von Barbara Conrad, bei der die französischen Textstellen unverändert aus dem russischen Original von Tolstoi übernommen wurden. In Kapitel 9 werden schließlich die Erkenntnisse dieser Arbeit zusammengefasst.

2. Verbreitung des Französischen im neuzeitlichen Europa

Warum verbreitete sich das Französische in großen Teilen Europas und auch in Russland? In einigen Ländern Europas war das Französische bereits seit dem Mittelalter von Bedeutung, so etwa in England in der Sprache des Rechtswesens und in den Niederlanden und Belgien für Verhandlungen mit dem benachbarten Frankreich (vgl. Offord 2018: 124f.). Im 17. Jahrhundert weitete sich die Verwendung der französischen Sprache auf andere Länder aus und sie entwickelte sich zu einer Lingua franca in Europa. Im 18. Jahrhundert gewann die französische Sprache in Europa zunehmend an Ansehen. Frankreich und seine Sprache wurden in dieser Zeit mit dem florierenden Königshof und Adel im Ancien Régime assoziiert, später mit der Aufklärung und Frankreichs Vorreiterrolle im kulturellen und intellektuellen Leben in Europa. Zunächst „French was associated in late seventeenth- and eighteenth-century Europe with a way of life unrivalled on the continent at that time in its refinement, gaiety, good taste (bon gout), and comfort (douceur de vivre)“ (Offord 2018: 79f.). Diese Assoziation bezog sich insbesondere auf das florierende Frankreich zur Zeit Ludwigs XIV.:

This way of life was cultivated at the sumptuous court of Louis XIV at Versailles and more generally by the aristocracy of France under the ancien régime. It was associated above all with Paris, the city par excellence in the post-Renaissance, pre-industrial age in which francophonie flourished and the place where the knowledge, skills, and resources required to sustain the new refinement were concentrated. Indeed, the art of living well (l'art de vivre) was distinguished by urbanity, in the literal sense of ‘urban life' as well as in the sense of courtesy or politeness (politesse). (Offord 2018: 79f.)

Im 17. Jahrhundert brachten zudem Emigranten aus Frankreich, Hugenotten wie auch Katholiken, ihre Sprache in andere Länder Europas (Offord 2018: 86f.). Im 18. Jahrhundert wurde Französisch an vielen königlichen Höfen Europas über nationale Grenzen hinweg gesprochen, wie etwa am Hofe Friedrichs II. von Preußen, Gustavs III. von Schweden und auch am Hofe Katharinas II. von Russland (vgl. Offord 2018: 81). Auch eine linguistische Debatte über die besondere Qualität der französischen Sprache trug zu ihrer Verbreitung im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts bei:

As is well known, from the mid-seventeenth century an idea began to take hold in France and then in Europe, until it turned into an idée regue: the French language would impose itself as a universal language on the entirety of civilized Europe and would in this way oust Latin. This idea was conceived among the Moderns and expressed by authoritative French voices (usually literary voices, such as Vaugelas, Boileau, Pierre Bayle, and later Voltaire), and by people outside France as well. (Berelowitch 2015: 41)

Die Sonderstellung der französischen Sprache im neuzeitlichen Europa zeigte sich vor allem in ihrer Verwendung an den königlichen Höfen, in der Diplomatie und Politik, an Frankreichs Rolle als politisches, wissenschaftliches und kulturelles Schwergewicht in Europa, die Begeisterung europäischer Eliten2 für französische Kultur, Philosophie, Literatur, Theater und Mode ebenso wie in deren Offenheit für eine Adaption an die Lebensweise und die Gepflogenheiten der französischen Elite wie etwa die Salonkultur mit dem Austausch gesellschaftlicher und intellektueller Themen. Mit der Französischen Revolution und insbesondere im Zuge der Aufklärung und ihrer Ideen richtete sich der Blick Europas mit Interesse und meist Bewunderung auf Frankreich.

Daneben spielten im Rest Europas weitere Faktoren eine Rolle beim Aufstieg des Französischen zu einer Lingua franca im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts, wobei der Einfluss und die Verwendung des Französischen sich von Land zu Land, von Region zu Region unterschieden. Hochzeiten oder anderweitige Verbindungen zur französischen Aristokratie förderten die Verbreitung der Frankophonie. Französische Texte und erzieherische Ansichten wie die Idee des honnête homme kursierten durch Europa; die Kinder des europäischen Adels wurden zur Grand Tour durch Europa geschickt, wo in jedem Land auf der Station ebenfalls das Französische die Sprache erster Wahl war. Nicht zuletzt trug auch der Einfluss des Militärs unter Napoleon zur Verbreitung des Französischen bei (vgl. Offord 2018: 87f.). Die Frankophonie innerhalb der europäischen Elite vom westlichen zum östlichen, vom südlichen zum nördlichen Europa schuf eine Verbindung über die Landesgrenzen hinweg.

Das Bestreben der Aristokratie, die Lebensweise des französischen Adels nachzuahmen, setzte sich bis ins 19. Jahrhundert hinein fort, wo die Frankophonie einen Höhepunkt erreichte. Doch noch im selben Jahrhundert wurde die Orientierung am französischen Vorbild durch die Konzentration auf die nationalen Eigenheiten in den jeweiligen europäischen Ländern im Zuge der Romantik abgeschwächt, was auch zu einer Ablehnung des Französischen als dominanter Sprache führte. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts verlor der europäische Adel zudem zunehmend an Einfluss; eine Entwicklung, die Hand in Hand mit der schwindenden Frankophonie in Europa einherging (vgl. Offord 2018: 88). Ein schlaglichtartiger Blick auf die Frankophonie in verschiedenen Regionen Europas zeigt Parallelen in der Verbreitung des Französischen als Lingua franca und ihre kulturellen Umstände auf.

2.1 Südeuropa

Angesichts der sprachlichen und kulturellen Nähe zwischen Frankreich auf der einen und Spanien und Italien auf der anderen Seite sowie der gegenseitigen Beziehungen auf politischer Ebene ist die Frankophonie in den beiden romanischen Ländern nicht verwunderlich. Schon im 16. Jahrhundert wurde in Italien in bedeutenden kulturellen Zentren wie Rom und Florenz Französisch unterrichtet; die Aristokratie nahm sich die Hofkultur Frankreichs zum Vorbild (vgl. Offord 2018: 125). Im 17. und 18. Jahrhundert erreichten in Italien die Frankophonie und Frankophilie einen Höhepunkt und klangen wie auch im Rest Europas durch nationalistisch geprägte Ideen in der Romantik und zur Zeit der Napoleonischen Kriege im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend ab (vgl. Minerva 2014: 113). Das Französische hatte einen besonders starken Einfluss auf die italienische Sprache (vgl. Minerva 2014: 114); ebenso war das Französische nach dem Lateinischen die Sprache, die das Spanische am stärksten beeinflusste (vgl. Cabrerizo-Sanz 2014: 265). Zudem spielte in Spanien die Immigration von Franzosen eine große Rolle bei der Ausbreitung der französischen Sprache (vgl. Cabrerizo- Sanz 2014: 243ff.). Anders als bei Ländern in Mittel-, Nord- oder Osteuropa fand jedoch auch eine gegenseitige Beeinflussung in Fragen der Kultur und der Sprache statt, insbesondere zwischen Frankreich und Italien (vgl. Minerva 2014: 117). Dennoch wurde Literatur in Spanien, anders als etwa in Russland, nicht auf Französisch verfasst (vgl. Cabrerizo-Sanz 2014: 248). Geographische, kulturelle und sprachliche Nähe bedeutete somit nicht zwangsläufig eine tiefere Verwurzelung der Frankophonie.

2.2 Mittel- und Nordeuropa

Wie auch in anderen Ländern Europas begann in Schweden der Siegeszug der Frankophonie mit der Aufklärung in Frankreich und der damit einhergehenden Bewunderung der französischen Sprache und Kultur, womit das Französische sich bis in den Norden Europas ausbreitete. Für eine Karriere im Militär und in öffentlichen Ämtern waren in Schweden Französischkenntnisse von Vorteil oder gar unerlässlich. Das Unterrichten der französischen Sprache durch Gouvernanten und Hauslehrer war in Schweden weit verbreitet. Französisch war zudem auch eine Lingua franca am schwedischen Königshof (vgl. Östman 2014: 277ff). In Schweden wurde Französisch für eine Vielzahl von Situationen verwendet, etwa für literarische und historische Werke, Gedichte, oder Tagebücher (vgl. Östman 2014: 288). Entsprechend fanden auch viele aus dem Französischen entlehnte Wörter Eingang in die schwedische Sprache (vgl. Östman 2014: 300f.). Auch Preußen stand im 18. und 19. Jahrhundert deutlich unter dem Einfluss der französischen Sprache (vgl. Böhm 2014: 176ff.), der wie auch Schweden in der Zeit der Aufklärung begann. Dies war insbesondere der Fall, da die deutsche Sprache selbst noch einen Standardisierungsprozesse durchlief, während die französische Sprache in ihrer vollen Blüte stand (vgl. Böhm 2014: 177). Bezeichnend für die Liebe zur französischen Sprache, Literatur, Kultur und Philosophie am preußischen Königshof ist vor allem der enge Austausch zwischen Friedrich II. und Voltaire. Doch mit den Napoleonischen Kriegen und der romantischen Strömung verlor auch die Frankophilie in Preußen an Bedeutung.

2.3 Osteuropa

Die französische Sprache breitete sich auch bis nach Osteuropa aus. In Rumänien, das mit seiner romanischen Landessprache inmitten slawischer Länder eine Sonderstellung in Europa einnimmt, spielte die Frankophonie vor allem im 18. und 19. Jahrhundert eine Rolle. Die französische Sprache erhielt vor allem durch Frankophilie Einzug in Rumänien und nicht durch einen kulturellen Austausch und geographische Nähe, wie dies etwa bei Italien oder Spanien der Fall ist (vgl. Mihaila 2014: 337f.). Die Ideen der Französischen Revolution fanden in Rumänien großen Anklang und Napoleons Taten wurden begeistert aufgenommen (vgl. Mihaila 2014: 342). Der Einfluss der französischen Sprache erfolgte jedoch interessanterweise vielfach durch den Kontakt mit Russland, vor allem aus dem militärischen Bereich (vgl. Mihaila 2014: 343f.); Französisch wurde zu einer Sprache der Elite, aber bald auch zu einer Sprache der Literatur und des intellektuellen und politischen Lebens in Rumänien (vgl. Mihaila 2014: 347). Auch in Polen war die französische Sprache lange Zeit von Bedeutung. Ein Kontakt zwischen Polen und Frankreich in Form politischer Beziehungen bestand bereits im Mittelalter (vgl. Serwanski 2014: 309) Das Französische begann sich somit schon im 16. Jahrhundert in Polen auszubreiten, ebenso wie in den baltischen Ländern (vgl. Brunot 1967: 450f.). Doch erst im 17. und 18. Jahrhundert erfolgte durch königliche Allianzen eine intensive Beeinflussung der polnische Hofkultur durch Frankreich (vgl. Serwanski 2014: 310f.). In Russland waren der französische Lebensstil und die französische Kultur sowie die Gepflogenheiten des französischen Adels die erste Wahl der russischen Aristokratie auf der Suche nach Vorbildern für die eigene Hofkultur. Entsprechend wurde die französische Sprache, wie im Rest Europas, unter Zar Peter I. die Sprache der Aristokratie. Auch in Russland spielten die französischen Emigranten eine Rolle bei der Verbreitung des Französischen, die „brought with them expertise in such fields as military matters, engineering, the silk and tapestry industries, and the production of mirrors and luxury products, especially cosmetics. Numerous services began to be associated with French knowledge and skill, ranging from hairdressing to cookery and education [...]“ (Offord 2018: 86f.). Mit den kulturellen Einflüssen ging auch eine weitere Verbreitung der französischen Sprache einher, die wie auch in Schweden in öffentlichen Ämtern als unerlässlich angesehen wurde: „Quite early in the eighteenth century - at least as far back as the 1730s - knowledge of French became an important qualification for Russian diplomats, irrespective of whether they were posted to France, and in the course of the century it replaced other languages, including Latin, as the principal European diplomatic language“ (Argent 2015: 9). Der Einfluss der französischen Sprache und Kultur wuchs unter der frankophonen Katharina II., die selbst in Briefkontakt mit Voltaire stand (vgl. Fumaroli 2001: 237). Die zunehmende Frankophonie in Russland zeigte sich schon früh durch die Verbreitung französischer Literatur, etwa von Voltaire, Diderot und Rousseau (vgl. Brunot 1967: 520). Auch französischsprachige Zeitschriften wurden veröffentlich, wie etwa die Gazette de St- Pétersbourg oder Le Caméléon littéraire (vgl. Brunot 1967: 521). Auch auf lexikalischer Ebene wird der Einfluss der französischen Sprache deutlich: Viele Wörter der russischen Sprache wurden aus dem Französischen entlehnt, vor allem in den Bereich der gehobenen Gesellschaft und somit Wörter, die mit „the arts, taste, sensiblity, human feelings, psychological characteristics, moral qualities and defects, social behaviour and experience, manners, courtesy, etiquette and urban life“ assoziiert wurden (Offord 2014: 388).

Die Entwicklung der französischen Sprache zu einer Lingua franca verlief in Russland größtenteils analog zum Rest Europas. Doch im Gegensatz zum westlichen Europa bedeutete die Frankophonie der russischen Aristokratie und ihre dadurch verstärkte Abgrenzung zum einfachen, dem Französischen nicht mächtigen russischen Volk zugleich eine notwendige Auseinandersetzung mit der empfundenen Abgrenzung des riesigen, sich weit nach Osten hin ausbreitenden Russland mit dem einflussreichen europäischen Westen.

3. Russland und der Westen

Russland wurde in seiner Geschichte stets in Opposition zum Westen3 gesehen und wird es auch heute noch. Um die Implikationen der Verwendung des Französischen durch die russische Elite auf die russische Gesellschaft und Kultur des Landes, die sich auch in den Werken zahlreicher russischer Autoren wie auch Tolstoi niederschlagen, zu verstehen, ist es unerlässlich, diese häufig angenommene Opposition oder gar scheinbare Unvereinbarkeit näher zu betrachten.

Der zunehmende Einfluss der französischen Sprache und Kultur ging einher mit der Öffnung Russlands zum Westen hin: „The French language and the culture with which it was associated arrived in Russia as the country was being transformed from an isolated, inward-looking realm into an expanding great power which defined itself as European and derived strength from its numerous new connections with the western world“ (Offord 2018: 88f.). Bis dahin war Russland anders als Polen weitgehend vom Westen isoliert gewesen, auch wenn schon im Laufe des 17. Jahrhunderts auf verschiedenen Gebieten vereinzelt ein westlicher Einfluss bemerkbar ist. Am Ende des 17. Jahrhunderts begann ein rapider Prozess, in dessen Verlauf Russland unter Peter I. nach dem Vorbild des Westens modernisiert wurde. Damit wurde die bereits zaghaft begonnene Verwestlichung Russlands im Laufe des 18. Jahrhunderts beschleunigt (Offord 2018: 90). Peter I. „war der erste russische Herrscher, der in den Westen reiste und Herrscher westeuropäischer Länder kennenlernte. In nur 36 Jahren entwickelte sich das Moskauer Zarentum zum Petersburger Imperium; die Institutionen, die Sozialverfassung, die Wirtschaft, die Kirche wurden nach dem westeuropäischen Muster umgekrempelt. Die Reformen betrafen auch das Bildungswesen“ (Becker 2009: 44). Die Modernisierung durch Zar Peter I. nach westlichem Vorbild war notwendig, um sein Reich zu stabilisieren und zu erweitern, nachdem sich der Westen im 17. Jahrhundert kulturell rapide weiterentwickelt hatte. Eine Anpassung Russlands an den Westen im Laufe des 18. Jahrhunderts folgte unter Peter I. und Katharina II. vor allem dem Ziel einer Festigung der Macht Russlands im Zuge einer territorialen Erweiterung (vgl. Offord 2018: 91).

Die Modernisierungsbestrebungen Zar Peters I. hatten auch unmittelbare Auswirkungen auf die Rolle des russischen Adels: Der Zar „set out to force the Russian nobility to behave and dress in a new way, requiring selected subjects, for example, to attend social gatherings. “ (Offord 2018: 93f.) Das Vermächtnis Zar Peters I. in Hinblick auf die Verwestlichung Russlands wurde nach seinem Tod im Jahr 1725 von den Zarinnen Elisabeth und Katharina II. fortgesetzt; Soireen, Salons und Bälle setzten sich nach französischem Vorbild als sozialer Treffpunkt und Beschäftigung der russischen Aristokratie durch. Dieser Einfluss des europäischen Westens, insbesondere Frankreichs, auf das kulturelle Gebaren des russischen Adels sollte Jahrzehnte später von Tolstoi in seinen Romanen detailliert und authentisch porträtiert werden. Doch noch vor Erstarken des Romans in Russland wurden literarische Genres aus dem Westen wie die Satire, die Tragödie, die Komödie, das Epos, die Fabel und Prosa von zeitgenössischen Autoren wie Lomonossow, Sumarokow oder Karamsin adaptiert; das Erscheinen der Presse stärkte die öffentliche Meinung (vgl. Offord 2018: 94). Literatur aus dem Westen „provided models for original literary expression of many kinds, from public genres [...] to more private literary forms which were popular in aristocratic circles, such as the récit de voyage, the diary, the family album, and of course personal correspondence“ (Argent 2015: 11f.).

Neben kulturellen und literarischen Eigenheiten wurden auch die westeuropäischen Sprachen immer präsenter, die der Schlüssel zu westlichem Wissen waren in Bereichen wie „weaponry, military strategy, ship-building, navigation, fortification, civilian architecture, mathematics, medicine, governance, taxation, mining, industrial production, pedagogy, geography, history, literature, the polite society that was coming into being, dress, cuisine, taste, fashion, and leisure pursuits“ (Offord 2018: 95). Vor der Zeit Peters I. waren Fremdsprachen in Russland nicht von Bedeutung, was vor allem am Fehlen säkularer Bildungseinrichtungen lag (vgl. Argent 2015: 7). Neben dem Französischen waren insbesondere Deutsch, Englisch, Italienisch, Latein und andere Fremdsprachen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und zu unterschiedlichen Zwecken für die Elite von Bedeutung, um sich Wissen und Kultur aus dem Westen anzueignen (vgl. Argent 2015: 7). Die Beherrschung westeuropäischer Sprachen ermöglichte es Russland auch, sein Image in Europa zu verbessern, das nun nicht mehr von Berichten europäischer Reisender und der von ihnen verbreiteten negativen Stereotype abhing (vgl. Offord 2018: 95). Dem russischen Hof und Adel war es besonders wichtig, von Westeuropa als in kultureller, politischer und intellektueller Hinsicht als ebenbürtig anerkannt zu werden. Insbesondere die Etablierung europäischer Fremdsprachen in Russland trug zum Erfolg dieses Bestrebens bei:

Command of the most widely used languages of that community was an important credential for acceptance in it, entitling the Russian Empire to the same degree of respect in the cultural sphere as its military successes brought it in the diplomatic sphere. Such command enabled Russian writers themselves [...] to advertise their achievement to a foreign readership, either through translation or in articles and private correspondence written in languages with which that readership was familiar. Thus, Russians' newly acquired facility in foreign languages and their confident, extensive use of them deeply affected others' perceptions of them, and their own self-perception too, at both the national and the personal level. (Offord 2018: 96)

Die Beherrschung westeuropäischer Sprachen war ausschlaggebend für die Annäherung Russlands an den Westen, die Russland wiederum erstmals zu einem bedeutenden Akteur auf der Bühne des europäischen Geschehens machte und ohne die eine Auseinandersetzung mit der Aufklärung und dem wissenschaftlichen Fortschritt im Westen nicht möglich gewesen wäre (vgl. Argent 2015: 6). Die französische Sprache kam nicht nur nach Russland, viele russische Aristokraten gingen im 18. und 19. Jahrhundert nach Frankreich, um dort in den Genuss von westlicher Bildung und Kultur zu kommen; es kamen „tous ceux qui désiraient se former a nos élégances et a notre vie sociale“, wie Ferdinand Brunot es ausdrückt (Brunot 1967: 514).

Von der Herrschaft Zar Peters I. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nahm das Französische unter den in Russland gelernten und gesprochenen europäischen Fremdsprachen zunehmend eine unanfechtbare Sonderstellung ein. Russland „embraced French and French culture whole- heartedly. There was no nation in Europe, Diderot observed, which was Gallicizing itself more quickly than the Russian nation, both with regard to language and practices“ (Offord 2018: 97). Damit war der Weg gezeichnet für die Omnipräsenz der französischen Sprache in der russischen Aristokratie, die bei Tolstoi deutlich wird. Nicht nur der westeuropäische Blick auf Russland, sondern auch die Einstellung der Russen gegenüber dem Westen änderte sich mit dem Bestreben, sich dem Westen kulturell anzunähern. Das erweiterte Sprachrepertoire der russischen Elite ist somit untrennbar verbunden mit dem gestiegenen Selbstbewusstsein des erstarkten Russlands gegenüber dem Westen. Als treibende Kraft der Verwestlichung Russlands imitierte die Aristokratie das Verhalten und auch den Sprachgebrauch westeuropäischer Aristokratien, wo Französisch ebenfalls eine Lingua franca war. Damit erschien der russische Adel wie ein westlicher Fremdkörper im eigenen Land: „This language practice, Turgenev argued, had detrimental effects. For one thing, the social elite thus took on the air of a race of conquerors who had imposed themselves on the nation by force, bringing with them instincts, tendencies, and interests that were different from those of the majority“ (Offord 2018: 245). Gerade diese sprachliche und ideelle Trennung „accentuated the ‘isolation' of the Russian nobility and thereby made the march of civilization in Russia more difficult, since the nobility was the engine of progress there“ (Offord 2018: 246). Doch die Verwestlichung Russlands förderte zugleich die Weiterentwicklung der russischen Sprache und Kultur. Die Frankophonie in Russland, „provided syntactic, phraseological, and lexical material for linguistic innovation in Russian“ (vgl. Argent 2015: 11). Die Verwestlichung bedeutete auch eine verstärkte Präsenz Russlands im Westen, etwa durch die Übersetzung russischer literarischer Werke. So wurde Russland vom Westen nicht mehr als rätselhaftes und rückständiges, sondern als aufgeklärtes Reich mit einer ebenbürtigen Literatur und Kultur betrachtet (vgl. Argent 2015: 12). Sprache war somit ein zentraler Bestandteil der Verwestlichung Russlands und der Annäherung und zugleich Opposition zwischen Russland und dem Westen.

Schon bald nach der beginnenden Annäherung Russlands an den Westen zeichnete sich innerhalb Russlands eine Gegenbewegung ab: Während die einen den damit einhergehenden Fortschritt befürworteten, nahmen die sogenannten Slawophilen Russlands zunehmende Beeinflussung durch den Westen als Bedrohung der eigenen Kultur und Werte wahr. Diese beiden Strömungen bestimmten seit der Zeit Peters I. die Debatte über das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen. In diesem innerrussischen Konflikt spiegelten Moskau und das von Peter I. gegründete St. Petersburg diese Gegenpole wider4. Während St. Petersburg symbolisch für die Verwestlichung Russlands stand und dort der Zarenhof präsent war, war Moskau der Ort, wo der Adel sich fernab des Hofes Vergnügungen und Ausschweifungen hingeben konnte (vgl. Figes 2003: 162). Der Streit zwischen Slawophilen und Befürwortern der Verwestlichung „was essentially a controversy about types of civilization, about the choice of an all-embracing national social system“ (Walicki 1975: 396) und somit eine Frage von enormer Tragweite für das Selbstverständnis Russlands. Die Debatte zwischen Slawophilen und Befürwortern der Verwestlichung wurde durch einen Brief des Philosophen Pjotr Tschaadajew ausgelöst5, der 1829 auf Französisch verfasst worden war und 1836 veröffentlicht wurde. Tschaadajew umgab sich mit Bewunderern in den Moskauer Salons; sein Brief war an ein Mitglied aus diesen Kreisen adressiert und schaffte es erstaunlicherweise bis an die Oberfläche des von Zensur geprägten russischen Systems unter Zar Nikolaus I. (vgl. Schönle 2016: 322ff.). Tschaadajews Brief wurde innerhalb der russischen Elite lebhaft diskutiert und „triggered an outburst of national self-examination“ (Schönle 2016: 324).

Zur Zeit, als Tolstoi sein literarisches Schaffen begann, erfuhr die Kritik der Slawophilen an der Verwestlichung Russlands durch die Niederlage im Krimkrieg in den 1850er Jahren neuen Auftrieb. Nach dem Aufstieg Russlands zu einer in Europa geachteten Großmacht und dem Sieg über Napoleon führte diese Niederlage zu Zweifeln an der Stärke Russlands: „It gave fresh topicality to the century-old concern that Russia might be an uninventive, imitative nation and to the belief, which went back at least to Catherine II and Karamzin, that Russia needed to catch up with and overtake the West“ (Offord 2018: 520f.). Tolstois Auseinandersetzung mit der Frankophonie und Russlands Identität in Krieg und Frieden zeigt die Aktualität der Debatte zwischen Slawophilen und Befürwortern der Verwestlichung noch Jahrzehnte nach Tschaadajews Brief. Die Debatte zeigt nicht nur die enge Verflechtung der russischen Aristokratie in die Thematik der Verwestlichung Russlands und die damit einhergehenden nationalen und individuellen Konflikte. Auch die Tatsache, dass dieses für Russland so wichtige Thema von Tschaadajew auf Französisch behandelt wurde, verdeutlicht, wie eng die Frankophonie in der russischen Aristokratie trotz aller Debatten über das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen verwurzelt war.

4. Frankophonie in Russland

4.1 Französischunterricht in der russischen Aristokratie

Da vor dem 18. Jahrhundert das Erlernen von Fremdsprachen in Russland kaum eine Rolle spielte, war die Nachfrage nach Diplomaten mit Fremdsprachenkenntnissen für internationale Verhandlungen gering. Im Zuge der Modernsierung und Verwestlichung Russlands durch Zar Peter I. wurde das Defizit an fremdsprachig ausgebildeten Experten in seinem Reich deutlich. Auch für die Aufholung dieses Defizits fehlten die passenden Institutionen: „No instruction in French or other living foreign languages was offered in the majority of the state educational establishments in Peter's time“ (Offord 2018: 124). Damit hinkte Russland dem Rest Europas in Hinblick auf das Unterrichten und Lernen der aufkommenden Lingua franca Französisch deutlich hinterher. Das Erlernen der französischen Sprache beschränkte sich zur Zeit Peters I. auf einige wenige Menschen, vor allem Familien aus dem Umfeld des Zaren oder solche, die im Dienst Russlands standen. Auch an den meisten Schulen wurde zunächst nicht Französisch gelehrt; unterrichtet wurden in den Schulen in Moskau und St. Petersburg stattdessen Deutsch und Latein. Die ersten Schulen in Russland, die Französischunterricht anboten, wurden privat gegründet, wie etwa die des Pastors Johann Ernst Glück (vgl. Offord 2018: 125); der Staat kümmerte sich zunächst kaum darum: „Die Rolle des russischen Staates erschöpfte sich in der Erteilung einer dafür notwendigen Genehmigung. Es waren die konfessionellen, nichtorthodoxen Schulen in Moskau“ (Rjéoutski 2019: 188). Doch schon bald war es auch für den Staat „schlicht unmöglich, die wachsende Bedeutung des Französischen gerade für die Kontakte mit dem Ausland zu ignorieren“ (Rjeóutski 2019: 200), weshalb er sich darum bemühte, Französisch zu einem festen Bestandteil des Unterrichtsprogramms an Schulen zu machen. Nach dem Tod von Zar Peter I. erfuhr der Französischunterricht in Russland einen weiteren Aufschwung:

After Peter's death, French began to be taught in the School of the Academy of Sciences in St Petersburg and in the Noble Land Cadet Corps, alongside German and Latin. French was thus recognized in the immediate post-Petrine period as a language of culture that could not be ignored. It would also be taught at the University of Moscow (founded in 1755) and the Institute for Noble Maidens in St Petersburg (the Smolny Institute, founded in 1764), which was the first public educational institution for girls in Russia. Not that knowledge of foreign languages could be taken for granted before Catherine's reign, even among the great noble families. (Offord 2018: 125f.)

Das Unterrichten der französischen Sprache und weiterer Fremdsprachen beschränkte sich im 18. Jahrhundert jedoch größtenteils auf die beiden kulturellen und politischen Zentren Russlands, Moskau und St. Petersburg. Unter Katharina II. weitete sich der Fremdsprachenunterricht auf die russische Provinz durch die Gründung privater und öffentlicher Bildungseinrichtungen aus. Die Ereignisse während der französischen Revolution brachten die französische Sprache in Russland zeitweise in Verruf, was einen Unterrichtsverbot in öffentlichen Bildungsinstitutionen nach sich zog, ehe der Französischunterricht schon ab 1797 wieder aufgenommen wurde (vgl. Offord 2018: 126f.).

Wo die französische Sprache in Russland als Fremdsprache an Anerkennung gewonnen und ihr Erwerb von der russischen Elite angestrebt wurde, da mangelte es im 19. Jahrhundert nach wie vor an geeigneten Lehrkräften, sodass Lehrer aus dem europäischen Ausland zu diesem Zweck ins Land geholt wurden. Da diese oftmals nicht des Russischen mächtig waren, „they taught French through another foreign language, usually German“ (vgl. Offord 2018: 127). Ferdinand Brunot bezeichnet die Franzosen, die nach Russland emigrierten und in Ermangelung von Alternativen Hauslehrer wurden, als „aventuriers [...] qui firent du francais la seconde langue de la Russie“ (Brunot 1967: 519). Russische Französischlehrer bildeten an den Bildungsinstitutionen bis ins 19. Jahrhundert hinein die Minderheit. Neben Franzosen und Deutschen wurden auch schwedische Offziere, russische Kriegsgefangene, als Französischlehrer eingestellt (Rjéoutski 2019: 183). Ausländische Hauslehrer und Gouvernanten waren in ihrer wichtigen Rolle als Vermittler der französischen Sprache lange Zeit in den Kreisen des russischen Adels präsent. Der Mangel an Lehrkräften verzögerte auch die Entwicklung eines breit ausgelegten Schulwesens. Das Kadettenkorps bot jungen Adeligen die Möglichkeit auf eine umfassende Ausbildung in „fremden Sprachen, Reiten, Fechten, Tanzen, Zeichnen, Musik und Literatur mit Lektüre von deutschen und französischen Werken (z.B. Boileau, Corneille und Malherbe)“ (Becker 2009: 45). 1755 wurde die erste Universität Russlands von Michail Lomonossow gegründet, die auch Nicht-Adeligen offen stand. Auch Frauen war mit dem 1764 gegründeten Smolnyi-Institut das öffentliche Bildungswesen zugänglich (vgl. Becker 2009: 45). Schon in den 1789er Jahren wurde das erste russische Volksschulsystem eingeführt (vgl. Becker 2009: 46), doch ergaben sich im starren Gesellschaftsystem daraus kaum Möglichkeiten für die breite russische Bevölkerung, die nicht dem Adel angehörte. Neben dem Unterricht durch frankophone Hauslehrer boten nur einige wenige Bildungsinstitutionen in St. Petersburg und Moskau wie die Lomonossow-Universität, das Kadettenkorps und das Smolnyi-Institut abgesehen von Reisen nach Westeuropa zu Bildungszwecken eine „den westeuropäischen Standards entsprechende Ausbildung“ (Becker 2009: 52). Von einer gesellschaftlichen Stratifikation kann in der Bildung trotz der erfolgten Maßnahmen somit nicht die Rede sein: „Die Absolventen der genannten Anstalten, Vertreter der wohlhabendsten und einflussreichsten Familien Russlands, bildeten eine kleine geistige Elite“ (Becker 2009: 52). Die russische Aristokratie legte viel Wert auf eine frankophone Ausbildung aller ihrer Kinder: „In vielen Familien erhielten die Mädchen die gleiche Sprachausbildung wie die Jungen, ein Umstand, der geradezu revolutionär anmutet im Vergleich zu der ansonsten üblichen Praxis“ (Rjéoutksi 2019: 185). Die unterschiedlichen Bildungsmöglichkeiten machten die Frankophonie in Russland zu einem Phänomen der aristokratischen Minderheit, die sich von der breiten Bevölkerung Russlands abgrenzte.

Im 19. Jahrhundert stieg die Nachfrage nach Französischunterricht gemeinsam mit der Anzahl an frankophonen Russen. Die Immigration frankophoner Westeuropäer nach Russland, die häufig als Hauslehrer oder Gouvernanten von aristokratischen Familien oder auch als Lehrer in Bildungseinrichtungen angestellt wurden, trug maßgeblich zur weiteren Etablierung der Frankophonie in Russland bei. Die Hauslehrer blieben oft oder sogar für immer bei der Familie, deren Kinder sie unterrichteten, auch nachdem diese ihre eigenen Familien gründeten (vgl. Rjéoutski 2013: 130). Die Einstellung eines Hauslehrers war für die russischen Adelsfamilien von großer Bedeutung und auch für die Hauslehrer war es nicht bedeutungslos, in welche Familie sie kamen: „La différence de salaire entre un précepteur cultivé engagé dans une famille de grande noblesse et celui travaillant pour une obscure famille de noblesse provinciale était conséquente. C'est en général a ces précepteurs érudits que l'on confiait la lourde mission d'accompagner les jeunes dans un voyage a l'étranger, et la recherche de ces pépites était un casse-tête pour les familles aristocratiques“ (Rjéoutski 2013: 130).

Die Präsenz von Franzosen im Rahmen der Erziehung und Ausbildung des jungen russischen Adels wurde jedoch auch als Gefährdung für dessen russische Identität wahrgenommen. Französischlehrer aus dem Ausland gerieten ins Visier der russischen Behörden, die eine subversive Beeinflussung russischer Adeliger durch westliche Ansichten und Ideen verhindern oder zumindest kontrollieren wollten: „Greatly concerned by recurrent disturbances in Europe, the authorities tended to see the French tutor as an agent of revolution who, under the cover of an educational post, sought to inculcate dangerous ideas in Russian nobles, whom the authorities regarded as pillars of the regime“ (vgl. Offord 2018: 130). Vor allem der Dekabristenaufstand wurde als Folge der Beeinflussung des russischen Adels durch die liberalen Gedanken, die sie von ihren französischen Hauslehrern übernommen hatten, betrachtet. So wurde zu dieser Zeit jeder, der in Russland als Lehrer tätig sein wollte, streng geprüft und überwacht (vgl. Solodiankina 2013: 156f.). In Lehrmaterialen zum Französischlernen für russische Kinder finden sich Passagen über die Geschichte Russlands, was bezeichnend für das den französischen Lehrern entgegengebrachte Misstrauen ist (vgl. Offord 2018: 130). Die Wahrnehmung französischer Lehrer als potentielle „porteurs d'idées révolutionnaires“ (Solodiankina 2013: 152) tat der Begeisterung für die französische Sprache innerhalb der russischen Elite jedoch keinen Abbruch; die russische Aristokratie wählte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Ausbildung ihrer Kinder anstelle der staatlichen elitären Schulen vermehrt Hausunterricht oder die Grand Tour durch Europa. Französisch wurde nicht nur als Fremdsprache an sich unterrichtet, sondern diente auch als Unterrichtsprache für andere Fächer wie Mathematik, Geographie oder Geschichte (vgl. Argent 2015: 10f.). In privaten Haushalten stand dennoch das Erlernen der französischen Sprache im Vordergrund: „[.] si les précepteurs francophones pouvaient enseigner beaucoup de matières, c'est pour le francais avant tout qu'ils étaient engagés“ (Rjéoutski 2013: 132). Als unverzichtbarer Bestandteil der Erziehung und Ausbildung des russischen Adels öffnete sie diesem die Tür zur europäischen Kultur und Literatur. Für den Adel war das Erlernen der französischen Sprache nicht nur auf den formalen Unterricht durch Muttersprachler beschränkt: Auch durch den Kontakt mit der frankophonen Elite bei sozialen Anlässen, durch Theaterbesuche und Bücher und natürlich durch die beliebte Grand Tour wurde die Frankophonie der russischen Elite intensiviert. Der Gebrauch des Französischen gerade auch in sozialen Situationen garantierte einen flüssigen und intuitiven Sprachgebrauch. Der Spracherwerb wurde durch den Zuwachs an Französischlernern aus unteren sozialen Schichten zunehmend abstrakter: „As the number of learners of French increased and the social base from which they originated widened, language study became more theoretical, with emphasis on grammar, even in the Cadet Corps and the Institute for Noble Maidens. One consequence of this development seems to have been loss of fluency in French“ (Offord 2018: 132).

Die Annahme einer Identitätskrise des russischen Adels und eine für die russische Nation schädliche Beeinflussung durch europäische Ideen, die als Begleiterscheinung der Frankophonie betrachtet wurden, ließ jedoch nicht nach und gewann zunehmend an Bedeutung. Infolgedessen verlor die französische Sprache zum Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge des wachsenden Patriotismus, zu dem auch eine Hinwendung Russlands zur eigenen Muttersprache gehörte, nach ihrem Aufstieg ihren Status als für die russischen Aristokratie unverzichtbare Sprache. Im 20. Jahrhundert spielte nach der Oktoberrevolution und der Auswanderung zahlreicher Mitglieder des frankophonen Adels der Französischunterricht kaum mehr eine Rolle (vgl. Offord 2018: 134). Das Französische verließ Russland, da die Aristokratie, die die russische Frankophonie gelebt hatte, sich auflöste, und damit auch eine Adelskultur, in der das Französische von der Mitte des 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine unverzichtbare Rolle gespielt hatte.

4.2 Verwendung des Französischen in der Kommunikation der russischen Aristokratie

Das Französische etablierte sich innerhalb des russischen Adels in verschiedenen Kontexten als Sprache erster Wahl, wobei ihr Gebrauch sowohl die mündliche wie auch die schriftliche Kommunikation umfasste. Dabei gab es keine klar abgegrenzten Bereiche, in denen ausschließlich Französisch oder Russisch gesprochen oder geschrieben wurde. Die Verwendung des Französischen durch die russische Aristokratie ist somit vor allem von Kompelixität gekennzeichnet, auch wenn sich Präferenzen für das Französische in bestimmten Kommunikationssituationen oder zum Ausdruck bestimmter Intentionen erkennen lassen.

Insbesondere der Briefwechsel innerhalb der russischen Elite fand meist auf Französisch statt.6 Die Praxis des Briefeschreibens war ein fester Bestandteil der Kommunikation der russischen Aristokratie und für diese unerlässlich, stilistisch elegante und fehlerfreie Briefe auf Französisch verfassen zu können. Die Briefe umfassten insbesondere konventionalisierte Sprachformeln (vgl. Offord 2018: 160). Die Verwendung von konventionalisierten französischen Phrasen ließ die Briefe oft affektiert, oberflächlich oder gar unaufrichtig wirken. Diese Wahrnehmung lässt sich auch auf die soziale Interaktion der Aristokratie insgesamt übertragen. Die Werte, die dem jungen russischen Adel in Form der Kunst des Briefeschreibens auf Französisch vermittelt wurden, waren die der politesse und des honnête homme. Die durch konventionalisierte französische Sprachformeln ausgedrückte „language of friendship, for which French is the vehicle, was relatively new in Russia [.] the French nobility was using the same method in the education of its children, linking ‘affection' and ‘friendship' to ‘merit' in its discourse. From their earliest years, children would learn to channel their feelings for their parents by using codified forms which often remained unchanged even when the child became an adult.“ (Offord 2018: 161). Entsprechend griff der russische Adel zum Ausdruck von Höflichkeit und freundlicher Verbundenheit stets auf das Französische zurück. Auch die politesse wurde durch Sprachformeln auf Französisch ausgedrückt. Solche Phrasen diente der sozialen Interaktion in hohen Kreisen für die Begrüßung und Vorstellung, die Äußerung von Komplimenten, Glückwünschen und Beileidsbekundungen, der Aussprache von Einladungen, für Entschuldigungen und Bitten und vieles mehr und fanden in gleicher Form in der schriftlichen und mündlichen Kommunikation Verwendung (vgl. Offord 2018: 232).

Neben den konventionalisierten Phrasen, die der Kommunikation innerhalb des russischen Adels diente, schufen allein schon die grammatischen und semantischen Eigenschaften der französischen Sprache die Möglichkeit zu einer höflichen Distanzierung nicht im Sinne der politesse nur zwischen den sozialen Schichten, sondern auch zwischen Individuen, die im Russischen so nicht ausgedrückt werden kann. Dies zeigt sich insbesondere bei der unterschiedlichen semantischen Interpretation der französischen und russischen Pronomen der 2. Person. Das französische Pronomen vous war die gängige Anrede für einen oder mehrere Gesprächspartner gleichermaßen. Wem diese Anrede zu formal und distanziert erschien, griff in der Kommunikation auf das russische tu zurück, anstelle von bu , der russischen Entsprechung von vous. Das russische bu hingegen drückt eine deutlichere Distanzierung aus, als dies bei vous der Fall ist (vgl. Offord 2018: 240ff.).

Die Verwendung des Französischen innerhalb der russischen Aristokratie implizierte somit eine respektvolle, höfliche und Distanz sowie die Ebenbürtigkeit oder Überlegenheit gegenüber dem Gesprächspartner. Umgekehrt konnte ein Wechsel vom Französischen ins Russische auch „the withdrawal of respect from a person who had fallen outside the charmed circle“ (Offord 2018: 241f.) bedeuten. Die Beherrschung der französischen Sprache bedeutete für die russische Aristokratie vor allem auch die Möglichkeit, sich gegenüber der westlichen Elite als ebenbürtig in Hinblick auf Bildung und Kultiviertheit darzustellen. Die Verwendung des Französischen war für die soziale Interaktion innerhalb der russischen Elite unerlässlich. Wer exzellent auf Französisch sprach oder schrieb, hob sich von scheinbar weniger kultivierten, „russischeren“, Mitgliedern des Adels ab. Die Frankophonie ging also auch mit einer Differenzierung innerhalb der russischen Aristokratie einher. Wer besonders viel in den St. Petersburger und Moskauer Salons verkehrte und enge Beziehungen zu in der Gesellschaft hochstehenden Persönlichkeiten pflegte, musste besseres Französisch sprechen als ein Adeliger, der sich hauptsächlich auf seinem Landsitz aufhielt und sich somit seltener in Situationen befand, in denen es als angemessen galt, Französisch zu sprechen.

Der noble honnête homme grenzte sich nicht allein durch seinen Stand und den damit verbundenen Reichtum von der breiten Bevölkerung Russlands ab, sondern auch durch seine Bildung und sein Gebaren, die sich durch seine Frankophonie äußerten. Der honnête homme wurde durch bestimmte Eigenschaften definiert, die „usually comprise a tincture of both the arts and sciences, but at the same time it is emphasized that knowledge that is too deep and specialized needs to be avoided, for it smacks of pedantry, which is intolerable in a man of society“ (Offord 2018: 167). Die Werte und Eigenschaften des honnête homme wurden in Russland durch die Erziehung vermittelt, insbesondere durch den Französischunterricht durch Muttersprachler, die als Hauslehrer und Gouvernanten angestellt waren, und im „Noble Land Cadet Corps, where students studied some subjects which may have seemed far removed from the needs of the military but which were nonetheless necessary for the honnête homme “ (Offord 2018: 167). Durch die Frankophonie blieb der Adel unter sich und konnte kommunizieren, ohne von seinen Dienern aus dem einfachen Volk verstanden zu werden. In den Salons, die Tolstoi in Krieg und Frieden und Anna Karenina so treffend beschreibt, wurden die eigene Bildung und Kultiviertheit, die politesse und die Qualitäten des honnête homme zur Schau gestellt. Neben solchen Bällen waren auch das Theater7, die Oper, Pferderennen oder auch das Spa8 soziale Treffpunkte des russischen Adels, an denen Französisch gesprochen wurde (vgl. Offord 2018: 223f.). Das Französische war auch „the language of fashion, coiffure, cuisine, and new pastimes such as card-playing and gambling“ (Argent 2015: 10). Nicht nur bei öffentlichen Anlässen wurde in gehobenen Kreisen Französisch gesprochen, sondern auch in der privaten, gar intimen gesprochenen Kommunikation (vgl. Offord 2018: 225). Dies galt insbesondere wenn es darum ging, den Hof zu machen.

Die Bereiche und sozialen Situationen, in denen Französisch gesprochen und geschrieben wurde, unterstrichen die stets vorhandene Skepsis der Slawophilen gegenüber der Verwestlichung. Der Austausch innerhalb elitärer Kreise wurde als unaufrichtig und gekünstelt wahrgenommen. Salons, Bälle, das Theater, Kartenspiele, ein Austausch über Neuigkeiten in der Gesellschaft und Flirts; all das waren Vergnügungen und Zerstreuungen der russischen Aristokratie, in der die französische Sprache fest verankert war. Die Abgrenzung der russischen Aristokratie von der übrigen russischen Bevölkerung durch die Adaption der französischen Kultur und die Frankophonie war zweifellos gegeben, wurde von Gegnern der Verwestlichung jedoch häufig negativer dargestellt, als dies in der Realität der Fall war (vgl. Offord 2018: 250). Die Mitglieder der russischen Aristokratie griffen in vielen Kommunikationssituationen zu verschiedenen Zwecken auf das Französische zurück. Das bedeutete jedoch keineswegs eine fehlende Präsenz ihrer russischen Muttersprache, die nach wie vor Verwendung fand.

4.3 Russisch-französischer Bilingualismus

Das Französische war zwar innerhalb des russischen Adels die beherrschende Fremdsprache, doch nicht die einzige, die gelernt und gesprochen wurde. In vielen Fällen muss also von Multilingualismus gesprochen werden. Der Fokus soll hier jedoch explizit auf dem russisch­französischen Bilingualismus9 liegen. Im Falle der russischen Aristokratie ist es nicht einfach, das Russische und Französische jeweils als L110 und L211 bzw. als Fremdsprache12 zu klassifizieren. Ob das Französische als L1 auch von früher Kindheit an erworben und verwendet wurde, als L2 in Form eines sukzessiven Zweitsprachenerwerbs oder nur sporadisch als Fremdsprache verwendet wurde, war von Fall zu Fall unterschiedlich. Die Französischkenntnisse der russischen Aristokratie waren unterschiedlich stark ausgeprägt. Gleiches gilt für das Niveau, auf dem diese in ihrer Muttersprache Russisch, kommunizieren konnten. Ungeachtet des russisch-französischen Bilingualismus der Elite Russlands muss deutlich gemacht werden, dass die überwältigende Mehrheit der russischen Bevölkerung „remained monolingual (and largely uneducated and illiterate)“ (Argent 2015: 1). Betrachtet wird also eine kleine Minderheit, die jedoch für die kulturelle und politische Entwicklung Russlands verantwortlich zeichnete, deren Bilingualismus in Hinblick auf den Konflikt zwischen den Befürwortern einer Verwestlichung und deren slawophilen Gegnern von maßgeblichem Interesse sind und die im intellektuellen Russland, so auch von Tolstoi, vielfach diskutiert wurden.

Als Diglossie kann der russisch-französische Bilingualismus nicht gewertet werden, wenn Diglossie betrachtet wird als Situation in einer Sprachgemeinschaft, in der „languages are used for different, specified functions“ (Dimitrieva 2015: 230). Charles Ferguson definiert Diglossie als Koexistenz einer High Variety und einer Low Variety, denen jeweils spezifische Funktionen zugeschrieben werden und deren Verwendungsbereiche sich kaum überlappen (vgl. Ferguson 1959: 325ff.). Treffender ist Joshua Fishmans Definition, der Fergusons Konzept von Diglossie erweitert und Diglossie als „a characterization of lingusitic organization at the socio-cultural level“ im Unterschied zum Bilingualismus als „a characterization of individual linguistic behavior“ (Fishman 1967: 34) bezeichnet. Die Frankophonie in Russland kann nach Fishman als Bilingualismus mit Diglossie bezeichnet werden, da das Französische und Russische spezifische Funktionen in bestimmten Kontexten erfüllen und ihr Gebrauch wiederum von den individuellen Sprachkompetenzen und linguistischen Präferenzen ihrer Sprecher abhängen.

Die Entscheidung, welche Sprache mündlich oder schriftlich verwendet wurde, war meist nicht abhängig von den jeweiligen Sprachkompetenzen, sondern kontextabhängig. Dabei existierten keine klaren Regeln für die Verwendung des Russischen und Französischen. Vielmehr ging aus den Gepflogenheiten der russischen Aristokratie hervor, welche Sprache jeweils als angemessen empfunden wurde. Es wurde erwartet, dass ein Adeliger dem Zaren auf Russisch schrieb, aber auf Französisch mit ihm sprach. Eine Frau sollte hingegen jedem auf Französisch schreiben, Russisch wirkte unverschämt und unanständig (vgl. Figes 2003: 103). Aufgrund fehlender Regeln „by the end of the eighteenth century the aristocracy had become so bilingual that they slipped quite easily and imperceptibly from Russian into French and back again“ (Figes 2003: 103). Die Entscheidung für das Russische oder Französische beruhte also auf einem unausgesprochenen gesellschaftlichen Konsens, während jedoch in vielen Kontexten, sowohl mündlich als auch schriftlich, beide Sprachen gleichermaßen von der russischen Aristokratie gesprochen und geschrieben wurden.

Auch wenn russische Adelige Französisch sprachen, um sich von niederen sozialen Schichten abzugrenzen, so waren ihre Kompetenzen in der Muttersprache immer noch ausreichend, um mit diesen zu kommunizieren (vgl. Offord 2018: 250). Ihre Französischkenntnisse dienten neben ihrem sozialen Status, dem Erscheinungsbild und dem Gebaren als zusätzliches Zeichen ihrer Überlegenheit. Diese wurde nicht nur gleichermaßen als Schauspiel der russischsprachigen breiten Unterschicht demonstriert, sondern von der Oberschicht auch zu jeder Zeit gelebt. So ersetzte das Französische auch im privaten Sprachgebrauch häufig die Muttersprache. Zunächst gehört die russische Sprache tatsächlich nicht zur Erziehung und Ausbildung junger Adeliger: „For a long time, Russian did not exist in noble education as a discipline in its own right. Some young nobles entering the Cadet Corps in the 1730s and 1740s were illiterate in their mother tongue, although they could read and sometimes even write in French or German“ (Offord 2018: 151). Doch schon ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Russische als europäische Sprache mit vielen Qualitäten des Französischen betrachtet. Seitdem wurde das Russische als offizielle Landessprache neben Französisch, Deutsch und Latein ebenfalls an Universitäten verwendet (vgl. Offord 2018: 151f.) In öffentlichen Bildungseinrichtungen wird dies erkennbar, während im privaten Unterricht, der dem jungen russischen Adel zuteil wurde, Französisch die wichtigste Sprache blieb (Offord 2018: 153). Einige russische Aristokraten hatten durchaus sehr geringe Russischkenntnisse. So etwa die Prinzessin Jekaterina Daschkowa, die nur sehr schlecht Russisch sprach, oder die Familie Wolkonski, in der fast nur Französisch gesprochen wurde. In einigen russischen Adelsfamilien wurde es den Kindern sogar verboten, Russisch zu sprechen (vgl. Figes 2003: 55f.).

Auch wenn der junge Adel sehr intensiven Kontakt mit der französischen Sprache hatte und zu einer kultivierten, frankophonen Persönlichkeit herangezogen werden sollte, so war es nach wie vor die russische Muttersprache, in der er als Kind zuerst das Sprechen lernte. Selbst die Dominanz des Französischen in der Erziehung und Bildung des jungen russischen Adels bedeutete nicht zwangsläufig einen Verlust der muttersprachlichen Kompetenzen. Die konkreten sozialen Situationen, in denen Französisch gesprochen wurde, und die spezifischen sozialen Funktionen des Französischen in Russland führten vielmehr zu einem unterschiedlich hohen Sprachniveau im Französischen und Russischen allgemein oder aber nur in bestimmten Bereichen. Die Aristokraten lernten Russisch auch oftmals nur durch den Kontakt mit Dienern und Bauern. Die Verwendung der russischen Muttersprache war vor allem beim Militär und für die Korrespondenz mit den Dienern auf den Landgütern der Adeligen nötig. Entsprechend abwertend wurde dieses Russisch im Vergleich zum gehobenen Französisch betrachtet, obwohl die Unterschiede lediglich im unterschiedlichen Register liegen, in dem die Kommunikation mit Dienern und Sklaven oder aber mit Aristokraten geführt wurde und nicht zwangsläufig in der Sprachkompetenz allgemein. Wer fließend auf Russisch über Fragen des Haushalts und der Landwirtschaft redet, auf Russisch flucht oder sich in familiären Kreisen austauscht, hat nicht bessere Kenntnisse des Französischen, weil darin in gehobenen Kreisen Höflichkeitsformeln ausgetauscht werden. Die Kompetenzen des russischen Adels in der französischen Sprache sind von starken Unterschieden gekennzeichnet, die von Faktoren wie dem Reichtum und Status der jeweiligen Familie abhingen Nicht jeder russische Adelige hatte die gleichen Voraussetzungen, die französische Sprache zu erlernen und eine hohe Sprachkompetenz zu erreichen, denn nicht jeder hatte die Mittel, für sich oder seine Kinder Französischunterricht, französische Lehrer und Gouvernanten oder Reisen ins europäische Ausland zu bezahlen (vgl. Offord 2018: 109).

Es kann also nicht die Rede von exklusiver Frankophonie bei gleichzeitiger Unkenntnis der russischen Sprache sein; vielmehr wurden beide Sprachen vom russischen Adel entsprechend ihrer Funktionen verwendet:

For example, a noble might speak in French to another noble but in Russian to a priest or a merchant. Or again, noble men might speak Russian among themselves but French to a noble woman. At other times, the functions might overlap or might even be interchangeable. In their everyday communication, for instance, nobles might switch from French into Russian without really sensing that the languages were to be used for different purposes. The complexity of patterns of language use was compounded by the fact that different generations of the Russian aristocracy attained different levels of command of French. (Offord 2018: 157f.)

Die Entscheidung für die Verwendung des Französischen oder des Russischen hing von Faktoren wie den Sprachkompetenzen in Französisch oder Russisch des Senders oder Empfängers, der Beziehung der Kommunikationspartner zueinander, der sozialen Situation, dem Gesprächsthema oder der Intention des Sprechers ab. Während für die Kommunikation mit den Eltern, älteren sowie unvertrauten Gesprächspartnern und Adressaten und in der Kommunikation zwischen Männern mit anderen Frauen Französisch die erste Wahl war, wurde Russisch häufig für die intime Kommunikation mit engen Freunden oder dem Ehepartner verwendet. Nicht nur in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kommunikationspartnern, sondern auch auf den Inhalt des Gesprächs oder des Briefes gab es Unterschiede bei der Auswahl der Sprache: Das Französische eignete sich besser für intellektuelle Themen, während das Russische für Gespräche und Korrespondenzen über landwirtschaftliche und andere, die Landgüter des Adels betreffende Themen verwendet wurde (vgl. Offord 2018: 338f.).

Häufiger als eine völlig klare Trennung der Sprachen war jedoch Code-Switching13, das ebenfalls unterschiedliche Funktionen erfüllen konnte. Zwischen dem Russischen und Französischen gewechselt wurde „in order to report speech in the language that was evidently used by the speaker in question“ (Offord 2018: 343). Auch für bestimmte Begriffe und Namen wurde in ansonsten weitgehend auf Französisch verfassten Briefen und auf Französisch gehaltenen Gesprächen auf das Russische zurückgegriffen: „in order to render Russian patronymics, diminutive forms of personal names [.], place-names, weights and measurements, and other culture-specific things [.]“ (Offord 2018: 343). Umgekehrt wurde für die etablierten Höflichkeitsformeln, etwa bei Anreden und Verabschiedungen, ins Französische gewechselt. Im Kontext von Tolstois Krieg und Frieden ist vor allem auch der russisch-französische Bilingualismus russischer Literaten interessant. Gerade die aristokratischen, frankophonen Schriftsteller wie Puschkin, Turgenew und natürlich Tolstoi14 waren es, die im 19. Jahrhundert nicht nur den literarischen Kanon ihres Landes, sondern auch die moderne russische Sprache prägten.

Die Frankophonie in Russland ist somit vor allem geprägt von Komplexität. Die beschriebenen Funktionsunterschiede zwischen dem Russischen und Französischen sind nicht gleichzusetzen mit festen Regeln für den bilingualen Sprachgebrauch. Oftmals sind die Gründe für die Wahl der einen oder anderen Sprache nicht durchsichtig. Eine schriftlich festgehaltene Reflexion über den eigenen Bilingualismus fand kaum statt, was auf einen intuitiven Sprachgebrauch des Russischen und Französischen sowie intuitives Code-Switching hindeutet. Wenn der russische Adel sich über seine sprachlichen Gewohnheiten keine Gedanken machte, legt dies auch eine fehlende Wahrnehmung einer Identitätsproblematik angesichts der eigenen Frankophonie durch die russische Aristokratie nahe (vgl. Offord 2018: 348). Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine solche zwiespältige Identität, die sich auch im russisch-französischen Bilingualismus zeigt, nicht auf nationaler, intellektueller Ebene kritisiert wurde.

4.4 Frankophonie und russische Identität

Das Konzept der Opposition zwischen Russland und dem Westen setzt eine Vereinheitlichung dieser scheinbar gegensätzlichen Pole voraus, ebenso wie in Opposition stehende Nationen, mit denen sich ein Individuum jeweils vollständig identifiziert. Russland selbst kann entweder als russophone Einheit betrachtet werden, was für die Abgrenzung zum Westen meist getan wird. Der Realität gerechter wird jedoch die Wahrnehmung Russlands als multiethnisches, multilinguales Reich, das sich nicht so leicht vereinheitlichen lässt. Selbst die russische Aristokratie war multiethnisch geprägt (vgl. Offord 2018: 53). Selbiges gilt in noch größerem Maße für das Konzept des Westens, der ebenfalls verschiedene Länder, Sprachen und Kulturen umfasst und sich auch geographisch nicht eindeutig eingrenzen lässt. Durch die Vorstellung einer Opposition zwischen Russland und dem Westen wurde ungeachtet kultureller, politischer, religiöser und sprachlicher Unterschiede eine Einheitlichkeit sowohl des Westens als auch Russlands angenommen. Auch wenn die Kontrastierung Russlands mit dem Westen so nicht haltbar ist, diente diese Russland als Projektionsfläche für eine Reflexion der eigenen Kultur und Geschichte, der nationalen Eigenheiten, des Patriotismus und auch der Sprache.

Der Diskurs über eine angenommene Opposition zwischen vereinfachten Konzepten von Russland und dem Westen betraf vor allem auch die Frage nach der eigenen Identität. Dieser Diskurs manifestierte sich vor allem in der Debatte zwischen den zapadniki, den Anhängern des Westens, und den Slawophilen (vgl. Offord 2018: 45f.). Die Einen betrachteten ihre Identität als untrennbar verbunden wie dem Westen und empfanden eine kulturelle und idelle Orientierung an Europa als selbstverständlich, wozu auch die Frankophonie gehörte. Die Anderen empfanden eine Besinnung auf die eigene Kultur und Sprache als notwendig, um Russlands Fortschritt zu garantieren. Ein stereotypisierendes, verachtendes Bild der westlichen Bevölkerung als materialistisch und allzu individualistisch ging mit einer Idealisierung des russischen Volkes als friedlich und gemeinschaftlich zusammenlebend und religiös einher (vgl. Offord 2018: 45f.).

Ungeachtet aller Stereotypisierung auf der einen und Idealisierung auf der anderen Seite lässt sich dennoch eine klare Abgrenzung zwischen dem „europäischen Russland“, bestehend aus dem Zarenhof und der aristokratischen Oberschicht, das sich in Moskau und St. Petersburg konzentrierte und der breiten russischen Bevölkerung, die sich auf das gesamte Reich verteilte und weitgehend von der Landwirtschaft lebte, feststellen. Dieser Teil Russlands kam kaum mit westlicher Kultur und Fremdsprachen in Berührung; Schnittstellen ergaben sich aus dem gegenseitigen Kontakt zwischen der frankophonen, westlich orientierten Elite und der Dienerschaft in den Städten und auf den Landgütern des Adels, wo die überwältigende Mehrheit als Leibeigene des Adels angestellt war. Die Leibeigenschaft wurde erst 1861 beendet (vgl. Offord 2018: 46f.). Die Orientierung des Adels zum europäischen Westen hin und die Frankophonie sorgten trotz der Multiethnizität in der russischen Elite für eine gemeinsame, westlich-internationale Identität.

Doch so wie auch im Falle des russisch-französischen Bilingualismus ist auch die Frage der Identität in Russland geprägt von Komplexität. Auch die Slawophilen griffen für ihre Ansichten auf Ideen der europäischen, aus dem Westen kommenden Romantik zurück, während Anhänger einer Verwestlichung keineswegs sämtliche sozialen oder politischen Zustände im Westen befürworteten (vgl. Offord 2018: 45). Die Vielfältigkeit innerhalb der russischen Elite zeigt sich auch in Bezug auf Reichtum und Status der Adelsfamilien (vgl. Offord 2018: 107). Die Orientierung an der westlichen Kultur und die Fremdsprachen-, insbesondere Französischkenntnisse hingen ebenfalls vom Reichtum der jeweiligen Familie ab. Die monetären Mittel bestimmten, ob und wie oft die Adeligen es sich leisten konnten, das eigene Landgut zu verlassen, sich ein Haus in den kulturellen und politischen Zentren St. Petersburg und Moskau zu leisten und natürlich Auslandsreisen zu unternehmen. Selbst zwischen dem Adel in den beiden Metropolen Russlands wurden Unterschiede wahrgenommen: „[T]he nobility of St Petersburg, where the court resided and the organs of central government were located, could be perceived as quite different even from the Muscovite nobility, for which a marked preference shines through in the writings of such influential literary figures as Alexander Herzen and Tolstoi“ (Offord 2018: 108). Auf der Suche nach der eigenen Identität spielten für die russische Aristokratie also viele Faktoren eine Rolle; jemand war nie eindeutig ein Anhänger des Westens oder ein Slawophiler.

Doch zweifellos machte die Präsenz der französischen Kultur und Sprache in Russland die Identitätssuche zu einem bestimmenden Thema in der russischen Elite. Die Gegensätzlichkeit zum Westen verdeutlichte die Rückständigkeit Russlands in Bezug auf den Status der russischen Sprache und einer russischen nationalen Literatur, die für das Erstarken der russischen Identität auch in gebildeteren Kreisen von Bedeutung war. Die Debatte über die nationale Identität war untrennbar verbunden mit der über die nationale Sprache, die durch die Frankophonie der russischen Elite befeuert wurde. Sie zog sich über viele Jahrzehnte hinweg und war auch noch aktuell, als Tolstoi Krieg und Frieden schrieb. Im 18. und 19. Jahrhundert erlebte Russland schrittweise die Standardisierung der Nationalsprache, die durch die kritische Wahrnehmung der Frankophonie gefördert wurde. Die Entstehung der großen Werke der russischen Literatur, zu denen insbesondere auch die Tolstois zählen, waren ein wichtiger Bestandteil der Identitätsbildung Russlands. So wie die Frankophonie in Russland von vielen als Bedrohung der russischen Identät und Werte betrachtet wurde, so halfen die Entstehung eines russischen literarischen Kanons und die Standardisierung und Aufwertung der russischen Sprache dem Erstarken der russischen Identität, welches durch die Beeinflussung durch den Westen erschwert war. Die russischen Schriftsteller fühlten sich ihrem Nationalgefühl und ihrer russischen Muttersprache verpflichtet. Viele russische Autoren des 19. Jahrhunderts assoziierten den russisch-französischen Bilingualismus der Aristokratie mit einer Spaltung sowohl im Inneren der Individuen als auch innerhalb der Gesellschaft, zwischen der dem Westen zugewandten Aristokratie und der Russisch sprechenden, nicht frankophonen und weitgehend bäuerlich oder als Diener lebenden Bevölkerung:

For Fedor Dostoevsky, for example, the use of French by the small Russian elite was symptomatic of loss of contact with their native soil; it indicated their dissociation from the monolingual Russian peasantry, in whom many members of the Russian intelligentsia considered authentic national essence to be concentrated. For Leo Tolstoy in War and Peace, Russian francophonie was characteristic of the artificiality and moral poverty of high society, especially the St. Petersburg aristocracy as opposed to the paternalistic Muscovite gentry, which still had a strong attachment, Tolstoy believed, to the rural heartland. (Argent 2015: 16)

Für die russische Intelligentsia, die zur Weiterentwicklung und Standardisierung der russischen Sprache beitrug, war ihre Muttersprache untrennbar verbunden mit der nationalen Identität. Die Gegensätzlichkeit zum Westen wurde nicht nur von den großen russischen Literaten des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern auch in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts als ausschlaggebendes Merkmal russischer Identität betrachtet. Sie verleitete Lotman dazu, die russische Geschichte und Kultur als einzigartig zu empfinden; er bezeichnete die russische Kultur als „constructed on a marked dualism“ (Offord 2018: 48). Lotman ging mit seiner kritischen Betrachtung des russischen Adels sogar soweit, das Verhalten des russischen Adels, das er als strukturiert erlernt wie eine fremde Sprache betrachtete, von einem natürlichen Verhalten abzugrenzen:

[...]


1 Auf das Nennen weiterer Formen bei Fehlen geschlechtsneutraler Formulierungen wurde aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet. Im Text sind immer beide Geschlechter gemeint.

2 Elite bezeichnet im Rahmen dieser Arbeit die Aristokratie sowie führende Persönlichkeiten im Staatsdienst und im intellektuellen Leben eines Landes.

3 In dieser Arbeit werden unter dem Begriff „Westen“ die westlichen Industrieländer Europas, insbesondere Frankreich, Deutschland und England, verstanden.

4 Den Gegensatz zwischen St. Petersburg und Moskau thematisiert auch Tolstoi in Krieg und Frieden. Pierre Besuchow, der von der St. Petersburger aristokratischen Gesellschaft wegen seiner ehrlichen und offenherzigen Art und seiner Unfähigkeit, deren Erwartungen an ein taktvolles und höfliches Verhalten zu erfüllen, abgelehnt wird, fühlt sich im „russischeren“ Moskau heimisch: „Die gesamte Moskauer Gesellschaft, angefangen von den Alten bis hin zu den Kindern, empfing Pierre als ihren längst erwarteten Gast [.] Für die Moskauer große Welt war Pierre der liebste, beste, klügste, lustigste und gutmütigste Sonderling, der zerstreute und herzensgute russische Adlige vom alten Schlag.“ (Tolstoi Band 1: 938)

5 Zum Inhalt des Briefes schreibt Andreas Schönle: „Chaadaev blamed all evils of Russian history upon the fatal choice of religion. According to him, Eastern Christianity separated Russia from both the West and the Islamic East and left it in a civilizational void. The letter was as powerful a denunciation of Russia as one could imagine, but the strength and intensity of this rejection betrayed the author's deep connection with his country and some perverted pride in the uniqueness of its historical fate. Chaadaev not only insisted that as a nation and state Russia had no history whatsoever, but also claimed, even more outrageously, that even after the Reformation and French revolution (although he never mentioned either of those historic events in the Letter) Western Europe showed an example of spiritual unity based on Catholicism. Nevertheless, the public as well as the authorities took his arguments very seriously.“ (Schönle 2016: 323f.)

6 Briefwechsel innerhalb der russischen Aristokratie stellen eine wichtige Ressource für die Untersuchung der Frankophonie in Russland dar: „They are also a rich source for the study of nobles' language use. Given the widespread plurilingualism of the Russian aristocracy, the preference for French over other foreign languages in aristocratic correspondence reflects the exceptional worth of that language as cultural capital“ (Offord 2018: 334)

7 Die Rezeption französischer Theaterstücke war ein fester Bestandteil der russischen Adelskultur: „The staging of plays in French was a traditional social entertainment in aristocratic circles from at least as far back as the reign of Catherine II.“ (Offord 2018: 223)

8 Das Spa wurde vom russischen Adel vor allem auch während Reisen nach Europa aufgesucht, wo sie mit dem frankophonen europäischen Adel kommunizierten: „[.] the spa was an international European venue where the Russian aristocracy could rub shoulders with European peers“ (Offord 2018: 224).

9 Definition von Bi- und Multilingualismus nach Gesine Argent: „We define bilingualism and multilingualism, incidentally, not as more-or-less native command of two or more languages but as functional competence of some sort, that is to say competence in reading, writing, or speaking.“ (Argent 2015: 4)

10 Definition von L1 nach Buncic: „Die Erstsprache (L1), auch >Muttersprache< genannt (wobei es sich natürlich auch um die Sprache des Vaters oder anderer Bezugspersonen handeln kann), ist eine seit frühester Kindheit erworbene Sprache. Dabei kann eine Person durchaus mehr als eine L1 haben. Dies ist der Fall beim doppelten Erstspracherwerb, bei dem schon vor dem 3. Lebensjahr zwei Sprachen gelernt werden.“ (Buncic 2021: 3)

11 Definition von L2 nach Buncic: „Eine Zweitsprache (L2) ist eine später erworbene Sprache, in der man tagtäglich mit seiner Umgebung kommuniziert. Dabei unterscheidet man zwischen dem kindlichen (sukzessiven) Zweitspracherwerb, der vor der »kritischen Phase«, d. h. vor der Pubertät erfolgt und oft zu ähnlichen Ergebnissen führt wie der doppelte Erstspracherwerb, und dem erwachsenen Zweitspracherwerb . “ (Buncic 2021: 3)

12 Definition von Fremdsprache nach Buncic: “Eine Fremdsprache (zum Teil ebenfalls mit L2 abgekürzt) ist eine Sprache, die nicht die Sprache der Umgebung ist und in der man daher nicht tagtäglich kommuniziert, sondern die man in der Regel »gesteuert«, d. h. im Sprachunterricht, mit einem Sprachkurs o. Ä., erworben hat und nur in bestimmten Situationen (Urlaub, Arbeit usw.) benutzt.“ (Buncic 2021: 3)

13 Definition von Code-Switching nach Buncic: „Beim Code-switching wird innerhalb des Gesprächs von der einen Sprache in die andere Sprache gewechselt, z. B. weil man über das Thema leichter in der anderen Sprache sprechen kann, weil man jemanden zitiert, der in einer anderen Sprache gesprochen hat, oder auch ohne von außen erkennbaren Grund.“ (Buncic 2021: 4)

14 Zu Tolstois Bilingualismus siehe Kapitel 5.

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Lew Tolstois "Krieg und Frieden" als Spiegel der Frankophonie in Russland. Die Verwendung des Französischen zur Darstellung fingierter Mündlichkeit
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Romanische Philologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
106
Katalognummer
V1138021
ISBN (eBook)
9783346514868
ISBN (Buch)
9783346514875
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Linguistik, Literaturwissenschaft, Komparatistik, Russische Literatur, Frankophonie, Tolstoi, Fingierte Mündlichkeit
Arbeit zitieren
Sophie Barwich (Autor:in), 2021, Lew Tolstois "Krieg und Frieden" als Spiegel der Frankophonie in Russland. Die Verwendung des Französischen zur Darstellung fingierter Mündlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1138021

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